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+The Project Gutenberg eBook, Deutsches Leben der Gegenwart, by Philipp
+Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and Goetz Briefs,
+Edited by D. Philipp Witkop
+
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
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+
+Title: Deutsches Leben der Gegenwart
+ Deutsche Dichtung der Gegenwart, von Prof. Dr. Philipp Witkop; Deutsche Musik der Gegenwart, von Paul Bekker; Deutsche Philosophie der Gegenwart, von Prof. Dr. Max Scheler; Relativitätstheorie, von Prof. Dr. A. Sommerfeld; Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart, von Prof. Dr. Goetz Briefs
+
+
+Author: Philipp Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and
+Goetz Briefs
+
+Editor: D. Philipp Witkop
+
+Release Date: July 11, 2005 [eBook #16264]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+
+***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART***
+
+
+E-text prepared by Martin C. Doege <mdoege@compuserve.com>
+
+
+
+DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART
+
+Herausgegeben Von Prof. D. Philipp Witkop
+
+Mit 8 Abbildungen
+
+PROF. DR. PHILIPP WITKOP
+Deutsche Dichtung der Gegenwart
+
+PAUL BEKKER
+Deutsche Musik der Gegenwart
+
+PROF. DR. MAX SCHELER
+Deutsche Philosophie der Gegenwart
+
+PROF. DR. A. SOMMERFELD
+Relativitätstheorie
+
+PROF. DR. GOETZ BRIEFS
+Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart
+
+
+Berlin 1922
+Volksverband Der Bücherfreunde
+Wegweiser Verlag G. M. B. H.
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+ Dieses Buch wurde als dritter
+ Band der dritten Jahresreihe
+ für die Mitglieder des "Volksverbandes
+ der Bücherfreunde" hergestellt und wird nur an
+ diese abgegeben / Den Einband
+ zeichnete A d o l f P r o p p
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+VORWORT
+
+Deutsches Leben der Gegenwart -- dem feindlichen Blick, der nur seine
+Oberfläche streift, möchte scheinen, daß die Gegenwart wenig vom
+deutschen Leben, mehr vom deutschen Sterben zu melden hätte. Aber der
+nachdenkliche Betrachter weiß, daß die größten geistigen Epochen
+Deutschlands über seinen politischen Niederlagen wuchsen, daß gerade
+die Zeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dem Zusammenbruch von
+Jena zu den schöpferischen des deutschen Lebens gehören. Und so wird
+seinem geschärften Auge nicht entgehen, wie auch heute hinter der
+zerstörten und zersetzten deutschen Außenwelt seelische und geistige
+Kräfte keimen -- in heiligem Trotz dem Elend und Leid der Gegenwart
+entkeimen -- die eine Verjüngung und Vertiefung, eine Erneuerung
+Deutschlands verheißen.
+
+Von solchen Kräften will dies Buch uns Kunde geben, auf daß wir der
+inneren deutschen Welt gewiß und froh werden, wenn auch die äußere noch
+darniederliegt.
+
+Und es ist bedeutsam, zu sehen, daß diese Mächte durch den Krieg zwar
+erst ganz befreit und gefördert, aber nicht erst durch den Krieg
+geweckt sind. Schon seit der Jahrhundertwende regen sich Kräfte in
+Deutschland, die es aus der europäischen Epoche des Materialismus und
+Rationalismus, des Technizismus und Kapitalismus hinausführen wollen zu
+geistigem und seelischem Urgrund.
+
+In der Dichtung, Musik, Philosophie, der Naturwissenschaft und
+Wirtschaft drängen junge, schicksalstiefere Kräfte vor. Und so wenig
+die Autoren dieses Buches einem bestimmten anderen Punkte sieht und
+schafft, so leben und schaffen doch alle nicht im Gefühl eines Ausgangs
+und Untergangs, sondern eines Anfangs und Übergangs, einer Zeitenwende,
+in der dem deutschen Volke vielleicht gerade um seiner größeren Leiden
+willen die größere, schwerere Aufgabe zugewiesen ist.
+
+ F r e i b u r g i. B., Neujahr 1922.
+
+ Prof. Dr. Philipp Witkop.
+
+
+
+
+DIE DEUTSCHE DICHTUNG DER GEGENWART
+(IN IHREN GRUNDLINIEN)
+VON PHILIPP WITKOP
+
+
+DER ROMAN
+
+Alle epische Dichtung, das Versepos wie der Roman, setzt sich als
+höchstes Ziel, ihr ganzes Volk in ihrer Zeit darzustellen, in seinen
+religiösen, sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Grundformen.
+Aber die Urzeit der Völker, da diese Formen in ungeschiedener Einheit
+das ganze Volk umfassen, hat selten ein Volk zum Bewußtsein und zur
+epischen Gestaltung seiner selbst gelangen lassen. Erst nachdem sich
+aus der Einheit und Einfachheit des ganzen Volkes einzelne Stände
+herausgehoben und gesondert ihre Anlagen und Lebensformen entwickelt
+haben, sind die großen Epen entstanden. Die Ilias wie die Nibelungen
+stellen die Lebensformen einer ritterlichen Gesellschaft dar. Und wenn
+de ständischen Volksgruppen sich kulturell und dichterisch entwickelt
+haben, meist nacheinander, so bleiben sie in der epischen Dichtung
+ihres Landes nebeneinander bestehen: fast alle großen neueren Romane
+gestalten die Lebensformen eines bedeutenden Standes; so zerfällt der
+Volksroman in den Ritter- oder Adelsroman, den Bürgerroman, den
+Bauernroman, den Arbeiterroman. Die jeweilige schöpferische Bedeutung
+dieser Stände entscheidet zumeist auch über die Bedeutung ihrer Romane.
+Sind ihre Lebensformen, ihre religiösen, sittlichen, geistigen,
+wirtschaftlichen Grundkräfte gesund, klar, einig und schöpferisch, so
+drängen sie auch nach ihrem schöpferischen Ausdruck, so geben sie einem
+wesensverbundenen Epiker die innere Form zu einem epischen
+Gesellschafts- und Volksbild, das sich in breitem Nach- und
+Nebeneinander, in plastischer Gestaltenfülle, in farbiger Sinnlichkeit
+und Sichtbarkeit, in liebevoller Bejahung des Lebens entfaltet.
+
+In Deutschland ist dies Wesen und Werden der epischen Dichtung von
+fremden Kräften durchkreuzt. Seine ritterliche Kultur hat zwar in
+Gottfried von Straßburgs "Tristan" und in Wolfram von Eschenbachs
+"Parzival" vollen epischen Ausdruck gefunden. Aber schon im "Parzival",
+dem eigentlich deutschen der beiden Gedichte, bricht jene deutsche
+Eigenheit durch, die dem epischen Lebensgefühl widerspricht: die
+deutsche Art schlägt das Auge eher nach innen denn nach außen auf, ist
+mehr metaphysisch als physisch, mehr musikalisch als plastisch, sie
+weiß mehr von der inneren Einsamkeit der Persönlichkeit als von der
+Gemeinsamkeit des Standes, Volkes und Staates, mehr von Kampf und
+Tragik als von Frieden und Daseinsfreude. Schon die Nibelungen sind im
+Grunde eine Tragödie, der grauenvolle Untergang eines ganzen Volkes.
+Ein unendliches Wehklagen ist ihr Schluß und die düstere Erkenntnis,
+"daß alle Freude immer zuletzt in Leid sich kehrt". Und der erste der
+großen deutschen Prosaromane, Grimmelshausens "Simplizissimus",
+schildert die irrende deutsche Seele, die aus Mord und Getümmel des
+Dreißigjährigen Krieges auf eine einsame Insel, an das Herz ihres
+Gottes flüchtet. Die Entwicklung und Vollendung der Seele wird zum
+Inhalt des deutschen Romans, nicht die Darstellung des äußeren Lebens,
+der Gesellschaft, des Volkes, der Kriege und Siege. Die großen
+deutschen Epen und Romane sind Entwicklungsromane: "Parzival",
+"Simplizissimus", "Wilhelm Meister", "Der grüne Heinrich".
+
+Diese deutsche Wesensart ist durch die Geschichte Deutschlands
+bedeutsam verstärkt worden -- wobei vielleicht auch hier "Schicksal und
+Gemüt Namen e i n e s Begriffes sind" (Novalis). Während die romanische
+und angelsächsische Welt mit der Renaissance sich der Bewunderung,
+Erforschung und Eroberung der Natur zuwandte, verlor sich Deutschland
+in die metaphysischen Tiefen und Konflikte der Reformation, bis daß es
+in einem dreißigjährigen Religionskriege fast zugrunde ging. Aber
+während es politisch und wirtschaftlich so auf lange daniederlag, hob
+es sich philosophisch und künstlerisch zu seiner größten Bedeutung. Zum
+epischen Ausdruck dieser inneren Welt und Wesenheit wird der Roman der
+deutschen Romantik (Hölderlin, Novalis, Jean Paul. Eichendorf, E. T. A.
+Hoffmann), der durchaus musikalisch-metaphysisch bestimmt ist, aus der
+Welt der Gestalten in die "unendliche Melodie" hinüberdrängt.
+
+Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt Deutschland aus dem Reich der
+Dichtung, Philosophie und Religion in das Reich der Industrie, Technik
+und Politik hinaus. Aber die künstlerisch bedeutenden realistischen
+Romane, die um diese Zeit entstehen (Immermanns "Münchhausen", 1838,
+Ludwigs "Heiteretei", 1853, Freytags "Soll und Haben", 1855, Reuters
+"Ut mine Stromtid", 1862-64, Raabes "Der Hungerpastor", 1864),
+begleiten diese Entwicklung kaum. Ihre Welt ist die des alten
+Deutschlands, des Bauerntums, der Gutsbesitzer, des Kleinbürgertums
+geblieben. Die deutsche Kultur vermag die neuen, industriellen und
+politischen Kräfte nicht schöpferisch zu durchdringen und zu formen.
+
+Es war das Verhängnis der deutschen Kultur, daß die neue Entwicklung
+die klassische Zeit des deutschen Idealismus nicht auf ihrer Höhe,
+sondern im Niedergang antraf, daß das philosophisch-dichterische und
+das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter sich nicht durchdrangen,
+sondern einseitig ablösten. Als die idealistische deutsche
+Weltanschauung schon in sich zersetzt, Hegels Philosophie bei Feuerbach
+in ihr Gegenteil umgeschlagen war, da drangen Naturwissenschaften,
+Technik und Industrie ein. Eine abgestorbene innere Welt stand einer
+jungen äußeren gegenüber, die sich in unerhörter Jähe und Stärke
+entwickelte. Und die politischen Geschehnisse -- die wieder nicht aus
+innerem Wachstum reiften, sondern von außen, durch Bismarcks Genius
+heraufgeführt wurden -- steigerten diese Entwicklung ins Hemmungslose.
+So vermochten die alten bürgerlichen Lebensformen sich nicht mehr
+organisch fortzubilden; sie wurden gesprengt. Mit dem Aufstieg des
+deutschen Bürgertums zur äußeren Macht beginnt seine innere Zersetzung.
+Der Biedermeierstil ist der letzte Ausdruck einer bürgerlichen
+Lebensform in Deutschland.
+
+Am Ende dieser bürgerlichen Kultur steht Thomas Mann (geb. 1875). Seine
+Vaterstadt Lübeck, die alte Hansastadt, vermochte ihre Lebensformen am
+längsten zu behaupten. Die "Buddenbrooks" (1901) sind der größte und
+letzte bürgerliche Roman in Deutschland.
+
+Thomas Mann war -- wie sein Bruder Heinrich Mann -- der Sohn eines
+Lübecker Senators. Über ein Jahrhundert hinweg sah er sein Geschlecht
+in der sicheren Tradition, den festen bürgerlichen Lebensformen der
+Freien Hansastadt wurzeln und wirken. Und am Ende dieser Reihe standen
+er und sein Bruder, unwillig, unfähig, diese Tradition fortzuleiten.
+Der Dreiundzwanzigjährige suchte nach einer Erklärung, einer
+Rechtfertigung seines Andersseins. Und als Sohn eines naturalistischen
+Zeitalters, das eben Darwin aufgenommen hatte, das Entwicklung und
+Verfall der Arten, die geheimnisvolle Unübersehbarkeit der Erbgesetze
+zu durchschauen meinte, sah er -- nicht ohne Einfluß Zolas und seiner
+Rougon-Macquart-Reihe -- sich als den Ausgang eines alten, immer mehr
+verfeinerten Geschlechtes, das schließlich, durch Beimischung des
+mütterlichen, romanischen Blutes dem tätigen Leben entfremdet, im
+bloßen Zuschauer, Kritiker und Gestalter des Lebens, im Künstler,
+endete. Ein Entartungs-, ein Dekadenzproblem! Auf mehr denn tausend
+Seiten schrieb der Jüngling die Chronik des Niederganges:
+"Buddenbrooks. Verfall einer Familie." Aber er war viel zu seelenhaft,
+zu metaphysisch, zu musikalisch, als daß er im naturalistischen Roman
+steckengeblieben wäre. Stärker als Zola bestimmte ihn Richard Wagner,
+dessen überwiegend epische Elemente ihm deutlich und nah waren, stärker
+als die Rougon-Macquart-Reihe der "Ring der Nibelungen". So wurde ihm
+die Entartung zur Verinnerlichung: Vier Generationen schreiten den Weg
+aus klarer, derber Lebenstüchtigkeit in die allauflösende,
+geheimnisdunkle, "unendliche Melodie". Durch die naturalistische
+Darstellung bricht das Lebensgefühl der deutschen Romantik: "Sympathie
+mit dem Tode".
+
+Die vier Generationen schreiten den Weg nicht nur kraft einer
+naturgesetzlich berechenbaren Zersetzung ihres Blutes und ihrer Nerven,
+nicht nur Kern einer metaphysisch unbedingten Wesensgegebenheit, sie
+schreiten ihn auch, weil die alten bürgerlichen Lebensformen ihrer
+Umwelt sie nicht mehr zu halten und binden vermögen. Auch hier sind, im
+weiten epischen Sinne, "Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffes"
+(Novalis). Im "Verfall einer Familie" schildert der Epiker den Verfall
+einer Welt, der Welt des alten deutschen Bürgertums. Subjektiv
+"flüchtig und ohne daß ich an diesem Gegentyp sonderlich teilgenommen
+hätte", objektiv aber notwendig und bedeutsam geht dem Abstieg der
+Buddenbrooks der Aufstieg der Hagenströms parallel, um in der Übernahme
+des Buddenbrookschen Hauses durch Hagenströms zu gipfeln: Der Bürger
+wird abgelöst durch den Bourgeois, patriarchalische, sittliche,
+geheiligte Lebensformen, die über den Personen und Generationen
+standen, weichen der egoistischen, skrupellosen Willkür des
+Individuums, das "frei von der hemmenden Fessel der Tradition und der
+Pietät auf seinen eigenen Füßen stand" dem "alles Altmodische fremd"
+war.
+
+In vier Generationen umfaßt der Roman die Zeit von 1768, dem
+Gründungsjahr der Firma (unmittelbar von 1835, dem Jahr des
+Wohnungswechsels) bis nach 1880: die eigentliche Zeit des neuen
+deutschen Bürgertums, in Aufstieg, Glanz und Niedergang. Schon diese
+äußere Spannweite greift über jeden deutschen Roman hinaus, nicht
+minder die innere: der Beginn: rationalistische Behaglichkeit,
+sinnlich-geruhige Lebensfreude und Lebensbejahung, das runde, rosig
+überhauchte, wohlmeinende Gesicht, das schneeweiß gepuderte Haar, das
+leise angedeutete Zöpflein des alten Monsieur Johann Buddenbrook, ein
+Diner von traditioneller Feinheit und Fülle und epischer Dauer,
+Schinken von sagenhaftem Umfang, Puddings von mythischer Schichtung und
+Mischung, Weine von staubumsponnenem Alter, anakreontisch tändelnde
+Verse: "Venus Anadyoméne -- Und Vulcani fleiß'ge Hand", heiter-graziöse
+Flötentöne und ein wenig schlüpfrige Verslein im Billardsaal. Und das
+Ende: der fünfzehnjährige, lebensunwillige, leidverlorene Hanno
+Buddenbrook mit den Augen des Wissenden, Einsamen, Heimatlosen, der so
+müde des Daseins ist, der schlafen möchte und nichts mehr wissen: "man
+sollte mich nur aufgeben; ich wäre so dankbar dafür", der aus der
+Sphäre epischer Bejahung und Gegenständlichkeit in verzweifeltem
+Aufbruch sich hinüberflüchtet in das weltflüchtige, weltverneinende,
+jenseitige Reich einer an Wagner geschulten Musik: Hanno Buddenbrook
+vor dem Flügel.
+
+Zwischen diesen äußersten Spannungsweiten dehnt sich die Handlung. In
+einer epischen Gegenständlichkeit, die keine Reflexion, keinen blassen
+Bericht zuläßt, die ganz sichtbare, farbige Gegenwart ist, folgen sich
+die Gestalten und Generationen als feste Glieder in der Kette des
+Geschlechts, der Firma, der bürgerlichen Tradition. Dieser Zusammenhang
+umfaßt ihre Weltanschauung. Ihr Unsterblichkeitsglaube ist der epische
+des Geschlechts: "daß er (Thomas Buddenbrook) in seinen Vorfahren
+gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht
+allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein,
+seiner geschichtlichem Pietät übereingestimmt; es hatte ihn auch in
+seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung
+unterstützt und bekräftigt." Die Bibel dieses Glaubens ist die
+Familienchronik: die feierliche Darstellung des Werdens, Ringens und
+Wachsens dieser Folge, der Menschen, der Generation und des Ideals, dem
+sie unterstellt sind: der Firma.
+
+Wie es die Lebensaufgabe der Fürsten- und Königshäuser ist, ihren
+überkommenen Machtbezirk taten- und ehrenvoll zu behaupten und zu
+erweitern, so ist es die verantwortungsvolle Aufgabe des Bürgerhauses,
+die ererbte Firma zu immer weiterer Wirkung, immer reicherer Würde zu
+führen. Eine überpersönliche, sittliche Aufgabe! Ihr opfert man seine
+Ruhe, seine Liebe, sein Glück. "Wir sind nicht dafür geboren, was wir
+mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück
+halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende
+Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie
+wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen
+und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und, ohne
+nach rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen
+Überlieferung folgten."
+
+Die ersten beiden Generationen des Romans sind von diesem Lebensgefühl
+noch bluthaft durchdrungen; in den beiden letzten zersetzt es sich. Nur
+Toni Buddenbrook bleibt sein gläubiger Träger. Ihm opfert sie ihre
+Jugendliebe, um seinetwillen heiratet sie den erst widerwärtigen
+Grünlich, um seinetwillen trennt sie sich von ihm, um seinetwillen geht
+sie die neue We mit Permaneder ein. Und als alle männlichen Glieder der
+Familie gestorben, die Firma aufgelöst ist, da bleibt ihr Lebenstrost,
+einmal in der Woche die weiblichen Verwandten zu sich zu laden: "Und
+dann lesen wir in den Familienpapieren." Ihr Gegensatz ist ihr Bruder
+Christian. Ihn vermögen die alten Lebensformen nicht mehr zu halten,
+sie lassen ihn gehen, er läßt sich gehen: "Wie satt ich das alles habe,
+dies Taktgefühl und Feingefühl und Gleichgewicht, diese Haltung und
+Würde, wie sterbenssatt!" Die Firma, das überpersönliche Ideal der
+Familie bedingt ihn nicht. Er zergeht in "ängstlicher, eitler und
+neugieriger Beschäftigung mit sich selbst". Sein Interesse für Theater,
+Varieté und Zirkus ist das Interesse des formlos gewordenen Bürgers für
+"die Fahrenden" die dem mittelalterlichen Bürger als unehrlich galten.
+
+Schließlich heiratet er seine Kurtisane; den alten, bürgerlichen Formen
+entglitten, unfähig, sich neue zu bilden, fällt er seelisch und
+körperlich auseinander. Zwischen Toni und Christian steht Thomas
+Buddenbrook. Die Gefahren Christians, der Hang zur Formlosigkeit und
+Subjektivität, ist ihm nicht fremd. Er bekämpft und überwindet sie. Er
+wird zum Helden des sinkenden bürgerlichen Ideals. Aber die alten
+Lebensformen halten weniger ihn, als daß er sie hält. Der Held wird zum
+Schauspieler des Ideals; er repräsentiert es, er verkörpert es nicht.
+"Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in
+Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Innern,
+verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen
+Enschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine
+Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Dehors zu wahren,
+hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewußt,
+gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung, jede
+geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden
+Schauspielerei geworden war."
+
+Diesem Schauspieler des Ideals wird als Sohn Hanno Buddenbrook, der
+viel zu müde ist, um zu schauspielern, viel zu vornehm, um gleich
+seinem Onkel Christian zum "Fahrenden" zu werden. Wenn er zur Kunst
+flüchtet, so sucht er nicht das Formlose im Leben, sondern das Formlose
+jenseits des Lebens: die Musik, die vor und über aller Erscheinung ist,
+das Meer der unendlichen Melodie, das sein Tropfendasein erlösend
+zurücknimmt. Von den alten bürgerlichen Lebensformen verlassen, nach
+neuen nicht begierig, ein Bürger des Metaphysischen, das sich seinem
+Vater nur in der Lesung Schopenhauers einmal blendend enthüllt hat,
+gibt er leidvoll und heimwehmüde vor der Zeit das Leben preis.
+
+Wie diese -- erst in Hanno ungehemmte -- "Sympathie mit dem Tode"
+heimlich aus der bürgerlichen Diesseitigkeit der Generationen
+emporwächst, ist in weitgespannter, erschütternder Symbolik
+dargestellt. Die ersten, eigentlich epischen, lebensbejahenden
+Generationen verstehen den Tod nicht: "Kurios! Kurios!" murmelt der
+alte Monsieur Buddenbrook am Sterbebett seiner Frau mit leisem,
+erstauntem Kopfschütteln; mit einem letzten "Kurios" kehrt er selber
+sich sterbend zur Wand. "Mit Furcht und einem offenkundigen, naiven
+Haß" beobachtet die Konsulin Buddenbrook, "die ehemalige Weltdame, mit
+ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und zum
+Leben überhaupt" die Fortschritte ihrer Krankheit; sie kämpft mit dem
+Tod in langer, verzweifelter Kraft. Thomas Buddenbrook aber, der Held
+und Schauspieler des bürgerlichen Ideals, ist längst so vom Tode
+unterhöhlt, daß ein Zahngeschwür genügt, um seine krampfhafte
+Lebensbehauptung niederzureißen. Mitten auf der Straße wirft es ihn um;
+der so lang und gewissenhaft Würde, Haltung, Form verteidigt, liegt im
+Kot und Schneewasser des Fahrdamms. "Seine Hände, in den weißen
+Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze." Hanno aber
+kämpft nicht mehr gegen den Tod; hemmungslos ersehnt und ruft er ihn
+als den Freund und Erlöser.
+
+Mit ähnlicher, weitgespannter Symbolik, mit gleicher Fülle und Dauer
+der inneren Beziehungen baut sich alles auf in diesem Roman. Von den
+alten Epen ist das Leitmotiv übernommen und über Richard Wagner her
+musikalisch verinnerlicht, symbolisch vertieft. Gegenüber der lockeren
+Form des "Wilhelm Meister" und des "Grünen Heinrich" ist hier an
+Geschlossenheit des epischen Aufbaus in Deutschland ein Höchstes
+erreicht.
+
+Die "Buddenbrooks" schreibt Thomas Mann, dreiundzwanzig bis
+sechsundzwanzig Jahre alt, in Italien und München, so wie Gottfried
+Keller seinen "Grünen Heinrich" in Berlin niederschrieb. Nicht er
+allein schuf diesen Roman; durch ihn schuf und gestaltete sich sein
+Geschlecht, sein Heimatstaat Lübeck, wie der Berner Stadt-Staat durch
+Jeremias Gotthelf, Zürich durch Gottfried Keller, das alte Berlin durch
+Theodor Fontane sich Gestalt erdrang. Aber Gottfried Keller kehrte aus
+Berlin nach Zürich heim, wurde Staatsschreiber und Führer, nahm in
+Anteil und Liebe neue Lebensbilder und -schicksale seines Volkes auf,
+Grund und Gehalt zu neuen Schöpfungen. Was blieb Thomas Mann, dem
+Epiker, der seine eigene Welt zu Grabe getragen, der ihr das letzte
+Zeichen seiner Liebe im Riesendenkmal seiner Dichtung geschaffen hatte?
+Ein Lyriker hat die Natur, ein Dramatiker. die Idee, die seiner Kunst
+Boden und Wachstum geben. Ein Epiker ist undenkbar ohne Volks- und
+Heimatzusammenhang. Im Weh verfrühter Hellsicht stand der Einsame,
+Zurückgebliebene, ein König ohne Land, ein Bildner ohne Stoff. Sollte
+er zum bloßen Zuschauer, Beobachter, Kritiker, zum weiteren Zersetzer
+des Lebens werden? Sollte er das Leben verachten, das ihm nicht gemäß
+war, und hochmütig sich in das Reich einer rein formalen Kunst, einer
+l'art pour l'art, zurückziehen? Das Europäisch-Intellektuelle seine
+Wesens, das Romanische seines Blutes drängte zu diesem Entscheid. Der
+Zwiespalt wurde zur Dichtung: In den "Buddenbrooks" hatte Thomas Mann
+sich Rechenschaft über das Problem seines Lebens gegeben, im "Tonio
+Kröger" gab er sich Rechenschaft über seine Kunst.
+
+Und er blieb dem Leben treu, obwohl es ihn allein gelassen hatte. Über
+die Qual der Einsamkeit, den Hochmut der Form und Erkenntnis hinweg
+bekannte, ja predigte er "die Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen
+und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt aus ihr, und
+fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von der
+geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen reden könne
+und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sei."
+Er verspottete und geißelte die Gefahren des Literaten- und
+Ästhetentums -- seine Gefahren! -- im Schriftsteller Spinell. In
+Leidverwandtschaft kehrte er sich den Enterbten des Lebens zu, sprach
+er sein Leid in ihrem Leid, im Weltleid aus. Wie in den "Lamentationen"
+Heines, den das Leben verwiesen und in die Matratzengruft geworfen
+hatte, so ziehen die Verfolgten und Verratenen des Lebens -- Tobias
+Mindernickel, der kleine Herr Friedemann, der Bajazzo, Rechtsanwalt
+Jacoby, Friedrich Schiller, Baronin Anna, Lobgott Piepsam, Van der
+Qualen, Hieronymus -- mit friedlosen, sehenden Augen an uns vorüber.
+
+Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein
+Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und
+Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine junge
+Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden, nicht in
+Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "Königliche Hoheit" zeichnet die
+Erlösung durch die Liebe von einem formalen, repräsentativen Dasein zur
+Tat und Gemeinschaft, zum "strengen Glück". Ein Kunst- und Märchenspiel
+von romanischer Klarheit, Bewußtheit, Überlegenheit der Form, von
+deutscher Innerlichkeit, Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des
+Gehalts. Der "Gesang vom Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines
+Töchterchens, Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast
+ohne ästhetische Form, nur als Ausdruck der formgewordenes,
+harmonischen Persönlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht
+in Bauschan, dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des
+Lebens und der Liebe ein.
+
+Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen
+Zugehörigkeit und Entschlossenheit, dieser Wärme, Liebe und Güte formt
+er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die
+zersetzenden Kräfte in sich und der Umwelt: an die auflösende
+Erkenntnis, die Relativierung der Werte und -- tiefer und tragischer im
+Konflikt seines Helden -- an die leere Schönheit, die bloße Form: "Der
+tiefe Entschluß des Meister gewordenen Manns, das Wissen zu leugnen, es
+abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den
+Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im geringsten
+zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist, liegt hinter dem
+Dichter Aschenbach, dem Helden der Meisternovelle 'Der Tod in Venedig'."
+Im Kampfe zwischen Geist und Kunst hat er leidenschaftlich für die
+Kunst gefochten. Um der Kunst willen hat er dem Leben entsagt, an der
+Einsamkeit seines Schreibtisches hat er gegen seinen schwächlichen
+Körper in zähem, unermüdlichem Ringen die reine Form seiner Werke
+erkämpft, die ihm ebenso ethische wie ästhetische Aufgabe war. Aber
+hinter dieser Form, die den Spannungen seines Willens und Bewußtseins
+abgerungen, die nicht organischen Lebens- und Liebestiefen entwachsen
+ist, droht ständig die Gefahr der Abspannung und Entfesselung, der
+Zügellosigkeit und Vernichtung. Auf der Höhe seines Ruhmes verführt und
+überwältigt sie ihn. Sie lockt ihn nach den Gestaden Venedigs, wo das
+das Leben Schein und die Kunst Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm
+die Liebe zu Tadzio, dem schönen Polenknaben, eine zuchtlose
+Ausschweifung seiner künstlerischen und sinnlichen Phantasie, sie sich
+nicht an der Wirklichkeit beruhigen, berichtigen, gestalten kann noch
+will, eine weglose Liebe zur reinen Form, die zur Unfruchtbarkeit
+verdammt ist, die nicht zeugen kann im Geliebten, die widernatürlich
+und tödlich ist. In tragischer Steigerung, in unentwirrbarer Mischung
+des Heiligen und Verworfenen, jagt sie "den Meister, den würdig
+gewordenen Künstler", durch alle Leiden und Leidenschaften, alle
+Verzückung und Erniedrigung zur "Unzucht und Raserei des Untergangs".
+Nie sind die eingeborenen Gefahren der Kunst würdiger und
+erschütternder gestaltet, die Gefahren der Schönheit, die dem Geist wie
+den Sinnen verknüpft ist, die in jedem von ihnen zur Ausschweifung
+neigt, sofern nicht beide in der höheren Einheit der Seele sich
+organisch finden und binden.
+
+Dann kam der Krieg. Und über alle militärischen und politischen Kämpfe
+erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche Auseinandersetzung zweier
+Weltanschauungen, jener Gegensätze, die er in sich selber erlitten und
+entschieden hatte: das Germanische und das Romanische, das
+Deutsch-Dichterische und das Europäisch-Intellektuelle, Kunst und
+Erkenntnis, Gehalt und Form, Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen
+Bruder war der Teil seines Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt
+hatte, Wille und Angriff geworden. Gegen seinen Bruder mußte er diesen
+Kampf noch einmal aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden.
+Alle großen Epiker waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im
+ästhetischen, auch im ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher:
+Wolfram von Eschenbach im "Parzival", Grimmelshausen im
+"Simplizissimus", Goethe im "Wilhelm Meister" Gottfried Keller im
+"Grünen Heinrich" und "Martin Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem
+seiner schollentreuen Romane. Es brauchte des französischen Vorbildes,
+Emil Zolas, nicht, das Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das
+Bild, das sie formen wollten und mußten aus dem Rohstoff ihres Volker:
+das entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein
+soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, französischen,
+rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Thomas
+Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er gestaltete und
+verkündete den metaphysischen, deutschen und russischen, religiösen, ja
+mystischen, pessimistischen Menschen des 19. Jahrhunderts. Dem
+Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs des Großen
+entgegengestellt, den geschwätzigen, optimistischen, rationalistischen
+"Vier Evangelien" des Romanciers die Dämonie und herrische Pflichttreue
+des gottgeschlagenen und gotterwählten Königs, der sich verzehrte in
+Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, daß von ihm nichts übrigblieb
+wie ein abgemergelter, verschrumpfter Kinderleib, den ein Diener mit
+einem seiner Hemden bekleiden mußte, da "man kein heiles, sauberes Hemd
+in seinen Schubladen fand".
+
+Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung ersehnt
+und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kräfte, die imstande sind,
+"die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und
+seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und
+Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt" zu
+überwinden, "dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem
+Wiederaufbau seelischer Form zu dienen" und so dem heimatlosen Epiker,
+seinem Leben wie seiner Kunst, eine neue Welt zu schaffen.
+
+Heinrich Mann aber, Thomas Manns Gefahr und Gegensatz, ist nicht nur in
+und durch Thomas Mann überwunden, ist politisch an der Entwicklung der
+Zeit, künstlerisch an seiner zersetzenden Subjektivität und
+Lieblosigkeit zergangen. Thomas Mann hatte sein Geschlecht und Volk
+noch im Verfall umfaßt, hatte am Ende der Reihe, ein Zugehöriger und
+doch Außenstehender, in Liebe und Ironie zugleich ihm Gestalt gegeben.
+In Sehnsucht hatte jedes seiner Werke vom Wiederaufbau, der neuen
+Lebensform und Lebensgemeinschaft gehandelt. Im tiefsten Sinn war ihm,
+dem wahren Epiker, Richard Dehmels Spruch Lebensgefühl gewesen: "Alles
+Leid ist Einsamkeit -- alles Glück Gemeinsamkeit." Heinrich Mann hatte
+sich stets wichtiger genommen als sein Geschlecht und sein Volk. Früh
+und fremd hatte er Vaterstadt und Vaterland den Rücken gekehrt. Der
+romanische Tropfen in seinem Blute trieb ihn nach Italien, das Thomas
+erst sein tiefes Deutschtum deutlich machte. Eine Zeitlang glaubte
+Heinrich Mann, dort "zu Hause zu sein. Aber ich war es auch dort nicht;
+und seit ich dies spürte, begann ich etwas zu können. Das Alleinstehen
+zwischen zwei Rassen stärkt den Schwachen; es macht ihn rücksichtslos,
+schwer beeinflußbar, versessen darauf, sich selbst eine kleine Welt und
+auch die Heimat hinzubauen, die er sonst nicht fände. Da nirgends
+Volksverwandte sind, entzieht man sich achselzuckend der üblichen
+Kontrolle. Da man nirgends eine Öffentlichkeit weiß mit völlig gleichen
+Instinkten, gelangt man dahin, sein Wirkungsbedürfnis einzuengen, es an
+einem einzigen auszulassen, wodurch es gewinnt an Heftigkeit. Man geht
+grelle Wege, legt das Viehische neben das Verträumte, Enthusiasmen
+neben Satiren, koppelt Zärtlichkeit an Menschenfeindschaft. Nicht der
+Kitzel der andern ist das Ziel: wo wären denn andere! Sondern man
+schafft Sensationen für einen einzigen. Man ist darauf aus, das eigene
+Erleben reicher zu fühlen, die eigene Einsamkeit gewürzter zu
+schmecken." Welch treffendes Selbstbildnis! Welch Zerrbild eines
+Epikers! Ohne Wurzelboden, ohne Zusammenhang, ohne Liebe, im
+Selbstgenuß hochmütiger, überreizter Sensationen, zersetzender
+Erkenntnisse, ehrgeiziger Spannungen. Ihm wird die Kunst zur
+"widernatürlichen Ausschweifung". "Pippo Spano", das Gegenbild zum
+"Tonio Kröger", bekennt in leidender zuchtloser Lässigkeit: "Sie (die
+Kunst) höhlt ihr Opfer so aus, daß es unfähig bleibt auf immer zu einem
+echten Gefühl, zu einer redlichen Hingabe. Bedenke, daß mir die Welt
+nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen. Alles, was du siehst und
+genießt: mir wäre nicht an ihrem Genuß gelegen, nur an der Phrase, die
+ihn spiegelt. Jeder goldene Abend, jeder weinende Freund, alle meine
+Gefühle und noch der Schmerz darüber, daß sie so verderbt sind -- es
+ist Stoff zu Worten." Das ganze Leben und Schaffen Heinrich Manns ist
+ästhetischer Selbstgenuß statt ethischer Selbstvollendung oder
+-überwindung.
+
+Welche epischen Werke können aus solcher Willkür wachsen? Das Hauptwerk
+"Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy" (1902-03)
+weiß der Wurzel- und Heimatlosigkeit seines Dichters keine andere
+Heldin als die Balkanprinzessin der Operetten. Macht, Kunst und Liebe
+werden -- in reinlichem Nacheinander! -- ihr Lebensinhalt. Der Balkan,
+Venedig, Neapel sind die billigen Kulissen dieser Stationen. Da
+Heinrich Mann nicht seine Literatur aus dem Leben, sondern sein Leben
+aus der Literatur empfängt, sind alle Figuren und Leidenschaften aus
+zweiter Hand, ästhetische, durchsichtige, monumentalisierte Schemen,
+nicht unergründliche, blut- und seelenvolle Gestalten, nur der
+papiernen Phantasie von Literaten und Großstädtern überzeugend. Was
+ihnen an organischem Leben fehlt, ersetzen sie durch die Überreiztheit
+ihrer Gefühle und Gebärden, durch Rausch und Hysterie -- eine krampfige
+Nachfolge d'Annunzios.
+
+Neben solchen Orgien einer überreizten Literatenphantasie stehen die
+satirischen Romane: "Im Schlaraffenland", "Professor Unrat", "Der
+Untertan" usw. Sie sind Emil Zola näher, zumal ihr bester, "Im
+Schlaraffenland" -- eine Schilderung des zersetzten Berlin W -- aber
+ohne Zolas soziales Pathos. Auch die Satire bedarf der Liebe, um zeugen
+und gebären zu können, der Liebe zur armen, irregehenden Menschheit
+oder zum neuen, reineren Ideal. "Ich glaube nicht" -- sagt Thomas Mann
+in den "Betrachtungen" -- "daß ohne Sympathie überhaupt Gestalt werden
+könne; die bloße Negation gibt flächige Karikatur." Auch hier scheint
+die Literatur, nicht das Leben -- die Witzblätter scheinen Heinrich
+Mann die Gestalten und Vorgänge zum "Professor Unrat" und "Untertan"
+gegeben zu haben: so flächig und billig sind sie gezeichnet. Jede
+lebendige Gestalt muß Monate unter dem Herzen getragen, muß mit Blut
+genährt sein.
+
+Nur e i n Roman ist Heinrich Mann gelungen, dem Wurzelboden und
+Atmosphäre eigen: "Die kleine Stadt". Es ist bedeutsam, daß er in
+Italien spielt: "Eine Zeitlang glaubte ich (dort) zu Hause zu sein."
+Einmal hat Heinrich Mann einen erlebten Gehalt und mit ihm eigene Form
+gefunden: dem immer bewegten Völkchen des Südens, den flackernden
+Leidenschaften entspricht ein bewegter, farbiger, flirrender
+Impressionismus des Stils. Diese italienischen Kleinbürger, die sich
+heißblütig und beweglich an ihren Worten und Gebärden berauschen, alle
+ein wenig Künstler, ein wenig Schauspieler, ein wenig d'Annunzio, sind
+in ihrer Menschlichkeit und Kindlichkeit so liebenswürdig erlebt und
+gestaltet, daß sie und ihr Schicksal zu menschlich-symbolischer
+Bedeutung wachsen. Ihre Instinkte glimmen unter der Asche der täglichen
+Eintönigkeit. Da zieht eine Schauspielertruppe in die Stadt und weht
+sie nach allen Seiten zu Flammen auf. Sinnlichkeit und Liebe,
+Eifersucht und Ehrgeiz, vergessene und noch schlummernde Leidenschaften
+wirbeln knisternd hoch. Der Kampf zwischen Priester und Advokat,
+Reaktion und Fortschritt teilt und erregt die Massen. Die Glocken der
+Kirche und die Melodien der Oper streiten miteinander. Doch aus dem
+Feuer der Leiden und Leidenschaften glüht die Blume der Versöhnung,
+der Verbrüderung, der Liebe zu Volk und Menschheit auf: "Was sind
+wir!" -- fragt der Advokat beim Abzug der Schauspieler. -- "Eine kleine
+Stadt. Was haben uns jene gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch -- wir
+haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein Stück
+vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit." Für kurze Stunden,
+für eilende Seiten durchzuckt Heinrich Mann, den heimatlosen Literaten,
+das Wesen und Glück des epischen Dichters: "Was macht diese Dinge
+groß?" "Daß ein Volk sie mitfühlt, ein Volk! das wir lieben!" "Ich habe
+ein Volk gesehen! Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre
+uns! Wir wecken seine Seele, wir... Und es gibt sie uns!"
+
+Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums -- eines
+patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums -- in der Grundstimmung
+verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf von Keyserling
+(1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen, so hat Kurland,
+Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am längsten und reinsten
+behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen Kriegsschicksal der
+baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am Ende einer
+Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München erlebt der
+Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet, vom
+Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend
+wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische,
+gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die
+Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen,
+erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken,
+keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen
+Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser",
+"Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu
+einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer
+Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden,
+melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes verdankt.
+
+Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die
+naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das
+Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den
+Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze
+hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun
+vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und
+Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und
+-gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht
+geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ",
+sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren
+kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl
+dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner
+Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht
+nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht
+um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst
+die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt
+zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser
+Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen
+kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter
+zurück: "...Unsere Gesetze hier --" "Glauben Sie an diese Gesetze?"
+"Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie Thomas
+Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten Ideale.
+
+Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer unterstellen
+sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und äußeren Leben die
+Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in jede Tagesstunde
+bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein Drama zu passen."
+
+Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die
+Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den
+Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der
+Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine
+berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und
+wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen
+Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die
+Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt
+durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum
+Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte,
+um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle
+Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um
+sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir
+sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt."
+
+Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der bäuerlichen
+Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam gestaltet
+durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter Roseggers
+"Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist durch die
+wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren Zersetzung, die da
+und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie "Die Fahnenweihe",
+1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit der Natur, der
+Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene Formenkräfte, die
+das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus aufbauen und erneuern,
+wie sie Knut Hamsun im größten modernen Bauernroman, einem wahrhaft
+altepischen Werke, dargestellt hat, im "Segen der Erde". Unseren
+Bauerndichtern ist die Strenge und Größe dieses Zusammenhanges kaum
+deutlich geworden. Ganghofer ist oberflächlich und sentimental, auch
+Rosegger ist in aller Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu
+unproblematisch im tieferen Sinne -- nur die "Schriften des
+Waldschulmeisters" und "Des Gottsucher" ragen hervor --, Gustav
+Frenssens einst so berühmte Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll
+landschaftlicher Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des
+liberalen protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in
+der Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der
+Gesamtdarstellung lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne
+Einheit der inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas
+Bauernromane "Andreas Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber
+naturalistisch gebunden. Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur
+grübelnden Mystik seiner Bauern die natürliche Fülle und plastische
+Kraft; er ist -- wie alle Romane dieses Ringenden -- mehr reflektiert
+als gewachsen.
+
+Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die
+Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen
+Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben
+wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads
+Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers
+Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist
+in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums
+zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal"
+ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff
+und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung
+des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen.
+
+Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman
+entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen
+Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der
+Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch
+hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern.
+Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen
+von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung
+stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu
+können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie
+"Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die
+reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus
+der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer
+"Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit
+ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll
+tragischer Schönheit ist.
+
+Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen
+Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas.
+Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen
+sind ihr Feld. Die Eiffellandschaft mit ihren wortkargen, düsteren
+Menschen, die -- einmal geweckt in ihren Leidenschaften -- furchtbar
+ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das Weiberdorf", "Vom
+Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer Beobachtung und
+sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme von außen, mehr
+eine geschickte Schriftstellerin als formende Künstlerin.
+
+Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus führen
+die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches
+Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und
+durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche,
+sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und
+Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl
+alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen
+Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem
+bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt
+es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des
+Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!"
+singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche
+Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist
+die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben,"
+singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.
+
+Eine romantische Natur -- so steht Ricarda Huch in Reflexion und
+Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik hätte
+sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter Nietzsches,
+Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in metaphysischer Glut
+zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück. Das Leben wird ihr
+zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind Kinder der
+Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und Gegenbild:
+Kinder des Lebens.
+
+Metaphysisch klingt -- nach den noch knospenhaften "Erinnerungen von
+Ludolf Ursleu dem Jüngeren" -- die Musik von der Schönheit und
+Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der Triumphgasse",
+kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone". Über diese
+metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die historischen Romane
+zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren, Festbeharrenden. "Die
+Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier Italiens zur
+herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol des Lebens,
+das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt. Wie "ein
+tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der Garibaldi-Romane
+klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri", des dem Tode
+verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In jenen hatte
+noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil gewechselt, hier
+durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen.
+
+Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch aus
+dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der drei
+Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman,
+sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste
+Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen
+Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches,
+Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches,
+Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in
+gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen
+auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel,
+der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber
+scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die
+lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er
+erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so
+fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?"
+
+Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der
+Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen. --
+
+In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die
+zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker
+geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im
+"Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die
+Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen,
+Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts
+dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater
+und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg
+erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat,
+das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer
+Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft
+dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen
+Künftigen.
+
+-- -- -- Gegenüber dem industrialisierten, von Großstädten zersetzten
+Norden Deutschlands ist der Süden reicher an Unmittelbarkeit,
+Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und Hermann Hesse
+wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866) hat sich
+Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und Farmer
+vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und Tatkraft hat
+er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid und Krankheit
+niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit, Liebe und Güte
+blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die Wirklichkeit in festen,
+sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem überirdischen Schimmer
+seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen Schwaben, der das
+Schicksal überlisten will, der -- da ihm die eigene Frau keinen Erben
+schenkt -- sich in schlauer Ausflucht an die Magd heranmacht. Statt des
+Buben kommt aber ein Mädel, und Spott und Lächerlichkeit umschwirren
+ihn. Gekränkt in seiner Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit
+der Magd und dem Kind heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler
+genarrt, geprellt, geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er
+kleinlaut und zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne
+Staunen, ohne Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt,
+ihm das Kind abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm
+widmet: eine reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll
+Freiheit und Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung
+dreier junger Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und
+Verhältnisse sich in tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und
+Wesensform selber schaffen und sich im Wirkungskreis der Menschheit
+einen Platz erobern. Im "Nackten Mann" geht er in die Vergangenheit
+seiner Heimat zurück, ohne die Bedenken gegen den historischen Roman zu
+überwinden. In "Freund Hein" und im "Spiegel" aber kommt hinter der
+herben Gegenständlichkeit seiner Welt die tiefe Musik seiner Seele zum
+klingenden Ausdruck. In "Freund Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in
+der Welt seiner musikalischen Berufung lebt, an den unnachsichtigen
+Forderungen einer wesensfremden Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie
+eine zarte Kammermusik Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf,
+eine Lebensmusik von ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit.
+
+Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto
+weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation
+zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen
+Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp,
+der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der
+Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen
+Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts
+geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts
+als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und
+in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen
+"paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung"
+in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück.
+In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den
+Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige
+stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie
+lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen
+teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen,
+daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und
+Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind."
+
+So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und Mensch
+als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und
+Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen
+Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und
+"Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner
+Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden
+Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die
+Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen,
+daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln
+leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der
+sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie
+sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es."
+Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges
+keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas
+wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher
+von ihnen starb an meiner Seite -- denen war gefühlhaft die Einsicht
+geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die
+Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele waren
+ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem
+Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich
+zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben
+wollte, um neu geboren werden zu können."
+
+
+
+
+DAS DRAMA
+
+Das Wort Drama bedeutet Handlung, insonderheit Kulthandlung. Denn das
+Drama entwickelte sich im alten Griechenland wie in den christlichen
+Staaten Europas aus den Tiefen der religiösen Weltanschauung und des
+Gottesdienstes. Sein letzter Grund ist die leid- und geheimnisvolle
+Zweiheit, in die alles Leben zerspalten ist, in der es fremd, kämpfend
+und doch sehnsüchtig sich gegenübersteht: der Gegensatz von Gott und
+Welt, Geist und Natur, Idee und Sinnlichkeit, All und Ich. Nur ein
+Gott, der vom Himmel herniedersteigt, der die Qual und Zerrissenheit
+des Endlichen selber auf sich nimmt, Dionysos, Christus, vermag in
+seinem Gottmenschentum diese Gegensätze zu einen und zu lösen. Sein
+Leiden und sein Triumph wird zum Inhalt der ersten Dramen: aus den
+dionysischen Dithyramben wächst die griechische Tragödie, aus der
+Liturgie der katholischen Kirche das Weihnachts-, Passions- und
+Osterspiel des Mittelalters. Mit der Renaissance wird an Stelle der
+kirchlichen die philosophische Weltanschauung Unter- und Hintergrund
+des europäischen Dramas. Wie die geheimnisvolle Zweiheit und
+Gegensätzlichkeit des Lebens in den großen Systemen der Philosophen
+sich darstellt und deutet, wie bald dieser, bald jener der beiden
+Lebensgegensätze entwertet, dem anderen untergeordnet, so die Einheit
+erzwungen wird, dann aber wieder beide zur vollen Macht erstarken und
+in unausweichlichem, unerbittlichem Kampf sich gegenüberstehen: das
+begleitet in unbewußter und bewußter Verbundenheit die
+ideelle Entwicklung des deutschen Dramas. Lessings Dramen wachsen aus
+Lebensgefühl und -deutung des Rationalismus, Schillers Dramen aus Kant,
+Kleist teilt den Gegensatz der deutschen Gefühlsphilosophie gegen Kant,
+um Hebbel braut die Atmosphäre Hegels, Richard Wagner findet sich in
+Schopenhauer. Dann folgt der Zusammenbruch der großen philosophischen
+Systeme, der Vormarsch der naturwissenschaftlichen, materialistischen
+Weltanschauung in Deutschland. Über die Nachfahren Schillers, über die
+Nachahmer des französischen Gesellschaftsstückes hebt sich seit 1888
+Gerhart Hauptmann (geb. 1862) mit einem Drama neuen, eignen Stils. Aus
+welchen weltanschaulichen Zusammenhängen, welchem Lebensgefühl war es
+gewachsen?
+
+Als 1885 die süßlich-leere Epigonenzeit unserer Dichtung durch die
+literarische Revolution der Jungen abgelöst wurde, glaubten diese im
+"Naturalismus" eine neue Lebens- und Kunstanschauung gefunden zu haben.
+Wilhelm Scherer verkündete: "Die Weltanschauungen sind in Mißkredit
+gekommen. ...Wir fragen: wo sind die Tatsachen? ...Wir verlangen
+Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die
+wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen
+Maßstab haben wir von den Naturwissenschaften gelernt... Dieselbe
+Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe
+Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf;
+sie gestaltet die Wissenschaften um; sie drückt der Poesie ihren
+Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem
+Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind." Arno Holz und
+Johannes Schlaf glaubten dieser Weltanschauung, im "konsequenten
+Naturalismus" die entsprechende Kunstanschauung erobert zu haben: "Die
+Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach
+Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren
+Handhabung." In den drei Skizzen des "Papa Hamlet", dem Drama "Die
+Familie Selicke" schufen sie ihrer Lehre die Leistung. "Papa Hamlet"
+erschien unter dem Decknamen "Bjarne P. Holmsen". Ihm hat Gerhart
+Hauptmann sein erstes Drama "Vor Sonnenaufgang" (1889) zugeeignet, als
+"dem konsequentesten Naturalisten, in freudiger Anerkennung der durch
+sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung".
+
+In Wirklichkeit war diese Anregung, war der ganze konsequente
+Naturalismus weder für Gerhart Hauptmann, noch für irgendeinen Dichter
+von "entscheidender" Bedeutung; seine Lebens- wie seine Kunstanschauung
+war unhaltbar. Von einer rein beschreibenden Wissenschaft, wie der
+Naturwissenschaft, kann man niemals zu einer Weltanschauung, zur Sinn-
+und Wertsetzung, vom Sein niemals zum Sollen vordringen. Und
+ebensowenig ist ein bloßes Abkonterfeien des Lebens durch eine
+naturalistische Kunst möglich; schon der Erkenntnisprozeß ist -- hat
+Kant dargetan -- kein passives Abbilden, sondern ein Formen der
+Wirklichkeit; alle Kunst ist die Umsetzung der natürlichen in eine von
+Geist und Gefühl des Künstlers stilisierte Welt.
+
+Mehr als die Formenwelt des Naturalismus, als seine unhaltbare
+Kunstanschauung haben Ansätze zu einer Lebensanschauung aus der
+Stoffwelt des Naturalismus Gerhart Hauptmann den Weg zu sich selber
+frei gemacht. Dem Naturalismus der Form hatte sich fast überall der
+Sozialismus des Stoffs verbunden und in ihm die Keime eines neuen
+Gehalts: des sozialen Mitgefühls. Zu den ästhetischen waren ethische
+Tendenzen getreten. Die Entwicklung der Industrie und der Großstadt,
+die Einflüsse Zolas, Ibsens, Tolstois hatte sie geweckt. Von der
+erstarrten und zersetzten Ideen- und Formenwelt des dritten Standes,
+des Bürgertums, hatten sich die jungen Dichter in sozialem Mitleid zu
+der ringenden formbedürftigen des vierten Standes, den Arbeitern,
+gewandt. Und hier war der Weg, der Hauptmann in seine Tiefen führte.
+
+Schon seine erste veröffentlichte Dichtung, das Epos "Promethidenlos"
+(1885), hatte sein soziales Verantwortungs- und Mitgefühl bekundet.
+Ergriffen rief sie den Armen und Elenden zu: "So laßt in eurem Schmutz
+mich hocken -- Laßt mich mit euch, mit euch im Elend sein." Und ein
+Gedicht von 1888 sprach die heilige Leidverbundenheit des Künstlers und
+Menschen aus:
+
+ Ich bin ein Sänger jenes düstren Tales,
+ Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet. -- -- --
+ Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,
+ Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden!
+ Auf mich zuerst trifft jeder eurer Pfeile.
+
+Daß diese Leidverbundenheit nicht nur sozialen, daß sie größeren:
+metaphysischen Tiefen entwuchs, wurde der Urgrund des Dramatikers.
+Obersalzbrunn, Hauptmanns Geburtsort, lag unweit der pietistischen
+Urgemeinden Gnadenfrei und Herrnhut. Ihre christliche Innerlichkeit war
+ihm daheim und mehr noch im Hause seines Oheims zu Striegau, das den
+Sechzehnjährigen aufgenommen, zum Lebensgefühl geworden. In ihr fühlte
+er sich dem Rationalismus und Materialismus, der leeren Kultur des
+technischen Zeitalters fremd. Aus der Schein- und Außenwelt zog es ihn
+zur wahren, inneren Welt: zur Welt der Seele. Die aber offenbarte sich
+ihm nicht bei den Satten, Besitzenden, Hochmütig-Klügelnden, sondern
+bei den Armen im Geiste, den Ringenden und Leidenden. In ihnen glühte
+der ewige Funke, und sie eroberten und behaupteten ihn im Sturm und
+Streit ihres Schicksals, nicht mindere Helden in diesem metaphysischen
+Kampf als die Heroen der großen Tragödie. Ihnen fühlte sich der
+Dramatiker Hauptmann verbunden, nicht sozial nur, wie der Epiker Zola
+seinen Gestalten, sondern metaphysisch. In ihrem Leid stellte er das
+Weltleid, in ihrem Kampf den Zwiespalt alles Lebens dar.
+
+Die Dramen, in denen so das Stoffliche des Naturalismus und Sozialismus
+überwunden, in denen diese Weltanschauung Gestalt geworden ist, sind
+"Die Weber" (1892), "Hanneles Himmelfahrt" (1893), "Fuhrmann Henschel"
+(1898), "Rose Bernd" (1903).
+
+Der Aufstand der Weber im Jahre 1844 war Hauptmann aus Erzählungen des
+eigenen Großvaters, der noch Weber gewesen, vertraut. Ein Buch Alfred
+Zimmermanns "Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien" (1885)
+gab den persönlichen Einzelheiten geschichtlichen Zusammenhang. Den
+Antrieb gab die soziale Erregung der Zeit. Aber der Kampf der Weber
+wurde Hauptmann zum erschütternden Abbild alles Menschheitskampfes.
+
+Wie hier die Fabrikanten und die Kreaturen der Fabrikanten bis zum
+jüngsten Lehrling den hungernden, verhungernden Webern entgegenstehen,
+hartherzig, hohnlachend, während die abgemergelten Kinder ohnmächtig zu
+Boden schlagen, während die entkräfteten Greise verwirrt werden und in
+Zungen reden, das bedeutet nicht mehr einen sozialen Zwiespalt, der mit
+Geld und Brot geschlichtet werden könnte, es bedeutet die metaphysische
+Einsamkeit alles Endlichen, das brückenlose Nichtverstehen und
+Mißverstehen von Mensch zu Mensch. Und wenn nach not- und arbeitdumpfem
+Leben, am Rande des Grabes die alten Weber in weinendem, verzweifeltem
+Ingrimm ihre Knochenarme emporrecken: "Das muß anderscher wer'n, mir
+leiden's ni mehr!", so ist das nicht der Kampfruf sozialer Rebellion,
+so ist das die Anklage Karl Moors: "Menschen haben Menschheit vor mir
+verborgen, da ich an Menschheit appellierte," so ist das der tragische
+Aufschrei der Rütliszene:
+
+ Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht:
+ Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann finden,
+ Wenn unerträglich wird die Last, greift er
+ Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
+ Und holt herunter seine ewigen Rechte...
+ Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
+ Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht...
+ Wie stehn für unsre Weiber, unsre Kinder!
+
+Den Unterdrückten Schillers wird wenigstens das Wort zur Befreiung, der
+Gedanke zur Erlösung. Hin ist die Kreatur in der ganzen Dumpfheit und
+Gebundenheit des Endlichen. Und wenn sie anmarschieren gegen ihre
+Peiniger: "Am liebsten wär ich abgestiegen und hätte glei jed'm a
+Pulverle gegeben" -- erzählt Chirurgus Schmidt, der vorüberfuhr -- "Da
+trottelt eener hinter'm andern her wie's graue Elend und verfiehren ein
+Gesinge, daß een' fermlich a Magen umwend't"; und wenn der greise
+Baumert als Rebell erscheint, von den paar Tropfen ungewohnten Alkohols
+unsicher, einen geschlachteten Hahn als höchste Siegestrophäe
+mitführend, und die Arme breitet: "Brie -- derle -- mir sein alle
+Brieder!", so ist der trostlose Aufruhr der Menschheit gegen das
+Schicksal, der tragische Sehnsuchts- und Liebesruf aller Einsamen und
+Gehetzten niemals erschütternder symbolisiert.
+
+Zur höchsten dramatisch-metaphysischen Gipfelung aber steigt der letzte
+Akt. Da wendet sich der alte, fromme Hilse an seinen Sohn, der den
+Aufrührern zueilen will: nein, er wird sich nicht empören, auch am
+Rande des Grabes nicht, er weiß, daß keine Hilfe und Erfüllung möglich
+ist in der Welt des Irdischen: "Du hast hier deine Parte -- ich drieben
+in jener Welt. Und ich lass' mich vierteelen -- ich hab' ne Gewißheet.
+Es ist uns verheißen. Gericht wird gehalten, aber nich mir sein
+Richter, sondern: mein ist die Rache, spricht der Herr unser Gott."
+Gegen diesen Anwalt des Jenseits, der klaglos alle Leiden des Diesseits
+auf sich nimmt, der -- wie je ein Schillerscher Held -- "durch eine
+freie Aufhebung alles sinnlichen Interesses" die Tragik des Lebens
+überwinden will, kehrt sich seine Schwiegertochter, die
+unentwurzelbare, schicksalhafte Vertreterin des Diesseits: die Mutter.
+Nie hat ein Held Schillers oder Hebbels die tragische Wucht und
+Notwendigkeit seines Lebensgefühls gewaltiger dargetan: "Mit Euren
+bigotten Räden... dadervon da is mir o noch nich amal a Kind satt
+gewor'n. Derwegen ha'n se gelegen alle viere in Unflat und Lumpem. Da
+wurde ooch noch nich amal a eenzichtes Winderle trocken. Ich will 'ne
+Mutter sein; daß d's weeaß! und deswegen, daß 'd's weeaß, winsch ich a
+Fabrikanten de Helle und de Pest in a Rachen 'nein. Ich bin ebens 'ne
+Mutter. -- Erhält ma' woll so a Wirml?! Ich hab' mehr geflennt wie Oden
+geholt von dem Augenblicke an, wo aso a Hiperle uf de Welt kam, bis d'r
+Tod und erbarmte sich drieber. Ihr babt euch an Teiwel geschert. Ihr
+habt gebet't und gesungen, und ich hab' mir de Fieße bluttig gelaufen
+nach ee'n eenzigten Neegl Puttermilch. Wie viel hundert Nächte hab ich
+mir a Kopp zerklaubt, wie ich ok und ich keente so a Kindl ok a eenzicb
+Mal um a Kirchhof 'rumpaschen. Was hat so a Kindl verbrochen, hä? und
+muß so a elendigliches Ende nehmen -- und drieben bei Dittrichen, da
+wer'n se in Wein gebad't und mit Milch gewaschen. Nee, nee: wenn's hie
+losgeht -- ni zehn Pferde soll'n mich zuricke halten. Und das sag ich:
+stirmen se Dittrichcns Gebäude -- ich bin de erschte -- und Gnade
+jeden, der mich will abhalten."
+
+Schiller hatte des überlieferten Stoffes und der überlieferten
+dramatischen Form wegen im "Wilhelm Tell", seinem Drama der
+Volkserhebung, drei Handlungen (Tell-, Rütli-, Rudenz-Handlung)
+nebeneinander laufen lassen. Hauptmann wagt es, die Masse der Weber zum
+dramatischen Helden zu machen und in einer gewaltigen Steigerung zum
+Gipfel zu führe. Im üblichen Dramenbau wäre dies die Höhe des dritten
+Aktes. Die "Peripetie" fehlt. Aber in der Seele des Zuschauers drängen
+sich die zwei letzten, ungeschriebenen Akte: sie sieht und leidet
+voraus, wie dieses Häuflein Menschheit umsonst gegen sein Schicksal
+aufstand, wie es ein paar Stunden sich frei und erlöst fühlen darf, um
+dann nur um so grausamer i de dumpfe, leidvolle Gebundenheit alles
+Endlichen zurückgeworfen zu werden.
+
+Nur wenn Staub und Asche des Irdischen und Körperlichen verwehen, wird
+der göttliche Funke der Seele frei: im Tode oder im Traume. Das
+vierzehnjährige "Hannele", das vor seinem verkommenen brutalen Vater in
+den vereisten Dorfteich flüchtet, das sich nur fürchtet vor dem Leben,
+das so gern in den Himmel kommen möchte zur Mutter und zum lieben Herrn
+Jesus, das im gespenstig-grotesken Elend des Armenhauses in
+Fieberträumen sein Dasein erfüllt, ehe es zu Ende geht, wird zum
+erschütternden und erlösenden Bild der Menschenseele. Wenig Dichtungen
+sind so innerst musikalisch wie diese Traumdichtung, die zwischen der
+Welt der Seele und der Wirklichkeit hin und her geht, unbehindert und
+schöpferisch. Aus den gegebenen Elementen der kindlichen, dörflichen
+Seele, der Bibel, dem Märchen, dem Vater, der Mutter, dem Lehrer, baut
+sie eine Welt und Handlung auf, die alle tieferen Beziehungen, die den
+metaphysischen Sinn des Lebens in sich schließt.
+
+In "Fuhrmann Henschel" geht das Gefühl von der dunklen Macht der Umwelt
+bis zur vollen Passivität. Aber es ist nicht die Abhängigkeit vom
+Einzelnen, Zufälligen -- wie im Schicksalsdrama alten Stils --, die den
+Fuhrmann erdrückt, es ist die unentrinnbare tragische Verstrickung und
+Zwiespältigkeit alles Endlichen, die er dumpf erfühlt, gegen die jeder
+Widerstand unnütz ist. Ein schlichter, hilfloser Mensch starrt durch
+die Fenster seiner Kellerwohnung in den nächtlichen Himmel, grübelt
+nach einer Schuld, die ihn zu Boden gerissen, und findet keine, grübelt
+nach einem Sinn hinter den Geschehnissen, die ihn fortdrängen, und
+findet keinen, und bäumt sich nicht auf und rächt sich nicht und geht
+still ins Dunkel: "Ane Schlinge ward mir gelegt, und in die Schlinge da
+trat ich halt nein... Meinswegen kann icb auch schuld scin. Wer weeß
+'s?! Ich hätt't ja besser kenn'n Obacht geben. Der Teifel ist eben
+gewitzter wie ich. Ich bin halt bloß immer grad'aus gegangen."
+
+Hauptmann hat den "Fuhrmann Henschel" in der ersten Sammlung seiner
+Werke unter die "Sozialen Dramen" eingereiht, obwohl dieser Titel
+eigentlich nur das erste, noch tendenziöse seiner Dramen "Vor
+Sonnenaufgang" trifft Henschel steht weder sozial sonderlich tief -- er
+ist Fuhrwerksbesitzer und hat einen Knecht unter sich --, noch ist sein
+Schicksal durch seine soziale Stellung bedingt. Auch "Rose Bernd" ist
+kein soziales Drama, wenngleich es so eingestellt ist. Man möchte es in
+die Reihen der bürgerlichen Tragödien ordnen, zu Schillers "Kabale und
+Liebe" und Hebbels "Maria Magdalene", zumal sich die Gestalt des Vaters
+in allen verwandt geblieben. Und doch sprengt die tragische Gewalt des
+Hauptmannschen Dramas auch die bürgerliche Welt, ihre verhängnisvolle
+In-sich-Gebundenheit, und bricht zu den letzten Tiefen des
+Metaphysischen durch. Aus naturhafter Frische und Lebenslust wird ein
+Bauernmädchen aufgescheucht von den Begierden der Männer, "verfolgt und
+gehetzt wie a Hund", in Schuld und Meineid gejagt, bis es das Leben
+verneint und verflucht, bis es am Straßenrande sein Kind in der Geburt
+mit eigenen Händen erwürgt, nicht aus Furcht vor Schande: "'s sullde ni
+laba! Ich wullte 's ni!! 's sullde ni meinc Martern derleida! 's
+sulldte duer bleib'n, wo's hiegehert." Die Natur, das Leben selber
+verneint sich im tragisch-tödlichen Mitleid dieser Mutter. In
+metaphysischer Einsamkeit und Größe ragt die Gefolterte gegen den
+tragischen Himmel des Seins: "Das iis ane Welt... da sein Sie
+versunka... da konn' Sie mer nischt nimeh antun dahier! O Jees, ei ee
+kleen' Kämmerla lebt Ihr mit'nanderl Ihr wißt nischt, was außern der
+Kammer geschieht! Ich wiß! ein Krämpfen hab ich's gelernt! Da is... ich
+weeß ni.. all's von mir gewichen... als wie Mauer um Mauer immerzu --
+und da stand ich drauß'n, im ganz'n Gewitter -- und nischt mehr war
+unter und ieber mir."
+
+Immer wieder bricht dieser tragische Aufschrei aus Hauptmanns Dramen.
+"Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich?" -- fragt Michael
+Kramer am Sarge seines Sohnes. "Das kommt, weil sie lieben müssen. Das
+drängt sich zur Einheit überall, und über uns liegt doch der Fluch der
+Zerstreuung.
+
+Wir wollen uns nichts entgleiten lassen, und alles entgleitet doch, wie
+es kommt!" Aber aus dem tragischen Leid wächst die tragische Liebe.
+Über Gräbern und Leichen finden sich schmerzverkrampfte Hände. Der Tod
+nimmt die Binde von den Augen, von den Herzen, ein milder Erlöser, "der
+ewigen Liebe Meisterstück".
+
+Im "Glashüttenmärchen", "Und Pippa tanzt" (1906) ist die Sehnsucht des
+Endlichen Melodie geworden: ein Schimmer aus der Heimat Tizians, ein
+Blütenkelch aus den Glasöfen Venedigs, eine wehende Flamme: Schönheit!
+Schönheit, nach der alle verlangend haschen, um die alle tanzen und
+werben, die dumpf gebundene Kreatur, der alte Huhn, wie der wissende,
+kühl- und hochentrückte, der greise Wann. Dem sie zu eigen wird, Michel
+Hellriegel ist der reisende Handwerksbursche des deutschen Märchens,
+der treuherzige, unbefangene, der Träumer und Dichter, eigen erst als
+Schatten und Traum, ganz eigen erst dem Erblindeten, der die Augen nach
+innen aufschlägt, unbeirrt vom Wirrsal der Welt.
+
+Einmal nur, im "Armen Heinrich" (1902), scheint die Liebe nicht erst im
+Tode zu siegen. In Wahrheit ist auch hier mit dem Leben gezahlt:
+Ottegebe, sein klein Gemahl, hat es zum Opfer gegeben für den Herrn und
+Geliebten, ist zu Salern unter dem Messer des Arztes gelegen. Graf
+Heinrich hat sein Leben dagegen gegeben, als er ihr Opfer zurückwies,
+als er dem Messer des Arztes Einhalt bot. Da ist der reine, gerade,
+ungebrochene Strom der Gottheit durch ihn hindurchgegangen, erlösend
+und auflösend, hat im Wunder der Liebe den Aussatz des Lebens geheilt
+und ihn aufgenommen "in das urewige Liebeselement".
+
+Vor der metaphysischen Leidens- und Liebestiefe solcher Werke müssen
+alle Versuche Hauptmanns, auch zur Gestaltung sinnlicher, heidnisch
+bejahender Lebenskräfte vorzudringen, unzulänglich bleiben, vom
+Rautendelein der "Versunkenen Glocke" zu Gerusind, "Kaiser Karls
+Geisel", bis zum "Ketzer von Soana". Ein Christusroman "Emanuel Quint.
+Der Narr in Christo" (1910) ist die natürliche Frucht dieses
+Weltgefühls. Ein Armer im Geiste, eines trunkenen Tischlers Stiefsohn,
+in dem Christus mächtig wird und wiederkehrt in die gegenwärtige Welt,
+um aufs neue verfolgt, verraten und gemartert zu werden. Alles
+leidvolle Wissen, alle heilige Liebeskraft Hauptmanns ist in dessen
+Christusroman eingegangen, aber in der Dumpfheit seiner Umwelt entringt
+er sich nicht dem Sektierer- und Quäkerhaften, zur Höhe von
+Dostojewskis "Idiot".
+
+Wie aber Kleist von der tragischen Unbedingtheit seines Lebens und
+Schaffens ausruht in der sinnlichen Lebens- und Listenfülle des
+Dorfrichters Adam, in der humorvollen Gestaltung eines parodistischen
+Heldenkampfes, so ruht Hauptmann im freiem lächelnden Anteil an der
+amoralischen, ungebundenen, ungebrochenen Natur der Waschfrau Wolff. An
+Kraft und Geschlossenheit des Aufbaus steht die Diebskomödie "Der
+Biberpelz" (1893) hinter dem "Zerbrochenen Krug" erheblich zurück; an
+Kraft und Fülle ihrer Hauptgestalt ist sie ihm nahe verwandt.
+
+Mit "Pippa tanzt" (1906) beginnt die schöpferische Kraft Hauptmanns zu
+versiegen. Alle späteren Dramen muten -- wie auch die Erzählung "Der
+Ketzer von Soana" -- nicht mehr ursprünglich, sondern literarisch an.
+Es ist bedeutsam, daß "Pippa tanzt" zugleich das letzte Werk ist, das
+aus dem Boden der schlesischen Heimat wächst. Nie war ein Dramatiker so
+tief, so schicksaltief der seelischen und sinnlichen Atmosphäre seiner
+Heimat verbunden. Da er ihr entwächst in die Welt seiner literarischen
+Erfolge und Interessen, der allgemeinen deutschen und europäischen
+Geistigkeit, sterben seine tiefsten Wünsche ab. Schon auf der Höhe
+seiner Kraft war ein großgeplanter Versuch mißlungen, eine Tragödie
+statt aus der Natur, der seelisch-sinnlichen Natur seiner Heimat, aus
+der Geschichte aufzubauen: "Florian Geyer" (1896), die Tragödie des
+Bauernkrieges war trotz gewaltiger Einzelszenen in der Überfülle des
+Stoffs und der Studien steckengeblieben. Jetzt sucht Hauptmann in
+fränkischen, italienischen, griechischen, peruanischen Sphären seine
+verlorene Lebens- und Schaffenskraft wieder -- vergebens: er empfängt
+nur Leben aus zweiter Hand.
+
+Hauptmanns gerader weltanschaulicher Gegensatz ist Frank Wedekind
+(1864-1918). Ist Hauptmann der Anwalt der unterdrückten Seele, so ist
+Wedekind der Anwalt des unterdrückten Leibes und Fleisches. Er wendet
+sich gegen "die Geringschätzung und Entwürdigung" des Fleisches, gegen
+jene, denen "der Geist das höhere Element, der absolute Herrscher" ist,
+"der jede selbstherrliche, revolutionäre Äußerung des Fleisches aufs
+unerbittlichste rächt und straft" ("Über Erotik"). In der
+Kindertragödie: "Frühlings Erwachen" (1891) -- neunzehn locker
+gereihten, kurzen Szenen im Stile Lenz' und Büchners -- gestaltet er
+die dunklen Wirren und Leiden der Pubertät, der aufwachenden sinnlichen
+Triebe, die von allen Seiten, von Eltern und Lehren, verleugnet,
+verdächtigt und mißleitet werden, Gymnasiasten und vierzehnjährige
+Schulmädel, die auf der gefährlichen Grenzscheide zwischen Kindheit und
+Reife weglos allein gelassen, aller Unruhe und allem Dunkel der neuen
+Lebensmächte preisgegeben und in Verbitterung, Tod und Selbstmord
+hinausgedrängt werden, Kämpfer, die an der Eingangspforte des Lebens
+fallen. Im "Erdgeist" (1895) formt er dann die volle entfesselte Macht
+der Triebe. In Lulu zeichnet er die "Urgestalt des Weibes" die schon in
+der Bibel, im Leben der Kirchenväter und Heiligen immer wieder als das
+dämonische, verführerische sinnliche Element des Lebens zerstörend
+auftaucht, die Schlange, "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". "Sie
+ward geschaffen, Unheil anzustiften, -- Zu locken, zu verführen, zu
+vergiften, -- Zu morden, ohne daß es einer spürt". Lulu nennt sie der
+eine, Nellie, Eva, Mignon der andere; sie hat keinen Namen, wie sie
+keinen Vater hat: sie ist das Urelement der Schöpfung. Jeder sieht sie
+anders, legt seine Sehnsucht, seine Seele in sie hinein, behängt sie
+mit seinen Träumen und Phantasien. Sie aber bleibt "die seelenlose
+Kreatur". Gleichgültig schreitet sie über das Leben der Männer hinweg,
+die ihr zu Füßen stürzen, immer neue Opfer fordernd, in rastloser Gier
+-- bis sie demselben Dämon verfällt, der sie getrieben, und (im 2. Teil
+der "Büchse der Pandora") unter dem Messer Jack des Aufschlitzers endet.
+
+Es war nicht leicht für Wedekind, diesem weiblichen Urbild sinnlicher
+Schönheit und Wildheit ein männliches zur Seite zu geben. Mit der
+kulturellen Entwicklung ist die geistige Kraft zum eigentlichen Wesen
+des Mannes geworden. Aber Wedekind ging in die Welt der Zirkusmenschen
+und Hochstapler, der elastischen Abenteurer, die in zäher Lebensgier
+durch Strom und Strudel jagen, untertauchen, nie untersinken, immer
+wieder in die Höhe kommen. "Der Marquis von Keith" (1900) ist Wedekinds
+dramatisch stärkste Gestaltung dieses Typus.
+
+In all diesen Dramen kann der Trieb, das Fleisch, nie gegen den Geist
+kämpfen, da er ihn nicht begreifen, nicht übersehen kann. Vertreter des
+Geistes, die gegen das Fleisch auftreten -- wie Lehrer und Pfarrer in
+"Frühlings Erwachen" --, sind bloße Karikaturen. Immer kämpfen Triebe
+gegen Triebe. So kommt es nie zur Klärung und Lösung, sondern nur zur
+Katastrophe. Der Aufstieg und Absturz des Ideendramas zerfällt hier
+nach der Zahl der Akte in ebenso viele parallele Krisen und
+Katastrophen. Auch die Szenen, die Dialoge entwickeln sich eher in
+linearem Nebeneinander als in einem steigenden In- und Miteinander.
+Denn diese triebhaften, "unbeseelten Kreaturen" sind ganz in sich
+gebunden, in die Einsamkeit alles Sinnlichen. Sie reden nicht
+zueinander, sie sprechen aneinander vorbei. Und so dunkelt über dieser
+lebensverlangenden, lebensbejahenden Triebwelt die heimliche
+Melancholie der unerlösten Kreatur, eine Tragik, die tiefer gründet als
+die äußeren Kämpfe ihrer Instinkte.
+
+Die Bejahung und Verherrlichung des Fleisches, die dem jungen Wedekind
+quellende Natur ist, wird dem alternden zur Lehre, die er predig und
+verteidigt. All seinen späten Gestalten gibt er sie in den Mund. Das
+widerspricht aber dem Wesen dieser triebhaften Gestalten, die nicht
+über sich theoretisieren können. So zerfällt die durchaus
+unnaturalistische, großumrissene, sinnenbunte Bildwelt Wedekinds in
+graue fanatische Deklamationen.
+
+Zwischen den polar bestimmten Werten und Welten Hauptmanns und
+Wedekinds schwankt die ungewisse Welt Arthur Schnitzlers (geb. 1862).
+Die Wiener Kultur, schon in Grillparzer voll unsicherer
+Selbstreflexion, ist ganz Ausgangskultur geworden: ihre Ideenwelt hat
+den zwingenden Gehalt verloren, nur ihre Formen sind geblieben. Mit
+ihnen drapiert und maskiert man sich, man spielt mit ihnen. Das Leben
+selber wird zum Spiel. In lächelnder Skepsis ist man sich dieses Spiels
+bewußt, sucht man es zu vervollkommnen und auszukosten. Aber die
+Schwermut lauert über jenen Augenblicken, wo man des Spielens müde ist,
+wo man auf festem Ideen- und Lebensgrund ruhen möchte und nur erkennt:
+
+ Es fließen ineinander Traum und Wachen,
+ Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.
+ Wir wissen nichts von andern, nichts von uns.
+ Wie spielen immer; wer es weiß, ist klug.
+
+In den sieben graziösen Dialogen des "Anatol" (1894) ist diese Skepsis
+und Müdigkeit, diese Selbstreflexion und weiche Selbstverhätschelung
+zum erstenmal Wort und Gestalt geworden. Anatol, der junge, verwöhnte
+Dichter, der "leichtsinnige Melancholiker" der in tändelnden
+Abenteuern, in "zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis der Treue" sein
+Leben verträumt, der nur in Stimmungen lebt und so viel Mitleid mit
+sich selbst hat -- keine moralische Forderung, kein Schicksal dürfte an
+diese Welt klopfen: sie würde in Staub verwehen. Aber da sie ganz in
+sich verbleibt, nehmen wir lächelnd Anteil an ihrem weichen, morbiden
+Stimmungszauber, ihrer Liebenswürdigkeit und Gebrechlichkeit.
+
+Die Melancholie, die aus dieser Welt steigt, kann sich nie zur wahren
+Tragik härten. Auch aus den fröstelnden Schauern des "Einsamen Wegs":
+"Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet -- den Weg hinab gehen
+wir alle allein", weht weniger Lebenstragik als Lebemannstragik. Aber
+wenn in diese Welt ein Vorstadtmädel gerät mit der ganzen frischen
+Innigkeit und Unbedingtheit seines Herzens, die Liebe gibt und sucht in
+dieser Welt der "Liebelei", dann greift einfache Tragik ans Herz.
+Christin', die blasse Violinspielerstochter, die ihre Seele hingibt an
+den leichtsinnig-schwermütigen Menschen, der ihr auch in der tiefsten
+Stunde wehrt: "Sprich nicht von Ewigkeit. Es gibt vielleicht
+Augenblicke, die einen Duft von Ewigkeit um sich sprühen... Das ist die
+einzige, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört", wird
+zu einem holden Urbild, zu einem unvergeßlichen Klang, daraus die
+Innigkeit und Traurigkeit eines Volksliedes weht.
+
+Die größeren Kompositionen Schnitzlers lehnen sich an fremde Stile, an
+Ibsen oder Shakespeare, lösen sich in epische Episoden oder zergehen in
+dialektische Konversationszenen, deren geistreich-schwermutvolle
+Feinheit die Menschen mehr verschleiert und verwischt als gestaltet.
+Nur im "Grünen Kakadu" wird Schnitzler die Ausgangswelt, ja der
+Ausgangstag des ancien régime (der Tag des Bastillensturms) zum großen
+historischen Spiegel des Wiener Ausgangs. Ein Irrspiel zwischen Sein
+und Schein, das den Verfall aller Werte, die Zersetzung aller Seele in
+grellen Blitzen gespenstig umleuchtet. In einer Pariser
+Vorstadtspelunke improvisieren Schauspieler zur Aufpeitschung der
+hochadligen Gäste Verbrecherszenen, die gruselig Spiel und Wahrheit
+mischen. Wie verfolgt stürzt einer herein und berichtet von seinem
+frische Taschendiebstahl, von einer Brandstiftung ein zweiter, einem
+Morde ein dritter, bis Henri, der Genialste Truppe, vorstürmt und
+aufschreit, er habe eben in der Garderobe den Herzog von Cadignan, den
+Liebhaber seiner ihm gestern angetrauten Frau, niedergestochen. Die
+Mitspieler halten es für Wahrheit, die Zuschauer für Komödie, einen
+Augenblick glauben beide an Wahrheit -- während es jäh darauf erst
+Wahrheit werden soll: der Herzog tritt ein und Henri tötet ihn
+wirklich. Und indes der Wirt wie allabendlich eben noch in aufreizendem
+Spiel seine hochadligen Gäste als Schurken und Schweine begrüßt hat,
+die das Volk hoffentlich nächstens umbringen werde, dringen plötzlich
+die Bastillenstürmer ein und lassen an der Leiche des Herzogs die
+Freiheit leben. Hier ist das Lebensgefühl des Ausgangs: "Wir spielen
+immer; wer es weiß, ist klug", schicksalhaft vertieft, das
+Schauspielertum des Lebens und der Bühne gespenstig gemischt. Mit
+höchster künstlerischer Bewußtheit sind die Schauer und Wechsel dieses
+Irrspiels in die straffe Handlung eines Einakters gebannt.
+
+Wenn für Schnitzler die Bedeutungslosigkeit der überkommenen Formen
+noch Lebensschicksal ist, für Hugo von Hoffmannsthal (geb. 1874) ist
+sie nur mehr literarisches Schicksal. Allein in den ersten Dramen "Der
+Tor und der Tod", "Der Abenteurer und die Sängerin" schwingt noch ihr
+Erlebnis: Schwermut und Sehnsucht. Das erste eine Dichtung des
+Neunzehnjährigen: ein junger Mensch, der das Leben zum erstenmal ahnt,
+da er es lassen muß:
+
+ Was weiß ich denn vom Menschenleben?
+ Bin freiliche scheinbar drin gestanden,
+ Aber ich habe es höchstens verstanden,
+ Konnte mich nie darein verweben...
+ Stets schleppt ich den rätselhaften Fluch,
+ Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt,
+ Mit kleinem Leid und schaler Lust
+ Mein Leben zu erleben wie ein Buch.
+
+Aber, da er dem Tode, der ihn zu rufen kommt, entgegenhält: "Ich habe
+nicht gelebt!" zeigt der ihm, was an Leben und Liebe sein gewesen:
+unter den Geigenklängen des Todes schweben die Schatten der Mutter, des
+jungen Mädchens, des Freundes vorüber, die einst in Sorge und Liebe
+sich um ihn mühten, ohne daß er ihrer geachtet. Er war der
+"Ewigspielende", "der keinem etwas war und keiner ihm". Erst der Tod
+lehrt ihn das Leben sehen -- die süße Schwermut eines Frühlingsabends
+webt um diese jungen, goethisierenden Verse; aus weich-verhangener
+Ferne träumt Musik. Im "Abenteurer und die Sängerin" schimmern die
+Farben und Wunder Venedigs auf. Auch hier eine ausgelebte Welt. Auch
+hier ein Ewigspielender: Casanova. Fünfzehn Jahre nach einem seiner
+vielen Liebesabenteuer kreuzt dieser flüchtige Faltermensch die
+Lagunenstadt und sieht die einst Geliebte, die er zum Leben erweckt,
+die ihm glücklichste Stunden geschenkt, als Gattin eines anderen wieder
+und neben ihr seinen Sohn. Wenige festliche Stunden, wenige in Traum,
+Süße, Wehmut und Erinnerung aufschimmernde Worte. Und darüber die
+Schatten des Alters und der Vergänglichkeit.
+
+Je mehr in den späteren Dramen Hoffmannsthals der Lebensgehalt
+versickert, desto üppiger wuchert ihre Form. Die leere Lebensform des
+ausgehenden Wien wird zur leeren literarischen Form, einer üppigen
+barocken Form, die Leben aus zweiter Hand, aus Sophokles, Otway,
+Molière überrankt. Der sittliche Gehalt der Sophokleischen Elektra, das
+tragische Rächeramt der Kinder an der eigenen Mutter, des Vaters
+Mörderin, wird -- jenseits aller Weltanschauung -- zu einer
+dekorativen, schwelgerischen, brandroten Orgie in Haß, Blut und Rache.
+Bedeutsam bleiben -- wie bei d'Annunzio, dem er nahekommt -- die
+artistischen Werte Hofmannsthals: sein Anteil an der Entwicklung
+deutscher Sprachkunst.
+
+Klingt bei Hofmannsthal Wortmusik, bei Richard Beer-Hofmann (geb.
+1866), dem dritten und tiefsten der Wiener, klingt Seelenmusik. In
+hinreißendem Adagio entquillt sie seinem ersten Drama, dem "Grafen von
+Charolais" (1904), obgleich es einer alten englischen Vorlage
+Massingers und Fields unglücklich verbunden ist, obgleich es daher in
+zwei Teile zerbricht, obgleich die Requisiten des alten Stücks,
+Leichen, Pfändung, Ehebruch, Mord, Selbstmord, sich peinlich häufen. Da
+ist nicht mehr die Melancholie des Ästheten, da ist eine wehe Weisheit,
+eine milde Güte, eine dunkel-goldene Traurigkeit, aus Tiefen, die seit
+Gerhart Hauptmann keiner mehr durchmessen hat. Nur das Vorspiel zu
+einem Dramenzyklus, zur "Historie von König David", ist seitdem
+erschienen: "Jaákobs Traum" (1918), eine symphonische Dichtung von
+einer seelischen und religiösen Gewalt, die sie hoch über die Zeit
+emporträgt. Die Würde und Tragik der Berufung ist ihr Thema, Jaákobs
+Ringen mit Gott auf dem Berge Beth-El ihr biblischer Stoff. Wenn der
+musikalischen und metaphysischen Gewalt dieses Vorspiels die Kraft der
+Menschengestaltung in der Trilogie entspricht, so wird Beer-Hofmann in
+schöpferischer Erneuerung alttestamentlicher Symbole der deutschen
+Dichtung das religiöse Drama erobern helfen.
+
+Hauptmann und in minderem Grade auch Wedekind, Schnitzler, Beer-Hofmann
+erleben die Welt unmittelbar in weltanschaulichen Gegensätzen und in
+Gestalten, die sie verkörpern und ausfechten. Fast allen jüngeren
+Dramatikern ist dieses überpersönliche, weltgroße Erlebnis fremd; sie
+erleben einseitig, subjektiv, nur vom Gefühl oder vom Intellekt aus,
+und so kommt es nur zu lyrisch-balladesken oder dialektischen
+Spannungen.
+
+Herbert Eulenberg (geb. 1876) bleibt ganz in dumpfen Gefühl befangen.
+Seine Helden sind immer die gleichen Typen und leben nur im Schwellen
+und Ausschwingen ihrer Gefühlsdurchbrüche. Er erlebt nur in einer
+Richtung und nur in einem Menschen; die anderen Menschen sind ohne
+eigene Lebens- und Gegenkraft für Eulenberg wie für seine Helden.
+Einsam steht der Eulenbergsche Mensch im All; fremde Mächte werden in
+ihm wach und jagen ihn in die dunkle Hölle seines Blutes und seiner
+Träume; sie verfolgen und erfüllen ihn, wachsen, rasen und toben in
+ihm, bis sie seine Form zersprengen oder in vernichtenden Taten den
+Ausweg suchen. Von außen her dringt nichts in diesen Vorgang ein. "Ich
+höre nichts außer mir", sagt einer der Helden; "ich brenne in mir ab",
+ein anderer. Die Gegenspieler sind keine ursprünglichen Gestalten, sind
+nur Blutbilder des eigenen Innern. So wird kein Drama, so kommt es nur
+zu monologischen, lyrisch-balladesken Wirkungen, zu Farben und
+Stimmungen.
+
+Der Gegenpol Eulenbergs ist Karl Sternheim (geb. 1881). Er geht ganz
+vom Intellekt aus. Er erlebt nicht, er erkennt nur. Sein literarischer
+Ehrgeiz will stilisieren, zu Typen vordringen. Aber einen Typus gewinnt
+er nicht durch Fülle und Verdichtung des Persönlichen, sondern durch
+Konstruktion und Illustration eines Begriffs. Kurze Zeit weiß seine
+Beobachtung, seine literarische Erinnerung die Stilisierung
+durchzuführen, dann entgleiten und brechen die Linien, die Personen
+werden zu Karikaturen. Eine Komödie wie "Der Snob" ist in ihrer inneren
+Unwahrheit, ihrer Literaten- und Theaterkunst, gar nicht so weit von
+Blumenthal und Kadelburg; sie ist nur geistreicher und boshafter.
+Seiner Menschen-wie seiner Weltanschauung fehlt der organische Anteil,
+das Ethos, die Liebe. Es genügt nicht, die Welt lächerlich zu machen.
+Humor, nicht Witz ist das Zeichen des Schöpfers. Jede Anschauung will
+im Zusammenhang einer Weltanschauung, jede Eigenschaft im Zusammenhang
+einer Seele, jede Verzerrung im Zusammenhang eines Ideals gedeutet und
+gestaltet werden. Auch der Satiriker lacht und spottet nicht aus dem
+Gefühl billiger Überlegenheit, sondern aus dem Gefühl der Verantwortung
+und der Liebe.
+
+Über Wedekind und Sternheim führt der Weg Georg Kaisers, (geb. 1878).
+Auch er ist ein Intellektueller, ein ehrgeiziger Literat, ein
+Formenkünstler. Ohne ein ursprüngliches Wesenszentrum überläßt er sich
+den wechselnden Strömungen der Zeit. Von der Verherrlichung des
+Fleisches à la Wedekind ("Rektor Kleist", 1905) gelangt er zum ideal
+platonisierten Denkdrama "Die Rettung des Alkibiades" (1919). "König
+Hahnrei" und die "Jüdische Witwe" stellen die tragischen Konflikte
+Tristans oder Judiths in frecher Jongleurkunst auf den Kopf. "Die
+Bürger von Calais" wissen klug errechnete tragische Situationen
+rhetorisch auszukosten. "Die Koralle" und "Gas" diskutieren die
+sozialen Probleme der Gegenwart. An artistischem Können ist Kaiser
+Sternheim bald voraus; er ist reicher, beweglicher, energischer. Aber
+es ist die Hast der Nerven, die Psychologie des Intellekts, die Technik
+des Films. In den sozialen Dramen -- der Sphäre der Massen und
+Maschinen -- werden der Bau mathematisch, die Menschen mechanisch, die
+Sprache zum Telegramm. Ein Druck auf die Feder -- und das Werk läuft
+ab: Rede und Gegenrede, Bewegung und Gegenbewegung. Mit virtuoser
+Technik wird die ganze soziale Stoffmasse in diesem Rädertreiben
+zermahlen. -- Und schließlich fallen in der "Rettung des Alkibiades"
+auch die Schemen dieser Gestalten; in Anlehnung an den platonischen
+Dialog wird das Menschenspiel zum Denkspiel, die Dramatik zur Dialektik.
+
+Über diese Artisten ragt Paul Ernst (geb. 1866) an Ethos der Kunst- und
+Weltanschauung, aber ihre intellektuelle Gebundenheit weiß er nur ins
+Geistige, nicht ins Künstlerische zu lösen. Er kommt vom naiven
+Naturalismus seines Freundes Holz und will mit Wilhelm von Scholz (geb.
+1874), der von der Neuromantik und Mystik herkommt, einen
+"neuklassischen" Stil im Drama begründen. Über Shakespeares
+individuelle Gestalten und Probleme will er zur reinen Typik der
+Griechen zurück. Aber er ist ein Kunstdenker, kein Kunstschöpfer; er
+gibt geistige Grundrisse statt organischer Gestalten. Tiefer im
+Lebensgrunde wurzelt Scholz, zumal in der zweiten Fassung seiner
+Tragödie "Der Jude von Konstanz" (1913), die der Hauch Hebbelscher
+Tragik durchweht.
+
+Ein großes Drama wächst nur aus einer großen, ursprünglichen
+Weltanschauung. Wie die Lebensformen der Mutterboden der epischen, so
+sind die Weltanschauungsformen der Wurzelgrund der dramatischen Kunst.
+Mit dem Weltkrieg brachen die Lebens- und Anschauungsformen des
+materialistischen und rationalistischen Zeitalters zusammen. Aus seinem
+Chaos schrie die gemarterte Seele nach ihrem Recht. Jünglinge ballten
+ihren Aufschrei zum "expressionistischen" Drama, Walter Hasenclever im
+"Sohn", Richard Goering in der "Seeschlacht", am stärksten Fritz von
+Unruh in "Ein Geschlecht". Lyrische Entladungen, Konfessionen,
+Predigten und Prophetien gaben sich dramatisch. Des späten Strindbergs
+unnachahmliches Traum- und Seelendrama ("Traumspiel", "Nach Damaskus")
+wurde unbedenklich zum Vorbild genommen. Über den zerfallenen Formen
+recke sich der befreite, von Urgefühlen trunkene Mensch empor, der
+Mensch schlechthin, der sich eins weiß mit seinen Brüdern, nach Seele,
+nach Gott, nach einer neuen wahren Gemeinschaft des Geistes. Aber
+ekstatische Schreie, rauschvolle Aufrufe, die Auflösung aller
+Lebensmächte in e i n trunkenes Urgefühl führen höchstens zur lyrischen
+Grundform. Dies neue Menschheitsgefühl will erst in der Wirklichkeit
+erhärtet, vertieft und geklärt, in Zwieklang seiner Gegenmächte
+begrenzt und behauptet und in ursprünglichen Gestalten objektiviert
+sein, ehe es zu einem neuen Drama fruchtet.
+
+
+
+
+DIE LYRIK
+
+Die epische Dichtung hat bestimmte Lebensformen, die dramatische
+bestimmte Weltanschauungsformen zum Unter- und Hintergrund. Der epische
+Dichter kann die Lebensformen nicht selber schaffen -- sie sind die
+Voraussetzung seiner Kunst --, der dramatische kann die
+Weltanschauungsformen höchstens mitschaffen, aus den gesamten ideellen
+Mächten seiner Zeit heraus. Die Form der lyrischen Dichtung ist die
+Form der Persönlichkeit. Der Lyriker ist unabhängig in seinem
+Schöpferwillen, alles wird ihm Stoff zu sich selber, Welt und Leben
+kristallisieren in seinem Ich. So kann in einer zersetzten Zeit, im
+Kampf der Lebens- und Weltanschauungen der Lyriker zuerst zur reinen
+Form gelangen, als der Vorposten der neuen Menschheit. Und dieses
+Ringen um den neuen Menschen, um das Bürgerrecht einer neuen Menschheit
+stellt die deutsche Lyrik der letzten Jahrzehnte dar.
+
+1885 erschienen die "Modernen Dichtercharaktere", eingeführt von den
+Aufsätzen Hermann Conradis (1862-1890) "Unser Credo" und Karl Henckells
+(geb. 1864) "Die neue Lyrik". Die Gedichtsammlung war die Absage an die
+Epigonenlyrik Geibels und Heyses, an die "losen, leichtsinnigen
+Schelmenlieder und unwahren Spielmannsweisen" Rudolf Baumbachs und
+Julius Wolffs. Diese jungen Lyriker wollten "Hüter und Heger, Führer
+und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Ärzte und Priester der
+Menschen" werden. Hermann Conradi gibt 1887 in den "Liedern eines
+Sünders" sein lyrisches Bild. Er war der Innerlichste unter den
+Jüngeren, der Gärende, haltlos Ringende. Er fühlte sich berufen, "die
+Gegensätze der Zeit in ihrer ganzen tragischen Wucht und Fülle, in
+ihren herbsten Äußerungsmitteln zu empfinden" und "voll Inbrunst und
+Hingebung die verschiedenen Stufen und Grade des Sichabfindens mit dem
+ungeheueren Wirrwarr der Zeit schöpferisch zum Ausdruck zu bringen".
+Übergang und Untergang sah er ringsum, sich selbst empfand und
+gestaltete er in seinen Romanen "Phrasen" und "Adam Mensch" als den
+Typus des Übergangsmenschen, in den eigenen Krämpfen spürte er die
+Krämpfe der Zeit, deren Krisis er 1889 in "Wilhelm II. und die junge
+Generation" ahnend kündete: "Die Zukunft, vielleicht schon die nächste
+Zukunft: sie wird uns mit Kriegen und Revolutionen überschütten. Und
+dann? Wir wissen nur: die Intelligenz wird um die Kultur, und die
+Armut, das Elend, sie werden um den Besitz ringen. Und dann? Wir wissen
+es nicht. Vielleicht brechen dann die Tage herein, wo das alte,
+eingeborene germanische Kulturideal sich zu erfüllen beginnt. Vorher
+jedoch wird diese Generation der Übergangsmenschen, der Statistiker und
+Objektssklaven, der Nüchterlinge und Intelligenzplebejer, der Suchenden
+und Ratlosen, der Verirrten und Verkommenen, der Unzufriedenen und
+Unglücklichen -- vorher wird sie mit ihrem roten Blute die
+Schlachtfelder der Zukunft gedüngt haben -- und unser junger Kaiser hat
+sie in den Tod geführt. Eines ist gewiß: sie werden uns zu Häupten
+ziehen in die geheimnisvollen Zonen dieser Zukunft hinein: die
+Hohenzollern. Ob dann eine neue Zeit ihrer noch bedürfen wird? Das
+wissen wir abermals nicht." Conradis Leben und Lyrik ist nie zur
+persönlichen Form gedrungen. So tief er darum rang, die gärenden,
+brodelnden Elemente seines Wesens zur Einheit zu binden: "Und ob die
+Sehnsucht mir die Brust zerbrennt: -- Auf irrer Spur -- Läßt mich die
+Stunde nur -- Am einzelnen verbluten."
+
+Karl Henckell, der zweite Herausgeber der "Modernen Dichtercharaktere",
+verlor sich vorläufig in die Stofflichkeiten des Naturalismus und
+Sozialismus. Er sang "Das Lied des Steinklopfers", "Das Lied vom
+Arbeiter", "Das Lied der Armen", besang "Das Blumenmädchen", "Die
+Engelmacherin", "Die Näherin im Erker", "Die Dirne", "Die kranke
+Proletarierin". Er zeichnete billige satirische Gegenbilder im
+"Korpsbursch" im "Einjährig-Freiwilligen Bopf", im "Leutnant Pump von
+Pumpsack" im "Polizeikommissar Fürchtegott Heinerich Unerbittlich". Er
+feierte "das ideale Proletariat": "Heil dir Retterheld der Erde --
+Siegfried Proletariat -- leuchtend in der Kraft des Schönen." Er
+empfand sich als die "Nachtigall am Zukunftsmeer". Durch die
+jugendliche Rhetorik und stoffliche Befangenheit brach die --
+sozialistisch gefärbte -- Überzeugung einer Zeitenwende, eines nahen
+Zusammenbruchs, einer neuen Zukunft.
+
+Ärger noch in diese Stofflichkeit, in die nächsten Bilder und Phrasen
+der Zeit verstrickt blieb Arno Holz (geb. 1863) in seinem "Buch der
+Zeit", "Lieder eines Modernen" (1885). Er glaubte sich schöpferisch,
+wenn er die Großstadt, das Großstadtelend, den Großstadtmorgen, den
+Großstadtfrühling in wässerig strömende Reime und Strophen zwang. Der
+"geheime Leierkasten", den er später aus jeder Strophe zu hören
+glaubte, klingt überlaut aus diesen jugendlichen Versifizierungen. Und
+es ist persönlich begreiflich, daß er 1899 schließlich in seiner
+"Revolution der Lyrik" Reim, Strophe und festen Rhythmus grundsätzlich
+verwarf und eine Lyrik proklamierte, "die auf jede Musik durch Worte
+als Selbstzweck verzichtet, und die, rein formal, lediglich durch einen
+Rhythmus getragen wird, der nur durch d a s lebt, was durch ihn zum
+Ausbruch ringt". Im "Phantasmus" schuf er dementsprechende,
+eindringliche, duft- und farbenreiche Stimmungsbilder und -bildchen.
+
+In Julius Hart, Bruno Wille, John Henri Mackay, dem Schüler Stirners,
+und Ludwig Scharf ergänzte und steigerte sich die soziale Lyrik.
+Richard Dehmel (1863-1920) vertiefte und beseelte sie. Er war der
+Freund Detlev von Liliencrons (1844-1909), des "Blutlebendigen,
+Lebensbeglückten", Erdursprünglichen, der zwar durch den "Naturalismus"
+erst ganz zu sich selbst befreit wurde, aber stets reine, sinnenhafte
+Natur war und blieb, dem Kampf der neuen Ideen fremd, ein voller
+Ausklang der alten lyrischen Linie, der Droste, Kellers, Storms.
+Liliencron kam der Entwicklung von Dehmels sinnlicher Anschauung zur
+Hilfe, wie Uhland einst dem jungen Hebbel. Dehmel zerbrach die
+Kunstanschauung des "Naturalismus": Nie ahmt der Künstler die Natur
+nach. "Weder die sogenannte äußere Natur, die Welt der Dinge, noch auch
+die innere, die Welt der Gefühle, will oder kann er zum zweitenmal, zum
+immer wieder zweitenmal, in die bestehende Welt setzen, in diese Welt
+der Wirklichkeiten. Er will überhaupt nicht nachahmen; er will
+schaffen, immer wieder zum erstenmal. Er will einen Zuwachs an
+Vorstellungen schaffen, Verknüpfungen von Gefühlen und Dingen, die
+vorher auseinander lagen, in der werdenden Welt unserer Einbildungen."
+Aus "chaotischen Lebenseindrücken" will er einen "planvollen Kosmos"
+schaffen, "nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder
+menschlichen Daseins und Wirkens," "überschauende Zeit-, Welt- und
+Lebenssinnbilder". So wird in Richard Dehmel zuerst der moderne Lyriker
+sich seiner Aufgabe bewußt, der sinkenden, zersetzenden Zeit neue
+Formen zu erobern, in der Form seiner Persönlichkeit und in heiliger
+Wirkung und Wechselwirkung, in immer weiteren Ringen über sie hinaus:
+"Alle Kunstwirkung läuft schließlich auf das Wunder der Liebe hinaus,
+das sich begrifflich nur umschreiben läßt als Ausgleichung des
+Widerspruchs zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und
+Selbstvergessenheit." Den Weg vom Ichgefühl, einem neuen, starken
+Ichgefühl, zu neu bewußten und vertieften Allgefühl sucht Dehmels Leben
+und Lyrik. Vom sozialen Gefühl der Zeit geht er aus. "Wie kann der
+geistige Mensch zur Herrschaft kommen, wenn er umgeben bleibt von
+Menschen, die nicht einmal der Pflege des Körpers freie Zeit genug
+widmen können! Kann denn das geistige Dasein sich steigern, wenn
+jedermanns Sinne voll geistiger Unlust sind? Und kann der Geist des
+einzelnen wachsen, wenn kein geneinsamer Boden sich bildet, der seine
+Seele zum Wachstum anreizt?" Aus dieser leidenden Bruderliebe, aus
+diesem Wissen um das Verbundensein alles Volkslebens wachsen seine
+sozialen Gedichte "Zu eng", "Vierter Klasse", "Der Märtyrer", "Jesus
+der Künstler", "Bergpsalm":
+
+ Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!
+ Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen
+ Nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz!
+ Nicht sickert einsam mehr von Brust zu Brüsten
+ Wie einst die Sehnsucht, nur als stiller Quell;
+ Hier stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und grell,
+ Und du schwelgst noch in Wehmutslüsten?
+
+Die beiden klassischen sozialen Lieder formen sich: "Erntefeld" ("Es
+steht ein goldnes Garbenfeld") und "Der Arbeitsmann" ("Wir haben ein
+Bett, wir haben ein Kind"). Über die Lebens- und Liebeseinheit des
+eigenen Volkes, durch die es "dem hunderttausendfachen Bann" der
+Lebensnot und -niedrigkeit entwächst, drängt Dehmels Traum und
+Leidenschaft zur Menschheitsstunde: "Bis auch die Völker sich befrei'n
+-- Zum Volk! -- m e i n Volk, wann wirst du sein?" Und über die
+Menschheit hinaus stürmt sein Lebenswille ins Weltall: "Wir Welt!" Das
+ist das letzte Ziel, die Durchdringung von Eins und All. Den Weg führt
+uns die Liebe: "Wer so ruht an einem Menschenherzen -- Ruht am Herzen
+dieser ganzen Welt."
+
+Dieses Mysterium kündet der "Roman in Romanzen: Zwei Menschen" dreimal
+36 Gedichte und drei Vorsprüche zu je zwölf Zeilen, die zusammen wieder
+36 Zeilen ergeben. Alle Gedichte haben den gleichen Aufbau: eine
+Naturschilderung als Einleitung, die Worte des Mannes, die Worte der
+Frau, ein paar Schlußzeiten, die in neuer Einheit die Seelenstimmung
+zusammenfassen. Diese Strenge der Gliederung schafft architektonische
+Schönheit, aber hemmt und verbaut auch. Es kommt weder zur reinen
+epischen Erzählung noch zum reinen lyrischen Ausströmen. Überhaupt
+bleiben die epischen Elemente, die eigentliche Handlung, die Fülle der
+Schauplätze, bedenklich stofflich. Hinreißend ist der ekstatische
+Überschwung der Grundstimmung, der zwei Menschen aus ihrer Einzelhaft,
+durch die Liebe, zur Verbundenheit mit der Natur, der Menschheit, dem
+Weltall, zum "Weltglück" führt, bis selbst der Tod sie nicht mehr
+schreckt:
+
+ Wir sind so innig eins mit aller Welt,
+ Daß wir im Tod nur neues Leben finden.
+
+So wächst Dehmels Ich-Bewußtsein in immer weiteren Kreisen zum
+Weltbewußtsein, nicht nur im Gefühlsrausch des Lyrikers, sondern im
+menschheitlichen Vorkampf. Die Harmonien zwischen Mann und Weib
+offenbaren sich ihm nur darum so machtvoll, weil er abgründige
+Disharmonien durchlitten und durchschritten hat. Seelische Helle wächst
+aus sinnlichem Dunkel. "Die Verwandlungen der Venus" zeichnen --
+stofflich überlastet -- diesen Weg der Läuterung: "Aus dumpfer Sucht
+zur lichten Glut."
+
+Alle Menschheitsbeziehungen werden in ihrem Doppelspiel von Haß und
+Liebe, von Selbstbehauptung und Hingabe neu zur Frage gestellt. Wie
+Mann und Weib sich gegenüberstehen, so Vater und Sohn. Im Kampf der
+Generationen, der alten und jungen Weltanschauung ruft er als Vater --
+als erster Vater! -- seinem Sohne zu:
+
+ Sei du! Sei du!
+ Und wenn dereinst von Sohnespflicht,
+ Mein Sohn, dein alter Vater spricht,
+ Gehorch' ihm nicht! Gehorch' ihm nicht!
+
+Als der Weltkrieg ausbrach, da war es Dehmel, dessen tapferer
+Lebensglaube stets gewesen, durch die Zeit hindurch zur neuen Zeit und
+Form sich vorzuringen, Pflicht und Bedürfnis, als
+einundfünfzigjähriger, ungedienter, gemeiner Soldat in das Heer zu
+treten und den Entscheidungskampf der neuen Menschheit mitzufechten:
+"Die Begleitumstände sind allerdings scheußlich, aber das Hauptziel des
+Kampfes ist herrlich und heilig; denn wir wollen den Frieden auf Erden
+schaffen, a l l e n Menschen zum Wohlgefallen... Etwas mehr
+Himmelsluft wird sich doch nach diesem reinigenden Sturm ausbreiten,
+bei uns selbst wie im ganzen Völkerverkehr. Und was war der Hauptgrund,
+warum ich alternder Mann zur Waffe griff, nicht bloß aus
+Vaterlandsliebe und Abenteurerlust; da mein Körper noch kräftig genug
+dazu ist, muß ich ihn einsetzen für die geistige Zukunft." Als Soldat
+der neuen Menschheit ist er gestorben, an einer Venenentzündung, die er
+sich im Kriege zugezogen.
+
+Das Kämpferpathos Dehmels, das anfangs dem jungen Schiller nah ist,
+bevorzugt die charakteristische vor der musikalischen Form. Jeder
+Glätte in Bild, Rhythmus und Strophe setzt er herbe Eigenheiten
+entgegen. Der vierzeiligen Strophe gibt er eine fünfte Zeile mit, ohne
+Reim, von besonderem Rhythmus. Bild und Versform wirken oft geschmiedet
+und gehämmert. Auch seine "impressionistischen" Naturbilder sind keine
+nachgiebige Eindruckskunst, sind Umwandlung üblicher, erstarrter
+Anschauungen in charakteristische, von innen bewegte Bilder.
+
+In der Herbheit der inneren und äußeren Form ist ihm Paul Zech (geb.
+1881) verwandt. Soziales Ethos erfüllt und durchbebt sein
+bäuerisch-westfälisches Blut. Einige seiner Väter schürften Kohle. Er
+selber hat nach Vollendung seiner Studien in tiefster sozialer
+Verbundenheit nicht nur als Dichter, sondern zwei Jahre auch als
+Mensch, als Arbeiter, am Leben der Bergleute teilgenommen in Bottrop,
+Radbod, Mons und Lens. In den Vers- und Novellenbüchern "Das schwarze
+Revier", "Die eiserne Brücke", "Der schwarze Baal" zieht sein Ethos die
+Machthaber, die Harthörigen und Verblendeten vor Gericht, Güte und
+Menschlichkeit für alle zu fordern. Die Stoffwelt des jungen
+Naturalismus kehrt wieder: Fabriken, Zechen, Sortiermädchen, Fräser,
+aber durchseelt von einem Ethos und Pathos, das aus religiösen Tiefen,
+aus Christi Herzen steigt und zur "Neuen Bergpredigt" berufen ist.
+Dieser religiösen Menschheitsverbundenheit mußte der Weltkrieg, Welthaß
+und -gemetzel, die Zech als ungedienter gemeiner Soldat in den
+furchtbaren Kämpfen (Verdun und Somme) miterlebte, zum apokalyptischen
+Grauen, zur Sünde wider den Heiligen Geist werden. Von den tausend
+Kriegslyrikern hat Zech allein von Anfang an den Krieg in seiner
+metaphysischen Bedeutung erlebt und gestaltet. Seine Gedichtbücher
+"Golgatha" und "Das Terzett der Sterne" reißen den Krieg aus den
+historisch-politischen Verknüpfungen vor das Angesicht Gottes.
+
+ Ewig sind wir Kain. Unser Dasein heißt: vernichten!
+ Käme tausendmal noch Christi Wiederkehr:
+ Immer ständen Henker da, ihn hinzurichten.
+ Fluch der Welt ist, daß uns Abel kindlos starb.
+
+"Zweitausend Jahre noch nach Golgatha -- Göttliche Jugend blutig auf
+der Bahre!" "Und immer neue Mütter stießen ihre Knaben -- In immer
+helleren Scharen in das Feld -- Als wär vernarrt die ganze Welt -- Den
+Mord hinfort als Hausaltar zu habe? -- ...Daß du, Gekreuzigter, nicht
+von dem Holz -- Herabsprangst und mit Geißeln auf die Menge hiebst --
+Und klein zurück auf ihren Ursprung triebst." "Seit jenen Tagen braust
+durch das verführte -- Geschlecht ein schriller Ton -- Wie ihn schon
+einmal ausstieß der verlorene Sohn." Aber den wilden Lärm der
+Schlachten überschwillt die Musik der Sterne, wenn im Dämmern der Nacht
+Gott aus den Mauerflanken anderer Erden ein Orgelhaus erbaut; dann
+lösen sich die erdengrauen Kämpfer aus Blut und Schlamm der
+Schützengräben ins Licht und Lied der Sterne und singen mit dem
+Brüderheer der Toten und den brausenden Stimmen der Wälder die große
+Schöpferfuge:
+
+ Zuletzt ist Gott nur noch alleine
+ Zuckender Puls im All...
+ Weit über Wind und Wassern hämmert seine
+ Urewigkeit wie Flügel von Metall.
+
+Ist Zechs Menschenglaube und -liebe von alttestamentlichem,
+prophetischem Eifer der Klage, des Zorns, der Forderung, so ist Franz
+Werfels (geb. 1890), des Pragers, Liebe zur Welt und Menschheit
+weicher, inniger, mystischer. Er stellt des Laotse Wort vor seine
+Gedichte: "Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf
+Erden" und Dostojewskis Wort: "Was ist die Hölle! Ich glaube, sie ist
+der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag." Immer tiefer
+und reicher sprechen seine Gedichtsammlungen "Der Weltfreund", "Wir
+sind", "Einander" "Der Gerichtstag" die Lebens- und Liebesverbundenheit
+aller Kreaturen aus. Nur als Erscheinung sind wir getrennt, im Wesen
+sind wir eins, eins in Gott. Noch im ärmlichsten Menschen, im
+verachtetsten Tier und Ding ist Gott verborgen, ringt Gott nach
+Offenbarung. Und diesen göttlichen Funken, diese göttliche Einheit
+hinter aller getrennten Erscheinung, hinter Armut, Eiter und
+Niedrigkeit zu suchen und zu lieben, ist unsere religiöse Aufgabe, ist
+der Sinn unseres Lebens: "Wer sich noch nicht zerbrach -- Sich öffnend
+jeder Schmach -- Ist Gottes noch nicht wach. -- Erst wenn der Mensch
+zerging -- In jedem Tier und Ding -- Zu lieben er anfing."
+
+So fleht der Dichter aus der Dumpfheit und Einsamkeit irdischer
+Gebundenheit: "O Herr, zerreiße mich!" so braust der Bittgesang der
+neuen Menschheitsgemeinde:
+
+ Komm, Heiliger Geist, du schöpferisch!
+ Den Marmor unserer Form zerbrich!
+ Daß nicht mehr Mauer krank und hart
+ Den Brunnen dieser Welt umstarrt,
+ Daß wir gemeinsam und nach oben
+ Wie Flammen ineinander toben!
+ -- -- -- -- Daß nicht mehr fern und unerreicht
+ Ein Wesen um das andere schleicht,
+ Daß jauchzend wir in Blick, Hand, Mund und Haaren
+ Und in uns selbst dein Attribut erfahren.
+
+Im Dichter wird dieses Gebet zuerst und zutiefst erfüllt: "In dieser
+Welt der Gesandte, der Mittler, der Verschmähte zu sein, ist dein
+Schicksal," kündet ihm der Erzengel -- "Daß dein Reich von dieser Welt
+nicht von dieser Welt ist," diese Erkenntnis, "ist, o Dichter, dein
+Geburtstag". Und so offenbart und erlöst der Dichter hinter der Welt
+der Erscheinung die wahre Welt. Von der Welt der Armen, der
+Dienstboten, der Sträflinge, der Droschkengäule, der Nattern, Kröten
+und des Aases zieht er den täuschenden Schleier der Erscheinung und
+offenbart das Geheimnis Gottes. Er will nichts sein als "Flug und
+Botengang" des Ewigen, "eine streichelnde Hand", die allen
+einsam-ängstenden Kreaturen von der göttlichen Wärme und Liebe
+mitteilt. Nicht die "Eitelkeit des Worts" nur die Reinheit und Güte der
+Seele gibt ihm die Macht zur Offenbarung und Erlösung: "Der gute
+Mensch" ist der Befreier der Welt:
+
+ Und wo er ist und sein Hände breitet...
+ Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung,
+ Und alle Dinge werden Gott und eins.
+
+Nicht die Erscheinung zu fliehen und vor der Zeit abzustreifen, sondern
+die Erscheinung zu durchseelen, zu vergöttlichen, ist der Sinn der
+Schöpfung, nachdem sie einmal im Sündenfall der Vereinzelung von Gott
+abgefallen ist. In der Welt will Gott offenbart und erlöst werden.
+Ergreifend spricht sich das im "Zwiegespräch an der Mauer des
+Paradieses" aus, wo Adam, müde des Erscheinungswandels, zur alten
+paradiesischen Einheit in Gott zurückverlangt und ihn anfleht: "Höre
+auf, mich zu beginnen!", Gott aber weist ihn zurück in die Welt:
+
+ Kind, wie ich dich mit meinem Blut erlöste,
+ So wart' ich weinend, daß du mich erlöst.
+
+Werfel ist ursprünglich, innig, oft franziskanisch-kindlich in seiner
+Religiosität; gerade, sicher und sehnend wächst seine Dichtung zum
+Himmel auf, wie ein gotischer Turm (erst im "Gerichtstag" gewinnt die
+Reflexion zersetzend Macht). Rainer Maria Rilkes, des älteren Pragers
+(geb. 1875), religiöse Lyrik ist mehr die Zierart am Turm, die Fülle
+und Unruhe der gotischen Skulpturen, der Heiligen, Tiere und Ornamente.
+Sie hat keine ursprüngliche, eigenmächtige Strebe- und Baukraft. Rilke
+ist der Ausgang eines alten Kärntner Adelsgeschlechtes, verfeinert,
+müde, heimatlos. In steten Reisen wechselte er zwischen Wien, München,
+Berlin, Rußland, Paris, Italien. Er lebt wie seine Gestalten "am Leben
+hin" nicht ins Leben hinein, durchs Leben hindurch. Die tiefsten
+Offenbarungen gibt ihm nicht das unmittelbare Leben, sondern das
+mittelbare: die Kunst. Erst in den Worpsweder Malern und ihrer
+Atmosphäre wird ihm die seelische Bedeutung der Landschaft, erst in der
+Kunst und dem Künstler Rodin die religiöse Bedeutung des Menschen
+Erlebnis. Rodin, bekennt er, habe ihn "alles gelehrt, was ich vorher
+noch nicht wußte, geöffnet durch sein stilles, in unendlicher Tiefe vor
+sich gehendes Dasein, durch seine sichere, durch nichts erschütterte
+Einsamkeit, durch sein großes Versammeltsein um sich selbst". Sein Buch
+über Rodin ist wohl sein tiefstes und reichstes Werk. Wie Rodin, der
+Gotiker unter dem Bildnern, den menschlichen Körper auflöst in Seele,
+so löst Rilkes "Stundenbuch" mit den drei Büchern "Vom mönchischen
+Leben", "Von der Pilgerschaft" "Von der Armut und vom Tode" die Körper
+und Dinge in Gott. "Es gab eine Zeit, wo die Menschen Gott im Himmel
+begruben... Aber ein neuer Glaube begann... Der Gott, der uns aus den
+Himmeln entfloh, aus der Erde wird er uns wiederkommen." So offenbart
+Rilke Gott in den Kindern, den Mädchen, dem Volk, den Armen, den
+Bauern, der Landschaft, und mehr als in den Menschen in den Dingen:
+"Weil sie, die Gott am Herzen hingen -- Nicht von ihm fortgegangen
+sind." Aber diese Offenbarung wächst nicht wie bei Werfel aus
+unmittelbarem Lebensanteil und -zwiespalt und heiliger Gewißheit, sie
+wächst aus der Sehnsucht des heimatlosen Zuschauers und Künstlers und
+aus dem Wissen um viele religiöse Vorstellungen und Symbole. Ein
+russischer Mönch ist der Träger und Schreiber des Stundenbuches, und
+der ganze Stimmungsreichtum russischer Klöster, Kuppeln, Ikone,
+Gossudars wird genutzt. Anderen religiösen Gedichtzyklen, wie den
+"Engelliedern" und den "Liedern der Mädchen an Maria" werden
+präraffaelitische Erinnerungen zu Stimmungsträgern. Und die "Neuen
+Gedichte", die in der Fülle ihrer Bilder die Beziehungen der
+individuellen Erscheinungen zu den letzten Prozessen und Formen des
+Daseins gestalten wollen, tun dies nicht aus der drängenden Einheit und
+Tiefe eines ursprünglichen Weltgefühls, sondern im seelischen oder
+gedanklichen Umkreisen eines Themas. Oft gestaltete, künstlerisch schon
+reizvoll umspielte Themen locken Rilke besonders: Abisag, David vor
+Saul, Pieta, Sankt Sebastian, Orpheus und Eurydike, Alkestis, Geburt
+der Venus, Eranna an Sappho usw. In diesen Lebensbildern sucht und
+schafft die Seele sich Heimat, der das Leben selber sich verschließt.
+Und sie bringt ihnen all ihre menschliche und künstlerische
+Feinfühligkeit und Bewußtheit als Gastgeschenk. Frühzeitig hat Rilke
+sich seinen Sprachstil geschaffen von solcher Eigenheit, daß er die
+Grenze der Manier streift. Unscheinbare Worte weiß er neu zu beseelen,
+verbrauchte Bilder auf ihren Ursinn zurückzuführen, Gleichnisse preziös
+auszubauen. Durch Assonanz, Binnenreim und Häufung des Endreims weiß er
+der Sprache eine slawische Weichheit und Klangfülle zu geben. Im
+letzten Gedichtbuch, der "Neuen Gedichte zweiter Teil", gewinnt jedoch
+das Artistische bedenklich Raum.
+
+Die Neigung zur Mystik ist Gefahr und Flucht für eine Zeit, die die
+Form der Persönlichkeit wiedergewinnen, nicht aufgeben soll. Nicht
+ichflüchtig, sondern im tiefsten ichsüchtig mußte der Lyriker werden,
+der zur Form der neuen Lyrik: zur Form des neuen Menschen vordringen
+wollte. Und wenn niemand durch die Zeit hindurch zu ihr drang, wenn
+selbst Richard Dehmel, dem stärksten Bildner, deren zersetzte Elemente
+bröckelnd in den Händen blieben, so konnte nur der die reine Form der
+Persönlichkeit, des neuen Menschen bilden, der es von Anfang an außer
+der Zeit und gegen de Zeit unternahm. So ist die Persönlichkeit und
+Dichtung Stefan Georges (geb. 1866) Form geworden.
+
+Der Wille zur Form war das Wesengesetz Georges von früh auf. Er selbst
+weist darauf hin, daß ihm die Formkräfte des römischen Imperiums, des
+Katholizismus, der rheinischen Landschaft im Blute mitgegeben seien.
+Zuerst wurde dieser Formwille ästhetisch seiner bewußt. Die "Blätter
+für die Kunst" die er 1892 gegründet, förderten -- beeinflußt von den
+Präraffaeliten und von französischen Lyrikern, wie Baudelaire,
+Verlaine, Mallarmé, Villiers -- eine "Kunst für die Kunst", sahen "in
+jedem Ereignis, jedem Zeitalter nur ein Mittel künstlerischer
+Erregung". Aber hinter diesem Willen zur ästhetischen Form rang und
+schuf bei George -- nicht bei seinen Mitläufern -- der Wille zu Lebens-
+und Wesensformen. Und weil er diese in der eigenen Zeit nicht fand,
+weil aus deren zersetzten Elementen auch keine reinen Formen zu bilden
+waren, floh seine Seele "vorübergehend in andere Zeiten und
+Örtlichkeiten", um dort die Urformen des Menschentums in ihrer Reinheit
+wieder zu suchen und bildhaft zu erneuern. In Algabal, dem römischen
+Priesterkaiser, fand er sein antikes Gegenbild: den Jüngling, den es
+verlangte, unabhängig von einer zergehenden Um- und Außenwelt ein Leben
+und Reich reiner Schönheit, reiner Formen zu schaffen:
+
+ Schöpfung, wo nur er geweckt und verwaltet,
+ Wo außer dem seinen keine Wille schaltet,
+ Und so er dem Wind und dem Wetter gebeut.
+
+Der Schatten Ludwigs II. weht durch diese Strophen. Aber an der
+Vermessenheit des Einsam-Überheblichen zerbricht diese Welt. Aus dem
+Abseits und der Vereinzelung spätrömischen Herrschertums fliehen die
+"Hirtengedichte" in die mythisch geläuterten Urformen naturhaft schönen
+und reinen Menschentums, wie sie die Griechen zuerst gewahrt und
+gebildet haben. Hier beginnt die tiefe Wesensverwandtschaft Georges mit
+der Antike deutlich zu wurden. Das Christentum hatte in seiner
+Weltflüchtigkeit, seiner metaphysischen Sehnsucht und Wertung
+formsprengende Elemente in sich aufgenommen; nur im südlichen und
+rheinischen Katholizismus waren Himmel und Erde in Lebensfreude und
+Bildhaftigkeit eins geblieben. Georges reinem Formenwillen konnte nur
+eine antikische Weltanschauung genugtun, in der Gott und Welt, Seele
+und Leib sich restlos durchdrangen, und in der Schönheit der Gestalt
+zur vollkommenen Form gelangen. "Den Leib vergotten und den Gott
+verleiben", das war ihm der Sinn alles Weltgeschehens, darin Natur und
+Kunst sich trafen. Für diese religiöse Aufgabe bedurfte die Dichtung
+einer vollen Erneuerung ihrer Formsubstanz: der Sprache. Und von Anfang
+an hatte George sich darum gemüht, die epigonenhaft verbrauchten
+Elemente der deutschen Sprache neu zu schaffen. Er war in den Geist und
+Klang von sieben fremden Sprachen eingedrungen. In unermüdlichen
+Übersetzungen hatte er die deutsche Sprache bereichert, durchglüht und
+gehämmert. Im "Algabal" war ihm die Sprache ganz zu eigen geworden; es
+waren keine übernommenen und verbrauchten Elemente mehr in ihr, sie war
+wieder ursprünglich, war imstande, seinen neuen reinen. Wesens- und
+Lebensformen in reiner Sprachform Gehalt zu geben.
+
+Nun war George stark genug, von seiner Flucht in die Welt der
+Geschichte zurückzukehren, nicht mehr Urbilder vergangener Zeiten zu
+erneuern, sondern Urkräfte zu bannen. Im "Jahr der Seele" (1897)
+offenbart er Urformen der Natur.
+
+Die Natur ist ihm kein Gegensatz zum Geist oder zur Seele, ist ihm die
+Lebenseinheit beider, ursprünglich und ewig wie die Antike, die keine
+entgötterte und entseelte Natur kannte. So erschienen im "Jahr der
+Seele" die Urformen der Natur, die Jahreszeiten, in Bildern von
+räumlicher Gegenständlichkeit und Farbigkeit und zugleich tiefster
+Seelenhaftigkeit. Die Seele sucht hier nicht -- wie bei Goethe -- die
+Natur, um an ihr sich zu finden und auszusprechen; beide sprechen sich
+in ursprünglicher, kosmischer Einheit aus. Urformen der Natur
+offenbaren sich als Urformen der Seele, Urformen der Seele als Urformen
+der Landschaft. So sind es keine Stimmungs-, sondern Schicksalsbilder,
+die diese Gedichte schaffen. Die Fülle des Herbsttags hebt an, die
+reife Ernteruhe und -klarheit, der Friede der Erfüllung, den doch der
+Vers Hebbels schon ahnend durchschauert: "So weit im Leben ist zu nah
+am Tod." Wie sind Seele und Landschaft eins in solchem Gedicht:
+
+ Wir schreiten auf und ab im reichen Flitter
+ Des Buchenganges beinah bis zum Tore
+ Und sehen außen in dem Feld von Gitter
+ Den Mandelbaum zum zweitenmal im Flore.
+
+ Wir suchen nach den schattenfreien Bänken,
+ Dort, wo uns niemals fremde Stimmen scheuchten,
+ In Träumen unsre Arme sich verschränken,
+ Wir laben uns am langen, milden Leuchten.
+
+ Wir fühlen dankbar, wie zu leisem Brausen
+ Von Wipfeln Strahlenspuren aus uns tropfen,
+ Und blicken nur und horchen, wenn in Pausen
+ Die reifen Früchte an den Boden klopfen.
+
+Erst nachdem George die Urformen der Geschichte und der Natur erlebt,
+erneuert und gebannt, ist er geläutert und gestählt zur Weihe der
+Berufung. Jetzt erscheint ihm der Engel des "Vorspiels": "Das schöne
+Leben sendet mich an Dich -- Als Boten." Der Geist des Lebens erscheint
+ihm jetzt, des "schönen Lebens", dem alles Dasein reine Einheit ist und
+klare Form. Der hebt ihn zu sich auf die heilige Höhe der Sendung. Die
+reinen Formen, die er bisher nur erfahren und erneuert -- jetzt darf er
+sie am Urquell mit schauen und -schaffen; ein Leben der Weihe wartet
+seiner, in dem jede Stunde sich sinnvoll einordnen, schöpferisch
+rechtfertigen will. Aber die Gnade der Berufung fordert das Opfer, die
+Hingabe, den ausschließlichen Dienst des Berufenen. Aus irdischem Glück
+und menschlicher Wärme schreitet er zur Gipfelhöhe, Gipfeleinsamkeit,
+Gipfeleisigkeit.
+
+"Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten
+Geheiß, das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens
+zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und
+keinen, sondern aus dem einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich,
+dann gilt es dadurch den anderen; und was ihn ruft, weckt auf die
+Ohren, die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte
+und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. S i c h
+gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und
+das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eigenen
+Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des
+Lebens... und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form
+fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er, was an der Zeit
+war. Dantes Gesetz hieß: Schaue i Gott... Goethes: Werde Welt...
+Georges: Gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten
+dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis
+zur Vollendung." (Gundolf.)
+
+Erst der also Geweihte vermag aus dem Geist des Lebens den "Teppich des
+Lebens" (1900) zu zeichnen: die geistigen Urbilder des Menschentums in
+Natur und Geschichte, "das Kräftereich europäisch-deutscher
+Menschenbildung in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen
+Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genius". (Gundolf.) Wie
+"ein Epos des Erdgeistes" beginnt die Reihe mit dem mütterlichen Grunde
+alles Menschentums, der "Urlandschaft", in der Mensch, Tier und Erde
+noch unbewußt und einig sind: "Erzvater grub, Erzmutter molk, -- Das
+Schicksal nährend für ein ganzes Volk."
+
+Zum erstenmal in dieser epischen Bilderfolge taucht in Georges Werk das
+Volk als Urform des Menschentums auf und als Urform seines Menschentums
+das deutsche Volk. Im Vorspiel hatte der Geist des Lebens ihn aus den
+magischen Landschaften des Südens zu "den einfachen Gefilden", der
+"strengen Linienkunst" der heimischen, rheinischen Landschaft geführt:
+
+ Schon lockt nicht mehr das Wunder der Lagunen,
+ Das allumworbene, trümmergroße Rom,
+ Wie herber Eichen Duft und Rebenblüten,
+ Wie sie, die deines Volkes Hort behüten --
+ Wie deine Wogen -- lebensgrüner Strom!
+
+Jetzt ist ihm das Volk als Urform deutlich geworden, die ihn selber
+umfaßt, die Wesens- und Geschichtskräfte des deutschen Volkes. Seine
+Sendung ist zur deutschen Sendung geworden: Indem er die reinen Kräfte
+des deutschen Volkes in sich zur Gestalt bildet, wird er auch der
+Bildner seines Volkes sein. -- --
+
+"Den Leib vergotten und den Gott verleiben": die Einheit von Welt und
+Gott, Natur und Geist, Leib und Seele war Georges Weltanschauung und
+-aufgabe. Sie sollte und mußte er erleben, erschauen, erschaffen. Das
+höchste Symbol dieser Einheit ist der Gott-Mensch. Und wenn je die
+Menschheit dieses Symbols bedurfte zu ihrer Vollendung -- George konnte
+sich nicht begnügen, seine Weltanschauung in zerstreuten Bildern zu
+schauen und zu schaffen; sie mußte sich ihm in einer Gestalt
+verdichten. Das war die höchste Möglichkeit seiner Weltanschauung. Und
+seinem Formsehnen und -willen war die höchste Möglichkeit auch die
+höchste Notwendigkeit. So schaute und schuf er in Maximin, der
+geliebten Gestalt eines schönen, früh gestorbenen Jünglings und
+Jüngers, das Bild des Gott-Menschen, darin die Welt vollkommen ward.
+
+"Wir gingen", heißt es in Georges Maximin-Rede, "einer entstellten und
+erkalteten Menschheit entgegen, die sich mit ihren vielspältigen
+Eingenschaften und verästelten Empfindungen brüstete, indessen die
+große Tat und die große Liebe am Entschwinden war. Massen schufen Gebot
+und Regel und erstickten mit dem Lug flacher Auslegung die Zungen der
+Rufer, die ehemals der Mord gelinder beseitigte: unreine Hände wühlten
+in eincm Haufen von Flitterstücken, worein die wahren Edelsteine
+wahllos geworten wurden. Zerlegender Dünkel verdeckte ratlose Ohnmacht,
+und dreistes Lachen verkündete den Untergang des Heiligtums." Da
+erschien in Maximin der göttlich einfsch schöne Mensch, "Einer, der von
+den einfachen Geschehnissen ergriffen wurde und uns die Dinge zeigte,
+wie die Augen der Götter sie sehen." In ihm ward der erstarrten Zeit
+der Erlöser:
+
+ Die starre Erde pocht,
+ Neu durch ein heilig Herz.
+
+Die Gedichte auf das Leben und den Tod Maximins, seine Feier,
+Verklärung und Wirkung bilden die Gipfelhöhe des "Siebenten Rings"
+(1907). Von ihr aus sind die "Gestalten" geschaut, der zweite Zyklus
+des Werkes, "der Aufruf der letzten gotteshaltigen oder
+gottesmörderischen Urwesen zur Wende der Gesamtmenschheit". (Gundolf.)
+Im Vor- und Aufblick zu ihr ist in den "Zeitgedichten" die Gegenwart zu
+Gericht gerufen, verworfen in ihrer Fäulnis und Finsternis, gesegnet in
+den einsam ragenden Lichtgestalten, den Vorbildern: Nietzsche, Böcklin,
+Leo XIII., denen Dante, Goethe, Karl August, die alten deutschen Kaiser
+sich in ewiger Lebendigkeit zugesellen: Urformen höheren Menschentums,
+wie Held und Herrscher, Priester, Seher und Dichter usw. Hier wird
+George Gewissen und Stimme der Zeit.
+
+Im "Stern des Bundes" (1914) wird die Zeitschau, die in den
+"Zeitgedichten" nur aus der Ahnung des Göttlichen geschah, aus seinem
+Schauen und Wissen gegeben. Hier wächst George zum gewaltigen Richter
+und Propheten der Zeit empor. Ein paar Monate vor Beginn des
+Weltkrieges hat er hier aus heiligen Höhen den chaotischen Untergang
+der zersetzten Zeit gesichtet und gerichtet:
+
+ Aus Purpurgluten sprach des Himmels Zorn:
+ Mein Blick ist abgewandt von diesem Volk.
+ Siech ist der Geist! Tot ist die Tat!
+
+In einer ungeheuren Vision sieht und hört er in gewitternden Lüften
+schreitende Scharen, klirrende Waffen, jubelnd drohende Rufe: den
+"letzten Aufruf der Götter über diesem Land". Er sieht den maß- und
+haltlosen Bau der Zeit wanken und zusammenstürzen. Er fühlt die
+furchtbare Gewißheit:
+
+ Zehntausend muß der heilige Wahnsinn schlagen,
+ Zehntausend muß die heilige Sache raffen,
+ Zehntausende der heilige Krieg.
+
+Er hört sein Prophetenwort, seinen Schrei zur Umkehr verhallen, als
+wäre nichts geschehen. Und im letzten, flammenden Gesicht sieht er den
+Herrn des Gerichtes:
+
+ Weltabend lohte...wieder ging der Herr
+ Hinein zur reichen Stadt mit Tor und Tempel,
+ Er arm, verlacht, der all dies stürzen wird,
+ Er wußte: kein gefügter Stein darf stehn,
+ Wenn nicht der Grund, das Ganze sinken soll.
+ Die sich bestritten, nach dem Gleichen trachtend:
+ Unzahl von Händen rührte sich und Unzahl
+ Gewichtiger Worte fiel und eins war not.
+ Weltabend lohte...rings war Spiel und Sang,
+ Sie alle sahen rechts -- nur er sah links.
+
+Und als die Vision Wahrheit geworden, das Weltverhängnis
+niedergebrocben war, als immer noch "In beiden Lagern kein Gedanke --
+Wittrung -- Um was es geht", als aller Augen immer noch nur das
+strategische Hin und Her anstarrten, da kündete er in seinem Gedicht
+"Der Krieg" (1917):
+
+ Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr.
+ Erkrankte Welten fiebern sich zu Ende
+ In dem Getob.
+ -- -- --
+ Zu jubeln ziemt nicht: kein Triumpf wird sein.
+ Nur viele Untergänge ohne Würde.
+ -- -- --
+ Keiner, der heute ruft und meint zu führen,
+ Merkt, wie er tastet im Verhängnis, keiner
+ Erspäht ein blasses Glüh'n vom Morgenrot.
+ Weit minder wundert es, daß so viel sterben,
+ Als daß so viel zu leben wagt.
+ -- -- --
+ Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot sind.
+
+Aber eben weil George von heiligen Höhen über die Zeit hinwegsah, sah
+er auch weiter, über den Zerfall und Untergang hinaus, mündete sein
+Kassandraruf in die heilig-liebende deutsche Verheißung:
+
+ Doch endet nicht mit Fluch der Sang. Manch Ohr
+ Verstand schon meinen Preis auf Stoff und Stamm,
+ Auf Kern und Keim...schon seh' ich manche Hände
+ Entgegen mit gestreckt, sag' ich: O Land,
+ Zu schön, als daß ich dich fremder Tritt verheere:
+ Wo Flöte aus dem Weidicht töne, aus Halmen
+ Windharfen rauschen, wo der Traum noch webt
+ Untilgbar durch die jeweils trünnigen Erben...
+ Wo die allbühende Mutter der verwildert
+ Zerfallnen weißen Art zuerst enthüllte
+ Ihr echtes Antlitz...Land, dem viel Verheißung
+ Noch innewohnt -- das drum nicht untergeht, -- -- --
+ Die ruft die Götter auf.
+
+Der "Geist der heiligen Jugend unseres Volkes", der -- in Maximin
+göttliche Gestalt geworden -- schon im "Stern des Bundes" verkündet und
+in Lehre und Liebe dort unterwiesen war, wird in Frommheit und Würde,
+Zucht und Opfer, Größe und Schöne die zerfallene Welt erneuern.
+
+Als einziger einer zersetzten Zeit hat Stefan George seine Wesenheit in
+Leben und Lyrik zur reinen Form geläutert, urbildlich erhöht und
+vollkommen gestaltet. Mag das Gesetz seines Wesens wenigen gemäß sein
+-- er ragt in die Zeit als Standbild des in sich Vollendeten, ein
+Vorbild jedem, das Gesetz seines eigenen Wesens zu ergründen, zu leben,
+zu formen und im eigenen göttlichen Keim die Kraft Gottes im
+entgötterten Europa zu befreien.
+
+
+
+
+DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART
+VON PAUL BEKKER
+
+Was ist das: deutsche Musik? Fragt man einen Franzosen nach
+französischer, einen Italiener nach italienischer, selbst den Engländer
+nach englischer, den Amerikaner nach amerikanischer Musik, so wird die
+Antwort ohne jegliches Zaudern und Besinnen folgen. Der Russe wird
+vielleicht einige Unterscheidungen machen zwischen rein nationaler und
+aus westeuropäischen Quellen befruchteter Kunst, aber auch er wird
+nicht zögern, etwa Tschaikowski trotz dessen Abhängigkeit von
+außernationalen Anregungen als Vertreter russischer Musik anzusprechen.
+Und nun stelle man vielleicht in einer deutschen Musikzeitschrift die
+Frage: Was ist deutsche Musik, welches sind ihre Vertreter! Man wird
+ebensoviel einander widersprechende Antworten erhalten, wie die Erde
+Nationalitäten zählt. Unter den Lebenden zum mindesten ist kaum einer,
+dessen Musik von allen Seiten als einwandfrei "deutsch" anerkannt
+würde. Strauß, der den deutschen Namen am stärksten nach außen getragen
+hat, wird von den Bayreuther Siegelbewahrern in einem beträchtlichen
+Teil seines Schaffens als "undeutsch" abgelehnt, Pfitzners Musik wurde
+während des Krieges von Berlin aus als "undeutsch, weil zukunftsarm"
+gekennzeichnet, Reger gilt als verworren, Mahler und Schönberg sind
+Juden, also nicht diskussionsfähig, von Schreker in solchem
+Zusammenhange auch nur zu sprechen, wäre Lästerung. Jeder dieser
+Komponisten hat seine eigene Anhängergruppe, ihre Hauptaufgabe ist, die
+Minderwertigkeit der anderen ihrem Idol gegenüber festzustellen, und
+die Worte "deutsch" und "undeutsch" spielen dabei die ausschlaggebende
+Rolle.
+
+Man könnte sagen, daß eine Nation, die nicht vermag, verschiedenartige
+individuelle Eigenschaften ihrer eigenen Schöpferpersönlichkeiten in
+ihren Kulturbezirk einzuordnen, sehr enggefaßte Begriffe von ihren
+eigenen Fähigkeiten haben muß. Man sieht schließlich, daß auf diesem
+Wege eine Erkenntnis überhaupt nicht möglich ist, daß es sich vielmehr
+bei solchen Streitereien um einen schmählichen Mißbrauch des Wortes und
+Begriffes "deutsch" handelt. Eine Zusammenfassung, eine Einigung aller
+verschiedenartigen, aus einem Stamme erwachsenen Erscheinungen sollte
+es sein, ein trennendes Kampfmittel subjektiv kritischer Wertung ist es
+gegenwärtig geworden. Gegen solche Mißdeutung eines kulturellen
+Sammelbegriffes zu einseitig parteiischer Nutzanwendung ist von
+vornherein Einspruch zu erheben, wenn ernsthaft und sachlich von
+deutscher Musik gesprochen werden soll. Als deutsch gilt uns nicht
+diese oder jene subjektive Eigenheit des Künstlers, diese oder jene
+stilkritische Beschaffenheit des Werkes, auch nicht Gesinnung oder gar
+Tendenz des Schaffens. Als deutsch gilt uns alles, was dem Kreise der
+deutschen Kultur entwachsen ist, in ihm seinen geistigen Nährboden
+gefunden, ihm eigene Früchte zugetragen hat und so seiner Erscheinung
+in der Welt neue Geltung, neue Form gewinnt. Dieser Begriff des
+Deutschtums ist nichts unveränderlich Feststehendes, kein gegebenes
+Maß, dem alles unterworfen wird. Es ist ein stetig Wechselndes. Eben an
+dieser Fähigkeit des Wechselns der Erscheinung offenbart sich die
+innere Produktionskraft der nationalen Kultur. Wie das Deutschtum
+Luthers ein anderes war als das Goethes und dieses wieder ein anderes
+als das Wagners oder Bismarcks, und jede dieser großen Kundgebungen
+deutschen Geistes verzerrt würde, wollte man sie mit dem Maß der
+anderen messen, so gilt auch für unsere Zeit keine Norm, sondern
+zunächst nur der Wert der Erscheinungen. Erst aus aufmerksamer
+Betrachtung ihrer Vielfältigkeit und vorurteilsfreier Zusammenfassung
+aller Strömungen vermögen wir das Deutschtum der Gegenwart zu erkennen,
+über sein Wollen und Können Klarheit zu gewinnen.
+
+Der Franzose, der Italiener, der Engländer weiß dies, der Deutsche muß
+es noch lernen. Daß wir gegenwärtig gerade in der Musik im Kampfe
+miteinander stehen um diese Grundkenntnis, ist ein bedeutsamer Zug
+unseres kulturellen Lebens. Es mag hier unerörtert bleiben, wie weit
+politische Erbitterung zu solcher Trennung der Geister beigetragen hat,
+obschon die Tatsache, daß politische Momente überhaupt auf
+künstlerische Fragen Einfluß gewinnen konnten, als Symptom bedeutsam
+erscheint. In Wirklichkeit ist die politische Abirrung nur
+Begleiterscheinung eines Kunstlebens, das nach irgendwelchen geistigen
+Richtpunkten sucht, weil es sich von seinen natürlichen Nährquellen
+abgeschnitten fühlt, weil es den tiefen ethischen Antrieb des
+Kunstwillens verloren hat. Dieser Antrieb kommt aus dem Volk, aus dem
+Verlangen nach Formung der schöpferischen Kräfte des Volkes im Symbol
+des Kunstwerkes. Solche Formung geschah, als Bach die Matthäuspassion,
+als Mozart die Zauberflöte, als Beethoven seine Sinfonien schrieb. Aus
+dem Wunsch nach solchem Einklang von Volk und Künstler träumte sich der
+Romantiker Wagner in den Mythos der Vorzeit zurück, baute er Bayreuth,
+um dort sein "Volk" zu sammeln. Dieses Bayreuth an sich war schon ein
+Zeichen, daß die Gesamtheit des Volkes nicht so auf den Künstler hörte,
+wie er es wünschte, daß es ihn in wesentlichem mißverstand und er, um
+sich nach seinem Willen vernehmbar zu machen, eine Auslese aufrufen
+mußte. Rastlose Sehnsucht und gewaltige Tatkraft ermöglichten das
+Gelingen, das Kunstwerk wurde noch einmal zur Darstellung stärksten
+geistigen Gemeinschaftslebens, nicht mehr aus naiver Unbewußtheit, aber
+doch in imposanter Willensspannung und ohne Inanspruchnahme
+außerkünstlerischer Mittel. Seit dieser letzten zusammenfassenden Tat
+aber ist der Riß zwischen Volksgemeinschaft und Künstler scheinbar
+unüberbrückbar geworden. Die heutige Verwirrung der Geister, der Streit
+um deutsche und undeutsche Musik, der Versuch, die Teilnahme an der
+Kunst durch Entfachung politischer Leidenschaften zu steigern, ist
+nichts als Bekenntnis der Ohnmacht, durch die Kunst selbst unmittelbar
+an die Seele des Volkes zu gelangen. Statt des Volkes, statt der
+Gemeinschaft bietet sich dem Musiker die Öffentlichkeit. Sie ist nicht
+imstande, aus sich heraus Impulse zu geben, sie ist nichts als eine
+Verbrauchsgenossenschaft. Sie verlangt interessiert zu werden, die
+Wertung besorgt eine eigens dafür bestellte Fachkritik in den
+Sprechorganen der Öffentlichkeit: den Zeitungen. So ist die Musik aus
+einer Gemeinschafts-eine Fachangelegenheit geworden, für die nur der
+fachlich Interessierte verpflichtende Teilnahme hegt. So wird die
+Basis, auf der das Werk des Künstlers ruht, verhängnisvoll eingeengt
+und gleichzeitig das von seinen Musikern verlassene Volk zur
+Befriedigung seines Musikverlangens dem Gassenhauer zugedrängt.
+
+Man muß, um einen Blickpunkt für das Gesamtbild der heutigen deutschen
+Musik zu gewinnen, sich dieser Lage bewußt werden. Es kommt zunächst
+nicht darauf an, zu untersuchen, welche Ursachen dieses Ergebnis
+herbeiführten. Es kommt darauf an, den Sachverhalt selbst deutlich zu
+erkennen. Erst von dieser Erkenntnis aus ist es möglich, die heut
+tätigen Kräfte richtig zu sehen und zu werten, ohne dabei dem
+persönlichen Geschmacksurteil die Entscheidung zu überlassen. Dieses
+ist hier Nebensache. Eine Bestandaufnahme der gegenwärtigen
+schöpferischen Kräfte, eine Aussage über "deutsche Musik der Gegenwart"
+kann nicht die Aufzählung einer Reihe subjektiver Meinungsäußerungen
+über einzelne namhafte Komponisten erstreben. Sie muß fragen: Wie steht
+die heutige Musik zu unserem Volkstum, welchen Beitrag bietet sie zum
+Kulturleben der Nation und damit der Menschheit? Wo und wie lebt in der
+Musikerschaft der Drang, über die spezialisierte Fachkunst hinaus zur
+prophetischen Erfassung und Deutung seelischer Grundkräfte, über die
+Wirkung auf die Öffentlichkeit hinweg wieder zum Organ des Volkes, zur
+Künderin von Gemeinschaftsideen emporzuwachsen?
+
+Wie aber ist das Kriterium hierfür zu finden? Wollte man sämtliche
+deutsche Komponisten und Musikästhetiker der Gegenwart befragen, ob
+ihnen nicht ein solches Ziel als erstrebenswert gilt und vorschwebt, so
+würde die Antwort zweifellos von allen Seiten bedingungslos bejahend
+lauten. Und dies trotz der tiefgreifenden Wesensverschiedenheiten von
+Menschen, die einander hassen, verfolgen, verächtlich machen. So
+verheerend wirkt im Deutschen das Subjektivistische der romantischen
+Lebens- und Weltidee, daß kein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit,
+keine Erkenntnis des Gemeinschaftszieles die Begrenztheit des
+Individuellen zu überwinden, die Notwendigkeit verschieden gerichteter
+Willenskräfte achten zu lehren vermag. In dieser Unfähigkeit, die
+Möglichkeit mehrerer gleichzeitiger und doch gegensätzlicher Lösungen
+einzusehen, liegt eine verhängnisvolle Erschwerung der Annäherung von
+Künstler und Volk. Sie treibt den Schaffenden naturgemäß zu immer
+stärkerer Betonung persönlicher Einseitigkeit, sie verengt seinen
+Blick, sie läßt ihn den Begriff des Volkes nicht in der vollen
+Erfassung aller Kräfte, aller Lebensenergien, sondern in bewußt
+einseitiger Betonung individueller Wünsche, in gewollt ausschließlicher
+Hervorhebung besonderer Absichten suchen. Diese fanatische Übertreibung
+des Subjektivistischen, diese Verkennung der natürlichen Bedingtheiten
+des Persönlichen ist die Hauptursache nicht nur der gegenwärtigen
+Zersplitterung der Kräfte, auch der Entfremdung der Kunst gegenüber dem
+Volke, ihrer allmählichen Entwurzelung. Die Masse hat im Grunde kein
+Verständnis, sie hat -- mit Recht -- auch keine Teilnahme für die
+Kämpfe, die ausgefochten werden um Spezialfragen und über die nur die
+Studierten mitreden können. Das Volk fragt ebensowenig nach den
+Prinzipien der Kunstauffassungen, wie es nach dogmatischen Einzelheiten
+der Religionen fragt. Es hängt der Religion an, die ihm Botschaft
+bringt vom Übersinnlichen, es verlangt nach der Musik, die an seine
+Seele greift und seinem Geiste Aufschwung gibt. Das Theologengezänk
+aber der "Richtungen" ist ihm gleichgültig, und wenn solches übergreift
+auf die Produktion, macht es ihm diese verächtlich. Was nützt
+demgegenüber der gute Wille, die wohlmeinende Absicht der Künstler, die
+bekehren und demonstrieren wollen, statt glauben zu machen! Ihr Eifer
+ist nicht rein, denn es steht der Ehrgeiz der Propagandisten dahinter,
+ihre Kunst ist nicht überzeugend, denn ihr fehlt die Naivität des
+Absichtslosen.
+
+Diese Naivität, diese Absichtslosigkeit, diese vorbehaltlose
+Überzeugungskraft des Naturnotwendigen ist das Kriterium für die
+Bedeutung des Kunstwerkes, für die Echtheit des Schöpferwillens. Erst
+oberhalb solcher Voraussetzungen kann subjektive Wertung beginnen, die
+dann Frage des Geschmackes ist, an die entscheidenden Grundbedingungen
+aber nicht rührt. Wenn wir die Kräfte der Gegenwart erforschen wollen
+auf ihr Verhältnis zum Volkstum, auf ihre Fähigkeit prophetischer
+Deutung seelischer Grundkräfte, auf ihre Berufung zur Kündung von
+Gemeinschaftsideen, so werden wir nicht nach ihrem ästhetischen
+Programm fragen, nicht nach ihren erzieherischen Tendenzen, auch nicht
+nach ihren stilkritischen Kennzeichen. Wir werden fragen, wo und wie
+sich über diese persönlichen Merkmale hinaus ein schöpferischer Urtrieb
+betätigt, der, alles willensmäßig Bewußte weit hinter sich lassend, aus
+tiefstem Zwang des Müssens in absichtsloser Wahrhaftigkeit schafft und
+dadurch zum Wecker elementarer Gefühlskräfte wird. Was solcher
+Fragestellung standzuhalten vermag aus dem großen Bereich deutschen
+Kulturgebiete, das ist deutsch, und das vermag entscheidende Auskunft
+zu geben darüber, wie sich deutscher Geist der Gegenwart in der Musik
+darstellt.
+
+Religiöse Grundlagen sind die einfachsten, für die Erfassung
+weitreichender Wirkungen sichersten Stützen des Kunstwerkes. Sie
+umspannen Ideenkomplexe, die jeder ernsthaften Natur vertraut und
+zugänglich sind, mit denen zu beschäftigen immer das Verlangen der
+besten Menschen ist, und die zudem allen Graden persönlicher Bildung
+zugänglich sind. Zeiten, in denen die Kirche den religiösen Drang zu
+befriedigen und in lebendige Kultformen zu fassen wußte, sind daher für
+jede Kunst, insbesondere für die Musik, stets Zeiten der Hochblüte
+gewesen. Der Gregorianische Choral, das Werk der Niederländer, der
+alten Italiener mit Palestrina, in Deutschland der protestantische
+Choral, die Zeit der großen Kirchenkomponisten bis Bach sind Denkmäler
+dieses Zusammenwirkens von Kirche und Kunst. Die unabmeßbare Kraft der
+Musik Bachs beruht zum nicht geringen Teil darauf, daß in ihr kirchlich
+religiöse Kultformen Grundriß, Aufbau und innere Führung der
+künstlerischen Schöpfung mitbestimmt haben. Gewiß ist es richtig, das
+einzig das Genie Bachs eine solche Steigerung der gegebenen Kultformen
+ermöglicht hat, denn zahllose andere Musiker, die sich vor, neben und
+nach ihm ähnlich betätigten, sind heut vergessen. Gewiß ist es
+ebenfalls richtig, daß wir heut auch Bachs kirchliche Musik nicht mehr
+aus der Gefühlseinstellung der konfessionell gläubigen Gemeinde
+aufnehmen. Aber weder die Erkenntnis der Einzigartigkeit von Bachs
+Genie, noch der Hinfälligkeit der für ihn grundlegenden Kultformen
+verringert die Bedeutung der Tatsache, daß hier Genie und Kultus in
+gegenseitiger Durchdringung zu einem zeitlosen Ganzen emporgewachsen
+sind. So unrichtig es wäre, Bach in seinen Passionen, Kantaten, Messen,
+Chorälen, Motetten etwa nur als Interpreten kirchlicher Formideen
+anzusehen, so falsch wäre es, die lebenspendende Kraft dieser Formen zu
+unterschätzen und die Dauer dieser Werke ausschließlich als subjektive
+Leistung Bachs anzusehen. Hier hatte ein starkes Gemeinschaftsgefühl
+aus der Kultur einer Zeit Voraussetzungen geschaffen, die nun der große
+Künstler erst recht erkannte und bis auf ihre höchste Tragkraft zu
+überbauen wußte.
+
+Den Menschen der nachfolgenden Zeit fehlte diese feste Bindung. Wohl
+blieb das religiöse Verlangen, aber die vereinheitlichende
+Zusammenfassung durch die Kirche, die lebendige kultische Form ging
+verloren. An Stelle der kirchlich gläubigen Erfassung religiöser Werte
+trat unter dem Doppeldruck der Aufklärung wie der idealistischen
+Philosophie und Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts kritisch
+gesinnte Ethik. Sie gab der Musik die neue Fähigkeit der Leidenschart,
+des Sturmes, des individuellen Erlebens, der Beichte. Sie stellte sie
+unter den Zwang der Gefühlskritik, gab ihr zur Aufgabe die
+unerbittliche Auseinandersetzung mit menschlichstem Geschehen, setzte
+als Ziel die Gewinnung und Erkennung des Menschen. Mozarts Opern zeigen
+dieses Ziel in stofflicher Symbolisierung. Darüber hinaus aber ist die
+seelische Voraussetzung aller Musik dieser Zeit mit ihrer
+Hauptschöpfung: dem Formbau der Sonate Gestaltung kritischer
+Gefühlsauseinandersetzung und -erkenntnis. In ihr liegt das religiöse
+Grundmotiv des Idealismus. Beethovens Werke in ihrer Gesamtheit sind
+musikalische Kulthandlungen. In den verinnerlichten Formen der
+Kammermusik, in den über die Kirche hinausstrebenden Messen, selbst in
+der Oper, am stärksten zusammenfassend aber in den Sinfonien lebt als
+treibende Urkraft der ethische Erkenntnis- und Bekenntnisdrang des
+deutschen Idealismus, die Religiosität, die nicht mehr Kirche, nicht
+mehr Dogma ist, sondern die Offenbarung des Göttlichen nur aus der
+Gefühlskraft der menschlichen Seele empfängt. Diese ethische
+Religiosität war ebenso Eigentum aller geistigen Menschen des
+ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie Bachs kirchliche Gläubigkeit das
+seiner Zeitgenossen. Der Idealismus schuf seine musikalische Kultform
+im Konzert mit allen Verschiedenheiten seiner Formgattungen, gab
+gleichzeitig der bis dahin auf Luxus- oder niedrig volkstümliche
+Wirkungen begrenzten Oper den weiten Horizont allmenschlichen
+Geschehens. Aus vorher unbekannten Bezirken des Fühlens und Erlebens
+hatten sich neue Gemeinschaften der Menschen geformt, der religiöse
+Trieb hatte eine äußerlich dem Kirchlichen schroff abgewandte, der
+geistigen Schwungkraft nach aber höchster Glaubensfähigkeit ebenbürtige
+Gestaltung gefunden.
+
+Dieser emporflammende Auftrieb der entdogmatisierten und doch
+tiefgläubigen Seele brach zusammen in der Romantik. Es ist das
+entscheidende Kennzeichen der den größten Teil des 19. Jahrhunderts
+beherrschenden romantischen Bewegung, daß sie sich nicht fähig erwies,
+dem religiösen Problem eine neue, eigenkräftige Gestaltung zu geben.
+Der religiöse Impuls der Romantik äußerte sich zunächst in einseitiger
+Weiterführung des kritischen Elementes, dem gegenüber der seelische
+Anschwung des Idealismus mehr und mehr erlahmte. Das Ergebnis war teils
+eine sich in Einzelheiten materialistischer Art zerfasernde
+wissenschaftliche Empirie der Beobachtung, teils eine dieser
+Nüchternheit abgewandte, auf religiöse Symbole der Vergangenheit
+zurückgreifende Mystik. Naturalismus und Mystizismus sind
+dementsprechend die geistigen und seelischen Grundlagen auch der
+romantischen Musik. Zu organischer Einheit zusammengefaßt erscheinen
+sie im Gesamtwerk Richard Wagners, in dieser Kunst der Synthese, die
+einer religionssuchenden, doch innerlich glaubensunfähigen Zeit statt
+des Gemeinschaftserlebnisses den Gemeinschaftsrausch gibt und sich
+dafür der Kultform des religiösen Dramas in ästhetischer Verkleidung
+bedient. Der Romantik mit ihrem Mangel eigener Kraft des Schauens und
+Bauens geht die Naivität ursprünglichen Schöpfertums verloren. In die
+Vergangenheit zurücktaumelnd, greift sie deren absichtslos geformte
+Symbole auf und verwendet sie in bewußter Reizsteigerung zu Mitteln
+absichtsvoller, durch reflektive Kunst planmäßig gestalteter Wirkungen.
+Was Nietzsche zuerst als das Dionysische, später als das
+Schauspielerische an Wagners Kunst empfand, war in Wahrheit ihr
+Rauschhaftes, das ihn anfangs hinriß, dann abstieß. Aus der
+instinktiven Abwehr gegen diesen Rauschtrank entsprang alle Opposition
+gegen Wagner. Und doch war dieser Rausch der Wagnerschen Kunst nichts
+von der älteren und gleichzeitigen Romantik grundsätzlich
+Verschiedenes, nur ihre äußerste Steigerung. Alle romantische Kunst,
+"Freischütz" nicht minder als "Tristan" ruht auf der Grundwirkung der
+Hypnose, der Suggestion, auf der Idee des Traumes. Sie setzt die
+Unwirklichkeit als Grundlage des Geschehens voraus, bedient sich aber
+in der äußeren Gestaltung mit nachdrücklicher Betonung einer
+naturalistischen Logik des Geschehens. In solcher Auffassung der
+künstlerischen Welt als einer Welt bewußten Scheines, absichtlicher
+Sinnestäuschung lag ein tiefer Widerspruch zur Kunst des Idealismus.
+Für diesen war die Kunst Steigerung, schwunghafte Erhöhung des realen
+Seins, kein Gegensatz, sondern durch geistige Hochspannung gewonnene
+Sphäre vervielfachter Lebensenergie. Die idealistische Kunstauffassung
+war Ergebnis einer im tiefsten Grunde bejahenden, den Mächten des
+Lebens innerlich überlegenen Weltanschauung. Der Romantik fehlt diese
+Überlegenheit. Sie ist pessimistisch, weil sie sich dem Leben nicht
+gewachsen fühlt, sie bedarf des Traumes, um der Wirklichkeit zu
+entfliehen. Die Kunst ist ihr das Narkotikum, das den Traum
+heraufzaubert, und weil diese Kunst als Surrogat des Lebens dient, so
+muß sie mit allen Mitteln der Sinnestäuschung illusionistischen Zwecken
+dienstbar gemacht werden. Illusionistisch ist die Bühne der Romantik,
+ist die Faktur ihrer Technik. Die Psychologie wird in den Dienst des
+Kunstwerks gestellt, das Prinzip des Leitmotives ist das stärkste
+Kunstmittel einer illusionistisch gerichteten Phantasie. Der
+bestimmende Einfluß poetisch programmatischer Vorstellungen auf das
+sinfonische und instrumentale Schaffen beruht gleichfalls auf dem
+Streben nach Übertragung real glaubhafter Vorgänge in künstlerische
+Wirkungen. Das Leben sinkt für den Romantiker immer mehr zur Unterlage
+der Kunst herab, diese selbst wird ihm zum Inbegriff eigentlichen
+Lebens und damit auch zur Religion. Unvermögend, das reale Sein zu
+zwingen, flüchtet der romantische Künstler in die Traumwelt des
+künstlerischen Scheins, gestaltet sie mit allen Mitteln der Kunst zum
+Abbild einer gewünschten Wirklichkeit und gewinnt aus der Anbetung
+dieses selbstgeschaffenen Idols Befriedigung seiner weltlichen und
+überweltlichen Sehnsucht.
+
+Damit hatte die Musik, namentlich die dramatische Musik, scheinbar über
+alles Frühere hinaus eine noch nie erreichte Steigerung religiöser
+Bedeutsamkeit erreicht. Sie war nicht nur, wie bei Bach, künstlerische
+Verklärung gegebener Kultformen, sie stellte nicht nur, wie in der Zeit
+des Idealismus, die Übertragung ethischer Erkenntniskritik in
+unkirchliche Formen beseelter Geistigkeit dar. Sie war jetzt selbst
+Erkenntnis, selbst Religion geworden. Diese Steigerung war indessen nur
+scheinbar. Was die Kunst an Selbstherrlichkeit gewann, büßte sie an
+umfassender Kraft und seelischer Wahrhaftigkeit ein. Diese zur bewußten
+künstlerischen Wirkung sterilisierte Religiosität trug in sich weder
+die überzeugende Ursprünglichkeit des menschlichen Glaubenserlebnisses
+noch den emporreißenden seelischen Aufschwung des entkirchlichten und
+doch gottesahnenden Idealismus. Die romantische Religiosität war zu
+einer Angelegenheit der Ästhetik geworden, ihre Abwendung vom Leben
+entzog ihr die fließenden Kräfte dieses Lebens. Wagner glaubte, das
+Volk zu suchen, er fand den Bayreuther Patronatsverein. Er fand das
+gebildete Publikum, daß sich am Rausch seiner Ekstasen religiös zu
+erbauen meinte und nicht fähig war, zu erkennen, daß hier Symbole einer
+entseelten Religiosität zu dekorativer Schaustellung arrangiert waren.
+
+Auf der deutschen Gegenwart lastet das Erbe der Romantik. Der
+Rauschtrank der romantischen Kunst hat die Geister verwirrt und
+seelisch niedergebrochen. Einige meinen, er müsse immer wieder erneuert
+werden, sie glauben in der Fortführung der Hypnose, in der
+Aufrechterhaltung der Kunst als des Narkotikums den einzigen Weg zu
+sehen. Sie teilen mit der Vergangenheit die Scheu vor dem Leben, die
+Realität erscheint ihnen sinnlos und schlecht. Es ist die Gruppe jener
+Künstler, die neuerdings in Hans Pfitzner ihren Wortführer gefunden
+hat. Man darf, will man die symptomatische Bedeutung solcher
+Erscheinungen nicht verkennen und unterschätzen, ihren Worten nicht
+unmittelbare Widerrede, ihren Taten keine absolute Kritik
+entgegensetzen. Sie sind Opfer einer Vergangenheit, deren Blendkraft
+Generationen getäuscht und zermürbt hat. Ihre Hysterie ist ein Teil
+unserer eigenen Schwäche, weit entfernt, uns zu unfruchtbarem
+Widerspruch aufzureizen, zeigt sie uns die zersetzende Nachwirkung der
+romantischen Lüge an dem erschütternden Beispiel entnervter Talente.
+Ein heißer Drang zum Glauben, ein bedingungsloser Fanatismus sucht
+Erfüllung von der Kraft einer Theatersonne, unfähig zu erkennen, daß
+dieses künstliche Licht nur geschaffen ist, um zu täuschen, eine Welt
+des Scheines zu erhellen, eine Gemeinschaft der Lebensflüchtlinge
+anzulocken. Aber diese hingebungsvolle Bewunderung, diese
+selbstvergessene Anbetung des großen Scheines, dieser Traum von der
+Herrlichkeit des Vergangenen ist ein tiefer Wesenszug des deutschen
+Charakters. Je ärmer und reizloser die Kunst dieser Männer wird, je
+mehr sie sich in schemenhafte Phantasterei und mystischen Dunst
+verliert, um so mehr erkennen wir hier ein ursprünglich werthaltiges
+Gut deutscher Art: die Verehrung des erdhaft Heimischen, des
+geschichtlichen Werdens. Es liegt ein religiöser Zug verborgen in der
+bedingunglosen Anbetung des Blutes, der Art, der Gesinnung, und so
+wenig solche Verherrlichung des Gewesenen geeignet ist, Erkenntnis zu
+schaffen, dem Blick die Kraft wahrhaften Durchdringens zu geben, so
+wenig kann man sie aus dem Charakter des Deutschtums streichen. Als
+Kunstbekenntnis ist sie der leichtesten Eingänglichkeit sicher, sie
+erspart selbständiges Denken, bietet nichts Eigenes, verlangt nur
+Anerkennung des historisch Gegebenen. Diese Religion der Haus- und
+Nationalgötter, deren Heiligkeit bedingt wird durch ihre Herkunft,
+gehört zu den populärsten Bekenntnissen im heutigen Deutschland und
+zählt eine große Gemeinde. Es ist eine an sich durchaus unreligiös
+Religion, aber sie gibt den suchenden Menschen ein Etwas, an das sie
+glauben können, sei dieses Etwas auch nur ein Fetisch.
+
+Dieses Suchen, dieses Glaubenwollen, dieses starke Durchbrechen des
+religiösen Bedürfnisses ist das auffallendste Kennzeichen der Gegenwart
+im Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit. Es zeigt sich nicht
+nur an dem Versuch, dem künstlerischen Nationalismus religiöse
+Bedeutung zu geben, es zeigt sich auch an der Entwicklung anderer
+Geistesrichtungen innerhalb der gegenwärtigen Musik. Aus der
+illusionistischen Tendenz der romantischen Musikauffassung hatte sich
+allmählich ein intellektuell hochstehender Naturalismus entwickelt,
+sein talentmäßig stärkster Repräsentant ist Richard Strauß, die
+lebendigste und bewegungskräftigste deutsche Musikbegabung seit Wagner.
+Bei Strauß ist bis zu den Werken seiner besten Manneszeit,
+"Heldenleben" "Domestika" und "Rosenkavalier", der Sinn nur auf
+intellektuelle Gemeinschaft, auf die Überzeugungskraft der richtigen
+Beobachtung, auf die Freude an der Selbstsicherheit der
+naturalistischen Darstellung gerichtet. Aus der Kraft des Wurfes, mit
+der hier die materialistische Wirkung der Kunst erfaßt wurde, ergab
+sich die Unmittelbarkeit des Eindruckes. Der Rausch kam nicht mehr, wie
+bei der älteren Romantik Wagners, aus der Ekstase eines
+Scheinerlebnisses. Er war lediglich Freude an der hinreißenden
+Beherrschung der illusionistischen Darstellungskunst, deren Objekt im
+Hinblick auf seine Anregungskraft für das Talent des Künstlers gewählt
+wurde.
+
+Dieser Naturalismus, der mehr und mehr zur deskriptiven Virtuosität
+herabsank, hat neuerdings versucht, sich durch Anlehnung an die
+Symbolik des Idealismus einen ethischen Anschwung zu geben. Vom
+"Rosenkavalier" an über "Ariadne" und "Josefslegende" bis zur "Frau
+ohne Schatten" tritt in Stoffwahl und künstlerischer Behandlung bei
+Strauß eine unverkennbare Bezugnahme auf Mozart zutage, eine
+Bezugnahme, die freilich nirgends über die Bedeutung der
+archaisierenden Stilanlehnung hinausgelangt, weil die Straußsche Kunst
+ihrer An der Gefühlserfassung nach unlösbar verwurzelt ist in den Boden
+der Romantik. Auch diese Lebensäußerung deutschen Geistes in der
+gegenwärtigen Musik ist nicht zu unterschätzen. Sie zeigt die
+Beweglichkeit, den spekulativen Unternehmungssinn, die technische
+Phantasie eines expansiv gerichteten, auf äußere Aktivität gestellten
+Willens. Ihrer bekenntnismäßigen Bedeutung nach erscheint sie freilich
+vorwiegend Ausdruck eines Materialismus, der seine religiös ethische
+Schwäche unter dem Reichtum äußerlich reizvoller Bilder zu verbergen
+sucht und dabei doch mehr und mehr der Skepsis des Ästhetentumes
+verfällt.
+
+Der Traum als Mittel der Vergangenheitserinnerung war das Ziel auch
+jener Kunst, die im Anschluß an die ältere Romantik durch Vertiefung
+des gemütvoll Innigen, durch strengen Ernst und beschauliche Sammlung
+der Gefühlskräfte das Rauschharte der theatralischen Gebärde Wagners zu
+vermeiden suchte. Brahms ist die eigenkräftigste, durch Festigkeit und
+herbe Geschlossenheit des Willens imposanteste Erscheinung dieser Art,
+Reger ihr unruhvollst bewegter problematischer Ausklang. Es ergab sich
+aus der inneren Willensrichtung dieser Kunst, daß sie sich
+ausschließlich konzertmäßigen Formen zuwenden und diese unter bewußter
+Betonung ihres formalistischen Charakters einer gesteigerten Intimität
+des Gefühlslebens, damit zugleich einer Verengung ihres äußeren
+Wirkungskreises zuführen mußte. Der Wesenscharakter dieser Kunst dräng
+zur Hausmusik. Er enthüllt sich am freiesten in der Kammermusik und der
+auf intern begrenzte Wirkungen berechneten Vokallyrik. Wo er dem
+Monumentalen zustrebte, näherte er sich dem akademischen Formalismus,
+der schematisch konstruierten, nicht frei gewachsenen Form. Das
+Positive lag in der inneren Bezugnahme auf die wertvollen Kräfte eines
+konservativ beschaulichen Gefühlslebens, das sich nicht zu erweitern,
+nur zu bewahren strebt. Die Schwäche war bedingt durch bewußt
+rückschauende Tendenz, durch stille, aber hartnäckige Abwehr gegenüber
+allen Versuchen, neue Grundlagen, neue Ausgangspunkte seelischen
+Gemeinschaftslebens zu finden.
+
+Solche neuen Grundlagen und neuen Ausgangspunkte des Seelischen treten
+dagegen mit überraschender Bestimmtheit zutage in der Musik Anton
+Bruckners. Ähnlich wie Brahms steht auch Bruckner in naher innerer
+Beziehung zum Volkstum. Nur ruht diese Beziehung nicht auf bewußter
+Archaisierung, traumhafter Zurückführung der Gefühlsart auf eine
+innerlich als altertümlich empfundene Art der Ausdrucksgestaltung. Sie
+ergibt sich aus natürlich freier, menschlich spontaner Unmittelbarkeit,
+ist reines Erlebnis ohne irgendwelche stilistische Bewußtheit. Als
+individuelle Erscheinung ist Bruckner in seiner Weltfremdheit, seiner
+Mischung von Bauer und Mönch eine fast mittelalterliche Natur, als
+Künstler stellt er unter allen anderen Typen seiner Zeit die erste im
+wahrhaften Sinne modern gerichtete Persönlichkeit dar. Er steht der
+Wagner-Nachfolge sowohl in ihrem krampfhaften Verlangen nach
+weltfeindlicher Hypnose wie in ihrer ästhetenhaften Symbolspielerei
+ebenso fern wie der versonnen rückblickenden Vergangenheitsträumerei
+der formalistisch akademischen Romantik. Er ist ein gläubiger Mensch,
+dessen unkomplizierte Religiosität sich an dem weihevollen Glanz und
+der Autorität eines unkritisch empfangenen Katholizismus zur
+Erhabenheit aufrichtet. Gläubigkeit ist für ihn kein Rausch, keine
+Sehnsucht, kein Spiel, sie ist eine unerschütterliche, jenseits aller
+Zweifel stehende Tatsache. Sie gibt ihm Naivität und Kraft der großen
+Form, gibt ihm die Fähigkeit der Gemeinschaftsbildung, die hier wieder
+aus der Wucht des wahrhaftigen Erlebnisses erwächst. In Bruckners Musik
+tritt zum erstenmal seit dem Verblassen des Idealismus der wirkliche
+Mensch mit seinem Drang zur nicht künstlich vorgetäuschten lebendigen
+Wirklichkeit hervor. Der Traum als Ziel der Kunst wird überwunden, ein
+starkes Gefühl ist wieder erwacht, das den Erscheinungen der Realität
+gewachsen und fähig ist, sie formend zu gestalten. Die Quellen dieses
+Gefühles weisen wieder zurück auf die Kirche: Orgelklang,
+Hochamtsfeier, liturgisches Zeremoniell sind die Grundlagen für
+Bruckners Phantasieleben. Man könnte an eine gewaltig hervorbrechende
+Nachblüte spezifisch katholischer Kunst denken. Aber hier tritt
+gleichzeitig ein so kerniges, bei aller Gebundenheit persönlich
+gerichtetes Menschentum zutage, daß die kirchliche Bezugnahme nur
+Fundament und innere Richtlinie bleibt für eine kühn und frei in die
+Welt des Erdhaften hinausgebaute Kunst.
+
+Was Bruckner von der Basis einer strenggläubigen, durch inbrünstige
+seelische Erfassung und urwüchsige Einfalt bezwingenden volkstümlichen
+Kirchlichkeit aus begann, das vollendete Mahler. Bruckner wie Mahler
+entstammten dem Traumlande der Romantik, in ihnen vollzog sich das
+Erwachen der Seele zu einer neuen Lebensgestaltung aus der Kraft eines
+neuen Lebenswillens, eines positiv gerichteten Aktivitätsdranges.
+Empfing Bruckner noch die innere Anregung und Beschwingung seiner
+Phantasie aus der frommen Erfassung katholischer Glaubenssymbole, so
+drang Mahler aus der konfessionell umschriebenen Gedankenwelt vor in
+die Sphäre der reinen Naturanbetung. Das Blühen und Werden, das Keimen
+und Vergehen alles Seienden, das Wunder der zeugenden und schaffenden
+Liebe, das Geheimnis des Lebens und Sterbens der Natur, alles, was
+gleichnishaft in den Symbolen der kirchlichen Lehre dargestellt war,
+erschien jetzt wieder in unmittelbarer Anschauung gespiegelt, nur in
+das Symbol des Kunstwerkes übersetzt. Eine Welt glaubenstiefer und doch
+unkirchlicher Religiosität tat sich auf, ähnlich wie einst bei den
+Künstlern der idealistischen Zeit und doch ganz anders erschaut.
+Nicht mehr Erkenntnis ist das Ziel, nicht mehr Kritik weist den Weg.
+Der individualistische Hang, der Trieb zur Befreiung der Persönlichkeit
+und ihrer Werte, der die individualistische Bewegung getragen und im
+subjektivistischen Traumbild geendet hatte, ist erloschen. Jetzt
+wechselt er in das Streben nach Überwindung der individuellen
+Begrenztheit, nach Eingliederung des einzelnen in das Ganze. Die Natur
+in der unbemessenen Vielheit ihrer Erscheinungen wird zum höchsten
+Sinnbild der Totalerfassung schöpferischer Kräfte. Der Mensch, nicht
+mehr kritisches Geistwesen, sondern vegetabilisches Naturwesen, steht
+inmitten dieses Ganzen, nur ein Teilchen davon, pflanzenhaft
+erdgebunden und doch wieder Unsterbliches in sich tragend, höchste
+Inkarnation göttlicher Urkraft, soweit er sich kosmisch zu empfinden
+und zu erkennen vermag. Die Gemeinschaft wird auch künstlerisch wieder
+zur Quelle einer neuen Formidee: die Gemeinschaft nicht der Gläubigen,
+nicht der Erkennenden, nicht der vom romantischen Zaubertraum
+Berauschten, auch nicht der nationalistisch Gesinnten, ästhetenhaft
+Interessierten oder der Vergangenheitsträumer. Es ist eine höhere
+Gemeinschaft, die alle: Gläubige, Idealisten und Romantiker umfaßt, von
+allen ein Teil in sich trägt und es mit den übrigen zu neuer Gesamtheit
+einigt. Es ist die Gemeinschaft der Menschen als Geschöpfe einer
+Gottheit der Liebe, aus deren ahnender Erfassung alles Problematische
+sich löst, alles Individuelle verschwindet, alles Schicksalhafte
+überwunden wird. In dieser Verkündung der Liebe als der höchsten
+schaffenden Macht, in dieser Anschauung des Menschen nur als Teiles
+eines sozial bedingten Ganzen lag die neue religiöse Botschaft, lag die
+neue aktive Gestaltung tief drängenden Menschheitsverlangens, lag die
+befreiende Tat, die aus der Traumsphäre der Romantik hinausführte in
+die Wirklichkeit lebendigen Lebens, sie bejahend und in der Kunst zu
+formbewußter Gestaltung zwingend.
+
+Es war ein deutscher Musiker, der diese Tat vollbrachte und damit der
+deutschen Musik wieder ein hohes Ziel stellte, ihr einen neuen
+Gefühlsgehalt gab. Neu freilich nur im Hinblick auf die innerer
+Begründung. Dem Ergebnis nach deckte sich diese kosmische Religiosität
+mit der christlichen Gemeinschaftsidee wie mit der Menschheitsliebe der
+idealistischen Humanitätszeit. Alle drei sind Auseinandersetzungen mit
+dem Gemeinschaftsproblem, verschiedenartig in der Begründung,
+übereinstimmend aber im Resultat der Bejahung des Lebens in der
+Gemeinschaft, der Überwindung des Individuellen, der tätigen
+Zusammenfassung aller Kräfte. Mit dem erneuten Durchbruch zu diesem
+Ziel hatte die deutsche Musik wiederum ihre Berufung und Fähigkeit zur
+Weltmacht erwiesen, ihre Stellung als Künderin höchster
+Menschheitsideen bestätigt.
+
+ * *
+ *
+
+Zum zweitenmal wurde die sinfonische Form Gefäß der gestaltenden Idee,
+jetzt nicht wie bei Beethoven vorwiegend auf die abstrakt instrumentale
+Sprache beschränkt, sondern stark durchsetzt, zum Teil beherrscht vom
+vokalen Ausdruck. Die Sphäre des Geschehens war dem sinnlich faßbaren
+Erlebnis nähergerückt, die Vorstellungswelt dieser Kunst lag mehr im
+Bereich des irdisch Erkennbaren, Gleichnishaften. Dagegen war sie
+ferngerückt dem Naturalismus und Illusionismus der Romantik, und darin
+lag der tiefe Wesensunterschied sowohl gegenüber der gleichzeitigen
+Programmusik als auch der Oper. Die Oper war ihrem Ursprung nach dem
+unbefangensten, kindlich buntesten Sinnenspiel zugewandt. Im Gegensatz
+zu den auf andächtig religiöse Vereinigung gerichteten musikeigenen
+Formen war sie der Verherrlichung der Freude gewidmet, das Fest des
+Dionysos und des Eros. Künstliches Erzeugnis bewußten Luxustriebes, als
+Formerscheinung abhängig von den Bedingtheiten verschiedenartigster,
+organisch unverbundener Wirkungsmittel, unterworfen dem
+gesellschaftlichen Einfluß der Verbraucher, war sie die unrealste,
+durch willkürliche Mischung der Gestaltungselemente zwitterhafteste
+musikalische Kunstgattung. Sie hat in den verschiedenen Ländern
+verschiedenartige Ausprägung erfahren, hat in Italien eine Entwicklung
+nach der musikhaft sinnlichen, in Frankreich nach der schauspielhaft
+bühnenmäßigen, in Deutschland nach der gedanklich dramatischen Seite
+hin genommen. Aber sie ist stets Erzeugnis und Spiegelung des
+Luxuswillens, der Laune, der phantastischen Willkür geblieben. Das
+bedeutet keineswegs Verkennung oder Unterschätzung ihres Kunstwertes.
+Man kann die Oper gewiß nicht streichen aus der Geistesgeschichte der
+letzten Jahrhunderte, sie ist die bezeichnendste Auswirkung des
+Spieltriebes. Aber nur als solche kann sie erfaßt werden, im Gegensatz
+zum gesprochenen Drama, dessen äußere Form sie spielend nachahmt, wie
+sie jede andere der an ihr beteiligten Künste: Gesang,
+Instrumentalmusik, szenische und figürliche Darstellung gewissermaßen
+in eine absolut unlogische Sphäre überträgt. Je reiner sie diesen
+Charakter des phantastisch parodistischen Spieles wahrt, um so
+vollkommener wird sie als Kunstwerk wirken. Der unvergängliche Zauber
+der Oper Mozarts ruht in der tiefen Übereinstimmung, aus der hier
+Sinnenfreude, Spieltrieb, jeglicher Realität abgewandte Phantastik zur
+tiefsten Erfassung menschlicher Lebenstriebe und Willenskräfte
+gelangen. Die irrationale Form wird zur Spiegelung eines irrationalen
+Seins außerhalb aller Bedingtheiten der Wirklichkeit. Nicht nur die
+stofflichen Erscheinungen der Oper Mozarts: Handlung, Charaktere,
+äußere Aneinanderreihung der Begebenheiten sind dem illusionistisch
+gerichteten Verstande unfaßbar. Die musikalische Formung vor allem: das
+Ausströmen des Gefühles durch die monodramatische Gesangsarie, das
+gleichzeitige Ineinanderweben der Stimmen im Ensemble, die
+vielgliedrigen, lediglich aus Kontrast- und Steigerungswirkung des
+musikalischen Ausdruckes entwickelten Finalebauten -- dies alles
+zusammen ergab eine Kunst, der gegenüber jede rationalistische
+Forderung zum Spott werden mußte. Hier war denkbar höchste Freiheit des
+gestaltenden Geistes, restlose Überwindung der stofflichen Materie,
+reine Anschauung des Spieles freier Phantasiekräfte, eine vollkommene
+idealistische Welt als verklärtes Symbol der realen. So konnten hier
+die großen bewegenden Ideen der damaligen Menschheit: die Probleme der
+Befreiung der Persönlichkeit dargestellt werden an menschlichen
+Elementartypen der Figaro-, Don-Juan-, Cosi fan tutte-Sphäre. So konnte
+in der Zauberflöte im Rahmen eines Kinderspieles das Ziel aller
+humanitären Kultur: die Menschheitsvereinigung durch Freundschaft,
+Liebe und Weisheit zu herrlichster Erfüllung in der Kunst gebracht
+werden.
+
+Die nachfolgende Zeit hat niemals die einzigartige Musikernatur Mozarts
+verkannt. Niemand hat für den Genius Mozart tieferes Gefühl und
+Verehrung gehabt als Wagner. Aber die Form der Mozartschen Oper, diese
+freieste Gestaltung des Unwirklichen, Unwahrscheinlichen, erschien ihm
+unvollkommen, mußte ihm unvollkommen erscheinen -- gerade der
+Eigenschaften wegen, die über die Würdigung von Mozarts bloßem
+Musikertum hinaus die kulturelle Größe seiner Künstlerschaft bestimmen.
+Die Romantik glaubt sich über die Urbestimmung der Oper, über die
+artbestimmenden Grundlagen der Gattung hinwegsetzen zu können. Sie
+versuchte der Oper das zu nehmen, worin ihr Wesen wurzelte: den
+Charakter des Spieles. Sie versuchte, dieser auf heiterster
+Sinnenspannung, auf lebhaftestem Reiz der Bilder, auf schmeichelnder
+Phantastik der Gefühlserregung beruhenden Kunstform das zu geben, was
+ihr niemals innerhalb ihres unmittelbaren Wirkungsbezirkes eigen
+gewesen war: die religiöse Weihe des großen Dramas. Das Wesen der Oper
+als dramatischer Erscheinung beruht auf bewußter Unwahrscheinlichkeit,
+auf parodistischer Einstellung gegenüber allen Realitäten. Selbst die
+Reformen Glucks, zu Unrecht als Vorarbeiten für Wagner angesehen,
+ließen den Grundcharakter der Oper als Gattung unberührt. Sie bezogen
+sich lediglich auf die stärkere Hervorhebung der lyrisch musikalischen
+Wirkungen gegenüber gesanglich virtuosen Effekten. Ob ernste oder
+heitere, ob tragische oder komische Oper, dies war gleichgültig für die
+Auffassung des Typs, aus dem die Oper Mozarts als ideale
+Zusammenfassung aller Kräfte hervorwuchs. Dieses lyrisch phantastische
+Erosspiel war in allen Bedingtheiten seines Wesens Erzeugnis der
+Renaissance, weitergebildet von Menschen, deren sinnlich empfindsame
+und erfindungsreiche Natur hier ein neues Feld für ihren
+sensualistischen Spieltrieb fand. Der Versuch, von dieser Spielgattung
+aus den Weg zu bahnen zum kultischen Drama der Antike, bedeutete nicht
+nur eine neue Mißdeutung der Antike, entstellender noch als der
+klassisch geglättete Antikenbegriff des Idealismus. Er bedeutete die
+unwahrhaftige Theatralisierung kultischer Dinge, ihre Herabsetzung zu
+Requisiten opernhafter Wirkungen und, damit verbunden, die falsche
+Überhöhung einer in sich organisch geschlossenen Kunstgattung durch das
+steigernde Pathos des dramatischen Affektes.
+
+Die romantische Form des musikalischen Dramas, wie es sich in der
+Theorie darstellt, ist im Hinblick auf das Wesen der Gattung, das
+vollendet in der Oper Mozarts erscheint, eine Abirrung der Oper auf
+Gebiete, die außerhalb des Charakters der Gattung liegen, und auf denen
+sie nie Wurzel fassen konnte. Soweit Werke solcher Art in die Breite
+wirken wie bei Wagner, beruht die Wirkung in Wahrheit doch auf dem
+Spielcharakter der Oper. Er ist auch im musikalischen Drama nur
+scheinbar überwunden und lebt da weiter, wo es die lebendige Wirkung
+zeugt. Aber er lebt unter falschem Namen und falscher Einschätzung
+seines Wesens. In dieser Vortäuschung unwahrer Werte liegt die Gefahr
+des Erbes der romantischen Oper für die Gegenwart. Es gilt zunächst,
+die Unmöglichkeit der Oper als Form bewußt kultischer Dramatik klar zu
+erkennen. Es gilt gleichzeitig, die falsche Geringschätzung des
+Spieltriebes als eines gleichsam im höheren Sinne nicht vollwertigen
+Schaffensimpulses abzutun, zu erkennen, daß dieser Spieltrieb, sofern
+er vermeidet, sich aus falschem Ehrgeiz dramatisch zu maskieren, aus
+sich selbst heraus zur Erreichung wahrhaftigerer Ziele befähigt ist,
+als das höchstgeschraubte dramatische Pathos sie zugänglich macht. Es
+gilt, formelhaft gesprochen, in der Oper Mozarts nicht nur die geniale
+Musiker-, sondern gerade die geniale Künstlernatur zu erkennen. Nicht
+nur in der Oper Mozarts, sondern in der Oper überhaupt die Idealgattung
+des Phantasiespieles, das, frei von allen dogmatisch ethisierenden
+Nebenabsichten, aus lebendigstem Widerschein buntester Lebensfarben und
+Sinnesreize den ins Märchenhafte überspiegelten Abglanz des Realen,
+Bewußten, Gewollten gibt.
+
+Es ist lehrreich, zu beobachten, wie sich andere Völker mit diesem
+Problem der Oper abgefunden haben. Der romantischen Rauschsuggestion,
+der dramatisch zugespitzten Illusionsoper zunächst ebenso unterworfen
+wie die Deutschen, haben Italiener und Franzosen die Gefahr einer
+bewußten Überbetonung der dramatischen Zweckhaftigkeit der Oper zu
+vermeiden gewußt. Bei beiden Nationen ist in der äußeren Anlage,
+namentlich des Textes, ein auffallend realistisch naturalistischer Zug
+bemerkbar. Er beeinflußt auch die Art der musikalischen
+Gefühlseinstellung und normalen Faktur. Bizets "Carmen" ist das Muster
+der psychologischen Oper, Verdis derbe Sinnlichkeit saugt sich fest an
+der Unmittelbarkeit elementar erfaßter Bühnenvorgänge und überträgt
+diese Emotionen mit naiver Drastik in seine Musik. Bei beiden größten
+Opernkomponisten ihrer Nationen aber bleibt die dramatische Einkleidung
+stets Mittel zum Zwecke des Musizierens. Das Drama gewinnt weder in der
+Theorie noch in der Praxis die Vorherrschaft. Der Musiktrieb als der
+eigentliche und wahrhafte Spieltrieb dominiert, und selbst den
+Nachfolgern Verdis ist die veristische Fassung des Dramas nur ein
+Mittel, ihre kurzatmige Musikbegabung schnell und durchgreifend zur
+Geltung zu bringen. Bei Gounod, Massenet, Saint Saëns ist der normale
+Sinn von vornherein in viel zu hohem Maße konventionell beeinflußt, um
+die Wahl zwischen Oper und musikalischem Drama je ernsthaft zweifelhaft
+zu machen, und auch der ins bewußt Ästhetenhafte abschweifenden
+jungfranzösischen Schule ist trotz der literarischen
+Geschmacksverfeinerung die Oper stets die primär musikalische Kunstform.
+
+Nur in Deutschland hat sich unter der gewaltigen Nachwirkung von
+Wagners Theorien eine seltsame moralästhetische Auffassung vom Wesen
+des musikalischen Dramas herangebildet. Auf ihre tieferliegenden,
+innerorganischen Ursachen betrachtet, ist sie das Zeichen nachlassenden
+Produktionsvermögens. Als Lehre aber hat sie schweren Schaden gestiftet
+durch Verkennung und Herabsetzung kunsteigener Grundwerte der Oper
+zugunsten eingebildeter religiös ethischer Qualitäten des musikalischen
+Dramas. Das eigentlich Belastende und Schädigende dieser Geistes- und
+Urteilswendung lag nicht in der Tatsache, daß eine große Anzahl
+schwacher oder mittlerer Talente sich getrieben fühlte, Musikdramen zu
+schreiben. Es lag auch nicht nur in der ästhetischen
+Begriffsverwirrung, die den Blick für wesentliche Vorzüge der
+Kunstgattung und damit für die Schöpfungen ganzer Epochen trübte, dafür
+künstlerischen Belanglosigkeiten hohe sittliche Wertung angedeihen
+ließ. Dies wären zunächst Schädigungen gewesen, die nur die Kunst als
+solche betrafen. Der verhängnisvollste, in die allgemeine Volkskultur
+übergreifende Nachteil war, daß hier die auf Täuschung, Spiel, Schein,
+im sittlichen Sinne auf bewußter Unwahrhaftigkeit beruhende Welt des
+Theaters als wahr, echt, lebendig, als Trägerin und Künderin der
+höchsten ethischen Norm ausgegeben wurde. Das Gefühlsleben der Menschen
+orientierte sich innerlich an diesen Erscheinungen einer
+vorgespiegelten Lebenswahrheit. Es mußte unecht, unwahrhaftig werden,
+weil es sich zum Sklaven seines eigenen Phantasieerzeugnisses machte
+und von diesem Gesetze empfing, statt, wie es der ursprüngliche
+Spielcharakter der Gattung forderte, sie ihm zu erteilen. Das
+theatralisch Komödiantische, das so vielfach in der deutschen
+Öffentlichkeit der letzten fünfzig Jahre sich bemerkbar macht, die
+Neigung zu falschem Pathos und schlechter Rhetorik sind nicht zum
+mindesten Nachwirkungen einer Lebensauffassung, die ihre Gesetze aus
+der Oper empfängt.
+
+Wir stehen heut der Romantik fern genug, um die Größe ihrer
+künstlerischen Leistungen unbefangen würdigen zu können. Was uns von
+ihr trennt und zur Kritik zwingt, ist nicht diese oder jene Einzelheit
+im fachlich entwicklungsmäßigen Sinne, ist auch nicht Widerspruch gegen
+individuelle Begabungen. Es ist grundsätzlich die durchaus
+entgegengesetzte Auffassung vom ethischen Charakter des Kunstwerkes.
+Die Romantik übertrug ihn in den Stoff, in die Form, in das
+künstlerische Sujet selbst. Mit allen Mitteln genialer Beharrlichkeit
+und Tatkraft materialisierte sie ihn, unterwarf ihn dadurch allen
+Hemmungen und Täuschungen der Materie, erhob ihn selbst zum bewußten
+Träger der künstlerischen Idee. In diesem Gegensatz von absichtsvoller
+Ethik des Stofflichen und zwanglos unbewußtem Ethos des idealistischen
+Spieles wurzelt der Kontrast Wagner-Mozart, wurzelt der Widerspruch der
+heutigen Generation gegen die tendenziöse Kunstauffassung und -lehre
+Wagners, wurzelt die Abwendung vom kultischen Musikdrama, die erneute
+Neigung zum Erosspiel der Oper.
+
+Es gibt gegenwärtig drei deutsche Opernkomponisten, in deren Schaffen
+der Widerstreit der Meinungen klar zutage tritt: Hans Pfitzner, Richard
+Strauß, Franz Schreker. Pfitzner ist der bedingungslose Anhänger von
+Wagners Lehre, deren spekulative Züge er in seinen drei Musikdramen
+"Der arme Heinrich", "Die Rose vom Liebesgarten" und "Palestrina" in
+fanatischer Einseitigkeit zu den äußersten Konsequenzen geführt hat.
+Die Vorherrschaft der stofflichen Ethik, die bei dem großen
+Bühnenpraktiker Wagner ungeachtet aller Theorien doch stets im Rahmen
+des bühnensinnlich Wirksamen bleibt, greift bei Pfitzner schließlich
+auch das organische Leben des Dramas an, das aus vorsätzlicher Askese
+immer theaterfremder wirkt. Es ist bezeichnend, daß in "Palestrina"
+keine einzige Frauenfigur erscheint. Das Mönchtum dieser Kunst geht bis
+zur Verbannung des Eros von der Bühne. Unbemerkt bleibt der grausame
+Widerspruch, daß eine scheinbar alle profanen Bedingtheiten
+überwindende Kunst sich der Mittel einer Gattung bedient, deren Wesen
+der wechselvollsten Sinnlichkeit der Form unlösbar verhaftet ist.
+Richard Strauß ist sich der Theaternatur der Oper wohl bewußt. Sein
+Schaffen ist auf stilkünstlerischen Ausgleich von Drama und Oper
+gerichtet unter allmählich immer stärker betonter Annäherung an den
+älteren Formtyp. Soweit ein Problem dieser Art die Lösung auf
+experimentellem Wege zuließ, ist sie ihm in mehreren Fällen, nie
+einheitlich, wohl aber für beträchtliche Teile innerhalb eines Werkes,
+geglückt. Das lebhafte, temperamentbeschwingte Musiziertalent
+Straußens, seine hinreißende, aus starkem Augenblicksimpuls schöpfende
+Überredungsgabe, die unmittelbare Gegenständlichkeit seiner Tonsprache,
+dies alles, verbunden mit außergewöhnlicher, treffsicherer
+Formgewandtheit, macht seine großen Erfolge erklärlich und berechtigt.
+In einer Zeit allgemeiner Geschmacksunsicherheit und Talentarmut war er
+der einzige, der sich mit unbekümmerter Frische und reflexionsloser
+Begabungskraft dem musikalischen Naturalismus zuwandte und als echtes
+Weltkind dem Geist der Zeit stets zu geben wußte, was dieser bedurfte.
+Solche in allem Technischen und Artistischen meisterliche
+Anpassungsgabe konnte allerdings immer nur zu Augenblickslösungen, zu
+Gegenwartserfolgen gelangen. Sie konnte in ihrer allerseits
+verbindlichen Art niemals zu einer im Wesenhaften eigenen und neuen
+Erfassung des Opernproblems gelangen. Die stilistischen
+Verkleidungs- und Verwandlungskünste auch des stärksten Formtalentes
+waren günstigstenfalls nur geeignet, zu erreichen, daß die romantische
+Auffassung der Oper als des kultischen Dramas keine Gefolgschaft mehr
+fand, keine innere Werbekraft mehr übte, ohne daß es gelungen wäre, ihr
+einen selbständigen neuen Operntyp entgegenzustellen.
+
+Erst mit dem Auftreten Franz Schrekers hat sich hier eine Wandlung
+vollzogen. Das Bemerkenswerte der Erscheinung Schrekers liegt nicht in
+Einzelzügen seiner Musikerbegabung, so sicher und stark sich diese aus
+konventionellen Anfängen zur Erringung individueller Eigenwerte
+durchzusetzen vermochte. Es liegt auch keineswegs in auffallenden
+Besonderheiten stilistischer Art, an denen Bezugnahme auf die
+jungromanische Kunst namentlich in Melodik und Harmonik auffällt,
+gesteigert durch üppige koloristische Phantasie und großlinige
+architektonische Gestaltungsgabe. Aber mit all diesen Eigenschaften
+wäre Schreker nur einer unter mehreren. Seine Ausnahmestellung ergibt
+sich aus anderem. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist hier eine Reihe
+von Werken geschaffen, die jenseits aller Tendenzmacherei und
+spekulativen Theorie, jenseits auch jeglicher Stilkünstelei und
+jeglichen Formexperimentes steht. Erwachsen ist sie aus gänzlich
+vorbehaltloser, naiver Erfassung der Oper als eines Spielstückes für
+eine ungebunden schweifende Phantasie, der als Richtlinie lediglich ein
+kühner, naturhaft elementarer Theaterinstinkt dient. Schreker sieht die
+Bühne nicht als Kanzel, auch nicht als Ort geistreicher Unterhaltung.
+Er sieht sie mit der Unbefangenheit des Kindes, dem sich hier eine Welt
+zauberhaftester Unwahrscheinlichkeiten, unbegrenzter Möglichkeiten des
+Unmöglichen öffnet, die nur von Künstlers Gnaden ihr Sein empfangen und
+um so stärker reizen, je lebensferner sie sind. Schreker sieht die
+Opernbühne wieder mit dem Auge des irrational empfindenden
+Phantasiemenschen.
+
+Aus dieser Grundeinstellung ergibt sich der Unterschied nicht nur
+gegenüber der doktrinären Ideenoper Pfitzners oder der intellektuell
+bedingten Geschmackskunst Straußens. Auch andere zeitgenössische Kunst,
+wie die Eugen d'Alberts oder neuerdings die Opernmusik des jungen Erich
+Wolfgang Korngold steht im Gegensatz zur Theorie des Wagnerschen Dramas
+und zielt auf den Theatereffekt. Aber hier ist dieser mit bewußter
+Methodik als Wirkungsfaktor herangezogen. Es werden wieder
+periodisierte Melodien und geschlossene Formen geschrieben, weil das
+Prinzip des Leitmotives und des deklamatorischen Stiles verbraucht
+erscheint. Schreker ist gegenüber diesen auf das Praktische im Sinne
+der Lebensklugheit und des Erfolges zielenden Begabungen eine
+naturwüchsige Kraft. Seine Beziehung zur Bühne ruht nicht auf
+irgendwelchen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sie ist elementaren
+Ursprunges. Seine vier Opern "Der ferne Klang", "Das Spielwerk", "Die
+Gezeichneten", "Der Schatzgräber" sind Erfolge nicht nur im Sinne des
+Kassenberichtes einer Spielzeit, sondern der geistigen Bewegung. Sie
+geben der Musik auf der Bühne wieder ihr ursprüngliches, durch
+keinerlei Dienstbarkeit gegenüber dramatischen Absichten behindertes
+Recht des freien Phantasiespieles. Sie gewinnen ihr damit das im Laufe
+des 19. Jahrhunderts verlorene Heimatgebiet zurück und führen so die
+Ausdrucksmittel der Oper wieder ihrer natürlichen Bestimmung zu. Es ist
+denkbar und nicht unbegreiflich, daß manche Menschen einer vorwiegend
+auf kritisch intellektuelle Bildung erzogenen Generation solche Kunst
+als für ihre Begriffe von Kultur nicht ausreichend ablehnen. Damit wäre
+sachlich nichts bewiesen, nur die Zuverlässigkeit dieses
+Kulturbegriffes in Frage gestellt. Vom Standpunkt einer abstinenten
+Geschmacksbildung aus wird die Oper wegen der unorganischen Vielheit
+ihrer Mittel stets ein nicht ganz vollwertiges Kunstgebilde sein.
+Einheitlichkeit gewinnen kann sie nur durch den Musiker, der diese
+Buntheit der Mittel als natürliche Quellen seiner Phantasie empfindet
+und fruchtbar macht, nicht aber das Ganze durch
+
+Prinzipien und Theorien regelt oder stilisiert. Solcherart ist
+Schrekers Musik. Als dramatische Gebilde bedeuten seine Opern das
+Gegenteil dessen, was etwa dem gesprochenen Drama notwendig und
+wesenseigentümlich ist. Der Musik aber öffnen sie den Bezirk, auf dem
+sie sich als Element der Bühnenwirkung entwickeln kann, ohne von ihrem
+ureigenen Wesen etwas aufzugeben, ohne sich selbst zugunsten eines
+anderen Zweckes opfern oder begrenzen zu müssen.
+
+Dieses ureigene Wesen der Musik ist das Beziehungslose, das
+verstandesmäßig Unfaßbare, nicht zu Greifende. Will man das Verhältnis
+der Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit, zum 19. Jahrhundert kurz
+kennzeichnen, so kann man es nennen den Kampf gegen den Rationalismus
+der Romantik. Der Rationalismus war bedingt durch das
+Illusionsbedürfnis der Romantik und dieses wiederum durch ihre
+Resignation gegenüber dem Leben, aus der die Auffassung der Kunst als
+des Gegensatzes zum Leben, als des großen Täuschungsmittels, als des
+Lebenssurrogates erwuchs. Solche Auffassung mußte notwendig in der
+Theorie zur Kunstideologie, in der Praxis zur Wirklichkeits-Imitation
+führen. Das Unbeziehbare des klanglichen Erlebnisses wurde in allerlei
+Beziehungen gesetzt: die Oper mußte predigen, philosophieren,
+moralisieren, zum mindesten psychologischen Anschauungsunterricht
+geben. Die Sinfonie wurde der freien Poesie gewidmet, sie stellte dar,
+wobei es im Wollen und Ergebnis gleichgültig war, ob das Dargestellte
+ein direkt bezeichneter dichterischer Vorwurf war oder eine bewußt
+erfaßte formalistische Idee. Wie es aber der Oper und der Sinfonie
+erging, so auch den intimeren Gestaltungsformen der Vokal- und
+Instrumentalmusik: dem Lied, dem Chorgesang, der Solo- und Kammermusik
+verschiedenster Art. Das Lied, durch Schubert aus zopfiger Beengtheit
+zur freiesten Spiegelung individuell erfaßten seelischen
+Gemütsgeschehens erhoben, wurde durch Schumann, Jensen, Franz zur
+Stimmungsschilderung abgeschwächt. Bei Brahms erscheint es unter
+Neigung zu volkstümlich vereinfachender Formung, bei Hugo Wolf und
+seinen neudeutschen Nachkommen wird es zur psychologischen Kleinstudie
+-- ohne daß Komponisten und Hörern die damit verbundene Entseelung des
+Lyrischen zum Bewußtsein gekommen wäre. Das Vernunftgemäße, auch in
+künstlerischer Fassung stets irgendwie dem rein logischen Begreifen
+Zugängliche war unausgesprochene Voraussetzung für die Anerkennung des
+Kunstwerkes. Dieses selbst blieb nur Dokument des Talentes, etwas durch
+Musik auszudrücken, was dem Inhalt nach ein Andersbegabter ebenso oder
+ähnlich auf anderem Wege gesagt hätte. So zerfloß hier, wie in der
+Sinfonie und der Oper, das Musikeigene. Das Interesse wurde fachlich
+begrenzt, vorwiegend auf das Wie der Darstellung hingelenkt. Die
+Kammermusik der Romantik einschließlich ihres gehaltvollsten Teiles:
+der Brahmsschen Kammermusik bestätigt dies. Formalistischer Bau, Faktur
+des musikalischen Satzes, klanglich koloristische Fassung, Art und
+Entwicklung der Gefühlsdarstellung sind gegeben durch die klassischen
+Vorbilder, das äußerlich Strukturelle vorwiegend durch Beethoven, das
+lyrisch Empfindungsmäßige mehr durch Schubert. Dieses Erbe wird nun in
+kleine Individualitätsgebiete aufgeteilt. Die gegebenen Grundmaße
+ästhetischer, musikalischer Art bedeuten gewissermaßen ein festes,
+geistiges Wirtschaftsgut, das nun aus dem Bereich des Urschöpferischen,
+wo jene großen Geister es gefunden, in die kleine, irdisch bewegte Welt
+als fertige Tatsache übernommen und verarbeitet wird.
+
+Entwicklungsmäßig gesehen ist solcher Verlauf natürlich und richtig,
+sein Wert und seine Bedeutung liegt in der allmählichen
+Zugänglichmachung und Durchdringung der Ideen primär schaffender
+Künstler. Wenn wir etwa die gesamte Kammermusik nach Beethoven bis zur
+folgenden Jahrhundertwende auffassen als Mittel, durch variierende
+Einzelausführung die gewaltige Masse der Hinterlassenschaft Beethovens
+zunächst stofflich zu zerlegen und zu konsumieren, um dadurch den
+Zugang zu ihrer höheren Geistessphäre allmählich zu gewinnen, so wäre
+mit solcher Auffassung etwa die geschichtliche Mission der romantischen
+Kammermusik bezeichnet. Damit ist aber zugleich gesagt, daß ihr selbst
+die urzeugende Kraft abgeht, ja eigentlich mit Bewußtsein außerhalb
+ihres künstlerischen Wollens gehalten wird, und daß sie, unter
+Vermeidung eigener Stellungnahme und Auseinandersetzung mit den
+Grundproblemen musikalisch schöpferischer Gestaltung, den gegebenen
+Darstellungsapparat materialisierte, ihn als Schema im technischen
+Sinne behandelte und ausbaute. Auf diese Art konnte bei ausreichendem
+Einfühlungs- und Anpassungstalent noch manches an sich recht
+beachtliche Musikstück entstehen. Die Gebiete, die Beethoven und
+Schubert in ihrem Ideenflug abgesteckt hatten, boten Raum genug für
+Sondersiedlungen. Aber das eigentlich Wertschaffende: die Kraft und der
+elementare Zwang, aus dem heraus die idealistisch klassische Kunst
+überhaupt erst die Regel ihrer Gestaltungsart gefunden hatte, mußte bei
+den Nachfolgenden notwendigerweise fehlen. Die Gesetzlichkeit einer
+bestimmten Ausdruckstechnik, der der schöpferische Gedanke noch vor
+seiner Geburt untergeordnet war, die Einspannung des Gefühlsablaufes in
+feste Normen unterstellt auch auf diesem Gebiet Gefühl und Phantasie
+den Forderungen des Verstandes und des erklärungfordernden Bewußtseins.
+Bezeichnend dafür ist Pfitzners Schaffenstheorie. Nach ihr zerfällt die
+Entstehung des Musikstückes in die Empfängnis des thematischen
+Einfalles und in dessen handwerklich formale Verarbeitung. Solche
+Theorie ist nur möglich bei Auffassung der Form als eines gegebenen
+Schemas, bei Verkennung des organischen Eigenlebens der Form aus dem
+Zwang selbständigen Gestaltungstriebes, bei freiwilliger Beschränkung
+der Schaffenstätigkeit auf individuelle Variierung als unveränderlich
+genommener Typen. Das Primäre der musikalischen Konzeption wird auf den
+melodisch thematischen Brocken des Einfalles beschränkt, der dann das
+Objekt rationalistischer "Durchführung" bildet -- eine Auffassung des
+Schaffensvorganges, die nicht nur Erzeugnis spekulativer Phantasie ist,
+sondern wahrhaftige Charakteristik einer bis in die Gegenwart hinein
+üblichen und anerkannten Praxis.
+
+Wie nun in der großen sinfonischen Form ein zeiteigenes religiöses
+Gemeinschaftsgefühl als neue Grundlage gewonnen wurde, wie in der Oper
+an Stelle bewußter ethisch dramatischer Tendenz der irrationale
+Spieltrieb wieder hervordrängte, so hat dieser Zug zum
+Außervernunftmäßigen, zum ursprünglich Musikhaften der Musik, zur
+reinen Gefühlskundgebung auch die Elemente der Tonsprache ergriffen,
+aus denen sich Vokal- und Kammermusik formen. Er hat hier, auf dem
+geistigsten, intimsten Ausdrucksgebiet die radikalste Umwälzung
+hervorgerufen, zeigt am schärfsten oppositionelle Haltung gegenüber der
+unmittelbaren Vergangenheit, ist in den Ergebnissen einstweilen
+erheblich problematischer als in der Sinfonie und Oper. Er läßt aber
+gleichzeitig die entscheidenden Grundfragen der künstlerischen
+Wesensrichtung in klarster Eindeutigkeit hervortreten und gibt damit
+eigentlich die letzte Auskunft über die Gegensätzlichkeit der
+Anschauungen, den Wechsel der Zielsetzung. Sinfonie und Oper sind in
+stärkerem Maße stoffgebunden. Wirken auch in ihnen die gleichen
+Probleme, so sind sie doch von der begrifflichen Seite her leichter zu
+fassen. In der Kammermusik fallen alle Bindungen nach außen fort. Es
+bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem zu innerst Wesenhaften der
+Musik, wie es hier in Klang, Stil und Form zutage tritt.
+
+In diesen eigentlichen Elementen der Musik aber ist mehr und anderes
+lebendig, als die Fachästhetik gemeinhin gelten läßt. In ihnen wirkt
+und aus ihnen spricht die geistige Grundkraft der Zeit überhaupt, der
+sie angehören, und aus deren innerstem Gefühlstrieb sie ihre Gesetze
+empfangen.
+
+ * *
+ *
+
+Wenn wir die in den beiden letztvergangenen Jahrhunderten
+zurückgelegten Wege der musikalischen Gestaltungsart überblicken, so
+zeigen sich zwei große, deutlich getrennte Entwicklungsgebiete: das des
+polyphonen und das des homophonen Ausdruckes. Die Gegensätze sind dem
+Prinzip nach nicht neu, sie waren schon im Mittelalter vorhanden, wenn
+auch im einzelnen anders geformt. Allgemein gesprochen, ohne damit
+bestimmte historische Umgrenzungen festlegen zu wollen, kann man sagen,
+daß Zeiten mit vorwiegend religiös gerichtetem Geistesleben in der
+Musik der Polyphonie, solche mit verweltlichter Interessenrichtung der
+Homophonie zuneigen werden. Die letzte große polyphone Kunst der
+Neuzeit war die Musik Bachs. Die Polyphonie -- Vielstimmigkeit -- ist
+eine Kunst der linear bewegten Fläche. Das artistische Problem liegt in
+der Vereinigung von organischer Selbständigkeit der Einzelstimme mit
+strenger Gebundenheit des Ganzen. An dieser zusammenfassenden Kraft, an
+dieser Fähigkeit, die reichste Mannigfaltigkeit linearer Sonderbewegung
+in einen großen Totalkomplex zu vereinen, bewährt sich die polyphone
+Kunst des Meisters. Was er schafft ist entstanden aus der Vorstellung
+der Gesamtheitswirkung, ist bestimmt, ohne Verlust seiner Eigenheit
+sich zu überindividueller Erscheinung zusammenzuschließen. Der
+Unterschied der stimmlichen Einzelwesen ist lediglich Unterschied der
+Lage, des Klanges, der Bewegungsschnelligkeit, dem Charakter nach sind
+alle gleich, gehören alle der gleichen Gefühlsdimension an, sind sie
+Linien, die sich nach dem Gesetz des Bewegungsimpulses
+ineinanderschlingen, schneiden, zum Ornament formen, ohne je die reale
+Sinnlichkeit der Linie, die Festigkeit des individuellen Seins zu
+verlieren. Als Sprachmittel ist die Orgel mit der reichgegliederten und
+doch im Charakter gleichartigen Fülle ihrer Klangschichtungen das
+typische instrumentale, der vielstimmige Chor mit seinen artverwandten
+Stimmindividuen das vokale Ausdruckselement der Polyphonie.
+
+Die homophone Kunst, die schon zu Bachs Zeit und dann immer mächtiger
+empordrängt, hebt die Gebundenheit der Vielheit, hebt die Wirkung durch
+Zusammenwachsen der Organismen zur überindividuellen Erscheinung auf.
+Alle Kraft, aller Wille, alles Leben konzentriert sich auf eine
+Einzelstimme, die Führung nimmt, das Typenhafte abstreift und
+subjektive Bestimmtheit erhält. Die Flächenhaftigkeit der
+nebeneinandergelagerten Linien verschwindet, da nur noch eine
+dominiert. Unter dieser aber bildet sich ein magischer Raum, eine neue
+Dimension der Tiefe, gewonnen durch Schichtung geheimnisvoll
+beziehungsreicher Tonstufen: die Harmonie. Die mit jedem Ton
+gleichzeitig erklingenden Obertöne werden als seine Ergänzung empfunden
+und festgehalten, diese vertikale Tonreihe gibt jetzt der gestaltenden
+Phantasie entscheidende Anregung. Der Klang gliedert sich in Hauptton
+und Nebentöne, jener als Leitpunkt der Melodie, diese als begleitender
+harmonischer Untergrund. An Stelle des geometrisch flächigen tritt das
+akustisch räumliche Tonsystem, an Stelle der Linienbewegung die durch
+Wechsel der Tiefenbewegung wirkende Harmonie. Mit dieser Veränderung
+der Tonvorstellung zugleich vollzieht sich eine entsprechende
+Umgestaltung des Klangempfindens. Der Unterschied von melodischem
+Hauptton und harmonischen Begleittönen bedingt auch ein anderes System
+der Klanggruppierung. Der farbige Reiz des Klanges kommt zu
+selbständiger Geltung. Gegenüber dem Streben nach Zusammenfassung
+möglichst gleichartiger Charaktere in der polyphonen Musik herrscht
+jetzt der Drang nach Gleichzeitigkeit heterogener Klangelemente, deren
+verschiedenartig abgestufte Lichtwirkungen die Vorstellung des
+räumlichen Übereinander steigern. In gleichem Maße und aus gleichem
+Bedürfnis erhält die bis dahin vorwiegend auf einfache, primitive
+Kontraste gestellte Dynamik lebendig bewegte Durchbildung. Das
+Orchester, diese Vielheit des Ungleichartigen, wird das wichtigste
+Instrument der melodisch homophonen Kunst, soweit andere Sprachmittel
+herangezogen werden, geschieht es stets unter Mischung
+verschiedenartiger Klangcharaktere. Im Streichquartett, der reinsten
+Klangeinheit der homophonen Kunst, ist zunächst die dominierende
+Stellung der Oberstimme, die begleitende, lediglich harmonisch füllende
+Funktion der übrigen selbstverständlich und wird erst in den späteren
+Quartetten Beethovens zu gesteigerter Subjektivierung und klanglicher
+Gegensätzlichkeit der Einzelstimmen umgewandelt.
+
+Den Anfang dieser großen, mit den tiefsten Regungen der zeitlichen
+Geistesgeschichte unmittelbar verbundenen Umwälzung bildet das
+Generalbaß-Zeitalter, so genannt nach der Gewohnheit, nur die
+melodische Linie und die Baßstimme aufzuzeichnen, während die
+erforderlichen harmonischen Füllstimmen durch Ziffern angedeutet und
+bei der Aufführung improvisatorisch hinzugesetzt wurden. Man kann diese
+Methode, deren naive Praxis deutlich die Unterscheidung zwischen
+Wichtigem und minder Wichtigem spiegelt, gewissermaßen als Beginn der
+musikalischen Aufklärung bezeichnen. Zeitlich ist sie schon vor Bach
+vorhanden, wird auch von ihm selbst verwendet, erlangt aber
+vorherrschende Bedeutung erst mit dem endgültigen Durchbruch des
+homophonen Stiles, als Vorbereitung und Übergang zur Gewinnung der
+harmonischen Vorstellungsart. Diese ist das eigentliche Ausdrucksgebiet
+der Zeit des klassischen Idealismus. Hier hat die melodische Oberstimme
+unumschränkte Freiheit, reichste Bewegungskraft, vollendeten
+Persönlichkeitswert gewonnen. Keine Gebundenheit mehr, keine vorbewußte
+Bezugnahme auf ein überindividuelles Ganzes ist vorhanden die
+typenhafte Einzelformung hat sich zu schärfster Subjektivierung
+gesteigert. Es herrscht die Melodie, als unmittelbare Spiegelung des
+Persönlichkeitsbewußtseins, periodisch umgrenzt, physiognomisch von
+äußerster Bestimmtheit des Schnittes. Diese Melodie ist empfangen aus
+dem Vorgefühl der Harmonie. Die innere Bewegung der Harmonie, ihr
+gesetzmäßiger Ablauf gibt die inneren Richtpunkte für die Melodie,
+ähnlich und doch ganz anders wie in der Polyphonie die konstruktive
+Idee der Gesamtform den Wuchs des thematischen Gedankens beeinflußte.
+Dieser thematische Gedanke der polyphonen Musik war bei allem Eigenwert
+ein Partialgedanke, die Melodie dagegen, namentlich der frühklassischen
+Zeit bis zu Mozart, ist in sich geschlossen, fertig, ein lebendiges,
+organisch gegliedertes, selbständiges Wesen. So offenkundig ihre
+Gestaltung aus der Einbeziehung des Harmoniegefühles mitbedingt ist, so
+zweifellos ist doch der bestimmende Zug des rein melodischen Impulses,
+die Unterordnung der Harmonie vorzugsweise zur Stützung und
+Bekräftigung der melodischen Erscheinung.
+
+Melodie im Sinne der großen klassischen Kunst, wie sie am reinsten bei
+Mozart, vorbereitend bei Haydn, abschließend bei Beethoven und Schubert
+erklingt, ist das musikalische Symbol der freien Persönlichkeit, die
+künstlerische Formung höchsten Individualitätsbewußtseins. Man kann die
+Gesetze. ihres Baues durchforschen, man kann sie stilistisch kopieren.
+Aber keine noch so starke melodische Erfindungsgabe einer späteren Zeit
+kann ihre Wirkung annähernd erreichen, weil ihr Geheimnis nicht in
+spezifisch musikalischen Gesetzen liegt, sondern in der Gewalt des
+Ethos, dem sie entsprungen ist. Dieses Ethos zwang die Harmonie zur
+Dienstbarkeit gegenüber der melodischen Individualität. Sie blieb
+Trägerin der Kraft, sie durchdrang in der Hochblüte der klassischen
+Kunst den harmonischen Unterbau bis in die feinsten Verästelungen, so
+daß in den späteren Quartetten Beethovens die harmonische Fügung der
+Stimmen durch freieste melodische Auflockerung fast bis zur Polyphonie
+gesteigert wird, ja teilweise zu deren Formenbau zurückkehrt: in
+Mozarts Jupiter-Sinfonie und "Zauberflöte"-Ouvertüre, in Beethovens
+Ouvertüre "Weihe des Hauses" im Finale der Neunten Sinfonie, vor allem
+in den drei großen B-Dur-Fugen: der Sonate op. 106, des Credo der
+"Missa", des Streichquartetts op. 130. Doch ist diese Übereinstimmung
+der melodisch homophonen mit der polyphonen Kunst nur äußerlich
+stilistischer Art. Aus einer ins Grandiose gesteigerten melodischen
+Phantasiekraft heraus wird die Linienkunst der alten Polyphonie hier
+dem harmonischen Bewußtsein dienstbar gemacht, aus der Flächendimension
+in die Tiefendimension übertragen, auf solche Art diese mit
+konstruktiver Klarheit füllend: Kundgebung höchstgesteigerter
+Persönlichkeitskraft, deren melodischer Wille Höhe und Tiefe der
+Klangwelt durchdringt und mit tätiger Schaffensenergie nach seinem
+Bilde gestaltet.
+
+Linear sich entfaltende Polyphonie mit dem Ziel flächenhafter
+Ausbreitung und Zusammenfassung, melodische Homophonie, gestützt auf
+den imaginären Unterbau der harmonisch räumlichen Tiefe waren zwei in
+sich grundverschiedene Arten der Klanggestaltung, schöpferische
+Kundgebungen zweier in sich selbständiger, mit eigener Kraft des
+Schauens und Formens begabter Zeitalter. Der Romantik fehlt diese
+Fähigheit eigenschöpferischen Bildens. Wie hinsichtlich der
+Stoffbehandlung, wie hinsichtlich der geistigen Problemstellung, ist
+sie auch in bezug auf spezifisch klangmusikalische Formung eine
+Niederbruchserscheinung im Gefolge des Klassizismus. Die beherrschende
+melodische Kunst, dieses Siegelzeichen der festen Persönlichkeit, geht
+ihr verloren. Wohl bleibt ihr Musikempfinden melodisch orientiert, aber
+die Melodie verliert die feste, in sich ruhende Geschlossenheit der
+klassischen Melodik. Der Schwerpunkt sinkt unter die melodische
+Oberfläche in die Harmonik, diese trägt jetzt den Bewegungsantrieb in
+sich. Bei den Klassikern erscheint das ganze musikalische Gebilde in
+unmittelbarer plastischer Gegenständlichkeit, Melodik als
+formbestimmender Umriß, Harmonik als füllende Körperhaftigkeit. Nun
+wird die Harmonik zur innerlich führenden Kraft, und die Melodie zeigt
+in ihrem Verlauf mehr und mehr nur den Wellenschlag der harmonischen
+Innenbewegung, Wagners Begriff der "unendlichen Melodie", die "mit
+einer einzigen harmonischen Wendung den Ausdruck auf das Ergreifendste
+umstimmen kann," ist die natürliche und richtige Kennzeichnung einer
+Musikempfindung, deren Zentrum in der Vorstellung und Betonung der
+harmonischen Wirkung liegt, deren Melodik daher mehr und mehr zur
+Verknüpfung der Harmonien wird. Nicht nur bei Wagner und Liszt, auch
+bei Schumann, Spohr, Marschner, Weber, selbst bei dem klassizistisch
+eklektischen Mendelssohn ist diese Gestaltung der Melodie aus dem
+Willen der Harmonie erkennbar. Sie steigert sich bei Brahms, den
+Wagner- und Liszt-Epigonen bis zur völligen Abhängigkeit des mehr und
+mehr zur Andeutung verflüchtigten melodischen Gedankens voll der
+dominierenden harmonischen Konzeption. Es bedarf kaum des Hinweises,
+daß, gerade wie sich bei Bach in Einzelfällen bereits häufig Beispiele
+melodischer Homophonie finden, so auch bei den Klassikern, namentlich
+bei Beethoven und dem innerlich bereits stark romantisierten Schubert,
+die Harmonie gelegentlich führend und ausdrucksbestimmend hervortritt.
+Aber abgesehen davon, daß solche Fälle im Hinblick auf das Gesamtwerk
+Ausnahmen bedeuten, zeigt sich auch bei genauer Betrachtung, daß selbst
+hier der bestimmende Grundimpuls melodischer Natur ist. Die
+Klangvorstellung, aus der die Musiker des klassischen Idealismus
+schöpfen, läßt sich bezeichnen als harmonisierte Melodik, die der
+Romantiker als melodisierte Harmonik.
+
+In solcher Gegenüberstellung liegt zunächst keine Wertung. Sie ergibt
+sich erst, wenn man Sinn und Folge dieser Wendung betrachtet. Der Sinn
+war der gleiche wie in der romantischen Bewegung überhaupt: Abkehr von
+der Realität, von der Gegenständlichkeit des Fühlens, wie sie sich in
+der Formung der selbsteigenen, geschlossenen Melodie aussprach, Flucht
+in die Unwirklichkeit, in die magische Phantastik des harmonischen
+Raumes, dessen Unbestimmtheit durch die zu ständigem Wechsel,
+plötzlicher Umstellung und Überraschung führende Chromatik noch
+gesteigert wurde. Die Harmonie, die sich nicht, wie in der polyphonen
+Kunst, als sekundäre Folge ergibt, auch nicht, wie in der klassischen
+Homophonie, dienender Unterbau der melodischen Gestalt, sondern Herrin
+und Führerin ist, bedeutet als ästhetisches Phänomen die Verlegung des
+Gefühlszentrums in eine spekulative Sphäre. Belebt wurde sie durch eine
+allmählich bis ins kleinste sich erstreckende motivische Gliederung,
+aus deren sinnvollem Ineinandergreifen sich ein künstlich organisches
+Gegenbild der Wirklichkeit ergab. Wagner macht sich Schopenhauers
+romantische Musikästhetik zu eigen: die Musik ist Spiegelung aller
+Objektivierungen des Willens, von der niedersten bis zur höchsten
+Stufe. Alles ist innerlich aufeinander bezogen durch die Harmonie, und
+oben schwebt als letzte Bindung der einigende melodische Faden.
+Schopenhauer exemplifiziert zwar nicht auf Wagner, auch nicht auf die
+Klassiker, sondern auf Rossini. Seine Betonung der primären Bedeutung
+der Melodie zeigt seine Herkunft vom Idealismus, in seiner Auffassung
+vom Wesen der Harmonie aber ist er durchaus der an die Vorstellung des
+imaginären musikalischen Raumes und seines innerorganischen Lebens
+gebundene Romantiker.
+
+Dies ist der Sinn der romantischen Wendung zur melodisierten Harmonik:
+die Gewinnung der musikalischen Raumvorstellung zum Aufbau einer
+illusionistisch bewegten Klangwelt als Widerspiel und Korrektiv der
+Realität. Die Folge war eine ständig zunehmende Überschätzung des
+Wesens und der Bedeutung der Harmonie, die für den Romantiker
+schließlich der Inbegriff des Wesens der Musik überhaupt wurde. In
+seiner Schrift "Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz" gibt Hans
+Pfitzner eine entwicklungsphilosophische musikgeschichtliche Skizze, in
+der er eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen der Zeit, wo Musik nur
+Wissenschaft gewesen, und der Zeit, wo sie Kunst geworden sei. Als
+Kennzeichen des Übergangs von der Wissenschaft zur Kunst wird genannt
+der Augenblick, in dem "der Geist der Musik endlich das so lange
+vorenthaltene Kleinod" herausgab, "den Teil seines Wesens, in dessen
+Besitz die Musik zum erstenmal in der Welt als selbstherrliche Kunst
+auftreten konnte: die Welt der Harmonie". Es ist hinzuzusetzen, daß
+Pfitzner den Beginn der harmonischen Musikauffassung wesentlich früher
+ansetzt, als es hier geschieht, nämlich schon im späten Mittelalter,
+daß er also Unterschiede zwischen polyphoner, melodisch homophoner und
+harmonischer Musikempfindung nicht annimmt. Indessen handelt es sich
+nicht darum, über Notwendigkeit und Berechtigung dieser Abgrenzungen zu
+sprechen. Bezeichnend ist lediglich die Tatsache, daß der Epigone der
+Romantik in der Harmonie schlechthin das Wesenhafte der Musik erblickt,
+daß es ihm "äußerst schwer, wenn nicht unmöglich ist, sich eine
+wahrhafte homophone Tongestalt vorzustellen", daß bei ihm eben
+jegliches Musikempfinden an die bewußt oder unbewußt mitschwingende
+Harmonie gebunden ist. Das ist als subjektives Bekenntnis zweifellos
+wahr und richtig und erklärt alle weiteren Folgerungen, die Pfitzner
+aus seiner ästhetischen Grundanschauung zieht. Falsch daran ist nichts
+als die These selbst von der Harmonie als dem Urwesen der Musik, falsch
+in bezug auf die Bezeichnung der frühmittelalterlichen Musik als bloßer
+Wissenschaft und das Nichtvorstellbare einer homophonen Tongestalt:
+gäbe es kein anderes Denkmal der musikalischen Frühzeit als den
+Gregorianischen Choral, so wäre der unwiderlegliche Gegenbeweis
+erbracht. Aber auch in der Neuzeit ist die harmonische Musikvorstellung
+als richtunggebende Empfindungsart erst zuletzt mit allen Symptomen
+einer Nachblüte zur Geltung gekommen. Wer in ihr das Wesenhafte der
+Musik überhaupt erkennt, der freilich muß unvermeidlich, selbst wenn es
+heute keine andersgerichtete Musik gäbe, wenn also eine Opposition gar
+nicht in Frage käme, zur ästhetischen Erkenntnis eines Unterganges
+kommen. Denn wirklich: diese Welt der Harmonie, dieses kunstvolle,
+praktisch und theoretisch zur vollkommensten Organik entwickelte
+Phantom einer musikalischen Raumvorstellung, dieses Illusionsgebilde,
+dessen imaginäre Realität Verstand und Spekulation zu denkbar höchster
+rationaler Gesetzmäßigkeit ausgebaut haben -- es geht wahrhaft unter,
+geradeso, wie die Romantik untergeht, deren merkwürdigste und
+eigentümlichste Schöpfung es ist.
+
+Die Welt der Harmonie geht unter -- aber die Welt der Musik bleibt
+bestehen. Beide sind nicht identisch, und die Zeit der harmonischen
+Musikempfindung ist im Ablauf des geistigen Werdens nur eine Episode
+der Musikgeschichte, nicht einmal eine selbständige, sondern eine
+Ableitung, eine Wucherung der melodisch homophonen Musik. Was sie der
+Romantik innerlich zugehörend und konform erwies, war der starke
+spekulative Anreiz, den ihr Ausbau dem Verstande bot, war der Grundzug
+rationeller Vernünftigkeit, der ihr nicht nur äußerlich, sondern rein
+gefühlsmäßig aufgeprägt war und ebendarum schematisch formalistische
+Bildungen außerordentlich begünstigte, ja ihnen noch den Charakter
+besonderer Ehrwürdigkeit und Tugend gab. An und in diesen Bildungen ist
+nun die Welt der Harmonie erstarrt. Sie vermag sich nicht mehr aus
+ihnen zu lösen, weil sie in Wahrheit gar keine Welt ist oder war,
+sondern nur eine Insel in der Welt, deren Umkreis nun erkannt ist und
+deren Geheimnisse durchforscht sind. Auf dieser Insel stehen wir heut
+und spähen in die Weite, um den Weg zu neuen Küsten und Ländern zu
+erforschen. Der Kompaß, der dahin führen soll, ist das Bewußtsein der
+irrationalen Natur der Musik. Aus diesem Bewußtsein erwächst die
+Abwendung von der Harmonie als Grundlage der Klangempfindung. Diese
+Harmonie hatte in ihrer Entwicklung die Verbindung mit dem
+gefühlsmäßigen Quell musikalischen Lebens verloren, sie hatte sich zu
+einer Massenhäufung von "Systemen" verhärtet -- keine Art der
+Klanganschauung hat eine solche, fast unübersehbare Menge von Systemen
+hervorgebracht, hat die Denkart der Menschen derart auf dogmatische
+Gebiete abgeleitet. Es gilt nun, diese lebendige Dogmatik der
+Harmonielehren als Lehren nicht etwa nur des technischen Satzes,
+sondern vor allem als Zwangsschienen des Empfindungsvermögens
+abzustreifen. Es gilt, darüber hinaus den Weg zu einer neuen, dem
+Verlangen nach außervernunftmäßiger Klanganschauung und -gestaltung
+entsprechenden Kunst zu finden.
+
+Hier stehen wir gegenwärtig, und in der gekennzeichneten Aufgabe, der
+Gewinnung einer im Wesen neuen Art der Musikanschauung überhaupt liegt
+alles beschlossen, was die Musik an Teilproblemen anderer Art bietet.
+Gemeinschaftsgefühl, religiöses Bewußtsein, Symbolik des Spieles, alles
+dies sind ins Begriffliche gewendete Ausstrahlungen des zutiefst
+musikeigenen Problems unserer Gefühlsauffassung der Musik. Die Fragen
+des Stiles, der Form, der klanglichen Fassung sind gleichfalls an sich
+nicht primärer, entscheidender Art. Auch ihre Lösung ist bedingt durch
+die Art, wie wir Musik als Phänomen an sich empfinden, aus welcher
+Einstellung des Gefühles wir sie erfassen.
+
+Wir sind Suchende. In dieser Tatsache des Suchens mag mancher im [sic]
+Zeichen zeitlicher Schwäche sehen. "Alles Neue und Originelle gebieret
+sich von selbst, ohne daß man danach suchet", hat Beethoven gesagt. Es
+war zweifellos richtig -- für Beethoven, und wir dürfen, ohne uns zu
+schämen, zugestehen, daß unter uns gegenwärtig kein Beethoven lebt.
+Aber wir dürfen auch hinzusetzen, daß Kolumbus Amerika nicht entdeckt
+hätte, ohne es zu suchen. Wir dürfen sogar weiter sagen, daß er
+eigentlich etwas Ganz anderes suchte als Amerika, daß er von diesem
+Erdteil gar nichts wußte, ja daß er ihn in Wirklichkeit auch nicht
+entdeckt hat, sondern einer Täuschung verfiel -- und daß er doch die
+kühnste Entdeckernatur war, vor deren Namen und Tat die Geschichte
+innehält. Was ihn trieb, war der Zwang zur neuen Welt. In der Kraft,
+mit der er dieses Muß des Zwanges zur Tat wandelte, lag das
+Entscheidende seiner Größe, nicht im unmittelbaren realen Ergebnis. Wir
+sind in der Lage der Kolumbuszeit.
+
+Die Säfte der alten Welt sind vertrocknet, sie stirbt, ihre gläubigen
+Einwohner sagen es selbst, und wir müssen einsehen, daß sie recht
+haben. Aber wir hängen nicht so an ihr, wir fühlen uns ihr nicht so
+verbunden, daß wir mit ihr sterben wollen. Im Gegenteil, wir sind der
+Meinung, daß sie wohl tut, zu sterben, weil ihre Zeit um ist und wir
+den Glauben haben an die neue Welt, obwohl wir sie noch nicht sehen. In
+der Tatsache dieses Glaubens an das Unbekannte liegt etwas, das mehr
+ist als lediglich negative Opposition gegen das Bestehende, etwas, das
+der bisherigen Zeit fremd war, uns ihr überlegen macht und uns die
+Überzeugung gibt, daß die Fahrt sein muß, weil eben der Glaube es
+befiehlt. Ob wir nun Indien auf dem andern Wege um die Welt erreichen,
+oder vielleicht ein ganz neues Land, das können wir nicht sagen. Wir
+wissen nur, daß wir fahren müssen, nicht aus Abenteurerlust, sondern
+unter dem Gebot der inneren Verheißung. In der Erfüllung dieses Gebotes
+liegt unsere Sendung.
+
+So verlassen wir die alte romantische Welt der Harmonie. Der Blick
+wendet sich zurück auf das, was vor ihr war. Die schöne Idealwelt des
+Klassizismus erkennen und verehren wir in all ihrer Hoheit, die
+Sinfonien Haydns, die Opern Mozarts, die Quartette Beethovens sind
+Bestandteile unsres Menschentums, die wir nicht hergeben könnten, ohne
+uns selbst zu vernichten. Aber diese Welt ist fertig. Sie hat die freie
+Persönlichkeit, die große Melodie der Menschen gebracht. Was darüber
+hinaus lebendig und triebkräftig an ihr war, hat auf eben den Weg
+geführt, den wir jetzt verlassen. Der Mensch als Einzelwesen hat als
+Objekt der Kunst alles gegeben, wag er zu geben vermochte, von der
+reinen Zusammenfassung stärkster Schwungkräfte des Geistes bis zur
+leidvollen Selbstzersetzung. Psychische und akustische Vorgänge
+entsprechen einander: die Harmonie, diese merkwürdige Auseinanderlegung
+des Haupttones in die gleichzeitig klingenden Nebentöne ist als
+Klangphänomen eine Zersetzungserscheinung, die die plastische Kraft der
+Melodik von innen her zerstört. Dieser Zerstörungskeim lag in der
+klassischen Kunst der melodischen Homophonie eingeschlossen, ähnlich
+wie die immer höher gesteigerte Individualbelebung schließlich zur
+Auflösung der Polyphonie geführt hatte. Nun haben wir den Kreis des
+Einzelwesens umschritten und ausgeforscht, das Individuum als solches
+ist wieder einmal im Lauf der Menschheitsgeschichte erkannt. Es hat von
+sich allein aus nicht mehr viel oder gar nichts mehr zu geben auf lange
+Zeit hinaus, wir haben kein Interesse mehr an ihm, seinen Gesetzen,
+seinen Intimitäten. Die Gattung, der Typus, die Gesamtheit rückt wieder
+vor, das menschlich Gemeinsame tritt an die Stelle des persönlich
+Besonderen, die Wage des Gefühles senkt sich wieder nach der anderen
+Seite: vom melodisch harmonischen Individualismus zum polyphonen
+Kollektivismus. Freilich zielt diese Umschaltung nicht auf
+Wiederaufnahme der alten polyphonen Kunst. In diesem Fall wäre sie
+nichts anderes als ebenfalls romantische Stilkünstelei, die nur statt
+auf Mozart auf Bach Bezug nimmt. Es handelt sich vielmehr um einen
+neuen, elementar bedingten Durchbruch der polyphonen Musikauffassung,
+die als solche der vorklassischen Zeit nähersteht als der klassischen,
+im übrigen ihrer stilgesetzlichen Besonderheit nach von der Polyphonie
+Bachs mindestens ebenso weit entfernt ist wie diese etwa von der
+polyphonen Kunst des Mittelalters. Die zwischen zwei derartigen
+geistesartlich verwandten Epochen liegenden Erlebnisse und Ausblicke
+sind Erfahrungen, die nicht vergessen werden können. So sicher der
+subjektivistische Auflösungsprozeß der harmonischen Empfindungsart
+nicht mehr im Mittelpunkt des musikalischen Fühlens steht, so bedeutsam
+wirken doch seine Ergebnisse auf die sich neu heranbildende Art der
+Musikauffassung nach.
+
+Das hier angeschlagene Problem ist keines einer einzelnen Nation,
+sondern der Menschheit. Die große Krise, in der wir stehen, die
+Erkenntnis der Notwendigkeit einer Änderung unserer Gefühlseinstellung
+gegenüber allen Erscheinungen des Seins, der Überwindung des
+Individuums, der Erfassung von Leben und Welt aus einem Mittelpunkt
+außerhalb unsrer selbst ist eine Aufgabe, die schon ihrer Natur nach
+nicht auf nur ein Volk beschränkt bleiben kann. Wir sehen auch überall
+gerade in der Musik der Völker alter und neuer Kultur Ansätze zu einer
+Entwicklung im angedeuteten Sinn. Wir sehen sie aber in der deutschen
+Musik besonders auffallend. Sicherlich nicht nur, weil wir ihr am
+nächsten stehen. Kein Volk hat das Erlebnis der Romantik mit so
+starker, gläubiger Intensität in sich aufgenommen, keines ist so bis
+auf die tiefsten Wurzeln seines Wesens davon ergriffen worden. Keines
+hat dieser Entwicklung zum Individualismus und Subjektivismus so
+mannigfaltige, reiche Früchte abgewonnen und -- bei keinem hat der
+geistige Zersetzungsprozeß, die Krankheitserscheinung der Romantik so
+verheerende Folgen gehabt. Es ist begreiflich, daß daher auch gerade aus
+der deutschen Musik der erste und stärkste Vorstoß gegen die
+romantische Kunst erfolgte, der ihn in gedanklichem Phantasiespiel
+vorbereitete, ist der Deutsch-Italiener Busoni, der ihn führte, ist
+Arnold Schönberg. Gleich Mahler und Schreker ist auch Schönberg ein
+Abkömmling der Romantik, der in seinen Anfangswerken mit vollem
+Bewußtsein die vielleicht reichste, phantasievollste Harmoniewelt der
+Epigonenzeit aufbaute. Aber eben diese Leichtigkeit der Weiterbildung
+überkommener Gesetzmäßigkeiten hat in ihm früh den kritischen Trieb
+geweckt, hat die Erkenntnis geschärft für das konventionell Gebundene
+dieser Kunst. Was Mahler durch seine vorwiegend ethisch religiöse,
+Schreker durch die elementare Triebhaftigkeit seiner sinnlichen
+Phantasie fand, das erreichte Schönberg durch die unerbittliche Schärfe
+und fanatische Härte seiner kritischen Fragestellung. Der kühnste,
+rücksichtsloseste Intellekt der Nachromantik erkannte die
+intellektuelle Bedingtheit dieser Kunstart. Auf dem Gebiet
+vernunftmäßig geregelten Musizierens floh er in das Bereich der
+beziehungslosen, rein phantastisch bewegten Musik, die aus der
+Übersteigerung des Subjektivismus diesen überwindet, aus der
+spekulativen Zerfaserung der Harmonie diese aufhebt, aus der
+atomisierenden Auflösung des Einzelnen, Besonderen wieder zur Erfassung
+des Allgemeingültigen, Typischen, Menschlichen gelangt. Es ist das, was
+nach Abstreifung des Individuellen übrigbleibt, im Gegensatz zu der
+älteren Typenauffassung, vor der das Persönliche als eigenberechtigt
+noch gar nicht bestand. Dementsprechend ist Schönbergs Musik im
+Vergleich zu der visuell flächenhaft empfundenen, wuchtig klaren
+Ornamentik der Bachschen Polyphonie auf Erfassung des seelisch
+Essentiellen gerichtet, mehr Gefühlsvibration als -darstellung. Das
+Polyphone an ihr ist mehr Mittel als Zweck. Es ergibt sich nicht aus
+dem Willen des Zusammenschlusses, sondern des irregulären
+Nebeneinander, das die Harmonie nicht mehr kennt und die Stimmen aus
+der räumlichen Tiefe wieder in die lineare Parallele zu bringen sucht.
+Das Ziel aber, die Idee der Einigung, ist nicht eigentlich
+kollektivistischer Art, es ist nicht Vielstimmigkeit im Sinne der
+alten, organisch gebauten Polyphonie. Es ist vielmehr eine
+Einstimmigkeit im absoluten Sinne, entharmonisierte Melodik freiester
+Art, Projizierung aller Bewegungskräfte des Gefühls in eine einzige
+Linie, die polyphone Mannigfaltigkeit des Stimmklangs,
+individualisierende melodische Geschlossenheit und harmonisches
+Raumgefühl in einem vereinigt.
+
+Die verwirrende, scheinbar mißtönende Polyphonie des Schönbergischen
+Satzes ist in Wahrheit nichts anderes als das Suchen nach dieser
+Einstimmigkeit höchster Art, als der Versuch, den Klang immer mehr auf
+das Urwesenhafte zu beschränken, ihn aller einengenden Subjektivismen
+zu entkleiden, ihn lediglich zum Symbol des auch formal im
+Verstandessinne Unfaßbaren, des psychologisch nicht Deutbaren, des
+Irrationalen zu machen. Damit gelangt die Musik durch das Mittel der
+Polyphonie wieder zu einer Homophonie zurück, von der der romantische
+Musikästhetiker meint, daß man sie sich in Wahrheit überhaupt nicht
+vorstellen könnte. Und doch liegt in der Aufgabe, diese
+Vorstellungsgabe zu gewinnen, der Kern der musikalischen Probleme
+unserer Zeit. Je mehr wir erkennen, daß die Kurve der musikalischen
+Bewegung tatsächlich dauernd in absteigender Linie läuft, daß alles,
+was uns das 19. Jahrhundert gebracht hat, Produkt ständig zunehmender
+Materialisierung, Steigerung der Mittel unter Vergessen oder
+theatralischer Vortäuschung der seelischen Grundkräfte bedeutet, um so
+stärker wird der Drang nach Abstreifung all dieser artifiziellen
+Auswüchse, nach Vereinfachung, nach Rückgewinnung der ursprünglichen
+Naturkraft des musikalischen Klanges. Solche Vereinfachung ist nicht zu
+finden durch Reduzierung der üblichen Mittel, nicht durch eigensinniges
+Festhalten an einem gegebenen historischen Schema, auch nicht durch
+stilistische Verkleidungskünste. Sie setzt voraus völlige Umstellung
+der seelischen Grundkräfte, aus denen die Musik erwächst, Wille und
+Fähigkeit, Musik überhaupt außerhalb aller Konvention als Formung
+elementarer Gefühlskraft, als Naturlaut zu erkennen. Um zu solcher
+reinen Homophonie zu gelangen, müssen wir fähig werden, die absolute
+Linie nicht als Teilornament eines polyphonen Gewebes, nicht als
+Führerin oder abgrenzende Umkleidung der harmonischen Bewegung, sondern
+als selbständige Ausdrucksgestaltung höchst potenzierter Kraft zu
+empfinden. Dies ist wohl die Richtung, in die Schönbergs Schaffen
+deutet. Wenn wir überhaupt an die Möglichkeit des Weiterlebens der
+Musik oberhalb der blöden Gewohnheit und des gedankenlosen Betriebes
+glauben, so können wir es nur in der Richtung der prophetischen Kunst
+Schönbergs für denkbar halten.
+
+ * *
+ *
+
+Man pflegt in Deutschland den Deutschen im allgemeinen als musikalisch
+hervorragend begabt und das deutsche Volk als auf musikalischem Gebiet
+vor allen anderen ausgezeichnet anzusehen. Wie weit solche Ansicht der
+Wirklichkeit entspricht, wäre genau wohl nur durch vergleichende
+Statistik festzustellen. Zunächst ist die Tatsache unzweifelhaft, daß
+Franzosen und Italiener eine sehr hochstehende geschichtliche
+Musikkultur, die Russen eine außerordentlich eigentümliche Kirchen- und
+Volksmusik aufzuweisen haben, und daß der Durchschnittstyp des
+Italieners, Tschechen, Russen an natürlicher Musikalität dem Deutschen
+mindestens gleichkommt. Dem Talent und der produktiven Veranlagung nach
+dürfte es vielleicht schwerfallen, den Vorrang der Deutschen zu
+beweisen. In einer Beziehung aber scheinen sie sich gegenüber anderen,
+ähnlich begabten Völkern hervorzutun: in der Art nämlich, wie ihre
+Musik zum unmittelbaren Abbild ihrer Geistesgeschichte wird, wie sie
+alle Wandlungen der Volksseele in sich aufnimmt, sie widerspiegelt, ja
+aus ihnen eigentlich die Impulse ihres Seins empfängt. Die Musik
+anderer Völker ist wohl ebenfalls Wandlungen unterworfen, aber dies
+sind Wandlungen des Geschmackes, und so mannigfache Verschiedenheiten
+es etwa innerhalb der italienischen oder französischen Oper der beiden
+letzten Jahrhunderte gibt, so sind dies im Grunde genommen nur
+Unterschiede des Zeitstiles, der Einkleidung. Gleich bleibt sich stets
+die durch nationales Temperament bedingte Auffassung der Musik als
+unmittelbarer Sprache der Sinne, des Blutes, des Formwillens. Für den
+Deutschen dagegen ist die Musik angewandte Metaphysik. Dies gilt nicht
+nur für den betrachtenden Beobachter, es gilt für den Schaffenden wie
+für den Aufnehmenden, es gilt für jeden Deutschen. Diese metaphysische
+Einstellung zur Musik ist eine der grundlegenden, logisch nicht zu
+erklärenden Eigenschaften des Volkscharakters oder der Volksseele. Sie
+wird ebenso offenbar am einfachsten Lied wie an der kompliziertesten
+Kunstmusik, und sie ist es, nicht irgendwelche konventionelle Eigenheit
+der Faktur, die der deutschen Musik ihr eigentümliches Gepräge, ihre
+Sonderstellung innerhalb der Kunst aller Völker gibt. An sinnlicher
+Wärme des Blutes wird uns stets der Italiener, an Klarheit und
+logischer Beherrschtheit der Gestaltung stets der Franzose überlegen
+sein. Das Übersinnlich-Unaussprechbare, der Wille zum Transzendenten,
+die Verwebung feinster Probleme des Geisteslebens mit den Gesetzen der
+Klangformung, die Empfindung des Klanges überhaupt als metaphysischen
+Symboles ist die bezeichnende Eigenheit der deutschen Musik.
+
+Schon daraus ergibt sich ihr Angewiesensein auf Zuflüsse von außen. Es
+ist nie zu befürchten, daß solche Zuflüsse sie schädigen, ihrer
+Originalität berauben könnten. Abgesehen davon, daß es eine schwache
+Originalität wäre, die sich nur durch gewaltsame Absperrung zu halten
+vermag, wird die deutsche Musik niemals ernstlich fähig sein,
+fremdländische Muster wirklich zu kopieren. Sie kann gar nicht anders,
+als die ihr zugetragenen Gefühls- und Formanregungen aus der ihr
+eigentümlichen metaphysischen Grundeinstellung erfassen, sie also in
+eine völlig andersgeartete Vorstellungs- und Empfindungssphäre
+übertragen. Andererseits macht gerade diese Art der Grundeinstellung
+steten Zufluß blut- und formgebender Kräfte von außen her erforderlich.
+Wir sind auch als musikalische Kulturträger kein Volk der
+Selbsterzeuger, wir sind ein Volk der Verarbeiter. Wo je im Lauf der
+gesamten Geschichte die deutsche Musik einen Höhepunkt erreicht hat, da
+hatte sie auf fremdvölkischem Material aufgebaut. Wegen dieses
+außernationalen Ursprunges und wegen der metaphysischen
+Steigerungskraft der deutschen Musik sind solche Höhepunkte zugleich
+Höhepunkte der musikalischen Kunst überhaupt geworden. Wo aber die
+deutsche Musik durch den Gang der Ereignisse nach außen abgeschlossen
+wurde, da ist sie blaß und schwach geworden, ihre Metaphysik hat der
+Unterlage einer lebendigen Physis entbehrt.
+
+So ist die deutsche Musik unmittelbar dem deutschen Geistesleben im
+tiefsten Sinne verknüpft und spiegelt dessen Wandlungen ihrer
+metaphysischen Natur nach in unerbittlich genauer Schärfe. Zur Führung
+berufen, der letzten Abklärung fähig und zugewandt, vermag sie zu
+diesen höchsten Eigenschaften ihres Wesens nur im Durchgang durch
+andere zu gelangen. National bedingt, ist sie nach Gesinnung und
+Auswirkung eine europäische Kunst, in ihr leben und kämpfen die
+Probleme des europäischen oder schlechthin des Menschentums überhaupt.
+Der große Niederbruch hat sie gepackt und mitgerissen wie kaum eine
+andere Zeiterscheinung der Geistesgeschichte. Was im heutigen
+musikalischen Leben Deutschlands vor sich geht, ist das getreue, im
+einzelnen ins Groteske verzerrte Abbild unseres allgemeinen Lebens. Es
+wird gekämpft nicht nur um Überzeugungen und Urteile, es wird gekämpft
+um Gesinnung und Macht, es wird gekämpft nicht mit Einsichten und
+Gründen, sondern mit Terror und Lüge, es wird gekämpft nicht um
+sachliche Werte, sondern um persönliche Interessen, und das Was und Wie
+all dieser Kämpfe ist eine grobe Karikatur der Dinge, deren reiner Name
+mißbraucht wird.
+
+Aber in dieser Musik lebt hinter allen Trugmasken, heut noch fern dem
+Tage, Erkenntnis der tiefsten Notwendigkeit geistiger Erneuerung. Es
+lebt der Glaube an das Kommende, das andere, das mit Namen nicht zu
+nennen ist, und dessen Dasein doch innerlichst erspürt wird. Es lebt
+die Idee, daß nicht nur Untergang, sondern auch Aufgang bevorsteht, es
+lebt die Vorstellung des unbekannten Gottes. Gerade in der deutschen
+Musik ist sie lebendig, zieht sie ihre starken Spuren, wirkt sie mit
+wachsender prophetischer Kraft. Sie hat uns die Fähigkeit des Glaubens,
+de Überzeugung von der Notwendigkeit dieses Glaubens als seelischer
+Voraussetzung aller Offenbarung gebracht. Das ist ihre stärkste
+Leistung. Der Erfüllung müssen wir noch harren, bis wir selbst ihrer
+fähig sind.
+
+
+
+
+DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART
+VON MAX SCHELER
+
+Vom "Volksverband der Bücherfreunde" und dem Herausgeber aufgefordert,
+auf engem Raum ein Bild zu geben von der gegenwärtigen deutschen
+Philosophie, ist der Verfasser sich bewußt, daß der Gegenstand mehr wie
+je als ein im Werden befindlicher betrachtet werden muß. Die Tendenz
+auf Zersprengung vorhandener, lange bewährter Formen, die in den
+Sphären des sozialen Lebens, der Kunst (Expressionismus) und der
+Wissenschaft (Relativitätslehre) mit seltsamer Gleichzeitigkeit
+auftritt, ist auch in der Philosophie der Gegenwart weit größer, als es
+der erste Augenschein lehrt. Die besondere Absicht, die der sonst
+solchen Zusammenfassungen wenig geneigte Verfasser mit diesen Zeilen
+verbindet, ist, einem größeren Bildungskreise die Möglichkeit zu geben,
+sich durch eigene Gedankenarbeit in diejenigen Leistungen der
+gegenwärtigen Philosophie tiefer einzuarbeiten, die er nach eigenem
+philosophischen Urteil für die triebkräftigsten und zukunftsreichsten
+hält. Die menschliche und nationale Selbstbesinnung nach dem
+tiefgreifenden Zusammenbruch unseres Staates und unserer bisherigen
+gesellschaftlichen Ordnungen vollzieht sich in der Philosophie in der
+höchsten und durchgeistigtsten Form. Richtungen und Wege zu ihr mögen
+daher indirekt auch auf diesen Blättern mitbezeichnet werden. Es wird
+dem Verständnis dienlich sein, wenn der Verfasser schon hier am Anfange
+in vager Weise die formale Gestalt der Art von Philosophie bezeichnet,
+auf die hin das Beste der gegenwärtigen Arbeit zielt. Insofern
+behauptet er: Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht
+gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren
+terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S a c h
+philosophie, die auch die metaphysischen Weltanschauungsfragen in den
+Grenzen, in denen es Philosophie im Unterschied zur Religion allein
+vermag, in kritischer und vorsichtiger Weise wieder einer Lösung
+zuzuführen sucht, beginnt sich unter der methodischen Leitung des
+Satzes vom Primat des Seins vor dem Erkennen in der Gegenwart von den
+verschiedensten Seiten her aufzuarbeiten. Der Subjektivismus,
+erkenntnistheoretische Idealismus, Relativismus, Sensualismus,
+Empirismus und Naturalismus wird im Aufbau dieser Philosophie langsam ü
+b e r w u n d e n, und es wird wie von selbst eine Wiederanknüpfung der
+Philosophie stattfinden an die großen Traditionen jenes objektiven
+Ideenidealismus, der etwa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts das
+europäisch-christliche Denken immer noch notdürftig zusammenhielt --
+eine Wiederanknüpfung, die um so wertvoller sein dürfte, als sie
+ungewollt und aus der schlichten Untersuchung der Sachprobleme der
+Philosophie selbst sich ergibt: gleichzeitig aber das neue positive
+Wissen, das die Einzelwissenschaften erarbeitet haben, in sich
+aufnimmt. Diese Philosophie wird nicht sein wollen die D e s p o t i n
+der Einzelwissenschaften, wie in der sogenannten "klassischen" Epoche
+der deutschen Spekulation (z. B. Hegel), noch bloße D i e n e r i n
+der Einzelwissenschaften (als Erkenntnistheorie und Methodologie),
+sondern wird in dem daseinsfreien "W e s e n" aller Seinsgebiete der
+Welt einen selbständigen, n u r der Philosophie zugänglichen G e g e n
+s t a n d besitzen, den sie mit eigenen Methoden zu erkennen
+unternimmt.
+
+Will man die Philosophie der Gegenwart verstehen, so wird man sie auf
+den größeren Hintergrund der Philosophie des 19. Jahrhunderts mit ihren
+Phasen projizieren müssen. Die Merkmale der G e s a m t g e s t a l t
+der Philosophie des 19. Jahrhunderts sind gegenüber der Philosophie des
+17. und 18. Jahrhunderts die folgenden:
+
+Die Philosophie des 19. Jahrhunderts zeigt erstens eine weitgehende n a
+t i o n a l e Verengung. Der Denkverkehr der europäischen Nationen,
+wie er uns etwa in einer Figur wie Leibniz gegenwärtig ist, wird durch
+die steigende Ausbildung des nationalen Selbstbewußtseins und des
+nationalen Mythos erheblich geschwächt. Besonders in Deutschland wird
+mit Kant, obzwar dieser große Geist sich selbst noch vollständig als
+Bürger der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik fühlt, eine Denkrichtung
+angebahnt, die die deutsche Philosophie in starkem Maße aus der
+christlich-europäischen Tradition herauslöst und ihr einen
+national-partikularistischen Charakter auf viele Jahrzehnte hin erteilt.
+
+Ein zweites Merkmal ist die wachsende V i e l h e i t der
+philosophischen Standpunkte, Schulen, Sekten. Indem die Philosophie in
+der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen vorwiegend geschlossenen
+S y s t e m charakter annimmt und damit weit mehr als früher persönlich
+gebundener wird ("Romane der Denker" nannte es Sophie Germaine), in der
+zweiten Hälfte aber umgekehrt sich in Einzelwissenschaften aufzulösen
+oder als deren bloße Dienerin zu konstituieren suchte, geht beidemal
+der Gedanke "einer" s e l b s t ä n d i g e n Philosophie, an der
+Generationen und Völker g e m e i n s a m zu bauen haben, verloren.
+
+Ein drittes Merkmal, das für die d e u t s c h e Philosophie
+besonders aufdringlich ist, ist die diskontinuierliche antithetische
+Entwicklung. Während sich die Philosophie der Neuzeit bis zum 19.
+Jahrhundert im großen Ganzen, um wenige Grundfragen bemüht,
+kontinuierlich entfaltete, ist das 19. Jahrhundert von Diskontinuität,
+Abbruch, plötzlicher Wiederanknüpfung an ältere Gedankenrichtungen
+durchzogen. Der Zusammenbruch der deutschen Spekulation nach Hegels
+Tod, die zeitweise Herrschaft des Materialismus in den Jahren von 1840
+bis 1860, die Wiederanknüpfung an Kant (Neukantianismus), an Thomas von
+Aquin (Neuthomismus), später an Fichte und Hegel sind dafür nur die
+sichtbarsten Beispiele dieser Diskontinuität. Die Reaktions- und
+Restaurationsphilosophie der Romantik versuchte mit ganz
+subjektivistischen und unmittelalterlichen Methoden mittelalterliche
+I n h a l t e und W e r t e wiederzugewinnen, um auf diese Weise
+rein antithetisch und reaktiv die gewaltige zusammenhängende Vernunfts-
+und Menschheitskultur des 18. Jahrhunderts zu überwinden. Bis zu
+Schopenhauer, Nietzsche, E. Rohde, J. Burckhardt, E. von Hartmann, ja
+bis zu O. Spengler hat die romantische Bewegung einen tiefgehenden
+Z w i e s p a l t in das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts
+hineingelegt, der bis heute unüberbrückt ist. Aller gegenwärtige
+"Irrationalismus" (Bergson, Theosophie usw.) knüpft wieder an sie an.
+Aus der Verbindung von Ausläufern der romantischen Bewegung mit der
+durch die Kenntnis des Sanskrit (in Deutschland zuerst verbreitet durch
+W. von Humboldt) erschlossenen Weisheit des Ostens (insbesondere
+Indiens) ist auch das gegenüber der Philosophie des 17. und 18.
+Jahrhunderts gänzlich n e u e Element des metaphysischen, ethischen und
+geschichtsphilosophischen P e s s i m i s m u s (Schopenhauer, E. von
+Hartmann, Mainländer, Spir, in anderer Richtung Nietzsche in seiner
+ersten Phase) hervorgegangen. Auch der zuerst im Pessimismus erfolgende
+Eintritt der Philosophie des O s t e n s in die Geschichte des
+europäischen Denkens (in Deutschland besonders durch Paul Deußens
+"Geschichte der indischen Philosophie" verbreitet), ist ein s p e z i
+f i s c h e s Merkmal des 19. Jahrhunderts. Durch die im Krieg
+erfolgte stärkere Berührung der deutschen Bevölkerung mit dem Osten ist
+diese Bewegung noch gewaltig gefördert worden (Neubuddhismus,
+Theosophie, Anthroposophie); auch die Überwindung des "Europäismus" in
+der Geschichtsauffassung (der Hegel und Comte noch gemeinsam ist), das
+heißt der Methode, an die ganze Entwicklung der Weltgeschichte
+europäische Maßstäbe und geschichtliche Bewegungsformen anzulegen, ist
+in dieser Bewegung stark in Frage gesetzt worden. Indem die Romantik
+ferner das Studium der positiven Religionen in die Sphäre der
+allgemeinen Bildung hineintrug, hat sie auch die konfessionellen
+Bindungen des philosophischen Denkens gegenüber dem 18. Jahrhundert
+wieder bedeutend verstärkt. Sie hat ferner auf viele Jahrzehnte hin die
+philosophische Arbeit so einseitig auf das Studium der Geschichte der
+Philosophie hingerichtet, daß ein Mann wie Kuno Fischer sagen konnte:
+"Geschichte der Philosophie treiben heißt selbst philosophieren."
+Während Kant noch meinte, das "wäre ein armseliger Kopf, dem die
+Geschichte der Philosophie seine Philosophie ist", hat der historische
+R e l a t i v i s m u s in der Philosophie bis in die achtziger Jahre
+des vorigen Jahrhunderts hinein die philosophische Arbeit aufs stärkste
+niedergehalten. Erst die Philosophie der letzten beiden Jahrzehnte ging
+daran, diesen Historismus zu überwinden. Freilich nur in maßvoller
+Weise: denn auch in den Forschern, bei denen sich die Philosophie,
+abgesehen von Erkenntnistheorie, in bloße Weltanschauungs l e h r e
+auflöst, d. h. in Typologie und Psychologie der Weltanschauung (W.
+Dilthey, M. Weber, K. Jaspers, H. Gomperz, O. Spengler) ist der aus der
+Romantik entsprungene Historismus noch stark gegenwärtig. Und nur in
+anderer, naturalistischerer Form erscheint er wieder bei den
+Neupositivisten (E. Mach, Levy-Brühl und anderen), die selbst die
+Denkformen und Denkgesetze soziologisch aus Traditionen und Erblichkeit
+herleiten wollen.
+
+Ein letztes Merkmal der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist es, daß
+sie aus Biologie, Geisteswissenschaften und der seit Fechner in die
+Philosophie eingegangenen Disziplin der experimentellen Psychologie
+weit stärkere Antriebe empfangen hat als die Philosophie des 17. und
+18. Jahrhunderts, deren Probleme überaus einseitig durch die
+mathematischen Naturwissenschaften Galileis und Newtons gebunden und
+bestimmt waren.
+
+Auf diesem allgemeinen Hintergrund der Gestaltung der Philosophie des
+19. Jahrhunderts überhaupt gewinnt die gegenwärtige Philosophie
+Deutschlands ein um so größeres Interesse, als ihre bedeutsamsten
+Erscheinungen, obzwar weitgehend genährt durch das gesamte Gedankengut
+der Philosophie des 19. Jahrhunderts, sich in vieler Hinsicht in
+scharfem Gegensatz zu dieser Gestaltung befinden. Die Philosophie der
+Gegenwart strebt danach, den mehr oder weniger a n a r c h i s c h e n
+Zustand zu überwinden, der -- diese Merkmale zusammengeschaut -- das
+allgemeinste unterscheidende Moment der Philosophie des 19.
+Jahrhunderts ausmacht. Dies wird die folgende Darstellung genauer
+erhellen.
+
+Wir behandeln im folgenden nur die deutsche Philosophie der Gegenwart.
+Um so mehr müssen wir uns klarmachen, daß die deutsche Philosophie das
+Übergewicht, das sie vor hundert Jahren in der Welt besaß, längst
+verloren hatte. Der größte internationale Einfluß ist, wie K.
+Österreich in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart" I/6, 3. Auflage,
+treffend bemerkt, von der französischen Philosophie in den letzten
+Jahrzehnten ausgegangen. Der Einfluß Bergsons und der Einfluß W. James'
+läßt sich mit keinem Einfluß eines Deutschen vergleichen. Andererseits
+wirkt die ältere deutsche Spekulation, insbesondere Hegel, im Ausland
+(besonders England, Amerika, Rußland, Italien) auch heute noch stärker
+als irgendein nachhegelscher deutscher Denker -- mit Ausnahme
+vielleicht Nietzsches. Trotzdem waren die internationalen Beziehungen
+der deutschen Philosophie zum Auslande vor dem Krieg in starker Zunahme
+begriffen, und es ist aus manchen Anzeichen zu erhoffen, daß sie sich
+auch bald wiederherstellen werden.
+
+Will man die gegenwärtige deutsche Philosophie zur ersten Übersicht in
+gewisse G r u p p e n ordnen und zugleich einige ihrer allgemeinen
+Charakterzüge hervorheben, so sind es vor allem d r e i Gegensätze,
+nach denen man diese Gruppierung vollziehen kann.
+
+Der erste ist der höchst unerfreuliche Gegensatz einer nur engste
+Kreise berührenden streng wissenschaftlichen Fach- und
+Universitätsphilosophie und einer unmethodischen, wenig strengen, mehr
+oder weniger aphoristischen, aber weiteste Bildungskreise suggestiv in
+Bann haltenden "philosophischen Literatur". Im Gegensatz zur
+Philosophie des 18. Jahrhunderts, zum Zeitalter Kants und Hegels, aber
+auch noch im Gegensatz zum Zeitalter Fechners und Lotzes, vermochte die
+akademische Philosophie das geistige Interesse größerer Bildungskreise
+bis vor kurzem n i c h t zu gewinnen. Um so mehr vermochte das aber
+eine philosophierende Literatur, deren Hauptexponent und Vorbild
+Nietzsche gewesen ist, eine Literatur, die ohne Verbindung mit der
+strengen Wissenschaft unmethodisch und weit unter der Niveauhöhe der
+großen Philosophie der Vergangenheit, in subjektiv persönlicher Form
+Meinungen und Werturteil ausspricht. Hierher gehören z. B.
+Erscheinungen wie R. Steiner, Johannes Müller, O. Spengler, W.
+Rathenau, Graf Keyserling, H. Blüher, die philosophierenden Mitglieder
+des George-Kreises und andere mehr. Dieser Z e r f a l l in zwei so
+gänzlich verschiedenartige Gattungen von "Philosophie" steht in
+scharfem Gegensatz zu allen philosophisch p r o d u k t i v e n
+Zeiten, und er muß vor allem aufgehoben werden, wenn die deutsche
+Philosophie sich aus der Anarchie des 19. Jahrhunderts wieder erheben
+soll. Das ist nur möglich, wenn zwei Arten von akademischer Philosophie
+langsam in den Hintergrund treten, die bisher an den deutschen
+Universitäten noch stark in Herrschaft sind.
+
+1. Die traditionalistischen Standpunkts- und Schulphilosophien. Sie
+machen sich alle dadurch kenntlich, daß sie ihre eigene Namengebung mit
+dem Worte "Neu" beginnen (z. B. Neukantianer, Neuthomisten,
+Neufichteaner, Neuhegelianer), als wollten sie nach dem Gesetz: Lucus a
+non lucendo damit sagen, daß das, was sie lehren, etwas altes ist.
+Eigen ist diesen philosophisch-akademischen Richtungen das, was das
+Wesen jeder "Scholastik" ausmacht: daß man sowohl in der Arbeit an den
+Sachproblemen in Übereinstimmung mit einer historischen A u t o r i t
+ä t (wenigstens im "wesentlichen") zu bleiben sucht, andererseits aber
+die Meinung dieser Autorität immer so interpretiert, daß man noch sagen
+kann, die eigenen Sachforschungen stimmten mit ihrer Meinung überein.
+Diese fortgesetzte Angleichung von Sachforschung und
+historisch-philologisch interpretierter Meinung eines Philosophen h i n
+d e r t aber ebensowohl echte und reine Sacherkenntnis wie echtes
+historisches Verständnis. Am weitesten in dieser "scholastischen"
+Methode sind heute merkwürdigerweise nicht die sogenannten
+"Neuscholastiker" gegangen, sondern die Neukantianer, deren
+Sachforschungen wie geschichtliche Leistungen (besonders H. Cohen, P.
+Natorp, E. Cassirer) trotz ihrer mannigfachen Anregungskraft diesen
+Charakterzug durchgehends verraten. Eng verbindet sich Schulerstarrung,
+Anschauungs- und Wirklichkeitsfremdheit und eine geheime verzwickte
+Terminologie (die alle großen Philosophen der Geschichte n i c h t
+gekannt haben, und die schon von vornherein eine dicke Wand zwischen
+Philosophie und Bildung setzt) mit dem bezeichneten "scholastischen"
+Charakter. Erst mit Edm. Husserls "Logischen Untersuchungen" hat eine
+standpunkt f r e i e, nicht traditionalistische S a c h philosophie
+wieder in breiterem Maße eingesetzt, wenn auch Männer wie Franz
+Brentano, Rehmke, Driesch, B. Erdmann, Stumpf auch schon vor Husserls
+Auftreten die Philosophie in diese Richtung geleitet haben.
+
+Ein zweiter Grund für das Auseinanderfallen der deutschen Philosophie
+in methodisch strenge Sachphilosophie und "philosophische Literatur"
+ist in der Tatsache zu sehen, daß die gegenwärtige deutsche Philosophie
+jahrzehntelang, wie Lotze sich ausdrückte, nur "die Messer zu wetzen
+pflegte, ohne zu schneiden", daß sie, herausgewachsen aus dem
+sogenannten Neukantianismus (Otto Liebmann, Albert Lange, H. Cohen, P.
+Natorp), der nach dem Zusammenbruch der deutschen Spekulation die
+Philosophie zuerst wieder an deutschen Hochschulen möglich machte, sich
+aufs einseitigste, auf Erkenntnistheorie und Methodologie beschränkte
+und sich dabei im Grunde nur als Dienerin der Einzelwissenschaften
+fühlte. So übertrug sich der Fachcharakter auch auf die Philosophie,
+deren Wesen es doch gerade ausschließt, ein "Fach" n e b e n anderen zu
+sein. So gab sie nicht nur ihre zentralste und ihre wesentlichste
+Disziplin, die Metaphysik, meist völlig preis, sondern hatte außerdem
+zu dem übrigen geistigen Leben der Nation, zu den Problemen des
+Staates, der Gesellschaft, zu Kunst und Dichtung, zur Religion und zum
+Problem der Gestaltung und Bildung der geistigen Persönlichkeit kaum
+irgendeinen Zugang mehr. Die Übernahme einer großen Anzahl von
+Lehrstühlen durch Vertreter der "jungen experimentellen Psychologie"
+befestigten diesen Zustand noch mehr, zumal diese junge und
+verheißungsvolle neue Wissenschaft sich erst in den letzten Jahren
+ihrer Entwicklung auch den höheren geistigen Funktionen zuwendete oder
+doch durch gewisse, in ihr erwachsene Probleme, z. B. durch das
+Gestaltproblem, wieder stärkeren Anschluß an die philosophischen Fragen
+gewann. Auf seiten der "philosophischen Literatur" aber wurde der
+echten Philosophie nicht minder Abbruch getan: einmal dadurch, daß man
+in ganz unsachlicher und subjektivistischer Weise seinen Einfällen die
+Zügel schießen ließ, das Geistreiche und Blendende an die Stelle des
+Wahren, die Suggestion an die Stelle der Überzeugung im sokratischen
+Sinne setzte; ferner dadurch, daß man in mehr oder weniger gnostischer,
+die Selbständigkeit der Religion und der Mystik gegenüber der
+Philosophie total verkennender Weise die Philosophie von aller strengen
+ W i s s e n s c h a f t loslöste und sie zu einer Sache von
+S e k t e n machte, die, im Gegensatz zu den akademischen Schul- und
+Standpunktsphilosophien, sich um das rein persönliche, echte oder
+scheinbare Charisma einer starken Natur gruppierten. So entstanden
+Sekten aller Art, die besonders zu nennen nicht notwendig ist. So ist
+es auch verständlich, daß das im 19. Jahrhundert fast verloren
+gegangene W e s e n der Philosophie in der Gegenwart erst wieder
+aufgesucht werden mußte (siehe E. Husserl: "Philosophie als strenge
+Wissenschaft", Logos Bd. I, Heft I; siehe auch M. Scheler: "Vom Ewigen
+im Menschen", Bd. I, "Vom Wesen der Philosophie").
+
+Ein zweiter Gegensatz durchquert die gegenwärtige Philosophie in d e r
+Richtung, ob sie in ihren Problemen mehr geistes- oder
+naturwissenschaftlich orientiert ist. Das wird in der folgenden
+Darstellung scharf hervortreten im Gegensatz sowohl der neukantischen
+und der südwestdeutschen Schule als in den Gegensätzen der einzelnen
+selbständigen Sachdenker. Auch dieser Gegensatz ist ein Zeichen dafür,
+daß wir eine u n i v e r s a l e Philosophie noch nicht besitzen:
+denn eine solche muß b e i d e n großen Daseinsgebieten, und zwar durch
+Vermittelung des selbständigen Sachgebietes der inneren und äußeren
+B i o l o g i e, ihr gleichmäßiges Interesse zuwenden und darf sich
+nicht als bloße "ancilla scientiae" zum einseitigen Vorspann e i n e r
+dieser Teile der Wissenschaften machen. Überhaupt ist nichts der
+Philosophie abträglicher als die bis vor kurzem in unserem Lande immer
+wieder erneuten Versuche, von den Gegebenheiten und Grundbegriffen
+einer Einzelwissenschaft her, das g a n z e Weltproblem lösen zu
+wollen. Solches geschah z. B. im sogenannten Psychologismus durch eine
+gänzlich unberechtigte Ausdehnung der Begriffe, "psychisch" oder
+"Bewußtsein": in der Energetik Ostwalds durch eine Verabsolutierung des
+Energiebegriffes, im Empfindungsmonismus Ernst Machs durch eine falsche
+Verabsolutierung des Empfindungsbegriffes; in gewissen Richtungen der
+"Lebensphilosophie" in einer falschen Ausdehnung und Verabsolutierung
+des Begriffes Leben, in der neukantischen Marburger Schule in einer
+falschen Verengung des Erkenntnisbegriffes auf mathematische
+Naturwissenschaft. Die Philosophie hat, von einer Lehre über die
+Grundarten der G e g e n s t ä n d e ausgehend und von dem Satze, daß
+sich alle Methoden nach der Natur, der Gegenstände zu richten haben
+(und nicht die Gegenstände nach Methoden), einen wahren Ausgleich
+zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Interessenrichtungen und
+methodischen Denkrichtungen herbeizuführen, die Wissenschaften auf dem
+Boden einer selbständigen philosophischen und allseitigen
+Erkenntnistheorie zu ordnen und in gegenseitige fruchtbare Beziehung zu
+setzen. Sie hat nach wie vor zwar nicht eine die Einzelwissenschaften
+erdrückende Despotin wie zur Zeit Hegels zu sein, noch weniger aber
+ihre Dienerin, sondern "Königin" in jenem legitimen letzten Sinn, der
+die wohlerworbenen Rechte der Fachwissenschaften von einem eigenen,
+eben nur philosophischen Standpunkt aus s e l b s t ä n d i g würdigt
+und achtet und sie für das Ganze unseres Weltbegriffes und unserer
+Weltanschauung fruchtbar macht. Die Philosophie des 17. und 18.
+Jahrhunderts, die Philosophie des Descartes und Leibniz vermochte
+gerade darum so häufig auch den Einzelwissenschaften R i c h t u n g zu
+geben und ihnen fruchtbare Anregung zu erteilen, weil sie im engen
+Konnex mit den Wissenschaften (und nicht losgelöst von ihnen, wie
+unsere Literatenphilosophie) sich nicht einseitig damit zufrieden gab,
+bloß zu formulieren, was die "Voraussetzungen der Einzelwissenschaften"
+seien und welche Methoden sie selbst anwenden. Die gegenwärtige
+Überwindung der Galilei-Newtonschen Naturansicht durch die vier großen
+naturwissenschaftlichen philosophischen Fermente unserer Zeit die
+Elektronentheorie, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Plancksche
+Quantentheorie und die positiv-wissenschaftlichen und neuvitalistischen
+Versuche, den Organismus mit übermechanischen Agenzien zu erklären,
+sollten J e d e m zeigen, was aus einer Philosophie werden muß, die
+nur objektiv logische Voraussetzungen einer fälschlich verabsolutierten
+Wissenschaftsstufe zu suchen pflegt. Sie hört mit der Überwindung
+dieser Wissenschaftsstufe eben auf, irgendeine Bedeutung zu haben. Nur
+dann, wenn die Philosophie einen e i g e n e n G e g e n s t a n d
+und eine e i g e n e Methode besitzt allen einzelnen Seinsgebieten
+gegenüber, die als solche auch die positiven Wissenschaften erforschen,
+wird sie mehr sein können als die bloße Eule der Minerva der positiven
+Wissenschaft; und nur, wenn sie die S a c h e n selbst, nicht nur die
+Wissenschaft über die Sachen als bloße "Erkenntnislehre" sich zum
+Gegenstand setzt (freilich mit Einschränkung auf ihr daseinsfreies
+Wesen, ihre e s s e n t i a), kann sie der positiven Wissenschaft auch
+geben, anstatt bloß von ihr zu nehmen.
+
+In Hinsicht auf einen dritten Gegensatz, der auch die gegenwärtige
+Philosophie noch unabhängig von einzelnen Sachproblemen bestimmt,
+nämlich dem Gegensatz der religiösen Traditionen (katholische und
+protestantische Philosophie), ist das Erfreuliche zu vermelden, daß
+dieser Gegensatz, der streng genommen in der Philosophie überhaupt
+keinerlei Rolle zu spielen hätte, auch tatsächlich stark zurückgetreten
+ist. Kant und seine von der Theologie ausgegangenen spekulativen
+Nachfolger hatten der deutschen Philosophie einen, geschichtlich
+gesehen, einseitigst protestantischen Charakter erteilt. Die
+katholische Philosophie oder, besser gesagt, die Philosophie des
+katholischen Kulturkreises ging, abgesehen von ganz wenigen
+Erscheinungen der Romantik (z. B. Franz Baader, Deutinger,
+Froschammer), ihre Wege völlig für sich, und es bestand bis vor kurzem
+keinerlei tiefere Berührung zwischen den Forschergruppen beider
+Konfessionen. Der von der Enzyklika "Aeterni patris" im Jahre 1897 von
+Leo XIII. angeregte Neuthomismus, der durch die Löwener Schule des
+belgischen. Kardinals Mercier auch eine für die modernen
+wissenschaftlichen Probleme etwas geöffnetere Form erhielt, hat den
+Gegensatz der philosophischen Richtungen beider Kulturkreise für viele
+Jahre hin noch erheblich gesteigert. Und je mehr die deutsche
+Philosophie sich durch Kant einseitig bestimmt erwies und die Weisungen
+Leos XIII. (der wohl an erster Stelle an eine einheitliche
+philosophische Unterweisung der P r i e st e r gedacht hat und, wie er
+selbst auf die Frage der Franziskaner versicherte, keineswegs das
+thomistische System zur allverbindlichen Norm für alle philosophischen
+Studien erheben wollte) gegen die Absichten des großen Papstes wie eine
+Art Dogmatisierung der thomistischen Philosophie interpretiert wurden,
+desto schärfer und unüberbrückbarer wurde der Gegensatz. Von den
+älteren deutschen Philosophen vermochten nur H e r b a r t in seiner
+Schule gläubige Anhänger beider Konfessionen zu vereinigen (z. B. Otto
+Willmann). Dieser Zustand hat sich in der Gegenwart weitgehend
+verändert. Besonders durch die direkten und indirekten Einflüsse Franz
+Brentanos und des von E. Husserl wiederentdeckten großen Logikers
+Bolzano, die beide noch in starker geistiger Kontinuität mit den großen
+Geistern der Scholastik philosophierten; ferner durch Husserl und die
+von ihm angeregten Forscher; endlich auch durch den starken Abbau des
+erkenntnistheoretischen Idealismus und durch das Wiedererwachen des
+erkenntnistheoretischen Realismus ist ein erfreulicher Denkverkehr
+zwischen den Philosophen der beiden Konfessionen in Gang gesetzt
+worden. Auch der Einfluß der österreichischen Philosophie (besonders
+Martys, Meinongs) auf die deutsche hat in den letzten Jahrzehnten stark
+zugenommen. Über die stärkere und lebendigere Berührung der Philosophen
+beider Konfessionen auf metaphysischem und religionsphilosophischem
+Gebiet wird im einzelnen später noch zu berichten sein. Dagegen hat der
+Einfluß der naturalistischen und freidenkerischen Weltanschauungsformen
+auf die Philosophie (die ja nicht minder wie Katholizismus und
+Protestantismus im 19. Jahrhundert längst "Tradition" geworden sind) in
+der Philosophie der Gegenwart stark abgenommen. Haeckels und seiner
+Gesinnungsgenossen Philosophie hat in Deutschland nur in den M a s s
+e n, nie unter den eigentlichen Philosophen irgendwelche Bedeutung
+erlangt. Aber auch weit höher gerichtete und freiere Formen der
+naturalistischen Philosophie haben heute an Bedeutung stark verloren.
+Die Ostwaldsche Energetik, die in ihrem naturwissenschaftlichen Teile
+durch die moderne Atomistik wieder vollständig verdrängt ist, hatte für
+die theoretische Philosophie bedeutende Folgen nicht entwickelt. Der
+Positivismus, der aus Frankreich und England in gewissen Ausläufern
+auch zu uns gekommen war (E. Mach, Avenarius, Ziehen), zählt noch
+einige Anhänger, auf die wir später zurückkommen; er mußte aber der
+erkenntnistheoretischen realistischen Lehre und der dem Sensualismus
+und der Assoziationspsychologie ganz entgegengesetzten
+Entwicklungsrichtung der modernen Psychologie mehr und mehr weichen.
+
+Die gegenwärtige Philosophie enthält zu einem großen Teile die
+Entwicklungsstadien des 19. Jahrhunderts noch als gegenwärtige
+Schichten in sich. Das gilt an erster Stelle von den Nachwirkungen
+älterer philosophischer S y s t e m e. Wir wollen, von den ältesten
+Schichten beginnend, die gegenwärtige Philosophie nunmehr betrachten,
+um, von ihnen fortschreitend, bei den neuesten Versuchen zu endigen.
+
+Eines geringen Anhangs und einer steigend geringen Achtung auch bei der
+heute philosophierenden Jugend erfreut sich der naturalistische
+Monismus, der geschichtlich an die Zeit von Ludwig Büchners "Kraft und
+Stoff" (das von 1854 bis 1904 21 Auflagen erlebte) anknüpft. Gleichwohl
+muß dieses System hier genannt werden, nicht um seiner inneren
+Bedeutung willen, sondern weil es durch seine kaum abzuschätzende
+Verbreitung weniger in der deutschen Arbeiterschaft als im kleinen
+Mittelstand eine große Wirkung auf das deutsche Geistesleben gehabt
+hat. E r n s t H a e c k e l s "Welträtsel" waren bereits in den
+Jahren 1899 bis 1914 in mehr als 300 000 Exemplaren verbreitet und in
+24 Sprachen übersetzt. Der deutsche Geist war im Ausbau der
+naturalistischen Philosophie zu allen Zeiten wenig produktiv; während
+in Frankreich und England die naturalistische Philosophie mit
+schärfstem Geist und der Form nach in strenger wissenschaftlicher
+Methode von Männern vertreten wurde, die, meist auf der Höhe der
+sozialen Stufenleiter stehend, sie in weltmännischer Form und nicht
+unbedeutendem Stil vertraten, ist der deutsche Materialismus und
+Monismus meist überaus grob, borniert und unwissenschaftlich gewesen.
+Seine Vertreter waren meist (wie schon Karl Marx bemerkt hat)
+"kleinbürgerliche", in Stil und Lebensform untergeordnete,
+philosophisch dilettierende Ärzte und Naturforscher, die ohne Kenntnis
+der Geschichte des europäischen Denkens und ohne Überschau über den
+Kosmos der Wissenschaften, aus der Ecke ihrer zufälligen Interessen
+herauß sogenannte "Konsequenzen der Naturwissenschaft" zogen. Diese
+Charakteristik gilt auch für den wirksamsten Vertreter dieser Richtung,
+Ernst Haeckel (geb. 1834). Seine "Welträtsel" (1899) und seine
+"Lebenswunder", zuletzt sein Buch über Kristallseelen sind
+philosophisch so gut wie wertlose Erzeugnisse. Mit Recht sagte Fr.
+Paulsen in einer Rezension der "Welträtsel", die in den "Preuß.
+Jahrbüchern" erschien: "Ich habe mit brennender Scham dieses Buch
+gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der
+philosophischen Bildung unseres Volkes." Nicht minder scharf war das
+Urteil, das E. Adikes mit den Worten fällte: "Haeckel ist eben durch
+und durch Dogmatiker; darin steht er mit Büchner auf einer Stufe; als
+Naturforscher überragt er ihn weit, als Philosophen sind beide völlige
+Nullen." Der russische Physiker Chwolson zeigte in einer besonderen
+Schrift, wie völlig unfähig Haeckel war, auch nur den Sinn der
+einfachsten Grundsätze der theoretischen Physik, wie z. B. des Satzes
+von der Erhaltung der Energie oder gar des zweiten Wärmesatzes (den er
+einfach "verwirft") zu verstehen. Der bekannte Ameisenforscher Wasmann
+hat in einer besonderen Schrift, "Haeckel als Kulturgefahr", auch seine
+entwicklungstheoretischen Leistungen genügsam gekennzeichnet.
+
+Über den sachlichen Inhalt seiner Philosophie hier noch einmal zu
+sprechen, fehlt jeder Anlaß[1].
+
+ [1] Vgl. neben den genannten kritischen Werken O. Külpe:
+ "Philosophie der Gegenwart", 6. Aufl., und A. Messner:
+ "Philosophie der Gegenwart" (1918).
+
+In Form eines Versuches der Zurückführung alles Wirklichen mit
+Einschluß des organischen Lebens, des Seelenlebens und der geistigen
+Tätigkeiten auf letzte qualitative Grundarten der E n e r g i e und
+ihre Umwandlungsformen vertrat Wilhelm Ostwald (geb. 1855), Professor
+der physikalischen Chemie, den naturalistischen Monismus. Seine
+Vorlesungen über "Naturphilosophie" waren, soweit es sich um die
+Philosophie der anorganischen Natur handelt, überaus anregend. Ostwald
+versuchte, den Begriff der Materie völlig auszuschalten. Die Masse der
+Mechanik ist ihm nur ein Kapazitätsfaktor der mechanischen Energie, der
+gleichgeordnet eine Wärme, ein Licht, eine Gestalt, eine magnetische
+und elektrische, eine chemische und psychische Energie zur Seite
+stehen. Diese Energie a r t e n sind nicht, wie es die
+atomistisch-mechanische Naturansicht wollte, aufeinander
+zurückzuführen; sie sind ähnlich wie in der qualitativen Elementarlehre
+des Aristoteles letzte Gegebenheiten, die nur in formal quantitativen
+Austauschbeziehungen zueinander stehen. "Alles, was wir Materie nennen,
+ist Energie; denn sie erweist sich als ein Komplex von Schwereenergie,
+Form und Volumenenergien, sowie chemischen Energien, denen Wärme- und
+elektrische Energien in veränderlicher Weise anhaften." Trotzdem
+verfiel Ostwald in den Irrtum, die Energie, einen bloßen dynamisch
+interpretierten Beziehungsbegriff, selbst zu einer Substanz zu
+hypostasieren. Nicht minder war es vollständig unbegründet, auch das
+Psychische in die Energiearten einzureihen, obgleich ihm die
+Grundvoraussetzung, als natürliche Energieart zu gelten, die
+Meßbarkeit, fehlt und der ichartige monarchische Aufbau der
+Bewußtseinserscheinungen im Widerspruch zu dieser Auffassung steht.
+Völlig ungelöst blieb auch das Problem des organischen Lebens, ebenso
+ungelöst wie innerhalb der mechanischen Lebenslehre. Aber auch
+innerhalb des Anorganischen bewährte sich die Energetik auf die Dauer
+nicht. Die Kritik, die insbesondere Boltzmann und W. Wundt an den
+"Vorlesungen" geübt haben, ist durch die Entwicklung der
+Naturwissenschaften, insbesondere durch den glänzenden Sieg der
+Atomistik und der mechanischen Wärmelehre durchaus bestätigt worden.
+Ganz und gar unzureichend aber sind de Versuche Ostwalds gewesen (s.
+bes. "Philosophie der Werte"), die Probleme der Ethik, der
+Gesellschaft, der Zivilisation und Geschichte auf dem Boden der
+"Energetik" zu verstehen. Daß an die Stelle des kategorischen
+Imperativs der [sic] energetische Imperativ: "Vergeude keine Energie,
+verwerte sie" treten soll, mutet fast wie ein schlechter Scherz an. Und
+nicht minder mutet so an eine Erklärung, die Ostwald auf dem Hamburger
+Monistenkongreß von 1911 gibt, in der es heißt: "Denn alles, was die
+Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in den
+Begriff /Gott/ zusammengedrängt hatte, wird uns von der Wissenschaft
+erfüllt." Ostwalds rein technologische Betrachtung der Weltgeschichte,
+die, der deutschen Organisationssucht ein philosophisches Mäntelchen
+umhängend, jede geschichtliche Aufgabe zu einer "Organisationsaufgabe"
+macht, ist so kindlich, daß sie eine Kritik kaum verdient; nicht minder
+seine Meinung, das ästhetische Gefühl und die Kunst hätten nur soweit
+Bedeutung, als sie der wissenschaftlichen Arbeit Pionierdienste
+leisten, und es werde darum bei reifender Wissenschaft die Kunst einmal
+völlig aus der Welt verschwinden. In der Soziologie hat Ostwald einen
+ernsten Schüler gehabt, de noch stark in die Gegenwart hineinwirkt. Es
+ist der Wiener Soziologe und Vorsitzende des Österreichischen
+Monistenbundes R u d o l f G o l d s c h e i d. Sein Werk über
+"Höherentwicklung" und "Menschenökonomie" hat sowohl der
+Bevölkerungslehre wie der Sozialpolitik reiche und wertvolle Anregungen
+vermittelt, wenn auch sein einseitig durchgeführter Versuch, den
+Menschen selbst (ähnlich wie in der Sklavenwirtschaft) rechnungsmäßig
+als bloßen Wirtschaftswert einzustellen und eine möglichst sparsame
+Verwendung dieses "Wertes" zu fordern, soziologisch unhaltbar ist. Eine
+Auflösung der Ethik in Ökonomie hat Goldscheid nie versucht. Ein
+bedeutender Vertreter des Monismus, der auch in der Gründung und
+Entwicklung des Monistenbundes eine große Rolle gespielt hat, war der
+kürzlich verstorbene Wiener Psychologe und Ethiker Friedrich Jodl.
+Sowohl sein "Lehrbuch der Psychologie" wie vor allem seine
+großangelegte "Geschichte der Ethik" sind wertvolle und anregende
+Bücher, wenn sie auch in einseitiger Weise allen freidenkerischen und
+antikirchlichen Bestrebungen einen ihnen auch wissenschaftlich nicht
+zukommenden überragenden Wert beilegen. Wie sehr die ganze
+philosophische Richtung des Monismus von p o l i t i s c h e n, d. h.
+außerphilosophischen Tendenzen beherrscht ist, beweist ihr am 1. Januar
+1906 erfolgter Zusammenschluß zu der Organisation des "Deutschen
+Monistenbundes". Ostwald schloß den ersten Hamburger Kongreß mit dem
+Satze: "Ich eröffne das monistische Jahrhundert"; sein
+Ehrenvorsitzender war E. Haeckel, sein Vorsitzender der Bremer Pastor
+Albert Kalthoff, der, stark von Nietzsche angeregt, an den
+Junghegelianer Bruno Bauer anknüpfend, die historische Existenz Christi
+in seinen Schriften geleugnet hatte, und in loser Berührung mit den
+linksliberalen Pastoren Jatho und Traub den christlichen Kirchen eine
+scharfe Kampfansage stellte. Wider den Monismus gründete [sic] dann im
+Jahre 1907 der Kieler Naturforscher J. Reinke und E. Dennert den
+sogenannten "Keplerbund", der sich umgekehrt die Aufgabe setzte, die
+Vereinbarkeit der modernen Naturwissenschaft mit der theistischen
+Weltanschauung zu erweisen. Sehr mit Unrecht ist die Verbreitung der
+monistischen Weltanschauung häufig der Sozialdemokratie und ihren
+Führern zugeschrieben worden. Geistesgeschichtlich ist diese Auffassung
+grundfalsch. Die Führer des Monismus standen politisch zumeist den
+nationalliberalen Anschauungen sehr nahe (z. B. Haeckel selbst), und
+bei vielen von ihnen findet sich sogar eine ausgeprägte alldeutsche
+Tonart. Wie tief Karl Marx und Engels auf den Materialismus des
+deutschen Kleinbürgertums herabblickten, ist aus ihren Äußerungen
+genugsam bekannt.
+
+Während die monistische naturalistische Denkrichtung eigentlich nur
+kulturhistorisches und für die deutsche Mentalität vor dem Kriege
+bestimmendes Interesse bietet, sind die anderen heute noch lebendigen
+philosophischen Systeme auch rein philosophisch von Bedeutung. Das gilt
+gleich sehr von der Wirkung Fichtes, Hegels und Schellings wie von
+jener Lotzes, Fechners, E. von Hartmanns, R. Euckens und W. Wundts.
+Diese Systeme können hier nicht geschildert werden: nur was sie für die
+ g e g e n w ä r t i g e Philosophie als mitbestimmende Momente noch
+bedeuten, sei kurz erwähnt. Die geringste Wirkung von all den Genannten
+hatte merkwürdigerweise in Deutschland der zeitlich nächste letzte
+große Systematiker der deutschen Philosophie, Wilhelm Wundt. Als
+Darstellungen seines Systems sind empfehlenswert O. Külpe in der
+"Philosophie der Gegenwart", E. König: "W. Wundt", 1909 und R. Eisler:
+"Wundts Philosophie und Psychologie", 1902. Ein Grund für die geringe
+Wirkung des ausgezeichneten Forschers und Gelehrten in der Philosophie
+mag darin gelegen sein, daß seine Erkenntnistheorie und seine
+Metaphysik beiderseits an großer Vagheit und Unbestimmtheit leiden, das
+Ganze seiner Philosophie aber trotz seiner Überladenheit mit
+Gelehrsamkeit etwas überaus Farbloses und Blutloses besitzt. Auch ein
+häufiges Schwanken (z. B. zwischen Idealismus und Realismus in der
+Erkenntnistheorie, zwischen psychophysischem Parallelismus als
+metaphysischer Hypothese und methodologischer Maxime, zwischen
+Relativismus und Absolutismus in der Ethik, Theismus und
+Willenspantheismus in der Lehre vom Weltgrund) mag gleichfalls zu
+dieser Unwirksamkeit beigetragen haben.
+
+R u d o l f E u c k e n, der schon an der Grenze steht zwischen
+wissenschaftlicher Philosophie und jener früher charakterisierten
+philosophischen Erbauungsliteratur, hat eine weit stärkere Wirkung als
+Wundt entfaltet sowohl in Deutschland, wie im Auslande; ein deutliches
+Zeichen davon ist in letzterer Hinsicht der Nobelpreis. Dieser Denker
+ist von gleichbedeutenden Kritikern sehr verschieden beurteilt worden.
+Die einen sehen in der Verbindung von Prediger, Metaphysiker und
+Forscher, von homo religiosus und Denker, die Eucken darstellt, etwas
+besonders Wertvolles und weisen hin auf den reichen intuitiven Gehalt
+seines Werkes; die anderen beklagen den Mangel an Anatomie in seinen
+Gedanken, die Unverbundenheit seiner Philosophie mit den
+Wissenschaften, die unmethodische Art seines Denkens und die große
+Unbestimmtheit und Vagheit des eigenartigen persönlichen Stiles seiner
+Darstellung. Mögen beide in gewissem Maße recht haben, so kommt Eucken
+vor allem das entschiedene V e r d i e n s t zu, in einer Zeit, da
+die Philosophie zu einer bloßen Anmerkung zu den positiven
+Fachwissenschaften zu werden drohte, ihre Ansprüche festgehalten zu
+haben, eine Metaphysik und gleichzeitig eine den Menschen formende
+Lebensanschauung zu geben. Ausgegangen von F. A. Trendelenburg (gest.
+1872), eine Zeitlang auch Schüler Lotzes, hat Eucken mit starker
+Anknüpfung an Fichtes Tatidealismus seinen "Idealismus des
+Geisteslebens" zu begründen unternommem. Sein bedeutendstes Werk
+(leider am wenigsten gelesen) ist das 1888 erschienene "Die Einheit des
+Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit" in dem er seine
+personalistisch-theistische Philosophie nicht durch Sachuntersuchungen
+der philosophischen Probleme, sondern aus einer Kritik des Panlogismus
+Hegels und des Naturalismus hervorwachsen läßt. In den
+"Lebensanschauungen der großen Denker" und der "Geistigen Strömungen
+der Gegenwart" (ursprünglich "Grundbegriffe der Gegenwart"), die der
+wissenschaftlichen Philosophie noch am nächsten stehen, nimmt er aus
+der Geschichte der Philosophie das wesentlich "Lebensanschauliche"
+heraus und legt es im Sinne seiner Philosophie aus. Die Bücher "Der
+Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", "Der Wahrheitsgehalt der
+Religion", "Erkenntnis und Leben" und "Grundlinien einer neuen
+Lebensanschauung" wiederholen in immer neuen Wendungen dieselben
+Grundgedanken. Das Wertvolle dieser Gedanken ist weniger in ihrer sehr
+mangelhaften theoretischen Begründung gelegen als in ihrer das
+Bewußtsein der Selbständigkeit des Geistes trotz aller tiefempfundenen
+und in der endlichen Erfahrung unlösbaren Konflikte des menschlichen
+Daseins energisch aufweckenden Kraft. Eucken war in einem überwiegend
+praktisch-materialistischen Zeitalter einer der stärksten S e e l e n e
+r w e c k e r, die Deutschland besessen hat. Reinsten germanischen
+Blutes (Friese), besitzt er in seltener Weise Vorzüge und Fehler des
+germanischen Geistes: eine ahnungsvolle Intuition übersinnlicher
+Realitäten, ein energisches Festhalten dieser Realitäten inmitten
+tiefst empfundener Widerstände der "Welt" gegen die Verwirklichung der
+geistigen Forderungen; aber auch alle Vagheit und Nebelhaftigkeit,
+Unbestimmtheit und Dunkelheit nordischen Geistes. Das "Geistesleben",
+das bei ihm zwischen historischer Realität und metaphysischer Potenz
+eigenartig in der Mitte schwebt, wird von dem natürlichen Seelenleben,
+das der Mensch mit dem Tiere teilen soll, scharf unterschieden. Es soll
+in "noologischer Methode" (eine eigentümliche Erweiterung der Methode
+Kants) nicht durch Introspektion, sondern an seinen W e r k e n und
+Systemen des Lebens ("Syntagmen") studiert werden. Es soll nicht nur in
+jeder Einzelseele, sondern auch in den großen kollektiven Gruppen der
+Geschichte als selbständig tätig aufgefaßt werden. Trotzdem soll es in
+scharfem Gegensatz zum Hegelschen Panlogismus nur durch tätige
+Ergreifung des Einzelmenschen diesen zur "Persönlichkeit" und zur
+"Wesensbildung" erhöben. So ist Eucken im letzten Grunde mehr
+theistischer Personalist als Pantheist, obgleich eine starke
+pantheistische Ader seine Philosophie durchzieht. Mit Methoden, die
+denen Pascals in den "Pensées" ähnlich sind, sucht Eucken mit starker
+Heranziehung dessen, was er für den relativen Wahrheitsgehalt der
+naturalistischen und pessimistischen Systeme hält, zu zeigen, daß
+dieses "Geistesleben" in der Welt verloren und in letzter Linie
+bedeutungslos ist, wenn es nicht aus einem geistigen W e l t g r u n
+d e immer neu schöpferisch herströmend und in die Menschenseelen
+einquellend verstanden und geschaut wird. Während die ältere
+Philosophie die Vernunft des Menschen zum Reiche der "Natur" rechnete
+und ihr das Reich der "Übernatur", der "Gnade" entgegensetzte, wird die
+zum Geistesleben erweiterte Vernunft des Menschen bei Eucken selbst
+etwas "Übernatürliches". Das macht den g n o s t i s c h e n
+Charakter der Euckenschen Philosophie aus, die Religion und Metaphysik
+in einem für sie beide unstatthaften Sinne vermischt.
+
+Die Philosophie Fechners, der durch seine Begründung der Psychophysik
+neben Wundt als der eigentliche Begründer der Experimentalpsychologie
+gelten muß, hat auf die gegenwärtige Philosophie eine nur geringe
+Wirkung ausgeübt. Sein Versuch, die Empfindung als psychische Größe
+nachzuweisen und sie durch die Einheit des eben merklichen
+Empfindungsunterschiedes zu messen, ist sowohl nach seinen
+methodologischen Voraussetzungen als nach seiner psychologischen
+Voraussetzung hin (man könne die Empfindung unabhängig von den
+Aufmerksamkeitsschwankungen überhaupt im Bewußtsein vorfinden) fast
+allgemein zurückgewiesen worden. Stark wirkte zeitweise seine Lehre vom
+psychophysischen Parallelismus, die, wie wir noch sehen werden,
+freilich in der Gegenwart gleichfalls an Einfluß stark verloren hat.
+Seine eigentliche Metaphysik der "Tagesansicht" und der Allbeseelung
+hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die ihr meines
+Erachtens innewohnt. Auch die nächststehenden Forscher, wie Ebbinghaus
+und Wundt, haben diese Seiten seiner Philosophie meist als bloße
+"Poesie" und Begriffsdichtung abgelehnt. Was allein bis heute einen
+Einfluß ausübt, ist der auch von E. von Hartmann aufgenommene Gedanke
+einer "induktiven Metaphysik". Sie beruht bei Fechner auf den beiden
+Grundsätzen, daß, was in einem Teile der Welt als unauflösbare Grundart
+des Seienden enthalten ist, auch im Ganzen enthalten sein müsse
+(Mikrokosmos- und Makrokosmoslehre), und daß wir vermittels der Analogie
+in der Lage seien, unser Wissen über das unmittelbar und mittelbar in
+der Erfahrung Gegebene kontinuierlich zu erweitern. Diesen Gedanken
+haben auch viele moderne Metaphysiker, so Külpe, Driesch, Stern,
+Becher, Scheler und andere, aufgenommen. Eine starke Wirkung hatte
+Fechners teleologische Ganzheitsbetrachtung der E r d e als des
+besonderen Leibes und Ausdrucksfeldes einer Erdseele in der modernen
+Geographie. In diesem Sinne sind Ratzels Arbeiten und noch mehr die
+gegenwärtigen Arbeiten des Wiener Kulturgeographen Hanslick stark von
+Fechner beeinflußt. Wie immer man über Fechners Resultate urteilen mag,
+es muß als eine recht unerfreuliche Tatsache bezeichnet werden, daß die
+stets tiefsinnigen und sinnreichen Betrachtungen dieses seltenen
+Geistes, die dazu in Stil und Ausdruck für weitere Kreise der
+Gebildeten geschrieben sind, so sehr wenig gelesen werden. Daß ein
+Haeckel so viel und ein Fechner so wenig in Deutschland gelesen wurde,
+ist eine für die Mentalität des deutschen Volkes vor dem Kriege recht
+charakteristische Tatsache.
+
+Hermann Lotze (1817-1881) wirkt in die Gegenwart insbesondere nach zwei
+Richtungen herein: einmal durch seine "Logik" (auch in der
+"Philosophischen Bibliothek" erschienen 1912), deren Kapitel "Über die
+platonische Ideenlehre" auf die neukantischen Schulen und auch auf
+Husserl stark gewirkt hat, und durch seine Lehre von der
+psychophysischen Wechselwirkung. Außer diesen beiden Bestandteilen
+seiner Philosophie und abgesehen von seinen Wirkungen auf die
+Psychologie (besonders seine Theorie der Lokalzeichen) hat nur noch der
+metaphysische Gedanke Lotzes eine stärkere Wirkung geäußert, daß eine
+Wechselwirkung zwischen einer Vielheit von Dingen nur möglich sei, wenn
+ein und dasselbe ganze, aber von ihnen unterschiedene Seiende, in allen
+gemeinsam tätig und von allen gemeinsam reizbar sei. Diesen Gedanken
+hat z. B. auch Driesch in seine "Wirklichkeitslehre" aufgenommen.
+Lotzes großes geschichtsphilosophisches Werk "Mikrokosmos" (5. Auflage
+1909) hat wohl wegen seines allzu gewundenen ziselierten und koketten
+Stiles nicht die Wirkung geübt, die ihm vermöge seines Gedankengehaltes
+zugekommen wäre. Für den Fortschritt einer Philosophie der Biologie
+waren Lotzes Artikel über "Lebenskraft" und über "Seele und
+Seelenleben" in Wagners "Handwörterbuch der Physiologie" in denen er
+für Physiologie und Biologie eine strenge Durchführung der
+mechanistischen Methode fordert (um dann erst dem Ganzen des
+Weltmechanismus hinterher eine ideale und teleologische Bedeutung zu
+geben), nach meiner Ansicht starke Hindernisse. Sie gaben der in
+unserem Lande besonders stark verbreiteten mechanistischen
+Lebensauffassung, besonders bei den Naturforschern, ein gutes Gewissen
+-- das eine aufrichtige und genaue Betrachtung der Tatsachen nicht im
+entferntesten gerechtfertigt hätte. Die stark kokette und süßliche
+Christlichkeit Lotzes konnte in religiöser und theologischer Hinsicht
+tiefere Geister nicht gewinnen. Immerhin haben insbesondere seine Lehre
+von Wert und Werturteil auf die Ritschlsche Theologie und Dogmatik
+stark eingewirkt, wenn sie sich freilich hier auch meist mit
+neukantischen und positivistischen Voraussetzungen verbanden. In der
+Ästhetik endlich wurde Lotze durch seine Lehre von der "Einfühlung"
+auch auf die letzten bedeutenden Einfühlungsästhetiker der Gegenwart,
+auf Lipps und Volkelt, erheblich wirksam.
+
+Die einzige Persönlichkeit, deren geistige Spannweite alle
+philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfaßte und dazu alle
+Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr
+System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden
+inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der einseitigen
+Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht hat, war E d u a
+r d v o n H a r t m a n n (1842-1906). Es ist eine der merkwürdigsten
+Tatsachen in der deutschen Geistesgeschichte, daß dieses reifste,
+durchdachteste, alle Wissensgebiete und die Religion umfassendste
+Gedankensystem, welches die zweite Hälfte des Jahrhunderts überhaupt
+hervorbrachte, nach anfänglichem Tageserfolg der "Philosophie des
+Unbewußten" (1869) auf die wissenschaftliche Philosophie zunächst kaum
+eine Wirkung ausgeübt hat. Der große Denker versuchte vergebens, einen
+Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten. Gewiß besteht der Grund
+nicht nur in der allgemeinen Metaphysikscheu der Zeit und der
+einseitigen Herrschaft neukantischer und positivistischer Richtungen;
+ein Teil der Gründe liegt auch in der Eigenart der Philosophie
+Hartmanns und der Persönlichkeit ihres Urhebers selbst. Bei aller Kraft
+logischer Organisation großer Stoffmassen, bei all seinem ungeheueren
+Wissen und seiner Gelehrsamkeit gebrach dem Forscher ein unmittelbares
+originäres Verhältnis zur Welt. Seine Philosophie ist mehr eine überaus
+kunstvolle Verbindung von philosophischen Gegebenheiten (Schelling,
+Hegel, Schopenhauer, Lotze, moderne Naturwissenschaft und Psychologie)
+als ein neues Wort. Darin bildet er den größten Gegensatz zu
+Schopenhauer, der an logisch-synthetischer Kraft ihm weit unterlegen
+ist, aber, wie er selbst an seinen Verleger schrieb, den unmittelbaren
+"Eindruck", den die Welt auf ihn gemacht, in seiner Philosophie schon
+als Jüngling wiedergab. Auf Hartmanns System kann hier nicht
+eingegangen werden. Sein in Karlsruhe lehrender Schüler Arthur Drews
+hat die beste Darstellung von ihm gegeben: die bekannten, von Hartmann
+selbst verfaßten "Grundrisse" führen am besten in es ein. Um so
+merkwürdiger ist es nun aber, daß die g e g e n w ä r t i g e
+Philosophie begonnen hat, die großen Werte auszuschöpfen, die in seinem
+Werke zweifellos vorhanden sind. Abgesehen von den bedeutenden
+Leistungen seines Schülers A. Drews und einigen Antrieben, die er dem
+vielversprechenden Leopold Ziegler gegeben hat (vor kurzem hat sich
+dieser freilich in einer kritischen Schrift, "Hartmanns Weltbild", ganz
+von Hartmann abgewandt, indem er, ohne dem Denker gerecht zu werden,
+seine Lehre sehr einseitig an den Ansichten Rickerts mißt), hat sich W.
+Windelband für die Bedeutung Hartmanns eingesetzt. Besonders ist es
+seine "K a t e g o r i e n l e h r e", sein subtilstes und gewaltigstes
+Werk, das sowohl auf Windelband als auf Rickerts Schüler, E. Lask,
+stark gewirkt hat. Die Unterscheidung der "Reflexionskategorien" von
+den "Spekulativen Kategorien" die Unterscheidung ferner der drei
+Wirklichkeitssphären, der phänomenalen, objektiv realen und
+metaphysischen Sphäre, die Auffassung, daß die Relationskategorie der
+Ausgangspunkt der Ableitung a l l e r Kategorien sein müsse, die
+Ansicht, daß die Kategorien die Ergebnisse unterbewußter synthetischer
+Kategorialfunktionen seien, die nur in ihrem Ergebnis in das Bewußtsein
+hereinfallen (ihr hat sich auch G. Simmel in seinem Kantbuch
+angeschlossen), hat stark auf die Kategorienlehre der Gegenwart
+eingewirkt. Ferner erscheint Hartmann als einer der ersten Vorkämpfer
+des nunmehr siegreich vordringenden erkenntnistheoretischen R e a l i s
+m u s gegenüber allen Formen des Bewußtseinsidealismus. Hier war es
+besonders J. Volkelt, der in seinen Arbeiten "Über Erfahrung und
+Denken" und "Die Probleme menschlicher Gewißheit" die Hartmannsche
+Auffassung übernommen hat, daß unsere überall diskontinuierliche und
+durchbrochene, rein passive Bewußtseinswelt durch die Realsetzung einer
+außerbewußten Natur und die Setzung unter- und unbewußter psychischer
+Seins- und Wirksphären gedanklich ergänzt werden müsse, um einen
+rationellen Zusammenhang zu bilden. So wenig ich diese Richtung der
+Begründung des Realismus für aussichtsreich halte, scheint mir der
+gegenwärtige Gang zum Realismus doch von diesen Vorkämpfern stark
+abhängig. Auf den heute ungemein wirksamen Denker Hans Driesch hat E.
+von Hartmann in mehreren Richtungen eingewirkt: 1. mit durch Volkelts
+Vermittlung in erkenntnistheoretischer Hinsicht; 2. in der Auffassung,
+daß es keine b e w u ß t e n "Akte und Tätigkeiten" gebe, diese
+vielmehr zu dem rein passiven Bewußtseinsinhalt erst hinzu erschlossen
+seien (siehe Driesch: "Erkennen und Denken"); 3. in der Lösung des
+Problems der möglichen Koexistenz der mechanischen Zentralkräfte und
+Gesetze mit Gestalt und Richtung bestimmenden, mechanischen, unbewußten
+Oberkräften, durch deren Annahme der gewöhnliche Naturbegriff zwecks
+Erklärung der Lebenserscheinungen eine Erweiterung erfährt; 4. auch
+Hartmanns Lehre, daß es einen Parallelismus zwischen bewußten
+seelischen Erscheinungen, erschlossenen seelischen Tätigkeiten und den
+die organischen Formen und die Bewegungsreaktion der Organismen
+bestimmenden Tätigkeiten der vitalen Oberkräfte gebe, ist von Driesch
+und in einiger Modifikation auch von dem Referenten übernommen worden.
+Auch die gegenwärtige starke Bewegung zu einer r e a l i s t i s c h e
+n P s y c h o l o g i e im Unterschiede von bloßer
+Bewußtseinspsychologie (Külpe, Scheler, M. Geiger, Driesch, in gewissem
+Sinne auch S. Freud, W. Stern) ist zuerst in E. von Hartmanns Lehre in
+die Erscheinung getreten. Wesentliches von Hartmann übernommen hat
+ferner auch W. Stern in seinen originellen und zukunftsreichen Arbeiten
+"Person und Sache" und "Die menschliche Persönlichkeit". Besonders in
+der Annahme psychophysisch indifferenter zieltätiger Kausalfaktoren,
+die sich gleichzeitig in den physiologischen Vorgängen und Reaktionen,
+wie in den Bewußtseinsprozessen auswirken, steht Stern Hartmann nahe.
+Die methodische Auffassung der Metaphysik als induktiver und nur
+wahrscheinlichen Erkenntnis, die nur gradweise über die Realsetzungen
+der positiven Wissenschaften hinausgeht und das falsche Idol, gegen das
+Kant kämpft, das Idol einer absolut gewissen und apriorischen
+Begriffsmetaphysik, verwirft, hat unter den gegenwärtigen Metaphysikern
+viele Anhänger. Die naturphilosophischen Lehren Hartmanns, besonders
+soweit sie sich auf die anorganische Welt beziehen, sind dem heutigen
+Wissensstande der Physik nicht mehr angepaßt; was aber nicht
+ausschließt, daß seine Kraftzentrenhypothese, nach der aller Stoff nur
+eine bewußtseinsideale Erscheinung ist, in modifizierter Form wieder zu
+Ehren kommt. In der Religionsphilosophie hat Hartmann den sogenannten
+"konkreten Monismus" vertreten, der dem substanzialen Weltgrund ein
+logisches und alogisch-dynamisches Attribut zuschreibt, aus deren
+Kooperation und Widerstreit der gesamte Weltprozeß erklärt werden soll.
+Durch A. Drews sind diese Gedanken auch in die allgemeine m o n i s t i
+s c h e Bewegung eingeflossen. Den Wert dieser pessimistischen, Hegel,
+Schopenhauer und den späten Schelling verknüpfenden Metaphysik können
+wir ebensowenig als zukunftsreich erachten, als die willkürlichen
+geschichtsphilosophischen Konstruktionen Hartmanns, nach denen Paulus
+der Stifter des Christentums gewesen sei, und nicht in der
+Persönlichkeit Christi, sondern in den pantheistisch ausgedeuteten I d
+e e n d e r Gottmenschheit und der Erlösung das eigentliche Wesen des
+Christentums getroffen sei. A. Drews ist in seiner "Christusmythe" von
+diesen Anregungen Hartmanns her dazu gekommen, das Christentum als eine
+Schöpfung der allgemeinen Religionsgeschichte verstehen zu wollen und
+die historische Existenz Jesu ganz zu leugnen.
+
+Die zweitälteste Schicht der gegenwärtigen Philosophie besteht in den
+an K a n t anknüpfenden erkenntnistheoretischen Denkrichtungen. So sehr
+sich nach meiner Ansicht diese Denkrichtungen in unaufhaltsamem
+Niedergang befinden, nehmen sie, dem Gesetz der historischen Trägheit
+folgend, doch noch einen sehr erheblichen Raum in der deutschen
+akademischen Philosophie ein. Mit Ausnahme der jüngsten, der durch
+Nelson erfolgten Wiedererweckung der Philosophie des Jenenser Physikers
+und Philosophen Jakob-Friedrich Fries, stammen sie alle aus der Zeit,
+da die deutsche Philosophie in den sechziger Jahren des vorigen
+Jahrhunderts durch den Rückgang auf Kant (zuerst O. Liebmann "Zurück zu
+Kant") sich wieder ein akademisches Existenzrecht zu erwerben suchte.
+Es sind v i e r Hauptgruppen kantianisierenden Denkens, die unter uns
+noch lebendig sind. Der neukritizistische Realismus ist besonders von
+Alois Riehl vertreten worden in seinem Werk "Der philosophische
+Kritizismus" und in seiner schönen und klaren "Einleitung in die
+Philosophie der Gegenwart". Das "Ding an sich", das die Marburger und
+Badener Schule vollständig ausscheiden, wird von Riehl als kausativer
+Faktor, auf dem die Materie der Empfindung beruhen soll, festgehalten.
+Unser Verstand erzeugt nicht das Sein der Gegenstände, sondern gibt nur
+ihrem Gegenstandsein die apriorische Form. Die logisch-synthetische
+Einheit des Bewußtseins ist nach Riehl die oberste Voraussetzung für
+die Gegenstände der Erfahrung. Ihm entspricht das synthetische
+Identitätsprinzip, von dem auch die Kausalität (ähnlich wie bei Herbart
+und Lipps) nur eine bestimmte Anwendung auf zeitliche Geschehnisse sein
+soll. Die Zeit- und Raumlehre Kants sucht Riehl mit den modernen
+empiristischen Theorien der Entstehung des Zeit und Raumbewußtseins zu
+versöhnen. Die O r d n u n g e n des zeitlichen und räumlichen
+Auseinander und Nacheinander werden nach ihm nicht durch die
+Anschauungsformen von Raum und Zeit, sondern durch die Dinge an sich
+selbst bestimmt.
+
+Neben der theoretischen Philosophie, die hier ausschließlich auf
+Erkenntnistheorie und Logik der exakten Wissenschaften beschränkt
+erscheint, gibt es noch eine Philosophie als "Weisheits- und
+Weltbegriff" die dem Menschen ein sittliches Ideal vor die Seele
+stellt. Aus der praktischen Philosophie Kants hebt Riehl ausschließlich
+die Autonomie der Persönlichkeit hervor, verwirft aber den
+kategorischen Imperativ; nicht minder verwirft er die gesamt religiöse
+Glaubens- und Postulatentheorie Kants. Metaphysisch nennt sich auch
+Riehl "Monist" (kritischer Monismus), indem er annimmt, daß das
+Psychische und Physische nur zwei Betrachtungsweisen ein und derselben
+Wirklichkeit sind, die uns in ihrem Wesen unerkennbar ist und durch die
+Religionen nur auf Grund verschiedener sittlicher Lebenserfahrungen
+verschiedenartig ausgewertet wird. Riehl wirkt in der gegenwärtigen
+Philosophie nur wenig mehr. Angeregt von ihm sind Hönigswald und E.
+Spranger.
+
+Die weitaus w i r k s a m s t e, an bedeutenden Persönlichkeiten
+reichste und vielseitigste neukantische Richtung ist auch gegenwärtig
+noch die von Hermann Cohen gegründete Schule von Marburg. Hermann Cohen
+(1842-1918) hat sich durch eine Reihe kanthistorischer und
+kantphilologischer Schriften hindurch erst sehr langsam zu einem
+eigenen, großangelegten System hindurchgearbeitet, mit dem er in seinen
+drei Werken: "Logik der reinen Erkenntnis", "Ethik des reinen Willens"
+und "Ästhetik des reinen Gefühls" wenige Jahre vor seinem Tode
+hervorgetreten ist. Zweifellos ist Cohen der herrschende Geist der
+Schule, freilich darum nicht auch derjenige, der am meisten in die
+Breite gewirkt hat. Seltsame Vorzüge und Fehler vereinigte er in sich.
+Auf dem Hintergrund einer patriarchalischen, ehrfurchtgebietenden
+Denkerwürde, durch die allein schon er den Schüler leicht mit der
+Überzeugung erfüllte, daß der Weltlogos in ihm selber und in jedem, der
+ihm folge, tätig sei, hebt sich sein philosophisches Werk ab.
+Talmudischen Scharfsinn verbindet er mit einer seltsamen Dunkelheit, ja
+häufigen Abstrusität der Darstellung, auch in diesem Punkte dem stark
+auf seine Auffassung des Ding-an-sich-Begriffes wirksamen Moses Maimon
+nicht unähnlich. Aber diese beiden Eigenschaften sind nicht die
+stärksten und wesentlichsten seiner Natur. Was ihn vor allen anderen
+Mitgliedern der Schule auszeichnete, das war eine freilich nur
+stellenweise in Vortrag und Werken hervorbrechende, Kant wahrhaft
+kongeniale Plastik des geistigen Schauens und der Darstellung; eben der
+Zug an Kant, der Goethe bei Lektüre der "Kritik der Urteilskraft"
+veranlaßt haben mag, zu sagen, "man trete in ein helles Zimmer", wenn
+man Kant lese. Dazu ging ein mächtiges, echtes und ernstes, sittliches
+Pathos von ihm aus. Wenige erkannten so wie er die Niedergangszeichen
+des Wilhelminischen Zeitalters, die Vergötzung von Macht und Geld, von
+Nation und Staat. Die ganze Reinheit und Klarheit der Denkweise des
+Kantianismus der Männer der Befreiungskriege schien in ihm, lebendig
+geworden und in seiner Person vor der Zeit anklagend zu stehen. Diese
+Denkweise verband sich aber merkwürdigerweise bei ihm mit einem sehr
+bewußten Judaismus. Freilich mit einem Judaismus, der, auf dem Ethos
+der Propheten des Alten Bundes beruhend, nicht nur alle ritualistischen
+und nomistischen Elemente des Judentums, nicht nur alle mystischen und
+pantheisierenden kabbalistischen Elemente die sich ihm später
+ansetzten, sondern auch den historisch gegebenen Theismus von ihm
+abstreiften. Die Gottesidee war Cohen nur der Garant der "Einheit der
+Menschheit" und gleichzeitig ein notwendiges sittliches Vernunftideal.
+Von Karl Marx und den deutschen sozialistischen Theoretikern hatte er,
+ähnlich wie schon A. Lange (s. s. "Arbeiterfrage"), eine Reihe
+Grundsätze in sein ethisches und soziales System aufgenommen; besonders
+den von ihm aus dem Nationalen ins menschheitlich Abstrakte erhobenen
+jüdischen Messianismus, nach dem alles geschichtlich Gegebene nur von
+einem sittlichen Zukunftsideal her aufgefaßt und beurteilt werden kann;
+das verband ihn mit Marx, der diesen Messianismus nur unter seiner
+dogmatischen ökonomischen Geschichtsauffassung verhüllt hatte. Nur so
+ist es zu verstehen, daß auf dem Boden des Marburger Kantianismus auch
+eine neue theoretische Fassung des Sozialismus erwuchs, die besonders
+von Eduard Bernstein (Revisionismus), von Paul Natorp, von Vorländer
+und in manchen Kreisen der "Sozialistischen Monatshefte" vertreten
+wurde. An H. Cohen schloß sich Paul Natorp an, der in seinen Schriften
+die neukantische Lehre zwar weit klarer und für eine philosophische
+Schulbildung eindeutiger und systematisierter vertrat als der Meister,
+aber weder dessen Tiefe noch dessen Schwung nahekam. Als dritter
+bedeutendster Vertreter der Schule ist Ernst Cassirer zu nennen, der in
+seinen geschichtlichen und systematischen Werken der neukantischen
+Lehre vielleicht den schärfsten, präzisesten und gegenwärtig
+wirksamsten Ausdruck gegeben hat.
+
+Der Marburger Kantianismus weicht von dem historischen Kant in sehr
+weitgehendem Maße ab. Vollständig wird verworfen die Realsetzung eines
+Dinges an sich. Cohen interpretiert Kant dahin, das Ding an sich sei
+bei Kant nur eine didaktische Anpassung an den naiven Realismus des
+Lesers; in Wirklichkeit bedeute diese Wortverbindung nur einen
+"Grenzbegriff unserer Erkenntnis" nämlich das Fernziel eines
+unendlichen Erkenntnisprogresses. Diese Auffassung ist der von Maimon
+sehr ähnlich. Daß sie historisch als Kantinterpretation falsch ist,
+duldet heute keinen Zweifel. Indem so eine transzendente Wirklichkeit
+nicht nur nach ihrer Erkennbarkeit, sondern auch nach ihrem Dasein
+geleugnet wird, wird der Boden frei für einen neuen E r k e n n t n i s-
+und W a h r h e i t s b e g r i f f, den nach der Marburger Lehre
+Kant aufgestellt habe. Erkennen bedeute nicht Abbildung, aber auch
+nicht zeichenartiges Bestimmen einer vorhandenen Gegenständlichkeit und
+Realität, sondern es bedeutet ideales "Erzeugen und Formen des
+Gegenstandes" selbst. Der Gegenstand sei nicht gegeben, sondern seine
+Erzeugung sei unserem Verstande nach den ihm einwohnenden Gesetzen
+aufgegeben. Die Naturgegenständlichkeit ist hiernach also ein
+ausschließliches Werk, freilich ein endlich nie vollendbares Werk, des
+denkenden Verstandes. Gegenständlichsein und Realsein heiße für einen
+Inhalt nichts anderes, als gesetzlich gedacht sein und im System der
+Gedanken und ihrer Relationen eine bestimmte Stelle haben. Aber von
+welcher Gegebenheit ausgehend, erzeugt so der Verstand die
+Naturgegenstände? Nach dem historischen Kant, auch nach Riehl und der
+südwestdeutschen Schule, ist ein anschaulicher Gehalt, die "Materie der
+Empfindung", gegeben. Anders nach H. Cohen. Er erklärt: "Wir fangen mit
+dem Denken an"; nichts darf dem Verstande gegeben sein, wenn er alles
+durch sich selbst erst bestimmen und erzeugen soll. "Empfindung" sei
+ein Ausdruck, der selbst erst mit Hilfe der Kausalrelation und des
+Reizgedankens zu definieren sei als dasjenige, was an unserem
+Wahrnehmungsgehalt reizbedingt sei; also können Empfindungen nicht
+gegeben sein; auch sie sind ein gesuchtes X, ein "Problem des
+Verstandes". Soll damit gesagt sein, daß der Verstand, so etwa wie bei
+Hegel, rein aus sich heraus die ganze Welt erzeuge? Das ist kaum die
+Meinung H. Cohens. Einmal gibt auch er zu, daß in der natürlichen
+Weltanschauung Dinge, Ereignisse, Raum, Zeit und Kausalität irgendwie
+gegeben seien, und zwar als bewußtseinsjenseitig; aber das macht das
+Eigentümliche der neukantischen Lehre aus, daß im Unterschiede zum
+historischen Kant die Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und die
+wissenschaftliche Erfahrung s c h r o f f getrennt und
+auseinandergerissen werden. Die Wissenschaft hat hiernach dem Gehalt
+der natürlichen Weltanschauung gar nichts zu entnehmen, auch nicht die
+Daseins f o r m e n und Strukturen dieser natürlichen Wirklichkeit,
+geschweige ihren Gehalt. Umgekehrt muß vielmehr die natürliche
+Weltanschauung und ihr Inhalt ihrerseits durch die Wissenschaft als
+physiologisches, psychologisches resp. biologisch zweckmäßiges
+Gesamtprodukt aus ursprünglichen Denksetzungen erklärt werden, die ihr
+-- konsequent -- also nicht entnommen sein können. Ferner kommt es zu
+dem zweideutigen Satze H. Cohens: "Nichts ist dem Denken gegeben," und
+das Denken erzeuge erst im Urteil des infinitesimalen Ursprungs die
+Realität nur dadurch, daß Cohen Existieren eines Gegenstandes,
+Gegenstandsein eines Seienden, Gegebensein und Bestimmtsein einander
+gleichsetzt. Das Apriori Kants soll, das wahr der ursprüngliche
+Wurzelpunkt der Marburger Lehre, nur im "transzendentalen" Sinne
+genommen werden, d. h. hier freilich nicht nur als objektiv logische
+Voraussetzung für die Möglichkeit der mathematischen Naturwissenschaft
+und ihrer Gegenstände, sondern wenigstens nach der Auslegung des
+späteren Systems auch als eine Grund l e g u n g, die unser Denken
+immer neu zu legen tätig ist. Die "Grundlage" wird also hier zur
+"Grundlegung". Auch die "Kategorien" sind nach der Marburger Lehre
+nicht etwa feste, auf einer Tafel ein für allemal zu bestimmende
+Schienen, in denen unser Denken laufen muß, sondern sie selbst sind
+eine prinzipiell unabgeschlossene Reihe reiner Denk e r z e u g u n g
+e n zum Ziele, je nach der gegebenen Problemlage, den unendlichen Prozeß
+der Wissenschaft fortzufahren. Nicht nur Ding an sich und
+Empfindungsgegebenheit fallen hier im Gegensatz zum historischen Kant
+weg, sondern auch die "Anschauungsformen" sowie die kantische Scheidung
+von formaler Logik, transzendentaler Logik und Theorie des
+Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteils. Die Anschauungsformen von Raum und
+Zeit werden für Cohen und Natorp Denkkategorien; sie lösen sich in
+einer an Leibnizer Lehre gemahnenden Weise in ein System idealer
+Relationen auf, und die gesamte Mathematik soll, von Funktionentheorie
+und Algebra angefangen bis zur Geometrie, streng kontinuierlich ohne
+Heranziehung von intuitiven Minima, ausschließlich als strenges
+apriorisches Denkerzeugnis betrachtet werden. Ferner fällt nach den
+Lehren der Marburger Schule der Unterschied zwischen Realwissenschaften
+und Idealwissenschaften vollständig dahin. Auch die theoretische Physik
+erscheint hier vollständig formalisiert (nicht minder in anderer
+Richtung Rechtsphilosophie und Kunstphilosophie). Der ganze
+Erkenntnisprozeß der "Wissenschaft" -- ein Begriff, der hier aufs
+einseitigste und noch einseitiger bei Kant an der mathematischen
+Naturwissenschaft orientiert ist, und zwar an der mathematischen
+Naturwissenschaft des newtonschen Zeitalters -- wird hier in
+anschauungsfreies Denken, und zwar in erzeugendes Denken aufgelöst.
+Alle Gegenstands- und Seinsprobleme werden künstlich in M e t h o d e n
+p r o b l e m e verwandelt. So auch der Unterschied des Psychischen
+und Physischen. Ein nicht zu übertreffender Scientivismus, der an die
+Stelle der Weltbegreifung ausschließlich die Begreifung der einen
+zusammenhängenden, den Kosmos aus dem Chaos erst e r z e u g e n d e n
+Wissenschaft rückt, ist eines der Hauptmerkmale der Marburger
+Philosophie. Die Rechtsphilosophie hat sich z. B. nicht direkt mit dem
+Rechte, die Kunstphilosophie nicht direkt mit der Kunst zu
+beschäftigen, sondern mit der Möglichkeit der Rechts- und Kunst w i s s
+e n s c h a f t. Die Wissenschaft selbst, die, wie Cohen sagt, in
+"gedruckten Büchern" vorliegt, ist also allein das für den Philosophen
+Urgegebene; sie erscheint hier wie vom Himmel gefallen. Auf die Art,
+wie von diesem Standpunkt aus das System der Kategorien hergeleitet
+wird, kann hier nicht ein gegangen werden. Die genannten Cohenschen
+Grundideen haben N a t o r p und C a s s i r e r sowie die übrige große
+Schülerschaft weiterentwickelt. Ein zweifelhafter Vorzug der Schule ist
+der Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer Interessen. Sie übertrifft
+hierin weit die übrigen Kantschulen. Natorp hat die Idee Cohens,
+zunächst in erkenntnistheoretischer Hinsicht, besonders in drei
+Richtungen weiterentwickelt: 1. in bezug auf die Theorie der
+mathematischen Naturwissenschaft, besonders in seinem Buche "Die
+Grundlagen der exakten Naturwissenschaft"; 2. in seiner, einer
+erkenntnistheoretischen Fundierung der Psychologie dienenden
+"Allgemeine Psychologie"; 3. in der Richtung der Ethik und
+Sozialpädagogik. Eine kurze geschickte Zusammenfassung seiner Ansichten
+hat er gegeben in den "Wegen zur Philosophie" unter dem Titel
+"Philosophie" 1918. Eine Art Geschichtsphilosophie des deutschen Volkes
+entwickelte er während des Krieges in seinem Buche "Deutscher
+Weltberuf". Ferner hat Natorp in seinem Werke über Platon versucht, die
+platonische Lehre mit Abstreifung alles dessen, was er bei Platon für
+"mythisch" hält, so zu deuten, daß an den "Ideen" Platons jeder
+dingliche Charakter verschwindet und sie als bloße "Gesetze", die unser
+denkender Geist selbst zur Grundlegung des Wirklichen hervorbringt,
+erscheinen. Schon mit diesem Werke, aber in vielleicht noch höherem
+Maße in den großen historischen Werken Ernst Cassirers über Leibniz und
+über "Geschichte der neueren Erkenntnistheorie" (in 3 Bänden) hat die
+Marburger Schule einen Weg beschritten, dessen fast einzigartig
+konsequente Verfolgung zwar ihrem eigenen System einen mächtigen
+geschichtlichen Halt zu geben scheint, der sich aber für eine objektive
+geschichtliche Auffassung der Philosophiegeschichte nach meiner Ansicht
+als geradezu ruinös erwiesen hat. Diese geschichtliche Auffassung der
+Philosophiegeschichte ist geleitet von der an Hegel gemahnenden Idee,
+daß die Geschichte der philosophischen Ideen eine strenge logische K o
+n t i n u i t ä t und einen streng logischen Sachfortschritt darstelle,
+bei dem die philosophierenden Personen, ihr ursprüngliches
+charakterologisches Verhältnis zur Welt, ferner Religion, soziale
+Formen und Klassen, Interessen und Leidenschaften überhaupt keinerlei
+Rolle spielen. Abgesehen von dieser rein fiktiven unerwiesenen
+Voraussetzung werden in den geschichtlichen Werken der Marburger Schule
+die behandelten Denker fast ausschließlich nach ihrer logischen und
+erkenntnistheoretischen Seite hin gewürdigt. Dies tritt in Natorps
+Platonbuch wie in Cassirers Leibnizbuch mit ganz unsagbarer
+Einseitigkeit hervor. Die Leibnizsche Metaphysik, die genau so der
+Ausgangspunkt seiner Logik, wie die Metaphysik des Aristoteles der
+Ausgangspunkt des "Organon" gewesen ist, wird von ihm so gut wie
+hinweginterpretiert. Und genau so ergeht z. B. Descartes in der
+"Geschichte des Erkenntnisproblems". Mit vollem Recht hat jüngst Ernst
+von Aster in seiner kürzlich erschienenen "Geschichte der
+Erkenntnistheorie" (1921), die ein wahres und objektives Bild der Dinge
+an Stelle der Marburger Konstruktionen zu geben sucht, diesen Marburger
+Vergewaltigungsversuchen der Geschichte zugunsten ihres Systemes
+scharfen Widerstand entgegengesetzt. Das erkenntnistheoretische
+Hauptwerk Cassirers heißt "Substanzbegriff und Funktionsbegriff"
+(1910). Es enthält eine Erkenntnistheorie der Mathematik, theoretischen
+Physik und Chemie und soll zeigen, wie an Stelle der Herrschaft der
+Substanzkategorie und der begrifflichen Umfangsverhältnisse in der
+Entwicklung der neueren Wissenschaften mehr und mehr eine Denkweise
+getreten sei, die alle Substanzen als bloße hypothetische und nie
+endgültig zu bestimmende Ansatzpunkte zuerst erfaßter funktioneller
+Abhängigkeiten ansieht und eine Logik der Relationen an Stelle der
+Aristotelischen Subsumptionslogik setzt. Schöne, zum Teil auch wahre
+und tiefe allgemeine Bildungsbücher hat ferner Cassirer während des
+Krieges uns geschenkt in seinen Arbeiten "Freiheit und Form" und "Idee
+und Gestalt", in denen die Entwicklung der deutschen Dichtung in einige
+ihrer Hauptgestalten (Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist) nach der
+Einheit ihrer Struktur und Form mit der philosophischen Entwicklung des
+deutschen Geistes betrachtet werden (siehe besonders den wertvollen
+Aufsatz "Goethe und die mathematische Naturwissenschaft"). In der
+Rechtsphilosophie hat R u d o l f S t a m m l e r in seinen Büchern
+"Wirtschaft und Recht" und "Das richtige Recht" den neukantischen
+Gedanken Ausdruck gegeben, ferner hat auch der Österreicher Jurist
+Kelsen diese Philosophie zur Grundlage seiner Arbeiten gemacht. Eine
+bekannte Kritik Max Webers von Stammlers Wirtschaft und Recht (siehe
+"Zeitschrift für Sozialpolitik") und ein eben erschienenes Buch des
+Bonner Juristen Kaufmann haben die ungemeinen Schwächen dieser
+Rechtstheorie treffend aufgedeckt (siehe E. Kaufmann, "Kritik der
+neukantischen Rechtsphilosophie", 1921). Die Biologie suchte N.
+Hartmann in einer Sonderschrift den neukantischen Grundsätzen zu
+unterwerfen, ein sehr zukunftsreicher Forscher, der sich aber
+neuerdings von der Marburger Schule weit abgewandt und einer mehr
+ontologischen Denkrichtung zugewendet hat, die er nicht ohne Einfluß
+der Phänomenologie genommen haben dürfte.
+
+Jünger unter den gegenwärtigen Kantschulen ist die "Badische" oder auch
+"Südwestdeutsche Schule". Sie ist begründet von W. Windelband, fand
+ihren größten und wirksamsten Systematiker in Heinrich Rickert, als
+dessen wichtigster Schüler, aber auch in gewissem Sinne schon
+Überwinder, der im Kriege zum Leide der deutschen Philosophie gefallene
+zukunftsreiche Emil Lask gelten muß. Nahe stehen dieser Schule vermöge
+ihres gemeinsamen Ausgangspunktes von J. G. Fichte auch Paul Hensel und
+der auch von Hegel stark beeinflußte Jonas Cohn; in etwas weiterer
+Entfernung aber der erheblich selbständige, an der Harvard-Universität
+in Amerika lehrende, während des Krieges gestorbene Hugo Münsterberg. Z
+w e i Dinge unterscheiden diese Schule scharf von jener Marburgs.
+Während die Marburger Schule sich aufs einseitigste an der
+mathematischen Naturwissenschaft zu orientieren suchte, sind es die
+historischen und Kulturwissenschaften, die den Interessenkreis dieser
+Schule vor allem beherrschen. Die Geschichte ist Rickert das "Organon
+der Philosophie". Zweitens ist es ein bereits durch J. G. Fichte
+hindurchgesehener Kant, dessen Lehren hier weiterentwickelt werden. Das
+erste Moment hat seinen Hauptgrund darin, daß der Schöpfer dieser
+Schule, W. Windelband, an erster Stelle Philosophiehistoriker war. Auf
+diesem Boden hatte Windelband bedeutende Leistungen aufzuweisen, die
+freilich auch weitgehender Kritik offenstehen und ihr zum Teil auch
+wirklich verfielen. In seinem Platonbuche z. B. gibt er nach meiner
+Meinung dem Ideal des Guten bei Platon eine Deutung, die durchaus
+fichteisch und kantisch und das gerade Gegenteil von platonisch ist.
+Fast überall, wo er über mittelalterliche Philosophie sprach, verfällt
+er, wie Baeumker und seine Schüler zeigten, tiefgreifenden Irrtümern.
+Systematisch ist Windelband zuerst hervorgetreten mit seiner
+Doktordissertation "Über den Zufall", ferner mit seiner Rektoratsrede
+"Über nomothetische und ideographische Wissenschaften", die den
+Ausgangspunkt für Rickerts Geschichtstheorie in seinem Buche über
+"Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" gebildet hat,
+ferner in seinen zwei Bänden "Präludien" in seiner "Einleitung in die
+Philosophie", in Arbeiten zur Kategorienlehre und in seinem Buche "Über
+Willensfreiheit". In seiner Schrift über den Zufall findet sich noch
+der französische Philosoph und Mathematiker Cournot zitiert, der meines
+Erachtens zuerst die Behauptung aufgebracht hat, daß es objektives,
+aber in gesetzmäßige Beziehungen unauflösbares Wirkliches gebe, das
+zwar dem Kausalprinzip, sofern es konkrete Kausalität fordere, nicht
+aber dem Gesetzesprinzip unterworfen sei; ferner, daß es die Geschichte
+mit diesem, objektiv zufälligen Sein, im Unterschiede von allem
+gesetzmäßigen Sein und Geschehen zu tun habe. Derselbe Gedanke findet
+sich übrigens v o r jener Rede Windelbands auch bereits bei Harms und
+ferner in Hermann Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte". Streng
+systematisch zu begründen versuchte ihn aber erst H. Rickert in dem
+obengenannten Werke. Rickert ging dabei aus von einer bestimmten
+Theorie der Begriffsbildung, die er in kritischer Auseinandersetzung
+mit dem Logiker Sigwart gewann. Diese Begriffstheorie ist streng
+nominalistisch und hat mit jener der Positivisten, z. B. E. Machs, eine
+große Ähnlichkeit. Der Begriff soll sein eine "Überwindung der
+extensiven und intensiven unendlich reichen Mannigfaltigkeit", die
+jeder noch so einfache Teil des unmittelbar erlebten Wirklichen
+enthalte. Den auf diese Weise gebildeten Begriffen und nicht minder den
+analog gebildeten Gesetztsrelationen, in die sich in letzter Linie auch
+die Begriffe sollen auflösen lassen, kommt "Geltung" zu, nicht aber
+Wirklichkeit oder Realität. Neben dieser Betrachtungsart ein und
+desselben, unter die Kategorie der "Gegebenheit" ursprünglich gefaßten
+formfreien "Stoffes der unmittelbaren Erlebnisse" soll es aber noch
+eine prinzipiell entgegengesetzte Richtung der Betrachtung und des
+Denkens geben. Sie sucht nicht die Mannigfaltigkeit durch
+Allgemeinbegriffe zu überwinden, sondern diese Mannigfaltigkeit durch
+Bildung von Individualbegriffen immer genauer als "Individuum" und als
+Ganzes und Teil zu bestimmen. Individuum und Allgemeines sollen also
+das Ergebnis von zwei entgegengesetzt gerichteten Formungen und
+Betrachtungsweisen ein und derselben Materie der Erfahrung sein,
+freilich so, daß die kategoriale Form des Individuums (Rickert führt
+sie als eine neue Kategorie in das Kategoriensystem Kants ein) "k o n s
+t i t u t i v e" Bedeutung für dc Wirklichkeit besitze, während der
+Gesetzeskategorie nur "regulative" Bedeutung zukomme. Die letzte Wurzel
+des Unterschiedes von Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften
+soll nun ausschließlich in diesen zwei Betrachtungsweisen gelegen sein.
+Man muß wohl beachten, daß die Betrachtungsweisen nicht k o o r d i n i
+e r t sind. Da die Kategorie des Individuums konstitutiv ist (und mit
+ihr auch die Kategorie der konkreten Kausalität), ist die
+Weltwirklichkeit p r i m ä r nicht "Natur", sondern "Geschichte". Und
+was wir "Natur" nennen, ist in letzter Linie nur ein allgemein
+abstrakter Auszug aus dieser konkreten einmaligen Wirklichkeit, der
+nicht notwendig wäre, wenn unser Geist so umfassend wäre, a l l e s
+individuell Wirkliche im g a n z e n Reichtum seiner Mannigfaltigkeit
+erfassen zu können. Dadurch erhält die Geschichtswissenschaft einen
+metaphysischen Vorzug vor der Naturwissenschaft. Diese philosophisch
+ganz unbegründete Behauptung ist nur eine ganz willkürliche logische
+Scheinrechtfertigung einer aus allen Äußerungen dieser Schule
+hervorgehenden primären geringen Wertung der Naturwissenschaft und
+insbesondere aller Natur p h i l o s o p h i e. Diesem Begriff der
+Naturwissenschaft wird von Rickert außerdem die von ihm ganz unkritisch
+rein mechanisch sensualistisch aufgefaßte Psychologie eingeordnet.
+
+Ein zweites Merkmal des historischen Gegenstandes soll außer der
+individualisierenden Betrachtung des Wirklichen nach Rickert die
+Beziehung dieses Wirklichen auf ein System allgemein gültiger Werte
+sein. Erst diese Beziehung soll aus der unermeßlichen Fülle des
+individuell Wirklichen dasjenige auswählen, was -- sei es in positiver
+oder in negativer Wertrichtung -- "kulturell bedeutsam" ist. Die
+allgemeingültigen Werte werden durch die Philosophie festgestellt; ja,
+die Philosophie wird bei Windelband und Rickert geradezu als die
+"Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten" definiert. Gegen diese
+neue "Logik der Geschichte", an deren Erweiterung, Kritik und Ausbau
+sich auch G. Simmel und H. Maier, ferner Troeltsch und Max Weber
+beteiligt haben, sind die eingehendsten und meiner Meinung nach
+treffendsten kritischen Einwände von Erich Becher in seinem Buche
+"Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" (1921) erhoben worden.
+Auch F. Krüger hat in seinem wertvollen Buche "Über
+Entwicklungspsychologie" (1915) viel Treffendes gegen Rickerts Begriff
+der Psychologie gesagt. Beide angegebenen Merkmale können den
+geschichtlichen Gegenstand nicht umgrenzen. Auch die Naturwissenschaft
+muß, z. B. in der Geographie, in der Mondkunde, vor allem aber im
+ganzen Gebiet der Naturkunde überhaupt, individualisierend vorgehen,
+und auch in den verschiedenen geschichtlichen und historischen
+Geisteswissenschaften gibt es weitgehend Gesetzlichkeit und typische
+Entwicklungsabfolge von Erscheinungsreihen. Nur wenn man ferner mit
+Rickert die mechanische Naturansicht mit Einschluß des Biologischen und
+einer ausschließlichen sensualistischen Assoziationspsychologie als die
+einzig wahre Naturwissenschaft bereits willkürlich voraussetzt, auf
+geistesgeschichtlichem Boden aber alle Versuche, neben der verstehenden
+Geschichte auch eine erklärende und zugleich phasengesetzliche
+Geschichtserkenntnis zu geben, völlig verwirft, kann man auf Rickerts
+Meinung kommen. Weder läßt sich der ontische Gegensatz des
+geistig-psychischen Seins und der äußeren Naturtatsachen, der übrigens
+durch die e i g e n g e s e t z l i c h e n Erscheinungen des
+organischen Lebens vermittelt wird, in einen bloßen Unterschied von
+"Betrachtungsweisen" verwandeln; noch läßt sich mit Fug behaupten, die
+Psychologie habe für die Geschichte keine Bedeutung (siehe hierüber
+Krüger). Auch die Wertbezogenheit ist nicht w e s e n t l i c h für
+das geschichtlich "Bedeutsame"; es genügt dazu die Größe der
+Wirkungsfähigkeit eines Tatbestandes. Die eigentlichen Probleme der
+Geschichtserkenntnis, die Frage nach den mannigfaltigen Erkenntnisarten
+und Realsetzungsgründen fremden Bewußtseins und das von W. Dilthey so
+tief aufgenommene, von E. Spranger und von dem Schreiber dieser Zeilen
+weitergeführte Problem des geschichtlichen "Verstehens" sind durch
+Rickert gar nicht ernstlich berührt. Die Erkenntnistheorie der
+Südwestdeutschen Schule hat ihr Hauptwerk in Rickerts "Gegenstand der
+Erkenntnis" (3. Auflage, Tübingen 1915). In ihrem Mittelpunkt steht ein
+erkenntnistheoretischer Idealismus, der aber nicht extremer
+Rationalismus und Logizismus wie jener der Marburger ist, sondern
+zugleich die alogischen und arationalen Fundamente gegebener
+Erlebniswirklichkeit anerkennt. Der erkenntnistheoretische Realismus
+wird am Anfang mit den denkbar billigsten Mitteln in den drei Formen
+des Kausalschlusses, des Interpolations- und des voluntativen Realismus
+(Dilthey, Frischeisen-Köhler) zu widerlegen gesucht. Alles Seiende und
+Gegenständliche soll seinen anschaulichen Fundamenten nach "Inhalt
+eines Bewußtseins überhaupt" sein, das Rickert durch ein negatives
+Verfahren, durch das er den natürlichen Ichbegriff (pssychophysisches
+Subjekt, psychologisches Subjekt, erkenntnistheoretisches Subjekt)
+immer weiter zu beschränken sucht, gewinnt. Die Fehler dieses
+Verfahrens können hier nicht aufgewiesen werden; auch der Widersinn
+nicht, ein sogenanntes "überindividuelles Ich", das weder eine
+Außenwelt, noch ein Du, noch einen Leib sich gegenüber hat, anzunehmen.
+Der eigentliche "Gegenstand der Erkenntnis" soll nun weder bestehen in
+einem bewußtseinsjenseitigen Seienden noch in einem
+bewußtseinsimmanenten Gehalt der anschauenden Akte; vielmehr soll das,
+was wir "Gegenstand" nennen, auf ein "transzendentes Sollen", d. h. auf
+die Forderungen zurückgeführt werden, über das Bewußtseinsgegebene
+bestimmte Arten von U r t e i l e n zu fällen und es in diesen Akten
+mit kategorialen Formen zu umkleiden. Dieser Gedanke ist von Fichte
+übernommen, der ja auch das "Sollen" dem Sein, das Gewissen dem Wissen,
+die sittliche Forderung der theoretischen Erkenntnis vorhergehen läßt.
+In seinem letzten Werk "System der Philosophie" (1. Band) hat Rickert
+nichts wesentlich Neues seinen früheren Arbeiten hinzugefügt.
+
+Übersieht man das Ganze dieser Schule, so kommt ihr gegenüber der
+Marburger Philosophie nur e i n zweifelloser Vorzug zu. Sie erkennt g e
+g e b e n e Bestände überhaupt an; sie macht nicht den Versuch, die
+ganze Welt in reine Denkbestimmungen aufzulösen; aber sie tut dies
+leider auch unter weitgehender Preisgabe der Rechte des Denkens und
+verfällt so in einen "Nominalismus", der sich von dem Nominalismus etwa
+E. Machs und der Positivisten nur der Färbung der Darstellung nach
+unterscheidet. In jeder anderen Hinsicht ist die Schule der Marburger
+Lehre weit unterlegen. An Stelle des ungemeinen Reichtums und einer
+bewunderungswürdigen Vielseitigkeit der Marburger Gedankenwelt treten
+hier einförmige schematisierende Wiederholungen von ein paar überaus
+ärmlichen und dürren Grundgedanken, die sich, verbunden mit der
+aufgeblähten, von J. G. Fichte ererbten, Icharroganz dem gesamten
+Universum gegenüber vergeblich bemühen, eine ganze Philosophie zu
+tragen. Der sogenannten "Kultur" (selbst die Religion wird hier auf ein
+fadenscheiniges "Norm- und Kulturbewußtsein" in letzter Linie
+zurückgeführt) wird eine Rolle und eine Bedeutung im Ganzen des
+Weltgetriebes zugesprochen, sie ihr nicht im entferntesten zukommt.
+Eine Naturphilosophie ernst zu nehmender Art, eine tiefere Fundierung
+der Psychologie oder irgendwelche Leistungen auf diesem Gebiet besitzt
+die Schule überhaupt nicht und kann sie gar nicht besitzen, da sie
+ihren Jünger von vornherein mit tiefster Verachtung gegen die Wunder
+der Natur erfüllt. Natur ist hier genau wie bei Fichte im Grunde nur
+"Material" für ein leeres Kulturgetue, das seinen letzten Sinn haben
+soll in frei in der Luft schwebenden rein formalen "Werten" und
+"Geltungen". Die falsche Meinung, es ließe sich der Wertbegriff auf ein
+Sollen zurückführen und "Wahr" und "Falsch" seien nur Werte n e b e n
+anderen, ist von Meinong, dem Verfasser (siehe "Formalismus in der
+Ethik", 2. Auflage), und zum Teil auch von E. Lask, der eben starb, als
+er die grobmaschigen Schematismen seiner Lehrer zu überwinden anfing,
+widerlegt worden. Es muß geradezu als ein kulturpsychologisches Problem
+gelten, wie diese l e e r s t e der deutschen Kantschulen in unserem
+Lande so starke Verbreitung finden konnte. Ich sehe seine Lösung vor
+allem darin, daß sie der herkömmlichen historischen Richtung in der
+deutschen Geschichtswissenschaft das philosophische R e c h t ihrer
+Existenz immer neu bestätigte und jedes satte Genügen an den
+herkömmlichen Methoden "philosophisch" rechtfertigte; ferner darin, daß
+die Aneignung jener paar Formeln über Wert und Sein und
+generalisierende und individualisierende Betrachtung mit Ausscheidung
+aller echt philosophischen Probleme der Metaphysik, der
+Naturphilosophie, der Psychologie, der Ethik und Ästhetik nur ein
+Minimum von Denkarbeit kostete und doch gleichzeitig den Adepten mit
+dem Bewußtsein erfüllte, nun ein ganzer Philosoph zu sein. (Vgl. auch
+hierzu W. Windelband: "Die Philosophie im deutschen Geistesleben des
+19. Jahrhunderts", 1909.) Weit tiefer faßte die Probleme der Weltlehre
+und der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der
+Geisteswissenschaften der gleichfalls von Fichte ausgegangene Hugo
+Münsterberg in seinen "Grundzügen der Psychologie" und in seiner
+"Philosophie der Werte". Er versuchte aus rein erkenntnistheoretischen
+und methodologischen Forderungen heraus (freilich überkonstruktiv und
+mit fichteischer Gewalttätigkeit) eine strenge Assoziationspsychologie
+zu versöhnen mit der Anerkennung einer primär nur gewerteten
+"Lebenswirklichkeit" (der eigentlichen metaphysischen Sphäre), die nur
+zu gewissen methodischen Zwecken technischer Daseinsbeherrschung in
+einen äußeren Naturmechanismus "umgedacht" werde. Von diesem
+Mechanismus müsse in der erklärenden Philosophie auch das Psychische
+als abhängig gedacht werden. Von ihr verschieden ist jedoch eine
+subjektivierende Aktpsychologie, die Grundlage der
+Geisteswissenschaften sei.
+
+In einem loseren Verbande mit beiden Kantschulen stand auch Georg
+Simmel, der sich von einer anfänglich mehr positivistisch eingestellten
+Denkrichtung über die Problematik Kants hinweg schließlich zu einer
+"Lebensphilosophie" durchrang, deren Ergebnis er in dem nach seinem
+Tode im Nachlaß erschienenen Werke "Lebensanschauung, vier
+metaphysische Kapitel" darstellte. Der Aufsatz "Über den Tod" ist das
+Tiefste und Reifste, was dieser eigenartige und weit über die deutschen
+Grenzen hinaus anregende Denker geschrieben hat. Auch sein Aufsatz über
+"Das individuelle Gesetz", in dem er ähnlich wie Schleiermacher und der
+Verfasser in seiner "Ethik" neben "allgemeingültigen moralischen
+Werten" auch "individualgültige", d. h. eine je individuell sittliche
+Bestimmung des Menschen darzutun sucht, hat die Ethik bedeutend
+gefördert. Seiner durch Bergson angeregten letzten "Lebensphilosophie"
+die dunkel, unbestimmt und verworren bleibt, kann ein gleicher Beifall
+nicht gezollt werden.
+
+Die vierte von Leonhard Nelson begründete Kantschule, die einen reichen
+Kreis von Forschern aller Disziplinen unter sich vereinigt, hat ihre
+Ansichten besonders in den zahlreichen Werken ihres Begründers und in
+den "Abhandlungen zur friesischen Schule" dargelegt. In scharfem
+Gegensatz zur "transzendentalen" Auffassung des kantischen Apriori, von
+dem Cohen ausging, wird hier die Lehre vertreten, daß wir nur auf dem
+Wege anthropologischer Selbstbesinnung mit Hilfe eines Verfahrens der
+Reduktion der gegebenen Wissenschaften die obersten Grundsätze der
+Vernunft feststellen können. Von einem "Vertrauen in die Vernunft"
+ausgehend, das ein rein subjektiver Akt bleibt, müssen die obersten
+evidenten Einsichten, nach denen wir das Gegebene in mittelbarem,
+Denken bearbeiten, nicht "erzeugt", sondern nur als ursprünglicher
+Besitz unseres Geistes enthüllt werden. Die Voraussetzung dieser Schule
+ist die Existenz einer unmittelbar anschauenden Vernunft, deren
+Grundsätze teils anschaulich (mathematische Grundsätze), teils
+unanschaulich (z. B. Kausalprinzip) evident sind, und die durch das
+reduktive Verfahren weder "deduziert" noch "konstruiert" sondern allein
+für die Selbstbesinnung als evident enthüllt werden müssen. So muß der
+apriorische Besitz unseres Geistes nicht auf apriorische, sondern auf
+aposteriorische Weise gefunden und entdeckt werden. Eine
+"Erkenntnistheorie" im üblichen Sinne, sofern sie die "Möglichkeit der
+Erkenntnis" erst aufweisen will, ist nach Nelson ein sinnloses
+Unternehmen; denn nur auf Grund schon gewonnener evidenter Erkenntnis
+können wir anderweitige Erkenntnis einer Prüfung und Kritik
+unterwerfen. Von dieser an Fries anknüpfenden theoretischen Basis aus
+hat die Schule eine überaus rege und, wie auch derjenige, der ihr
+fernesteht, sagen muß, s e h r wertvolle, sowohl positiv schöpferische
+als kritische Tätigkeit entfaltet. Sie hat die Theologie stark
+befruchtet (siehe Bousset und vor allem Rudolf Otto, dessen
+ausgezeichnetes Werk über "Das Heilige" von der Schule stark bestimmt
+ist). Sie hat auf dem Boden der Philosophie, der Mathematik und der
+exakten Naturwissenschaft eine sehr rege Tätigkeit entfaltet; sie hat
+in Kronfeld einen Vertreter gefunden, der nach ihren Grundsätzen die
+Erkenntnislehre der Psychiatrie eingehend bearbeitet und gefördert hat.
+Vor allem aber hat ihr charaktervoller und geradsinniger Urheber L.
+Nelson auf dem Boden der Rechts- und Sozialphilosophie achtungswerte
+Werke hervorgebracht (siehe besonders "Die Rechtswissenschaft ohne
+Recht"). In überaus scharfsinniger, freilich allzusehr im Formalismus
+Kants steckenbleibender Art und Weise wird hier mit Reinheit und Mut
+die Majestät des Rechtsgedankens auf Grund evidenter Vernunfteinsichten
+gegen alle Verdunkelungen durch Rechtspositivismus und der in der
+Jurisprudenz stark herkömmlichen Machtlehre vertreten. Auch das große
+Werk Nelsons "Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik" ist besonders
+in seinen kritischen Teilen von großem Scharfsinn. Gegenüber Kant wird
+neben dem "Pflichtgemäßen" ein "Verdienstliches" anerkannt, und die
+Liebe und das Ideal der "schönen Seele" freilich mehr als ästhetischer
+denn ethischer Wert in die Grundkategorien des menschlich Wertvollen
+eingefügt. In ihrer politischen Tendenz vertritt die Schule einen
+radikalen Liberalismus der geistigen Individualität, den sie gerne auch
+an die konfuzianische Weisheit des chinesischen Ostens anzulehnen sucht.
+
+Überblickt man das Ganze dieser vier Kantschulen, wird man mit
+Verwunderung vor der Tatsache stehen, die Kantianer immer noch über den
+Sinn der Lehre ihre Meisters streiten, und noch mehr darüber, daß so
+grundverschiedene Geistesarten auf demselben Boden des Kantianismus
+überhaupt möglich sind. Daß aus der Starrheit dieser Schulkreise heraus
+d i e Philosophie, wie wir sie oben als erstrebenswert bezeichnet
+hatten, hervorwachsen werde, glauben wir bei allem Wertvollen, das
+besonders die Marburger und die Friesschule geleistet haben, nicht. Die
+ungeheuren Literaturmassen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit
+Interpretation, Fortführung, Neugestaltung der kantischen Philosophie
+beschäftigt haben, stehen auf alle Fälle zu den Förderungen, welche die
+Philosophie durch sie erhielt, in gar keinem sinnvollen Verhältnis.
+Wenn man dazu erwägt, daß die Grundpositionen Kants (ich rechne dazu
+seinen Ausgangspunkt von der newtonschen Naturlehre, seine Lehre, das
+Gegebene sei nur ein "Chaos von Empfindungen" und alles, was Ordnung
+und Beziehung, Einheitsform und Gestalt am Gegenstand der Erfahrung
+sei, müsse durch funktionsgesetzlich geregelte Verstandestätigkeiten in
+den Gegenstand erst hineingekommen sein, ferner seine Annahme der
+prinzipiellen Erklärbarkeit der Natur auf Grund der Prinzipe der
+Mechanik) heute der schärfsten und nach meiner Meinung der strengsten
+Widerlegung verfallen sind, so wird man nur von einer neuen
+untradionalistischen S a c h philosophie -- einer Philosophie, die
+nicht von einer historischen Autorität ausgeht, sondern höchstens
+retrospektiv auf Grund ihrer gewonnenen Erkenntnisse sich auch einer
+philosophiegeschichtlichen Tradition eingeordnet weiß, Wertvolles und
+Dauerndes erwarten dürfen.
+
+Einen weit geringeren Einfluß als die kantische Philosophie übt auf die
+Philosophie der Gegenwart der Positivismus und sein neuester Ableger,
+der von den Amerikanern Peirce und W. James und dem Engländer Schiller,
+in gewissem Sinne auch von Fr. Nietzsche (siehe besonders "Der Wille
+zur Macht") angeregte, für das engere Gebiet der
+naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie auch von Henri Bergson
+angenommene sogenannte "Pragmatismus" aus[1]. Der
+
+ [1] W. James: "Der Pragmatismus" (Philosophisch-Soziologische
+ Bücherei Bd. 1): F. C. S. Schillers "Humanismus" (derselben
+ Sammlung, Bd. 25); ferner W. James: "Das pluralistische
+ Universum", übersetzt von J. Goldstein (Bd. 33).
+
+europäische Positivismus hat seinen Ursprung und Hauptsitz in
+Westeuropa; Bacon, D. Hume, D'Alembert, Condorcet, A. Comte, J. St.
+Mill, H. Spencer, Taine und Buckle waren seine bedeutendsten geistigen
+Väter. In der gegenwärtigen deutschen Philosophie hat er so wenig wie
+in der deutschen Philosophie überhaupt eine allseitige, alle Gebiete
+der Philosophie umfassende Vertretung gefunden. Als strengere
+Positivisten können unter den Älteren für die Erkenntnistheorie nur E.
+Mach und Avenarius, in der unmittelbaren Gegenwart der aus der
+Psychiatrie zur Philosophie gekommene selbständige und originelle
+Forscher Theodor Ziehen gelten. Eine größere Anzahl von Forschern sind
+stärker von ihm beeinflußt, so z. B. der kürzlich verstorbene Benno
+Erdmann (siehe besonders seine "Logik", 1. Band, 2. Auflage). In seinen
+älteren Arbeiten ist auch A. Riehl, ferner Hans Cornelius, der Humesche
+und Machsche Gedankengänge mit Kants Erfahrungstheorie eigenartig
+verquickt hat (siehe Cornelius: "Transzendentale Systematik", 1916),
+vom Positivismus bestimmt. Als ein dem Pragmatismus, freilich mit mehr
+Nietzschescher als angelsächsischer Färbung, näherstehendes Werk muß
+die "Philosophie des Als-ob" von H. Vaihinger angesehen werden. Unter
+den jüngsten Erkenntnistheoretikern steht Moritz Schlick ("Allgemeine
+Erkenntnislehre", 1918) freilich mit realistischem Einschlag dem
+Positivismus vermöge seines extremen Nominalismus (Erkennen sei nur
+"eindeutiges Bezeichnen und Ordnen der Gegenstände") nahe. In der Ethik
+und Religionsphilosophie lehrte Jodl einen monistisch modifizierten
+Positivismus. In der Soziologie und Geschichtsphilosophie steht ihm
+Müller-Lyer, L. von Wiese, W. Jerusalem (siehe "Die Phasen der Kultur",
+"Einleitung in die Philosophie") und R. Goldscheid nahe. Wesentlichste
+Basis des deutschen Positivismus ist eine sensualistische
+Erkenntnistheorie und ein Versuch, die Denkkategorien psychologisch
+oder soziologisch geschichtlich herzuleiten. Die Auffassung, daß die
+kategorialen Formen nicht Seinsformen, die Denkgesetze nicht
+Seinsgesetze seien, teilt der Positivismus mit den Kantianern. Während
+aber jene die apriorische Struktur unseres Denkens nur auffinden oder,
+wie die Marburger, immer neu aus ursprünglicher Denkfunktion rein
+erzeugen wollen, bemüht sich der Positivismus nach humeschem Muster,
+sie auf dem Boden einer beschreibenden (oder bei manchen selbst
+genetischen) Psychologie und Soziologie zu verstehen. Die
+sensualistische Auffassung, daß der gesamte Inhalt der natürlichen und
+wissenschaftlichen Erfahrung auf Sensationen und deren Residuen, resp.
+auf die Verknüpfung dieser Residuen nach den Assoziationsgesetzen
+zurückführbar sei, das Denken aber auf Zeichengebung und Abfolge
+ähnlicher Vorstellungsbilder in letzter Linie beruhe, macht die
+eigentliche erkenntnistheoretische These des Positivismus aus. Ihr
+entspricht dann die F o r d e r u n g, aus der Wissenschaft alles das
+auszuscheiden, was über aufweisbare Empfindungselemente und über die
+Funktionalbeziehungen von deren Komplexen hinausgehe. Jeder asensuelle
+und übersensuelle u r s p r ü n g l i c h e Bestand im Gegebenen der
+Erfahrung, der nur durch ein ursprüngliches, von Bildern nicht
+ableitbares eigengesetzmäßiges D e n k e n (oder andere geistige
+Funktionen, wie Intuition, kognitives Fühlen usw.) zu erfassen wäre,
+wird bestritten. Alle "Substanzen" und "Kräfte" und alle sinnlich nicht
+aufweisbaren Inhalte und Realsetzungen solcher müssen aus der
+Wissenschaft in letzter Linie ausgeschieden werden: sofern man aber mit
+Substanz- und Kraftbegriffen in ihr operiert, kommt diesen Operationen
+genau so wie den in der Wissenschaft verwandten allgemeinen Begriffen
+und Gesetzen nur die ökonomische Bedeutung zu, mit Bildvorstellungen zu
+sparen ("Prinzip der Denkökonomie"). Mit dieser Auffassung verbindet
+sich eine streng nominalistische Lehre vom begrifflichen Denken, die in
+Deutschland am schärfsten durch H. Cornelius ("Einleitung in die
+Psychologie"), E. von Aster und neuerdings von Schlich durchgeführt
+worden ist (zur Kritik dieser Lehre vergleiche E. Husserl: "Logische
+Untersuchungen", Band 2). In der Realitätsfrage hat sich der deutsche
+Positivismus (mit Ausnahme von Schlick) im Unterschied von jenem
+Spencers im wesentlichen ablehnend verhalten. Die Existenz der Welt ist
+ihm nur der "geordnete Inbegriff ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten".
+Avenarius hatte die Gegenstände, Bewußtsein, Seele, Ich auf eine
+ursprüngliche Täuschung zurückgeführt, die durch Introjektion eines
+Umgebungsbestandteils (z. B. wahrgenommener Baum) in den Mitmenschen
+(als "immaterielles Abbild" des Baumes) und erst sekundär auch in das
+erkennende Ausgangssubjekt noch einmal "hineinverlegt" worden sei (s.
+Avenarius: "Der natürliche Weltbegriff"). E. Mach, der mehr von
+idealistischer Seite her kam, nahm letzte qualitative Seinselemente an
+(blau, rot, hart, Ton usw.), die, wenn sie in ihrem gegenseitigen
+Zusammenhang und in den Abhängigkeiten ihrer möglichen
+Komplexveränderungen untereinander betrachtet werden, "Natur" heißen;
+"Empfindungen" aber, wenn sie und ihre Komplexänderungen betrachtet
+werden in Abhängigheit von den physiologischen Vorgängen des
+Organismus. Auch das "Ich" ist ihm nur ein solcher relativ konstanter
+Komplex von Seinselementen. Eine vorzügliche Kritik dieser "Ich"-lehre
+gibt K. Österreich in seinem Buch "Phänomenologie des Ich". Der
+Unterschied von Psychisch und Physisch soll hiernach kein Unterschied
+der Materie und der Gegenstände sein, sondern nur ein Unterschied in
+der Betrachtung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den
+Seinselementen. Mach hat diese Lehre in seinen großen Werken zur
+Geschichte der Naturwissenschaft (Geschichte der Mechanik, des Satzes
+von der Erhaltung der Arbeit, der Wärmelehre) und in seinem letzten,
+sehr wertvollen und lehrreichen Werke "Erkenntnis und Irrtum" auch
+geschichtlich zu unterbauen gesucht. Die moderne mechanische
+Naturansicht hat nach seiner Meinung nur in dem historischen Z u
+f a l l ihren Grund, daß man die Bewegungserscheinungen fester Körper
+zeitlich zuerst studierte (Galilei), um dann, nach dem Prinzip:
+Erklären heiße nur "relativ Unbekanntes auf zuvor Bekanntes"
+zurückzuführen, auch die übrigen Naturerscheinungen auf
+Bewegungsgesetze fester Dinge zurückzuführen. Tatsächlich aber bestehe
+kein Seinsunterschied zwischen "primären" und "sekundären" Qualitäten.
+Besonders die Bedeutung denkökonomischer A n a l o g i e n und Bilder
+für den wissenschaftlichen Fortschritt hob er nach dem Vorgang
+englischer Physiker (Maxwell, Lord Kelorn, Clifford) in seinen
+geschichtlichen Werken und in "Erkenntnis und Irrtum" stark hervor.
+Aber alle diese "Bilder" müssen zugunsten strenger, rein mathematisch
+formulierter Funktionsgesetze eines Tages wieder aus der Wissenschaft
+ausgeschieden werden, wenn sie den neuen Beobachtungen nicht mehr
+genügen. Auch der modernen Relativitätstheorie Einsteins hat E. Mach
+durch seine Kritik Newtons, besonders seiner Lehre von der absoluten
+Bewegung vorgearbeitet (siehe Geschichte der Mechanik). Diese
+Auffassung der Arbeit der Naturwissenschaft ist in neuester Zeit von
+Planck ("Einheit des physikalischen Weltbildes"), Stumpf, Külpe, ferner
+von allen realistischen und kantischen Schulen mit Recht scharf
+bekämpft worden (siehe besonders C. Stumpfs Akademieabhandlung: "Zur
+Einteilung der Wissenschaften", 1906). Vor allem aber war es Ed.
+Husserl, der die nominalistischen Begriffstheorien des Positivismus in
+den "Logischen Untersuchungen", Band 2, einer überaus einschneidenden
+Kritik unterzog. Die ernstesten Versuche, die Gegner des Nominalismus
+und Sensualismus, die heute den Positivismus immer mehr zurückgedrängt
+haben, zu widerlegen, haben von diesem Standort aus Ziehen in seiner
+"Psychophysiologichen Erkenntnistheorie" und seinem kürzlich
+erschienenen sehr wertvollen "Lehrbuch der Logik" (1920) und E. von
+Aster unternommen. Daß es ihnen aber geglückt sei, die positivistischen
+Positionen zu halten, glaubten wir nicht. Der schärfste Gegner ist dem
+Positivismus neuerdings entstanden in der "Phänomenologie", obzwar
+diese Denkrichtung mit ihm das Gemeinsame hat, den Aufweis aller
+Begriffe in letztfundierenden Anschauungsgegebenheiten zu fordern. Aber
+eben dabei erwies es sich, daß der Gehalt des originär Anschaubaren
+unvergleichlich r e i c h e r ist als dasjenige, was durch sensuelle
+Inhalte und ihr Derivate (und deren fernere psychische Verarbeitung) an
+ihm denkbar sein mag. Zu welchen gewagten Annahmen und immer
+verwickelter werdenden Hypothesen der Positivismus greifen muß, um
+seine Lehre durchzuführen, zeigt auch das letzte scharfsinnige Werk
+Benno Erdmanns über "Grundzüge der Reproduktionspsychologie" (1920).
+
+Wenn der Positivismus im Erkennen nur ein zweckmäßiges mäßiges
+Bezeichnen gegebener Sachen sieht, so geht der P r a g m a t i s m u s
+von einer etwas anderen Auffassung aus. Er behauptet, daß alles
+Erkennen nur die Bedeutung habe, ein Bild der Dinge zu geben, so
+geartet, daß seine "Folgen" uns zu Handlungen führen, die bestimmte
+praktische Bedürfnisse befriedigen. Der "Sinn" eines Gedankens falle
+zusammen mit dem Inbegriff aller möglichen praktischen
+Verhaltungsweisen, die er "leiten" und "führen" könne; und "wahr" sei
+ein Gedankengebilde dann, wenn diese Reaktionen gattungsnützlich seien
+und uns in der praktischen Beherrschung der Dinge weiterführen. Peirces
+"Erkenntnis" wird hier ähnlich wie bei den Marburgern selbst zu einem
+"Formen" und "Gestalten" einer zunächst völlig indifferenten
+chaotischen Masse von Gegebenheiten (James, Schiller). Der letzte
+Beweis z. B. für den Wahrheitswert der Naturwissenschaft ist die M a c
+h t, die sie uns über die Natur gibt, also Technik und Industrie; die
+Arbeit an den Dingen gehe überall der Erkenntnis vorher und die
+Erkenntnis zeige in letzter Linie nur die R e g e l n auf, nach denen
+unsere Bearbeitung der Welt praktisch reüssiere. In Deutschland ist
+diese völlig unhaltbare, allen Wahrheitsernst untergrabende
+amerikanistische Theorie -- besonders widerlich, wenn sie zur
+Rechtfertigung des Daseins Gottes und der Religion angewandt wird, wie
+sie in W. James' "Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung" -- mit
+einer eigenartigen Modifikation, die von Nietzsche herrührt (siehe
+besonders "Wille zur Macht"), von Hans Vaihinger vertreten wurde. Die
+"Modifikation" besteht in folgendem: Während die angelsächsische
+Theorie des "Pragmatismus" die Lautverbindung "wahr" geradezu als
+"praktisch brauchbar" definiert, hält Vaihinger im Grunde den a l t e n
+Wahrheitsbegriff fest, schränkt aber das unmittelbar "Wahre" ein auf
+das, was an einer Wortintention nur in reinen Empfindungen gedeckt ist.
+Alles, was darüber hinausragt -- seien es Kategorien, Grenzbegriffe (z.
+B. ideales Gas, Adam Smiths "eigensüchtiges Wirtschaftssubjekt" usw.),
+seien es unanschauliche theoretische Setzungen (z. B. Äther, aber auch
+Gott, unsterbliche Seele), das heißt das denkbar Verschiedenartigste
+und logisch Verschiedenwertigste -- faßt Vaihinger unter den Begriff
+"Fiktion" zusammen; so ergibt sich in letzter Linie die Lehre, daß die
+F i k t i o n sozusagen der tragende Grund und Sinn der Welt selber
+sei, und daß zwischen Erkenntnis und Dichtung (Vaihinger war von A.
+Lange ausgegangen und erweitert im Grunde nur dessen an Fr. Schillers
+philosophischen Gedichten gewonnene "Begriffsdichtungs" gedanken von der
+Metaphysik auch auf die exakte Wissenschaft) im letzten Grunde nur der
+einzige Unterschied sei, daß die e i n e Fiktion praktisch brauchbar
+sei, die andere nicht und nur der Betrachtung und dem ästhetischen
+Genusse diene. Dazu trat, wie gesagt, der Einfluß Nietzsches. Dies ist
+der einzige konstatierbare Einfluß, den Nietzsche, der ja auch den
+"Wert der Wahrheit" in Frage gezogen hatte (siehe schon "Unzeitgemäße
+Betrachtungen") und im Willen zur Wahrheit nur eine Abart des "Willens
+zur Macht" sah, auf die rein theoretische Philosophie in Deutschland
+ausgeübt hat. In einzelnen wissenschaftstheoretischen Ausführungen ist
+Vaihingers Werk sehr anregend. Die Art, wie es die bekannten kantischen
+Als-ob-Wendungen und insbesondere die religionsphilosophische
+Postulatenlehre Kants interpretiert, halten wir mit W. Windelband für
+historisch grundirrig. Nach unserer Meinung haben diese Wendungen (z.
+B. man solle auf den kategorischen Imperativ hören, "als ob" er ein
+göttliches Gebot wäre) nur den Sinn, die sittlich praktische M o t i v
+i e r u n g der Realsetzung Gottes von Motivierung durch theoretische
+Begründung scharf zu unterscheiden. Die Realsetzung selbst ist aber auf
+diesem Wege bei Kant genau so ernst gemeint wie die Realsetzungen durch
+theoretische Erkenntnis; ja noch ernster -- nämlich im Sinne von
+metaphysischer, nicht nur empirischer Realität; der Gedanke der
+"Fiktion" oder gar bewußter Fiktion liegt unseres Erachtens Kant völlig
+fern. Als Ganzes stellt nach unserer Meinung das Werk Vaihingers den
+größten Mißgriff dar, den die deutsche Philosophie in den letzten
+Jahrzehnten getan hat. Um so interessanter ist seine starke Verbreitung
+-- ein wenig erfreulicher Ausdruck für die Mentalität weiter Kreise.
+
+Den neukantischen und positivistischen Schulen hat sich in den letzten
+Jahren eine im Wachsen befindliche r e a l i s t i s c h e
+erkenntnistheoretische Richtung entgegengestellt, die zugleich den
+Übergang bildet zu einer Reihe höchst bedeutsamer Versuche der W i e d
+e r e r w e c k u n g d e r M e t a p h y s i k (siehe dazu Peter
+Wust: "die Auferstehung der Metaphysik"). Diese Erscheinung ist nicht
+nur auf Deutschland beschränkt; auch in Frankreich, England und Amerika
+sieht sich der erkenntnistheoretische Idealismus und der
+positivistische Sensualismus immer mehr in den H i n t e r g r u n d
+gedrängt. (Vgl. dazu K. Oesterreich [sic]: "Die philosophischen
+Strömungen der Gegenwart".) Die neurealistischen Richtungen (einen
+Übergang zu ihnen bilden Riehl, Volkelt und E. v. Hartmann) gehen in
+ihrer Art der Begründung des Realismus freilich noch weit auseinander.
+Im großen ganzen lassen sich unterscheiden die Formen des
+altscholastischcn Realismus, des kritischen Realismus und des
+intuitiven und voluntativen Realismus. Gerade die historisch älteste
+dieser realistischen Formen, der scholastische Realismus, gewinnt in
+gewissem Sinne gegenwärtig wieder neues Interesse. Wie ich schon sagte,
+ist es ein eigentümliches Zeichen der letzten Philosophie, daß
+überhaupt die scholastische Philosophie in lebendigen Denkverkehr mit
+der modernen Philosophie getreten ist. Ein Grund dafür ist, daß die
+moderne Philosophie auf ganz verschiedenen Punkten rein aus sich selbst
+heraus auf manche scholastische Positionen gekommen ist. So gleicht zL.
+B. der Versuch Bergsons, in seinem Buche "Gedächtnis und Materie" zu
+zeigen, wie ein ursprünglich unmittelbar gegebenes S e i n in die
+Menschenerfahrung erst eingeht, um in ihr nach einer Reihe von
+Richtungen deformiert zu werden; gleichen ferner die amerikanischen
+neurealistischen Versuche (F. J. E. Woodbridge, E. B. Mc Gilvary u. a.)
+methodisch dem altscholastischen Vorgehen, die Erkenntnis ihrem Wesen
+nach auf ein Seinsverhältnis, d. h. die Teilnahme eines Seienden an
+einem anderen, zurückzuführen. Bergsons und anderer Versuche (auch
+Meinong und H. Schwarz in seinem Buche "Die Umwälzung der
+Wahrnehmungshypothesen" wären hier zu nennen), die Lehre von der O b j
+e k t i v i t ä t der Sinnesqualitäten wieder neu zu begründen, haben
+gleichfalls erkenntnistheoretisch in die Nähe der scholastischen
+Positionen geführt. H. Driesch kam durch seine modifizierte
+Wiedereinführung des aristotelischen Entelechiebegriffs in der
+Bearbeitung der Probleme des organischen Lebens gleichfalls der
+Scholastik weit entgegen. Andererseits hat die scholastische
+Philosophie in den letzten Jahren auch in unserem Lande Vertreter
+gefunden, die es wohl verstanden, sich der modernen Probleme von ihrem
+Standort aus scharfsinnig zu bemächtigen. Abgesehen von den neuen
+Erschließungen und Interpretationen bisher unbekannter Teile der
+mittelalterlichen Philosophie, die wir an erster Stelle Grabmann (siehe
+besonders seine höchst wertvolle "Geschichte der scholastiscben
+Methode" und seine Neueditionen) und den Forschungen Baeumkers und
+Baumgartens und dieser beider Schüler verdanken, sind auch
+selbständigere systematische Denker auf scholastischem Boden neuerdings
+hervorgetreten, so z. B. der verdiente E. L. Fischer, ferner Lehmen und
+besonders J. Geyser, der in seinen der Psychologie, der Logik, der
+Erkenntnistheorie und der Metaphysik gewidmeten Arbeiten, ferner in
+seinem Buche über Husserl und eine Verknüpfung ("Neue und alte Wege der
+Philosophie") der scholastischen Lehre mit der modernen Philosophie
+anstrebt. Das große psychologische Sammelwerk von Fröbes und die
+Arbeiten des aus der Külpeschen Schule hervorgegangenen
+Experimentalpsychologen Lindworsky (besonders "Das schlußfolgernde
+Denken", 1916, "Experimentelle Psychologie", 1921) haben ferner die
+scholastischen Positionen mit der ganzen Experimentalpsychologie eng
+verknüpft. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind freilich die
+Neuscholastiker in Deutschland mehr dem sogenannten "kritischen
+Realismus", der eine reale Welt erst mittels schließender Denkakte
+gewinnen will, zugeneigt, als dem altscholastischen Standpunkt, der
+schon in der Sinneswahrnehmung eine unmittelbare Erfassung realer
+Gegenstände erblickt und der überdies auf das Problem der modernen
+Philosophie: "Wie kommen wir zu einer realen Außenwelt?" von seinem
+Ausgangspunkte im Grunde gar nicht kommen kann, da er im Gegensatz zur
+modernen Philosophie (seit Descartes) von der primären Gegebenheit
+eines Seienden ausgeht und von ihm auch erst durch die Scheidung das
+ens reale vom ens intentionale die Möglichkeit von Bewußtsein und
+Erkenntnis verständlich machen möchte. Aber auch der altscholastische
+Realismus hat gegenwärtig eine alle wesentlichen Tatsachen der
+Sinnesphysiologie und Sinnespsychologie und alle bisher für die
+sogenannte sekundäre Natur aller oder einiger Sinnesqualitäten
+vorgebrachten Argumente berücksichtigende, sehr scharfsinnige und
+beachtenswerte Darstellung gefunden in Josef Gredts beiden Büchern: "De
+cognitione sensuum externorum", Rom 1913, und in deutscher Sprache in
+dem kürzlich erschienenen "Unsere Außenwelt, eine Untersuchung über den
+gegenständlichen Wert unserer Sinneserkenntnis" (1921). Der vom
+Verfasser vertretenen realistisch gerichteten Phänomenolgie ist trotz
+verschiedenen Ausgangspunktes der Standpunkt Gredts, nach dem auch der
+kritische Realismus, wenn er einmal die Gegenständlichkeit und Realität
+der unmittelbaren Sinneserkenntnis leugnet, notwendig in die
+Konsequenzen des vollständigen Idealismus getrieben werde, ähnlicher
+als der sogenannte "kritische Realismus" vieler Neuscholastiker (z. B.
+Mercier, Hertling und Geyser). Schon Otto Liebmann hatte einmal
+bemerkt, daß alle Ergebnisse der Naturforschung im Begriffssystem der
+aristotelischtn Metaphysik und Erkenntnislehre Platz hätten. Und in der
+Tat ist es ein großes Vorurteil, zu meinen, die Fortschritte einer
+ihrer Grenzen eingedenken positiven Wissenschaft könnten o h n e
+Zuhilfenahme rein philosophischer Wesenuntersuchungen über
+metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen überhaupt etwas Letztes
+entscheiden. Der ausgezeichnete französische mathematische Physiker und
+Historiker der theoretischen Physik, Pierre Duhem (sein Werk:
+"Geschichte der physikalischen Theorien", ist mit einer Vorrede von E.
+Mach auch in deutscher Sprache erschienen), hat Liebmanns Gedanken
+gewissermaßen in großem Maßstabe ausgeführt. Duhem suchte zu zeigen,
+daß gerade bei einer strengen mathematischen Formalisierung der
+theoretischen Physik die aristotelische Metaphysik mit der modernen
+Physik wohl vereinbar sei. Er hat stark auf den auch philosophisch bei
+uns wirksamen französischen Mathematiker H. Poincaré gewirkt
+("Wissenschaft und Hypothese", "Der Wert der Wissenschaft"), ist aber,
+mit ihm verglichen, der weitaus tiefere erkenntnistheoretische Denker.
+
+Den k r i t i s c h e n Realismus haben mit sehr verschiedenartiger
+Begründung in neuester Zeit eine große Reihe von deutschen Forschern
+neu zu begründen gesucht. Es seien hier genannt B. Erdmann, Meinong,
+Stumpf, Dürr, Oesterreich [sic], Messer, Störring, Freytag, Schlick,
+Becher, Troeltsch und vor allem O. Külpe in seinem zweibändigen (der
+zweite Band ist 1920 aus dem Nachlaß von Messer herausgegeben worden)
+Werke "Die Realisierung, ein Beitrag zur Grundlegung der
+Realwissenschaften"; ein dritter Band steht noch in Aussicht. Der
+Külpesche Versuch ist ohne Zweifel der ausgedehnteste, eingehendste und
+strengste, der seitens der kritischen Realisten zur Begründung ihrer
+These unternommen worden ist. Külpe gliedert die Hauptfrage in vier
+Unterfragen, deren Beantwortung er je einen Band widmen wollte: 1. Ist
+eine Setzung von Realem möglich? 2. Wie ist eine Setzung von Realem
+möglich? 3. Ist eine Bestimmung von Realem möglich? 4. Wie ist eine
+Bestimmung von Realem möglich? Nach einer ausgezeichneten und
+tiefdringenden kritischen Durchmusterung und Widerlegung der
+verschiedenen Formen des erkenntnistheoretischen Idealismus und
+positivistischen "Wirklichkeitsstandpunktes" im ersten Band untersucht
+Külpe im zweiten Band die in der Wahrnehmung und die in rationalen
+Grundsätzen und ihrer denkenden Anwendung gelegenen Gründe und endlich
+die "gemischten Gründe" für die Setzung einer Realität. De Prüfung der
+sechs rationalen Gründe ergibt deren Insuffizienz. Man kann weder von
+der induktiven Regelmäßigkeitsvoraussetzung (wie z. B. Becher), noch
+durch Schluß auf eine transzendente Ursache unserer Wahrnehmung, noch
+vom Ich auf ein vermeintlich begrifflich notwendig dazugehöriges
+Nichtich, noch von der bloßen (gegen Berkeley und W. Schuppe
+festgehaltenen) Widerspruchslosigkeit des Gedankens einer
+bewußtseinsunabhängigen Welt, noch vor dem Transzendenzbewußtsein
+unserer Denkakte (z. B. auch Erinnerungsakte) aus (wie es W. Freytag
+versuchte), noch von der ökonomischen Zweckmäßigkeit der Annahme einer
+realen Außenwelt auf deren Existenz schließen. Auch die in der
+Wahrnehmung im Unterschiede zu den "Vorstellungen" gelegenen immanenten
+Merkmale lassen nicht ohne weiteres eine reale Welt annehmen (wie es
+der altscholastische Realismus will); erst die "gemischten Gründe"
+sollen zum Ziel führen. Die Außenwelt müsse gesetzt werden: erstens als
+"Bedingung des von dem psychophysischen Subjekt in der Wahrnehmung
+Unabhängigen und als das Substrat der vorgefundenen selbständigen
+Gesetzlichkeit der Wahrnehmungen". Külpes Versuch bezieht sich nicht
+nur auf die Realität der Natursetzung, sondern umfaßt auch das Problem
+einer von der Beschreibung der Bewußtseinserlebnisse verschiedenen
+Realpsychologie, ferner auch das Problem der Realität des
+Vergangenheits- und Fremdbewußtseins und damit auch des
+Realitätsproblems in den Geisteswissenschaften. Wie immer man zu Külpes
+Werk im einzelnen stehen mag (der Verfasser kann sich nicht überzeugen,
+daß, wenn w e d e r in der Wahrnehmung für sich noch im Denken für sich
+Gründe zur Annahme einer realen Welt gelegen sind, sie in einer bloßen
+"Mischung" beider Momente gelegen sein könne), so verdient die
+ausgezeichnete Arbeit des vortrefflichen, für die Wissenschaft viel zu
+früh heimgegangenen Forschers doch die allerernsteste Beachtung und
+Würdigung.
+
+Der Richtung des intuitiven Realismus ist zuzuzählen vor allem die auch
+in Deutschland stark wirksame Philosophie H. Bergsons, ferner der in
+dem Buche "Die Grundlegung des Intuitivismus" niedergelegte Standpunkt
+des beachtenswerten russischen Philosophen Losskij. Obgleich der
+Realismus in der Weise dieser beiden Forscher aus dem Grunde nicht
+durchführbar sein dürfte, da uns Intuition, soweit es eine solche neben
+mittelbarem Denken und Sinneswahrnehmung gibt, nur d a s e i n s f r e
+i e s W e s e n (und Wesenszusammenhänge) geben kann, verdienen doch
+auch ihre Lehren ernstlichste Beachtung. Für die Existenz des fremden
+Bewußtseins überhaupt ohne Existenzsetzung eines bestimmten so oder
+anders beschaffenen Ichs nahmen neuerdings auch Scheler (siehe
+"Formalismus in der Ethik" und sein Buch "Über Sympathiegefühle",
+Anhang) und in etwas anders gefärbter Weise J. Volkel (siehe sein Buch
+"Über das ästhetische Bewußtsein") intuitive Evidenz in Anspruch. Für
+die Begründung einer R e a l p y s c h o l o g i e traten außer Külpe
+auch ein Scheler (siehe "Idole der Selbsterkenntnis" in "Abhandlungen
+und Aufsätze"), M. Geiger und H. Driesch ("Fragment über den Begriff
+des Unbewußten und die psychische Realität", 1921).
+
+Die Richtung des v o l u n t a t i v e n R e a l i s m u s ist vor
+allem -- ich sehe hier ab von ihren historischen Vorformen bei Maine de
+Biran, Bouterweek und Schopenhauer -- in neuester Zeit in einer
+Akademieabhandlung von Dilthey, Frischeisen-Köhler (siehe "Wissenschaft
+und Wirklichkeit", 1912), Scheler und E. Jaensch ("Über die Wahrnehmung
+des Raumes", Anhang) vertreten worden. Nach dieser Auffassung führt
+erst das unmittelbare Widerstandserlebnis irgendwelcher Gegenstände als
+wirklicher und möglicher "Widerstände" zur Setzung einer Realität
+überhaupt. Erst die Zuweisung eines in seinem Sosein schon bestimmten
+Gegenstandes in die zuvor schon gegebene S p h ä r e d e s R e a
+l e n ist von der Einreihbarkeit des Gegenstandes in gesetzliche
+Beziehungszusammenhänge (je nach dem Wesen der Gegenstände
+verschiedener Artung) abhängig. Analog sind nach Scheler die fünf
+Sphären: "Außenwelt", "Innenwelt", "Leib", "Fremdbewußtsein",
+"Gottheit", in de ein bestimmtes Reales hineingesetzt wird, als Sphären
+jedem endlichen Bewußtsein "vor" jeder bestimmten Erfüllung mit
+Inhalten unmittelbar anschaulich gegeben.
+
+Dem Denken kommt nur die Rolle zu, die Daseinsbestimmung einer
+bestimmten Realität vorzunehmen, soweit solche über die unmittelbare
+Erfahrung hinausgeht.
+
+Viel zu wenig beachtet ist nach Meinung des Verfassers innerhalb der
+engeren Philosophenkreise die ungemeine Befruchtung, die für alle
+Gebiete der Philosophie von der g e g e n w ä r t i g e n Psychologie
+mit Einschluß der Experimentalpsychologie auszugehen vermöchte, wenn
+ein tieferes Verständnis und eine größere gegenseitige Beachtung ihrer
+Arbeiten zwischen Philosophen und Psychologen stattfände. Dieselbe
+Forderung stellten neuerdings E. Jaensch, Krüger, Marbe, ferner die
+Schulen von C. Stumpf und Külpe. Die moderne Psychologie begann ihr
+Werk mit einseitiger Untersuchung der Empfindungstatsachen und mit
+Problemen der Größenmessung. Da diese Art der älteren
+Experimentalpsychologie sich bald eine Reihe philosophischer Lehrstühle
+anzueignen wußte, entstand in den engeren Philosophenkreisen ein
+gewisser Arger und, damit verbunden, auch eine weitgehende
+Nichtbeachtung ihrer Arbeiten. Man sagte: Diese neue Psychologie ist
+eine Spezialdisziplin der Naturwissenschaft; sie sei der Medizin und
+Sinnespsychologie zuzuweisen und habe mit Philosophie gar nichts zu tun
+oder doch nicht mehr wie irgendeine andere Spezialwissenschaft; darum
+gebührten ihr auch keine philosophischen Lehrstühle. Am schärfsten und
+im anmaßendsten Tone haben die Vertreter der Südwestdeutschen Schule
+dieser Meinung häufig Ausdruck gegeben. (Vgl. hierzu die treffenden
+Schilderungen dieser Dinge bei Fr. Krüger, "Über
+Entwicklungspsychologie", 1918.) Die zeitweise Herrschaft einer
+sogenannten "Psychologie ohne Seele" und einer strengen
+sensitivistischen und assoziationspsychologischen Auffassung der
+seelischen Tatsachen (die z. B. noch wesentliche Grundlage ist den in
+der Einzelbeobachtung ausgezeichneten Arbeiten über "Das Gedächtnis"
+von G. E. Müller in seinem großen Werke über "Das Gedächtnis") schien
+eine Zeitlang dieser Haltung neue Gründe zuzuführen. Dazu blieben die
+langwierigen, philosophischen Streitigkeiten über "psychophysischen
+Parallelismus" und "Wechselwirkung", die nur von allgemeinsten
+"Prinzipien", sei es der Erkenntnistheorie, sei es neugefundener
+physikalischer Wahrheiten ausgingen, (z. B. Vereinbarkeit des seit den
+Arbeiten von Rubner und Atwater auch für den organischen Austausch von
+Nahrung und Arbeit nachgewiesenen Satzes von der Erhaltung mit einer
+psychophysischen Wechselwirkung) nicht nur überaus unfruchtbar,
+sondern, was noch weit schlimmer war, ohne jeden fühlbaren Anschluß an
+die T a t s a c h e n f o r s c h u n g der empirischen und
+experimentellen Psychologie. Nun haben sich aber diese Verhältnisse mit
+der Zeit so g r u n d s ä t z l i c h und t i e f gewandelt, daß die
+antipsychologische Haltung vieler Philosophen jeder sinnvollen
+Grundlage entbehrt. Der sogenannte "Psychologismus", der für die
+Philosophie eine Zeitlang eine Gefahr scheinen mochte, ist beute
+grundsätzlich abgetan. Die Entwicklung zeigte ferner, daß, wie auch B.
+Erdmann in seiner "Reproduktionspsychologie" treffend betont hat, eine
+wirklich vollständige Ablösung der Psychologie von der Philosophie gar
+nicht möglich ist. Selbst bei den elementarsten Untersuchungen über
+Empfindungstatsachen (siehe z. B. den besonders von Köhler geförderten
+Streit über die Existenz "unbemerkter Empfindungen"), ferner in allen
+Fragen, welche nicht aufeinander zurückführbaren G r u n d a r t e n
+s e e l i s c h e r V e r k n ü p f u n g e n es überhaupt gebe,
+läßt sich die Philosophie gar nicht ausschalten. Auch die Meinung, es
+ließe sich eine empirische Psychologie errichten ohne bestimmte,
+erkenntnistheoretische oder metaphysische Überzeugungen über das "Ich",
+und sein reales Substrat hat sich gerade durch die Arbeiten der
+gegenwärtigen Philosophie und Psychologie als ganz falsch erwiesen. Die
+"Psychologie ohne Seele" gehört heute bereits der Geschichte an und
+nicht minder die Herrschaft der Meinung, die Psychologie könne sich mit
+der Schilderung bloßer Bewußtseinserscheinungen begnügen, und es könne
+zwischen diesen selbst ein reales kausales Band aufgefunden werden. Da
+ferner die moderne Psychologie sich längst von der einseitigen
+Empfindungsforschung abgewandt hat und mit unter Anregung der
+Husserlschen logischen Arbeiten sich der experimentell unterstützten
+systematischen Selbstbeobachtung (bei der nicht der Versuchsleiter,
+sondern die psychologisch geschulte Versuchsperson die psychologische
+Beobachtung und Erkenntnis vollzieht im Gegensatz etwa zu bloßen
+sogenannten Reaktionsversuchen) auch der höheren psychischen Funktionen
+des Wollens (N. Ach, Lindvorsky) und des Denkens (Külpe, Bühler,
+Störring, Lindworsky, Selz, Grünbaum) zugewandt hat, besteht nicht der
+mindeste Grund mehr, die Experimentalpsychologie etwa der
+Sinnespsychologie oder der Medizin oder überhaupt der
+"Naturwissenschaft" zuzuweisen. Die von Dilthey, ferner von der
+Phänomenologie und von K. Jaspers (siehe seine "Psychopathologie" und
+sein neuestes Werk über "Psychologie der Weltanschauungen") auch mit in
+de Psychiatrie hineingetragene Frage, wie sich die "Sinnzusammenhänge"
+des Seelenlebens von den "psychophysischen Kausalzusammenhängen"
+unterscheiden, und welche der beiden Arten von Psychologie (verstehende
+oder erklärende Psychologie) Grundlage für die Geisteswissenschaften
+sei, hat die Psychologie wieder in allerengste Verbindung mit der
+Philosophie geführt. Die von Chr. Ehrenfels und Cornelius auf dem Boden
+einer philosophischen Psychologie angeregten Probleme einer autonomen G
+e s t a l t g e s e t z l i c h k e i t der ursprünglichsten
+psychischen Gegebenheiten sind von Külpe, Bühler, Wertheimer, Koffka,
+Benussi, Gelb, Köhler und anderen in überaus wertvollen und für de
+Philosophie überaus wichtigen experimentellen Arbeiten so intensiv
+gefördert worden, daß die Philosophie sehr übel daran täte, wollte sie
+sich um diese Dinge nicht ernsthaft kümmern. Wie sehr die hier
+neuaufgedeckten Tatsachen und Probleme auch für die philosophische
+Klärung des Problems von Körper und Seele wichtig sind, zeigt die auf
+seinen Bewegungsarbeiten ursprünglich fußende neue Theorie von
+Wertheimer, daß als gehirnphysiologische Grundlage auch jeder
+einfachsten Wahrnehmung (die stets durch einen Aufmerksamkeitsfaktor
+mitbedingt und, nach ihrem Inhalt hin betrachtet, nie bloß "reine
+Empfindung", sondern immer schon "Gestalt" ist), ein sogenannter
+"Querprozeß" zwischen den gereizten Nervenenden der Gehirnrinde
+notwendig sei. Als eine neue sehr zu begrüßende Sammelstelle der neuen
+gestaltpsychologischen Richtung erscheint jetzt die eben gegründete
+Zeitschrift "Psychologische Forschung" (Springer 1921), besonders von
+Koffka, Köhler, Wertheimer, Goldstein, Gruhle, Köhler, der den Fragen
+der Relations- und Gestalterfassung auch auf dem Boden der
+Tierpsychologie in seinen auf der Station von Teneriffa gemachten
+optischen Versuchen an Affen nachgegangen ist (Schriften der
+Preußischen Akademie, Jahrgang 1915 und 1918 physik.-math. Klasse).
+Köhler hat durch sein neuestes Buch über "Physische Gestalten" (1921)
+das Wertheimersche Problem einem höchst bedeutsamen und für die gesamte
+Naturphilosophie wichtigen Zusammenhang eingereiht, indem er auch auf
+rein physikalischem Boden (Elektrostatik) nach einer selbständigen
+Gestaltgesetzlichkeit (die sich in summenhafte Kausalität nicht
+auflösen läßt) A n a l o g i e n für psychischen Gestalten aufsuchte.
+Endlich ist seit Brentanos "Psychologie vom empirischen Standpunkt" das
+insbesondere von E. Husserl und Karl Stumpf "Erscheinungen und
+Funktionen" (1906) neu aufgegriffene Problem entstanden, ob und wie
+weit A k t e u n d F u n k t i o n e n eine von "Erscheinungen"
+unabhängige variable Natur und Gesetzmäßigkeit besitzen und eine ganz
+neue Richtung der "Psychologie", die sogenannte Aktpsychologie, hat
+sich an diese Arbeiten angeschlossen. T. Konstantin Oesterreich hat
+sich in seinem grundlegenden Werke zur "Phänomenologie des Ich" ihr
+angeschlossen. Es gibt nach meiner Meinung kein wichtigeres und
+dringlicheres Desiderat für die künftige Philosophie und Psychologie
+als eine eingehende philosophische Durchleuchtung der durch die
+Resultate der verschiedenen psychologischen Diszipline gewonnenen
+Tatsachenerkenntnisse. Der Verfasser hat es sich mit zu einer
+Hauptaufgabe gesetzt, in einer Arbeit, die er unter der Feder hat,
+diese Dinge zu fördern. Endlich verdienen auch neue Z w e i g e, die in
+den letzten Jahren aus der Psychologie hervorgewachsen sind, genaue
+philosophische Beachtung. So die Pathopsychologie, die durch den Krieg
+(Kopfschüsse und Gehirnverletzungen) mächtig gefördert wurde, die
+neuere Tierpsychologie, die von W. Stern angebahnte differentielle
+Psychologie, die zukunftsreiche "Entwicklungspsychologie" Krügers,
+nicht minder auch die Religionspsychologie und die erst neuerdings
+besonders von Oesterreich, Dessoir, Driesch endlich auch in Deutschland
+aufgegriffenen Tatsachen und Probleme der Parapsychologie, d. h. der
+Psychologie der sogenannten okkulten Phänomene (siehe dazu besonders
+Oesterreich: "Probleme der Parapsychologie" und sein Buch über
+"Besessenheit", ferner Max Dessoir: "Das Jenseits der Seele"). Die
+Forscher, die sich gegenwärtig in der Richtung auf eine philosophische
+Durcharbeitung des neuen mächtig angewachsenen psychologischen
+Erkenntnismaterials bewegen, sind vor allem E. Husserl, W. Stern, E.
+Jaensch, Wertheimer, Köhler, Grünbaum, Lindworsky, Scheler, Driesch,
+Selz, Kronfeld, Koffka, Th. Haering. Wir sind überzeugt, daß auf diesem
+Wege sich eine weit tiefer gehende, freilich auch erheblich
+kompliziertere abschließende Theorie über den Z u s a m m e n h a n g
+ v o n L e i b u n d S e e l e ergeben wird, als es durch die leeren
+Prinzipienstreitigkeiten der Vergangenheit über Wechselwirkung und
+Parallelismus je der Fall sein konnte. Schon jetzt scheiden sich meines
+Erachtens drei nicht weiter aufeinander zurückführbare Gruppen von
+Verknüpfungsarten und Gesetzen geistig psychischer Geschehnisse (resp.
+Akte): 1. die mechanisch assoziativen, 2. die biopsychischen, bei denen
+es allein konkrete zielmäßige Ganzkausalität gibt, 3. die poetischen
+Intentionalgesetzlichkeiten, denen überall parallele Gegenstands-(resp.
+Wert-) gesetzlichkeiten entsprechen.
+
+Wenden wir uns nun den jüngsten Schichten der gegenwärtigen
+Philosophie, die zum größten Teil erst im 20. Jahrhundert ihren
+Ursprung haben oder doch in ihm ihre stärkere Auswirkung fanden, zu, so
+sind es weniger geschlossene S c h u l e n als einzelne
+Persönlichkeiten, welche der Philosophie die Richtung auf einen neuen
+Sachkontakt und gleichzeitig auf den Wiederaufbau der Metaphysik
+gegeben haben. Einen Übergang zu dieser neuen Artung von Philosophie
+bildet Wilhelm Dilhey (1833-1912) und die Forschergruppe, die von ihm
+ausgegangen ist. Dilthey selbst war zeit seines Wirkens von
+geschichtlichen und philosophischen Interessen gleichzeitig bewegt.
+Eine in manchen Zügen dem romantischen Geistestypus verwandte, ungemein
+reiche, zarte, genialische, aber auch problematische Natur (selten
+schloß er ein Werk ganz ab), schüttelte er in seiner Entwicklung nur
+langsam und nie vollständig die Ketten des historischen Relativismus
+von sich ab. Aber was er in seinen stets tiefdringenden, gelehrten und
+vor hellen intuitiver Erkenntnisgesichten erfüllten Abhandlungen gab,
+das trug, gleichgültig, ob er sein Grundproblem, "die Kritik der
+historischen Vernunft", ob er philosophiegeschichtliche oder
+literatur- und kunstwissenschaftliche oder philosophiesystematische
+Probleme behandelt, stets reiche Frucht. Auf sein bereits der
+Geschichte angehöriges Werk, das jetzt in seinen noch nicht ganz
+herausgegebenen gesammelten Schriften vorliegt, kann hier nicht
+eingegangen werden. Alle heutigen Versuche, eine "verstehende
+Psychologie" aufzubauen (Jaspers, Spranger, Scheler, Nohl,
+Schmied-Kowarcik und auch die hierhergehörigen Versuche der jüngeren
+Phänomenologen), wären ohne seine Wirksamkeit undenkbar gewesen. In
+seinem Versuche, die Erkenntnistheorie von "der Totalität des
+menschlichen Wesens" her, nicht nur von dem "verdünnten Saft bloßer
+Denktätigkeit" aus aufzubauen und (hierin den Positivisten ähnlich) die
+Erkenntnistheorie eng zu verbinden mit einer historischen Phasen- und
+einer Typenlehre der menschlichen Erkenntnis- und der
+philosophisch-metaphysischen Weltanschauungsformen, hat er in
+Frischeisen-Köhler seinen Hauptschüler gefunden. Sein Interesse an der
+Typologie der geistigen G e s t a l t e n des Menschentums, das er in
+zahlreichen Aufsätzen bekundet hat, und seine Ideen auf diesem Gebiet
+haben besonders Eduard Spranger stark angeregt. Sprangers jetzt in
+zweiter erheblich erweiterter Auflage erschienenes Buch über
+"Lebensformen" (1921) ist eine der reichsten und feinsinnigsten
+Abhandlungen verstehender Psychologie und zugleich typologischer
+angewandter Ethik, die wir auf diesem Gebiete besitzen. G. Wisch hat in
+seiner "Geschichte der Selbstbiographie", die freilich noch unvollendet
+ist, ein Problem ergriffen, das für die Frage der Abhängigkeit der
+Selbstauffassung des Menschen von seiner geschichtlichen Umwelt und den
+in ihr herrschenden Wertstrukturen von großer Bedeutung ist. H. Nohl
+hat Diltheys Ideen über die Weltanschauungstypen in der Philosophie,
+der dauernde Typenunterschiede des Menschentums entsprechen sollen und
+die in der Geschichte sich gleichsam mit nur immer neuem
+Erkenntnisstoff, der wachsenden Menschenerfahrung gemäß, ausfüllen, mit
+Glück auf das Gebiet des Studiums der künstlerischen Darstellungsformen
+übertragen. Der Metaphysik gegenüber verhielt sich Dilthey bis zu
+seinem Lebensende skeptisch. Er hielt sie im Gegensatz zur positiven
+Wissenschaft und zum religiösen Bewußtsein für eine nur historische
+Kategorie, die einmal völlig aus der Geschichte ausscheiden werde. Das
+vor allem macht gleichzeitig seine Verwandtschaft und seinen Gegensatz
+zum Positivismus aus, dessen geschichtsmethodische und philosophische
+Anschauungen er mit den deutschen, aus der Romantik entsprungenen
+Geschichtsauffassungen eigenartig zu verknüpfen suchte (siehe besonders
+"Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften",
+1910). Allen seinen Schülern wußte er mehr zu vermitteln als bloße
+Lehre -- auch etwas von seiner eigenen bedeutenden geistigen Form und
+Gestalt. Obgleich ihm Genauigkeit und Strenge in der Erkenntnistheorie
+fehlte, wie überhaupt eine letzte klare Basis für seine rein
+philosophischen Bestrebungen, hat er die Theorie der
+Geisteswissenschaften doch ungleich mehr befruchtet als die
+Südwestdeutsche Schule. Schon durch seine andersgeartete
+Problemstellung, die nicht "Logik der Geisteswissenschaften" (es gibt
+nur e i n e Logik), sondern die materialspendenden Quellen des
+historischen Denkens, d. h. die verschiedenen Stufen und Arten des V e
+r s t e h e n s fremden Erlebens, in den Mittelpunkt der Untersuchung
+gerückt hat, ist sein Unternehmen dem der Badischen Schule weit
+überlegen.
+
+Die bedeutsamste und wirksamste philosophische Bewegung der Gegenwart
+ist von der Jahrhundertwende ab in der sogenannten "P h ä n o m e n o l
+o g i e" aufgetreten. Das Wort darf vor allem nicht mit dem sogenannten
+"Phänomenalismus" (d. h. der Lehre z. B. Kants, daß wir nur
+"Erscheinungen", nicht die Dinge selbst erkennen) in Beziehung gebracht
+werden. Nicht der Gegensatz von "Wesen" und "Erscheinung", sondern der
+schon in der Scholastik als "grundlegend erkannte Gegensatz" von
+"existentia" und "essentia". "Wesen" und "Dasein" beherrscht das Denken
+dieser Forschergruppe; ferner deutet das Wort "Phänomenologie" an, daß
+es sich bei der Aufsuchung der in der Welt realisierten Wesenheiten
+(essentiae) vor allem um unmittelbar anschaulichen A u f w e i s
+handeln soll. Den Ausgangspunkt für diese Bewegung, die sich freilich
+in ihrem schwer durchschaubaren und auch aus Raummangel nicht zu
+schildernden Ablauf von überaus verschiedenen geschichtlichen
+Einflüssen genährt hat, bildete das Werk Edmund Husserls "Logische
+Untersuchungen", 2 Bände (2. Aufl. 1921). Der erste Band dieses überaus
+wirksamen Werkes galt einer Neubegründung der Logik. Jede Art von
+Empirismus, Psychologismus, Relativismus, Anthropologismus,
+Subjektivismus, den die herkömmliche Logik in sich aufgenommen hatte,
+wurde bis in seine letzten Schlupfwinkel verfolgt und aus der Logik zu
+entfernen versucht. Die logischen Wahrheiten sind nach Husserl streng
+evidente Gegenstandswahrheiten, die von aller Konstitution und etwaiger
+Veränderung der menschlichen Natur u n a b h ä n g i g sind. So war es
+vor allem der siegreiche Kampf gegen den bei J. St. Mill, Sigwart,
+Erdmann, Wundt und auch bei der sogenannten "normativen Logik" noch
+vorliegenden "Psychologismus", dem das Werk seine große Wirksamkeit
+verdankte. Obgleich dieser Band an erster Stelle reine Sachuntersuchung
+ist, hat er doch historische Anknüpfungspunkte; sie liegen, wie
+Grabmann gezeigt hat, schon in der Scholastik, soweit sie die
+platonisierende Richtung einhält (z. B. bei Bonaventura). Ferner haben
+Leibniz und sein später bis zu Husserls Wiederentdeckung völlig
+unbekannter Schüler, der große Logiker und fruchtbare Mathematiker
+Bolzano, der den Urteilsakt und den Satz "Ansich" als ideale
+Seinseinheit unterschied, ferner auch Lotze in seinem Logikkapitel über
+die "Platonische Ideenlehre" und Herbart in seinen logischen
+Bestrebungen analoge Ideen ausgesprochen. Die vollständige
+Vernachlässigung, ja der prinzipielle Ausschluß der Aktseite der
+Denkgebilde, und die im 1. Band herrschende Vorstellung, es könne unser
+Denken ohne Schaden für die Logik sogar etwa rein
+assoziationspsychologisch verstanden werden, läßt sich freilich n i c h t
+durchführen. Husserl selbst hat schon in seinem zweiten Bande diese
+Auffassung im Grunde stillschweigend zurückgenommen. Erst der zweite
+Band des Werkes brachte Untersuchungen, die in die Richtung der
+späteren Phänomenologie geführt haben, die indes hier noch mit
+deskriptiver Psychologie des Denkers identifiziert wird. Die zwei
+wichtigsten Bestandteile dieses zweiten Bandes bestehen in der
+ausgezeichneten und strengen Widerlegung aller seit Locke, Hume und
+Berkeley von einem großen Teil der modernen Philosophie bis zur
+Gegenwart fast wie selbstverständlich aufgenommenen nominalistischen
+Bedeutungs- und Begriffstheorie und in der sechsten Untersuchung,
+betitelt "Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis",
+die in ihrem zweiten Abschnitt den wichtigsten Begriffsgegensatz der
+"sinnlichen und kategorialen Anschauung" einführt, der nach meiner
+Meinungen u n m i t t e l b a r s t e n Ausgangspunkt für die
+Entstehung der Phänomenologie gebildet hat. Als der Verfasser im Jahre
+1901 in einer Gesellschaft, die H. Vaihinger in Halle den Mitarbeitern
+der "Kantstudien" gegeben hatte, Husserl zum erstenmal persönlich
+kennenlernte, entspann sich ein philosophisches Gespräch, das den
+Begriff der Anschauung und Wahrnehmung betraf. Der Verfasser,
+unbefriedigt von der kantischen Philosophie, der er bis dahin nahestand
+(er hatte eben schon ein halbgedrucktes Werk über Logik aus diesem
+Grunde aus dem Druck zurückgezogen), war zur Überzeugung gekommen, daß
+der Gehalt des unserer Anschauung Gegebenen ursprünglich weit reicher
+sei als das, was durch sinnliche Bestände, ihre genetischen Derivate
+und logische Einheitsformen an diesem Gehalt deckbar sei. Als er diese
+Meinung Husserl gegenüber äußerte und bemerkte, er sehe in dieser
+Einsicht ein neues fruchtbares Prinzip für den Aufbau der theoretischen
+Philosophie, bemerkte Husserl sofort, daß auch er in seinem neuen,
+demnächst erscheinenden Werke über die Logik eine analoge Erweiterung
+des Anschauungsbegriffes auf die sogenannte "kategoriale Anschauung"
+vorgenommen habe. Von diesem Augenblick an rührte die geistige
+Verbindung her, die in Zukunft zwischen Husserl und dem Verfasser
+bestand und für den Verfasser so ungemein fruchtbar geworden ist. Einen
+starken Zuwachs erfuhr die phänomenologische Bewegung in ihrer ersten
+Werdezeit dadurch, daß der ausgezeichnete und scharfsinnige Münchener
+Psychologe Th. Lipps durch die Einwirkung der "Logischen
+Untersuchungen" einen weitgehenden Umschwung seines ganzen Denkens
+erfuhr, der sich in seinen letzten Arbeiten klar kundtat. Diesen
+Umschwung machten seine hervorragendsten Schüler M. Geiger, A. Reinach,
+Pfänder und die ihnen nahestehenden jüngeren Forscher nicht nur mit,
+sondern sie schlossen sich, über Lipps überhaupt hinausgehend, den
+Husserlschen Positionen weitgehend an. So kam es schließlich zur
+Errichtung einer Sammelstelle für die phänomenologische
+Forschungsrichtung im "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
+Forschung", von dem bisher fünf Bände bei Niemeyer in Halle erschienen
+sind.
+
+Die Phänomenologie ist weniger eine abgegrenzte Wissenschaft als eine
+neue philosophische E i n s t e l l u n g, mehr eine neue T e c h n e
+d e s s c h a u e n d e n B e w u ß t s e i n s als eine bestimmte
+Methode des Denkens. Nur so wird es verständlich, daß die
+phänomenologische Bewegung nicht im selben Sinne die Einheit einer S c
+h u l e hervorgebracht hat, wie etwa die früher behandelten Kantschulen
+solche darstellen. Aus dem gleichen Grunde kann Phänomenologie nicht im
+selben Sinne als objektiver Wissensgehalt g e l e h r t werden, wie die
+Gedanken dieser Schulen. Nur durch fortgesetzte Ü b u n g dieser
+Bewußtseinshaltung ist es möglich, in die Ergebnisse der Phänomenologie
+tiefer einzudringen und selbst in ihr fortzuschreiten. Aus demselben
+Grund gehen auch die einzelnen, von Husserl angeregten Forscher und
+Forschergruppen in den R e s u l t a t e n viel weiter auseinander als
+die Angehörigen jener genannten Schulen, ohne doch darum ihre fühlbare
+Einheit, die eben in jener gemeinsamen neuen B e w u ß t s e i n s h a
+l t u n g liegt, verlieren zu müssen. Husserl selbst spricht, diese
+Bewußtseinshaltung charakterisierend, von einer "phänomenologischen
+Reduktion"; sie besteht darin, daß auf der Gegenstandsseite aller
+möglichen Gegenstände (physischer, psychischer, mathematischer,
+vitaler, geisteswissenschaftlicher Gegenstände) von dem zufälligen h i
+c e t n u n c D a s e i n d e r G e g e n s t ä n d e
+abgesehen und auf ihr pures W a s, das heißt ihr "W e s e n"
+hingeblickt wird; daß ferner analog der den Gegenstand erfassende
+intentionale Akt, aus dem psychophysischen Lebenszusammenhang des
+individuellen Menschen, der ihn vollzieht, gleichsam herausgelöst und
+gleichfalls nur nach seiner essentiellen Wasbestimmtheit
+charakterisiert wird. Diesen wesenserfassenden Akt, den unser geistiges
+Bewußtsein von Etwas vollzieht, nennt Husserl "Wesenschau" und
+behauptet, daß alle möglichen Theorien über das positive Wirkliche in
+solchen Wesenseinsichten und in Einsichten in solche
+Notwendigkeitsbeziehungen, die im G e h a l t e dieser "Wesen" selbst
+fundiert sind, ihren letzten tragenden Grund besäßen. Alle
+Wesenseinsichten, ob sie nun von psychischen oder von physischen oder
+von mathematischen Gegenständen handeln, sind, obgleich sie weder auf
+"eingeborenen Ideen" beruhen noch (wie nach Kant) bloße
+Funktionsgesetzlichkeiten der geistigen Akte, das heißt
+"Verstandsgesetze", ausdrücken gegenüber allem zufällig Wirklichen
+objektiv a priori gültig. Denn was immer von dem Wesen irgendwelcher
+Gegenstandsbereiche wahr ist und gilt, das muß auch gelten für alle
+möglichen Gegenstände dieses Wesens, soweit sie der zufälligen
+Daseinssphäre angehören. So begründet die Phänomenologie einen n e u a
+r t i g e n A p r i o r i s m u s, der nicht nur die rein formalen
+Sätze der Logik und der Axiologie in ihren verschiedenen
+Unterdisziplinen (Ethik, Ästhetik usw.) umfaßt, sondern auch materiale
+Ontologien entwickelt. Die Sphäre des apriorischen Wissens ist also in
+der Phänomenologie unvergleichlich reicher als im formalen Apriorismus
+Kants. Auch darin unterscheidet sich die Phänomenologie von Kants
+Lehre, daß sie das proton pseudos Kants verwirft, es müsse alles, was
+an Gegebenem n i c h t sensuell sei, erst durch eine hypothetisch
+angenommene, synthetische konstruierende Tätigkeit des Verstandes oder
+des Anschauens in den Erfahrungsgegenstand hineingekommen sein. Sie
+sucht das "Gegebene" überall möglichst s c h l i c h t, v o r u r t e i
+l s l o s und r e i n in möglichst dichte Anschauungsnähe zu bringen,
+um es dann durch phänomenologische Reduktion in sein W e s e n zu
+erheben. Das Apriori hat hier also keinen f u n k t i o n e l l e n
+S i n n mehr. (Freilich schwankt Husserl in seiner letzten Schrift
+"Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie" wieder über diesen
+fundamentalen Punkt.) Das Apriori ist, wie auch eine seiner Unterarten
+die kategorialen Formen, vielmehr Gegenstandsbestimmtheit, die von u n
+s e r e n Begriffen vom Apriori nicht genau zu unterscheiden ist.
+Ferner stellt das Apriori nicht mehr ein geschlossenes S y st e m von
+Einsichten dar, die sich voneinander herleiten ließen, sondern kann im
+Laufe der Entwicklung des Wissens immer neu vermehrt werden. Auch der
+Gegensatz von Erfahrung und Denken, um den die großen Richtungen der
+neuzeitlichen Philosophie, "Rationalismus" und "Empirismus", kreisen,
+ist hier von der Schwelle der Philosophie abgewiesen. Mit Recht hat
+Husserl immer wieder hervorgehoben, daß die Phänomenologie nicht nur
+die Einlösung sei alles Wahren, was die kontinentale rationalistische
+Richtung der Philosophie uns gegeben hat, sondern auch in gewissem
+Sinne die Einlösung aller Ansprüche des Positivismus. Auch das, was a
+priori evident ist, verdankt einem e r f a h r e n d e n (die
+Phänomenologie sagt hier "schauenden"), nicht einem schaffenden,
+formenden, konstruierendem Verhalten des Subjektes seine Erkenntnis,
+nur mit d e m Unterschied von aller Erkenntnis zufälliger (hic et nunc)
+Wirklichkeiten, daß das Ergebnis schauender Erfahrung durch die Q u a n
+t i t ä t der "Fälle", an denen Erfahrung sich vollzieht, nicht
+modifiziert werden kann. Nicht daher dem "Erfahren" überhaupt, sondern
+nur der Methode der B e o b a c h t u n g und der i n d u k t i v e n
+V e r a l l g e m e i n e r u n g an beobachtenden Fällen steht das
+phänomenologische Erfahren und "Schauen" gegenüber. Auch die
+Phänomenologie setzt so der Philosophie die Aufgabe, für alle ihre
+Disziplinen die a p r i o r i s c h e n W e s e n s - u n d I d e e
+n s t r u k t u r e n, die als objektiver Logos die gesamte
+Weltwirklichkeit durchflechten und (im Sinne der Gültigkeit)
+beherrschen, aufzudecken und alle positiven Wissenschaften und ihre
+materialen Seinsbereiche in dieser Struktur gemeinsam zu verwurzeln.
+Sie kann, geschichtlich gesehen, auch als eine Erneuerung eines i n t u
+i t i v e n P l a t o n i s m u s angesehen werden, freilich mit
+vollständiger Beseitigung der platonischen Ideenverdinglichung und
+aller mythischen Beisätze. Und es ist wohl verständlich, daß von dieser
+ihrer Eigenart her die Phänomenologie neuerdings auch mit der gesamten
+p l a t o n i s c h - a u g u s t i n i s c h e n Philosophie der
+patristischen und frühmittelalterlichen Philosophie, zum Teil aber auch
+mit dem Aristotelismus, stärkere Fühlung genommen hat. Freilich gehen
+in der Beantwortung sehr wesentlicher philosophischer Fragen und nicht
+weniger in der Auffassung und Methode der Phänomenologie selbst die ihr
+nahestehenden Forscher oft weit auseinander. Abgesehen von den
+Weltanschauungsgegensätzen unter den Phänomenologen, der zum Teil in
+verschiedenen religiösen Auffassungen gegründet ist, treffen wir z. B.
+eine mehr systematisch gerichtete und eine mehr auf
+Einzeluntersuchungen gerichtete Tendenz in der Phänomenologie. So
+wertvoll viele dieser Einzeluntersuchungen sind (besonders diejenigen
+Alexander Pfänders), so muß sich die Phänomenologie doch hüten, zu dem
+zu werden, was ich andernorts "Bilderbuchphänomenologie" genannt habe;
+ferner bestehen Gegensätze in der Auffassung jener, die, wie einst
+Husserl selbst, die Phänomenologie der beschreibenden Psychologie zu
+nahe rücken (z. B. Jaspers, Katz und Andere) oder hier doch nur ihre
+Fruchtbarkeit sehen wollen und jenen, die sie vor allem als a p r i o r
+i s c h e W e s e n s e r k e n n t n i s irgendwelcher -- auch nicht
+bewußtseinimmanenter -- Gegenstände auffassen. Am tiefsten aber ist der
+Gegensatz unter den Phänomenologen in den erkenntnistheoretischen
+Fragen. Er ist dadurch besonders gesteigert worden, daß E. Husserl in
+seinem letzten Werk über "Ideen" usw. sich dem erkenntnistheoretischen
+Idealismus Berkeleys und Kants, sowie der Ichlehre Natorps wieder
+bedeutend genähert hat und die Phänomenologie nur als Wesenslehre von
+den B e w u ß t s e i n s s t r u k t u r e n (die durch zufällige
+Erfahrungen unwandelbar sind) auffaßt; gleichzeitig aber, ähnlich wie
+Kant, diese Bewußtseinsstrukturen zu Voraussetzungen auch der
+Gegenstände der Erfahrung selber macht. Auch ihm werden so die Gesetze
+der Erfahrung der Gegenstände zugleich Gesetze der Gegenstände aller
+möglichen Erfahrung ("kopernikanische Wendung" Kants). Diese
+eigenartige Wendung Husserls, nach der auch bei Aufhebung aller Dinge
+ein "a b s o l u t e s B e w u ß t s e i n" erhalten bliebe, ist fast
+von allen den von ihm angeregten Forschern a b g e l e h n t worden
+und sie ist zugleich ein Haupthindernis für den Aufbau einer Metaphysik
+auf wesenstheoretischer Basis. Die Einwirkung der Phänomenologie auf
+die Philosophie der Gegenwart erstreckt sich auf alle philosophischen
+Disziplinen. Auf Ethik, Wertlehre, Religionsphilosophie und verstehende
+Psychologie hat die phänomenologische Einstellung in seinen Forschungen
+auch der Verfasser angewandt (siehe "Der Formalismus in der Ethik",
+"Phänomenologie der Sympathiegefühle", "Abhandlungen und Aufsätze",
+"Vom Ewigen im Menschen"); nach der Seite der Philosophie der
+Mathematik und der Grundlegung der Ästhetik Moritz Geiger (siehe
+Jahrbucharbeiten); nach der psychologischen und logischen Seite
+Alexander Pfänder (siehe gleichfalls Jahrbuch); nach der
+erkenntnistheoretischen und rechtsphilosophischen Adolf Reinach, ein
+überaus tiefgründiger und zukunftsreicher Forscher, der zum Schaden für
+die deutsche Wissenschaft im Kriege gefallen ist. (s. seine eben jetzt
+bei Niemeyer in Halle erschienenen, in einem Band zusammengefaßten
+Abhandlungen). Aber weit über diesen älteren und engeren Forscherkreis
+hinaus hat die Phänomenologie nicht nur eine Anzahl höchst
+zukunftsreicher jüngerer Forscher in ihren Reihen (hier seien nur D.
+von Hildebrand, Heidegger, Frau Connad-Martius, A. Koyré, W. Schapp,
+Leyendecker, E. Stein genannt), sondern hat weit darüber hinaus auch
+auf die gesamte Wissenschaft unserer Zeit stark eingewirkt. Aus der
+Südwestdeutschen Schule hatte sich ihr E. Lask, von Marburg her hat
+sich ihr N. Hartmann genähert. Brunswigg hat, von ihr ausgehend, ein
+wertvolles Buch über Psychologie der Relationen und eine für die
+Kantkritik wertvolle Schrift geschrieben. P. F. Linke hat die
+Phänomenologie für die Expenmcntalpsychologie fruchtbar zu machen
+gewußt (siehe "Grundfragen der Wahrnehmungslehre", 1918). Der
+theoretische Physiker und Mathematiker Weyl hat sein ausgezeichnetes
+Buch über die Relativitätstheorie Einsteins gleichfalls auf
+phänomenologischer Basis aufgebaut. Auch die Diltheyschule hat sich
+ihr, wie übrigens Dilthey kurz vor seinem Tode selbst, in mannigfacher
+Hinsicht genähert. Driesch ist in seiner "Ordnungslehre" weitgehend von
+ihr beeinflußt worden; auch auf de scholastische Philosophie blieb sie,
+wie Geysers "Alte und neue Wege der Philosophie" zeigen, nicht ohne
+Einfluß. Obgleich viele fundamentale Fragen der Philosophie in ihr noch
+ungeklärt sind, darf doch erhofft werden, daß von der Phänomenologie
+aus sich allmählich ein E i n h e i t s b o d e n d e r B e t r a c
+h t u n g f ü r d i e g a n z e P h i l o s o p h i e
+entwickelt, von dem aus eine neue universale Sachphilosophie, wie wir
+sie anfangs forderten, sich entfalten kann.
+
+In Oesterreich kommt die Brentanoschule (Marty, Höfler, Meinong) aus
+eigenen Antrieben einigen der phänomenologischen Tendenzen weitgehend
+entgegen. Marty, der Brentano am nächsten steht, ist vor wenigen Jahren
+gestorben; sein höchst wertvoller Nachlaß, besonders seine ausgedehnten
+Untersuchungen zur Sprachphilosophie und eine die Probleme von Raum und
+Zeit betreffende Arbeit ist vor kurzem bei Niemeyer (Halle) erschienen.
+Meinong, dessen geistige Entwicklung und Leistung am besten durch sein
+im Buch "die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen"
+gegebene, sehr schön geratene und jetzt nach seinem Tode besonders
+wertvolle Selbstdarstellung kund wird, hat in seiner neubegründeten
+"Gegenstandstheorie" gleichfalls das Ideal einer daseinsfreien
+aprioristischen Gegenstandserkenntnis entworfen, die seine Schüler,
+besonders Mally, weiter ausgebaut haben. Der Unterschied der
+Gegenstandstheorie von der Phänomenologie bleibt gleichwohl tiefgehend.
+Der Gegenstandstheorie fehlt vor allem der i n t u i t i v e C h a r
+a k t e r der Phänomenologie. In seinem letzterschienenen Buche über
+"Emotionale Präsentation" hat sich Meinong in der in diesem Buche neu
+behandelten Theorie der Werte und Wertungen dem Standpunkt erheblich
+genähert, den der Verfasser in seiner Ethik vertreten hat.
+
+Große Verwandtschaft, besonders mit der erkenntnistheoretischen
+realistisch gerichteten Phänomenologie weist ferner das Werk eines
+Mannes auf, der, viel zu wenig beachtet, einer der gründlichsten und
+originellsten Denker unter den gegenwärtigen Philosophen darstellt. Ich
+meine Johannes Rehmke, der in seiner "Grundwissenschaft" in seiner
+"Logik" und in seiner "Psychologie" gleichfalls von dem als "gegeben
+Gehabten" ausgeht und eine Ontologie des Gegebenen und seiner
+Grundformen zur Basis aller theoretischen Philosophie macht (siehe auch
+seine Selbstdarstellung in dem obengenannten Werke). Freilich blieb
+Rehmkes Einfluß bisher auf kleine Kreise beschränkt, so daß sie die
+Würdigung, die sie verdient, noch lange nicht gefunden hat.
+
+Unter den selbständigen Einzelpersönlichkeiten, die in der
+gegenwärtigen Philosophie hervorragen, sind besonders als W i e d e r e
+r w e c k e r d e r M e t a p h y s i k vier Namen zu nennen: W.
+Stern, H. Driesch, H. Schwarz und E. Becher.
+
+Alle Wiedererwecker der Metaphysik sind erkenntnistheoretische
+Realisten; alle wollen sie keine Metaphysik "aus reinen Begriffen"
+(Kant), sondern eine Metaphysik, die auf dem Boden der
+Erfahrungswissenschaft ruht, aber gleichzeitig in einer apriorischen
+Bedeutungslehre ein Sprungbrett besitzt, um mit Hilfe der Methode der
+Analogie über das direkt und indirekt Erfahrbare der positiven
+Wissenschaften noch hinauszugehen. Die Richtung der modernen
+metaphysischen Versuche geht im allgemeinen auf eine Neubegründung des
+T h e i s m u s hinaus. Ohne bewußte historische Anknüpfung nähert
+sich die Metaphysik so der deutschen Theistenschule der 50er und 60er
+Jahre (Weiße, Ulrici, H. Fichte, Lotze). So gehören Külpe, H. Schwarz,
+Brentano, Ehrenfels, Scheler, Driesch, Oesterreich, Becher, Jellinek,
+Stern unter den Vertretern der modernen Metaphysik der theistischen
+Gedankenrichtung an, wie verschieden sie auch je ihren Theismus und
+Personalismus begründen. Es ist also ein besonderes Merkmal der
+gegenwärtigen Metaphysik, daß sie im scharfen Gegensatz zur Metaphysik
+der klassischen Epoche (noch mit Einschluß E. von Hartmanns) auffällig
+u n p a n t h e i s t i s c h und stark p e r s o n a l i s t i s c h
+ist. Ich habe a.a.O. (siehe "Vom Ewigen im Menschen", Band 1) gezeigt,
+wie der moderne Pantheismus sich einmal durch die Entwicklung vom
+akosmistischen zum naturalistischen Pantheismus (Hegel bis zum modernen
+Modernismus), sodann durch Aufnahme immer neuer i r r a t i o n a l e r
+Faktoren in den Weltgrund (Schelling, Schopenhauer, von Hartmann,
+Bergson) in immer größerem Maße selbst zersetzt hat. Auch ist es wohl
+begreiflich, daß in einer so chaotischen und leidenden Zeit wie der
+unsrigen der Pantheismus (im Grunde eine Denkweise harmonisierend
+gerichteter synthetischer und abschließender Kulturzeitalter) keinerlei
+s e e l i s c h e A t m o s p h ä r e besitzt. Eine dritte Tendenz
+der modernen Metaphysik ist die Aufnahme der biologischen Grundfragen
+in das Zentrum der metaphysischen Probleme und eine gewisse, nach
+meiner Meinung zu starke Neigung, die metaphysischen Fragen besonders
+von dieser Seite her zu lösen (Bergson, Driesch, Stern).
+
+Neben dem Gottesproblem ist von der modernen Metaphysik auch die
+Seelenfrage und das Problem der Willensfreiheit eingehender behandelt
+worden. Auch in der Seelenfrage hat die theistische und
+antipantheistische Auffassung der Seele als selbständiger, tätiger
+Substanz wieder größeren Anhang erhalten (Stern, Driesch, Oesterreich,
+Külpe, Scheler, Becher). Vor allem aber ist die tiefgehende Wandlung
+des modernen metaphysischen Denkens an der Stellungnahme führender
+Forscher zum Problem der Willensfreiheit kenntlich. Während vor etwa
+zehn Jahren die mannigfachen Formen des "Determinismus" in fast
+ausschließlicher Herrschaft standen, treten gegenwärtig eine große
+Reihe bedeutender Forscher für die Lehre von der F r e i h e i t d e s
+m e n s c h l i c h e n Willens ein. Es seien hier genannt James,
+Bergson, K. Joël, dem wir ein besonders tiefgehendes Buch über die
+Frage verdanken, Driesch, H. Münsterberg, Scheler, N. Ach, der in
+seinem Buche "Der Wille und das Temperament" mit am meisten getan hat,
+um die Willenstatsachen experimentell-psychologisch zu erklären, steht
+gleichfalls der Lehre vom freien Willen nahe.
+
+Unter den genannten Metaphysikern, die diese allgemeine Richtung
+einhalten, dürfte Stern, Becher und Driesch die größte Bedeutung
+zukommen. William Stern, dessen Hauptwerk "Person und Sache" noch
+unvollendet ist, versucht den Begriff der "Person" als ein
+psychophysisch indifferentes, zieltätiges Aktionszentrum zur Grundlage
+der Metaphysik zu machen -- eine Auffassung, die manches mit der
+Personlehre des Verfassers, wie er sie in seinem Buche über Ethik
+entwickelt hat, gemeinsam hat, in anderer Richtung aber an Driesch und
+von Hartmanns konkreten Monismus erinnert. Das wertvolle Buch Sterns
+enthält auch eine sehr beachtenswerte Auseinandersetzung mit der
+passivistischen und mechanistischen Biologie und der gleichsinnigen
+Assoziationspsychologie, die einer scharfsinnigen und weittragenden
+Kritik unterworfen werden. Sterns "teleomechanischer Parallelismus" der
+alle formalmechanischen Beziehungen im Universum nur als M i t t e l
+s y s t e m e für zwecktätige unbewußte Akte und Kräfte faßt, in denen
+sich eine Hierarchie zwecktätiger "Personen" verschiedener Seins- und
+Wertstufen immanent auswirken, ist ein sehr beachtenswerter Gedanke.
+Freilich erscheint uns Sterns Vorgehen bislang noch zu dogmatisch, auch
+ist bei Stern übersehen der Wesensunterschied von "Geist" und "Leben",
+der hier in einen bloß graduellen Unterschied aufgelöst wird. Erich
+Becher, der von der Naturphilosophie herkommt, ragt hervor durch seine
+wertvollen naturwissenschaftlich-synthetischen Arbeiten (siehe seine
+"Naturphilosophie" in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart"), die
+allerdings eines selbständigen philosophischen Ausgangspunktes
+ermangeln und noch zu sehr der Methode des Positivismus huldigen,
+naturwissenschaftliche Resultate bloß nachträglich in eine Synthese zu
+bringen. In seinem Werk über "Gehirn und Seele" und vor allem in seinem
+Buche über "Die fremddienliche Zweckdienlichkeit in der Natur" (die er
+an den Gallenbildungen erläutert) hat er die Anfänge einer Metaphysik
+entwickelt. Sie gewinnt ihren Abschluß in der Annahme eines
+"überindividuellen Psychischen", das die Erfahrungen und funktionellen
+Anpassungen des Organismus während seines Lebens verwertet und alle
+jene Erscheinungen verständlich machen soll, die auf eine E i n h e i t
+des organischen Lebens in allen Arten und Gattungen hinweisen (neben
+der fremddienlichen Zweckdienlichkeit, Ähnlichkeit von Organbildungen
+bei stammesgeschichtlicher weitgehender Verschiedenheit, Tatsachen der
+Sympathie, Erklärung all derjenigen Entwicklungserscheinungen, die
+weder lamarckianistisch, n o c h darwinistisch erklärbar sind,
+Erblichkeit funktionell erworbener Eigenschaften, die gleichwohl vom I
+n d i v i d u u m als solchem nicht erworben sein können usw.). Zu
+einem noch selbständigeren, einheitlicheren und geschlosseneren Aufbau
+einer Metaphysik, die gegenwärtig großen Einfluß gewinnt, ist Hans
+Driesch gelangt, Er hat jüngst seine Gedanken im Aufsatz "Mein System
+und sein Werdegang" (siehe "Philosophie der Gegenwart in
+Selbstdarstellungen", Band 1) kurz zusammengefaßt. Driesch kam von der
+Naturforschung aus (Entwicklungsmechanik) in die Philosophie; seine
+Hauptleistung stellt auch heute noch dar seine "Philosophie des
+Organischen" (die eben in zweiter Auflage erschienen ist, bedeutend
+vermehrt und erweitert), ein Werk, das zweifellos die bedeutendste
+naturphilosophische Leistung darstellt, welche die deutsche
+gegenwärtige Philosophie besitzt. Driesch versucht hier aus einer an
+der Hand der modernen Entwicklungsmechanik, die er selbst stark
+förderte, gewonnenen Analyse der Formbildung des Organismus und einer
+Analyse der Handlung des Organismus s t r e n g e B e w e i s e für
+seinen neuartigen "Vitalismus" zu erbringen. Bei aller Formbildung und
+allen überreflexmäßigen "Handlungen" des Organismus müsse ein Agens
+tätig sein, dem ganz bestimmte Merkmale und eine ganz bestimmte
+gesetzmäßige Wirksamkeit zugeschrieben werden. Es heißt als
+hypothetischer Wirkfaktor der Handlungen "Psychoid", als dynamischer
+Wirkfaktor der Formbildungen "Entelechie" (was indes keine strenge
+Identität mit dem aristotelischen Entelechiebegriff bedeutet). In
+seiner eigentlichen Metaphysik sucht nun aber Driesch zu zeigen, daß
+nicht nur das "Psychoid" mit der "Entelechie" in der metaphysischen
+Wirklichkeitssphäre identisch seien, sondern daß auch die unserem
+kontinuierlichen "Selbst" zugrunde zu legende, aus den passiven
+Bewußtseinserscheinungen erschlossene reale Seele mit dem durch rein
+objektive Naturbetrachtung gewonnenen entelechialen und psychoidealen
+Faktor identisch sei. Diesen Gedanken hat Driesch besonders in seinem
+Werk "Leib und Seele", in dem er den psychomechanischen Parallelismus
+(besonders durch eine Mannigfaltigkeitsbetrachtung) widerlegt,
+ausgeführt. Eine erkenntnistheoretische und logische Basis für diese
+Metaphysik hat Driesch entwickelt in seiner "Ordnungslehre" und in
+seinem Buch "Erkennen und Denken"; die Gesamtheit seiner metaphysischen
+Gedanken hat er zusammengefaßt in seinem Buche über
+"Wirklichkeitslehre". Ausgehend von einem "methodischen Solipsismus",
+entwickelt er in einer besonderen "Selbstbesinnungslehre" zuerst ein
+apriorisches System von Bedeutungen und d e n k m ö g l i c h e n
+Beziehungsformen. In der Art, wie dies geschieht, ist er durch Husserl
+und Meinong stark beeinflußt. Sein Gegenstandsbegriff ist von Meinong
+übernommen. Die Schwäche der Driesch'schen Metaphysik (von ihren
+Mängeln, dem fast vollständigen Übergehen sowohl der sittlichen als der
+geistig historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit als Daten auch für
+die Metaphysik abgesehen) scheint mir weniger in seinen höchst
+wertvollen biologischen Positionen als in seiner Naturphilosophie des
+Anorganischen zu liegen, in der er einem Mechanismus, der einem
+veralteten Stande der theoretischen Physik entspricht, huldigt. Ferner
+kommt auch bei ihm, ähnlich wie bei Stern, der Unterschied der
+spezifisch g e i s t i g e n Akte und ihrer autonomen Gesetzlichkeit
+gegenüber dem biopsychischen Tatsachenbereich n i c h t zu seinem
+Rechte. Dadurch entsteht die Gefahr eines pantheistisch gefärbten
+Allvitalismus, der durch seine neuesten Ausführungen in der
+"Philosophie des Organischen" über "Einheit und Pluralität" der
+Entelechien, in denen er stark der Einheitslehre zuneigt, noch größer
+geworden ist. Jedoch kann bei diesem entwicklungsreichen und
+großzügigen Denker über die endgültige Gestaltung seiner Philosophie in
+diesen Punkten noch nichts Sicheres ausgesagt werden.
+
+Die unmittelbarste Einwirkung vielleicht, welche die großen
+Weltereignisse auf den Gang der deutschen Philosophie ausgeübt haben,
+haben ohne Zweifel an erster Stelle die R e l i g i o n s p h i l o s o
+p h i e und die P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n
+d G e s e l l s c h a f t erfaßt. Sowohl die gewaltige r e l i g i ö
+s e Bewegung unserer Tage wie der Hiatus der europäischen Geschichte
+(und die Gesamtheit von Bestrebungen zu sozialer Neuformung) mußten
+auch die Philosophie stark in ihren Bereich ziehen. Religiöse Bewegung
+und religionsphilosophisches Denken stehen heute in stärkster
+Wechselwirkung. Auf die religiösen oder gar kirchlichen Bewegungen
+selbst können wir hier nicht eingehen (siehe hierzu meinen Aufsatz über
+"Friede unter den Konfessionen" im "Hochland" und mein Buch "Vom Ewigen
+im Menschen", Band 1). Will man der gegenwärtigen religiösen Bewegung
+ein allgemeines Merkmal zuerteilen, so wird man vor allem von einer
+Hypertrophie m y s t i s c h e r Tendenzen in allen Sonderarten der
+religiösen Bewegung und auf allen Gebieten (Philosophie, Kunst,
+Dichtung) reden können. Diese Bewegung umfaßt sowohl den katholischen
+und den protestantischen Kulturkreis als jene Kreise, die eine "neue
+Religion" wollen. Die gesamte mystische Bewegung steht stark unter dem
+Einfluß des Ostens, so der großen russischen religiösen Denker
+(Tolstoi, Dostojewski, Mereschkowski, Solowjew), aber auch der
+indischen und chinesischen alten Weisheitslehren (siehe z. B. die
+Wirksamkeit R. Tagores), Die immer stärker anwachsende
+anthroposophische Bewegung R. Steiners, deren Ideen auch die
+philosophisch von Driesch stark beeinflußten, in vieler Hinsicht sehr
+wertvollen Gedanken des physikalischen Chemikers K. Jellinek in seinem
+lesenswerten Buche "Das Weltengeheimnis" eigentümlich färben, steht
+gleichfalls unter östlichem Einfluß (z. B. Wiederverkörperungslehre,
+der auch H. Driesch nahesteht). Die expressionistische Kunst der
+Gegenwart, die im "Weißen Reiter" auch einen vorwiegend katholischen
+Ausdruck gefunden hat, steht gleichfalls stark unter diesen östlichen
+Einflüssen. Am befremdlichsten wirkt hierbei die mystische Bewegung
+innerhalb des protestantischen Kulturkreises, um so mehr, als die
+vorwiegende protestantische Theologie, besonders die Schule A.
+Ritschls, vor den Kriege aller Mystik äußerst abhold war und in ihr
+überall "katholisierende Tendenzen" witterte. Der Ausspruch Harnacks:
+"Ein Mystiker, der nicht katholisch würde, sei ein Dilettant" ist für
+die ältere Stellung der protestantischen Theologie in schärfstem
+Gegensatz zur Gegenwart charakteristisch. Sehr häufig verbindet sich
+die östlich gefärbte Mystik unserer Tage, die man mit Recht in eine
+geschichtliche Parallele einerseits mit dem unseren Zeitalter so
+ähnlichen Hellenismus der Spätantike, andererseits mit den
+Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Auftreten des
+Pietismus) gesetzt hat, auch mit einer östlichen Orientierung in der
+Politik (siehe z. B. die Schriften des Heidelberger Philosophen H.
+Ehrenberg und die Arbeiten E. Rosenstocks). Es ist noch fraglich, wie
+weit die Gesamtheit dieser Erscheinungen als bloße Flucht der Seele aus
+den Wirren der Zeit und wie weit sie als p o s i t i v e
+Ausgangspunkte einer neuen lebendigen Religiosität zu werten sind.
+Bisher hat das Ganze noch einen stark chaotischen Charakter. Innerhalb
+des katholischen Kulturkreises, in dem gegenwärtig eine große geistige
+Regsamkeit wahrzunehmen ist, stellen sich die mystischen Tendenzen noch
+am geformtesten dar und werden außerdem durch eine ihnen in gewissem
+Sinne entgegengesetzte Bewegung, die von den Benediktinern inaugurierte
+"liturgische Bewegung" in Schranken gehalten. Hier bemüht man sich vor
+allem, "wahre und falsche Mystik" zu unterscheiden (siehe besonders die
+Aufsätze von A. Mager in der "Benediktinischen Monatschrift" und im
+katholischen Sonderheft der "Tat"; für die liturgische Bewegung siehe
+vor allem die vom Abt J. Herwegen herausgegebene Schriftenreihe
+"Ecclesia orans", besonders R. Guardini: "Vom Geist der Liturgie").
+Trotz des tiefen inneren Gegensatzes der mystischen, mehr an das
+Mittelalter und die Gotik anknüpfenden Bewegungen und der liturgischen
+a l t k i r c h l i c h e n Bewegung gewinnen beide Tendenzen eine Art
+Einigung wieder dadurch, daß manche katholischen Denker auch in der
+Philosophie und Theologie stärker an die mystischer gefärbte
+platonisch-augustinische Auffassung anknüpfen, die mit den liturgischen
+Bestrebungen ja auch den alt- und frühkirchlichen historischen
+Grundcharakter teilen. In der Philosophie ist auf
+religionsphilosophischem Boden dieser sich allenthalben wieder stärker
+regende A u g u s t i n i s m u s (freilich stark modifiziert) auch mit
+der Phänomenologie (die, wie bemerkt, ja selber stark platonisch
+orientiert ist) in Verbindung getreten durch das Werk des Verfassers
+"Vom Ewigen im Menschen", Band 1, in dem versucht wurde, sowohl der
+Metaphysik als der Religionsphilosophie (das letztere durch
+Aufrechterhaltung eines selbständig religiösen und unmittelbaren
+Faktors in der religiösen Gotteserkenntnis) eine neue Selbständigkeit
+zu geben ("Konformitätssystem von Glauben und Wissen"). Auf ganz
+anderem philosophischen Boden (mit Anknüpfung an die modernen
+Kantschulen) hat J. Hessen den "augustinischen Gottesbeweis" wieder zu
+Ehren zu bringen versucht, und auch Switalsky hat ihm in seinen
+Arbeiten wieder ein größeres Recht eingeräumt, als die vorwiegend
+thomistische Richtung ihm bisher gewährte. Auch diese Tendenz ist wohl
+verständlich sowohl aus dem a l l g e m e i n e n Streben wieder
+stärker an frühkirchliche geistige Erscheinungen anzuknüpfen, als vor
+allem auch daraus, daß es sich heute nicht darum handeln kann, so wie
+zu Zeiten des Thomas von Aquin das relative R e c h t von Natur und
+Vernunft gegenüber einer stark im Übernatürlichen versunkenen mächtigen
+und einheitlichen christlich erfüllten Welt sicherzustellen, sondern u
+m g e k e h r t darum, eine ganz und gar in das Weltliche und
+Materielle versunkene weltanschaulich tiefpartikularisierte
+Gesellschaft Gott und die göttlichen Dinge wieder geistig
+nahezubringen. An Stelle der bloßen "ars demonstrandi", die
+erfahrungsgemäß nur dort überzeugt, wo traditioneller Glaube den
+Menschen bereits beherrscht, tritt hier eine "ars investigandi et
+inveniendi" und gleichzeitig die alte anselmische Lehre, daß das
+religiöse Bewußtsein und das Haben seines Gegenstandes (Gottesidee) dem
+philosophisch-wissenschaftlichen Bewußtsein und der ihr entsprechenden
+Weltgegebenheit gesetzlich (wenn auch geschichtlich mit ganz variablem
+Inhalt) vorhergeht (im Sinne des anselmischen "Credo, ut intelligam").
+Auch mit H. Newman, dessen "Grammatik der Zustimmung" eben von Th.
+Haecker neu übersetzt wurde, und dessen Schriften gegenwärtig auch in
+katholischen Bildungskreisen stark gelesen werden, steht diese Bewegung
+in mannigfacher Verbindung (vgl. auch die Zeitschrift "Brenner", in der
+sich religiöse Gedanken verschiedener Konfessionen begegnen). Auch die
+bemerkenswerten Reden des Tübinger Dogmatikers Adam über "Glauben und
+Wissen", "Religion und Gegenwart" verraten die geschilderten
+Gedankenmomente. Ihr praktisches Gewicht und ihre soziale Parallele
+erhält diese neuere katholische Denkrichtung durch die sich in den
+katholischen Bildungskreisen immer stärker durchsetzende Überzeugung,
+daß die Religion sich in einer Zeit, in der die gewaltigen Stützen der
+Kirche durch den Staat zusammengebrochen sind, und in der sich der
+Glaube zu r e i n i g e n hat von allen ständischen und klassenmäßigen
+Amalgamierungen, in die ihn die verflossene Geschichte gebracht hatte,
+vor allem innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den
+Interessenstrukturen der Politik und Wirtschaft gewinnen müsse, um
+wieder eine praktisch lebendige Kraft auf das Leben zu gewinnen. Aus
+demselben Grunde sucht man in bezug auf geschichtliche Vorbilder
+innerhalb des katholischen Kulturkreises an solche Zeiten und
+Persönlichkeiten anzuknüpfen, in denen die Religion aus ihrer eigenen
+inneren Kraft heraus (ohne Stütze von irgendeiner anderen Macht) neue
+soziale Bewegungen e i n g e l e i t e t oder doch mit ihrem Geiste
+durchhaucht hat. Das von D. von Hildebrand herausgegebene Buch "Der
+Geist des heiligen Franziskus" will in diesem Sinne die franziskanische
+Bewegung nach allen in Betracht kommenden Richtungen charakterisieren.
+
+Innerhalb des p r o t e s t a n t i s c h e n Kulturkreises deuten
+mehrere Erscheinungen gleichfalls auf den neuen religiösen Geist der
+Zeit hin. Der weitgehenden soziologischen Umformung der Behälter und
+Wirkungsweisen des protestantischen Geistes (die keineswegs, wie man so
+oft irrig meint, ein Nachlassen auch seiner K r a f t und seiner
+Wirksamkeit zu bedeuten braucht) -- man kann sie kurz als Tendenz zu
+Sekten, Kreis-Ordensbi1dungen um irgendeine charismatisch erscheinende
+Persönlichkeit herum charakterisieren -- entspricht eine Reihe
+religionsphilosophischer und theologischer Neuerscheinungen, welche
+starke Beachtung verdienen. Hier sind vor allem die tiefgreifenden und
+wirksamen Arbeiten von R. Otto (siehe "Das Heilige", 2. Auflage),
+ferner von H. Scholz "Religionsphilosophie" (1921), die Arbeiten des
+Hallenser Dogmatikers Heim, die mannigfachen Schriften Fr. Heilers
+(siehe "Das Gebet" und "Buddistische Versenkungsstufen", "Das Wesen des
+Katholizismus"), die mystische Wert- und Religionsphilosophie von H.
+Schwarz "Das Ungegebene", Tübingen 1921, zu nennen. Auch die Arbeiten
+von K. Oesterreich über "Religionspsychologie" und die neue große
+Arbeit über denselben Gegenstand von J. K. Girgensohn, ferner als
+überkonfessionelle Sammelstelle religionspsychologischer Bestrebungen
+die "Zeitschrift für Religionspsychologie" mögen hier aufgeführt sein,
+obzwar diese Erscheinungen weniger religiös als rein wissenschaftlich
+bedeutsamen Charakter besitzen. Den größten Einfluß von diesen Arbeiten
+hatten ohne Zweifel die Schriften von Otto und Heiler. Otto betrachtet
+die Werte des Heiligen und Göttlichen, die er in der ersten Hälfte
+seines Buches rein phänomenologisch untersucht, auf ihre
+Wesensbestandteile und scheidet sie in rationale (z. B. Güte, Wissen
+usw.) und irrationale. Als irrationale Grundwerte, die sich nicht so,
+wie die Kantschulen meinen, in "allgemeingültige Vernunftwerte" oder
+deren Steigerung ins "Unendliche" oder "Vollkommene" auflösen lassen,
+nennt Otto das "Numinose". Er zerlegt das ihm entsprechende Gefühl in
+das "Kreaturgefühl" in das "mysterium tremendum" das dem Heiligen den
+Charakter des Schauervollen, Übermächtigen und Energischen verleiht, in
+das Moment des geheimnisvollen "ganz anderen" und in das Moment des
+magisch anziehenden "fascinosum". Er verfolgt alle diese dem Göttlichen
+konstitutiv eigenen "irrationalen" Elemente durch das Alte und Neue
+Testament und durch Luthers Schriften hindurch und gibt am Schlusse
+eine Art religiöser Erkenntnistheorie, die an die von Fries
+modifizierte Kategorienlehre Kants anknüpft. Eine Kritik seiner
+Aufstellungen habe ich auch in meinem Buche "Vom Ewigen im Menschen"
+gegeben (siehe auch E. Troeltsch in den "Kantstudien"). Die
+Bestrebungen nach einer freien religiösen Mystik sind innerhalb des
+Protestantismus durch dieses Buch stark gesteigert worden. Heiler gab
+in seinem Buche über "Das Gebet" eine überaus großzügige, gelehrte und
+auch phänomenologisch und psychologisch überaus anregende Studie, die
+nur den Fehler hat, daß sie mit Hilfe gewisser von der Ritschlschen
+Theologie entlehnter Kategorien, besonders der Kategorie des
+"prophetischen" und "mystischen Gebets" viele Erscheinungen des
+religiösen Lebens vergewaltigt. Das beste Buch Heilers ist das Buch
+über "Buddhistische Versenkungsstufen", in dem er diese Stufen
+feinsinnig phänomenologisch erörtert und nur ihre T e c h n i k noch zu
+wenig beschreibt. Sei prinzipienlos und historisch nach rein
+individuellen und subjektiven Eindrücken geschriebenes Buch über das
+"Wesen des Katholizismus", das zugleich eine erstaunliche
+Verherrlichung der im "Gebet" gerade als "unevangelisch" verurteilten
+katholischen Mystik und gleichzeitig eine herbe Anklage gegen die
+gegenwärtige Kirche darstellt, sucht nach Harnacks Vorgang das Ganze
+des Katholizismus als "Synkretismus" aus fünf Bestandteilen zu
+erweisen; sie sollen bestehen im Evangelium, dem römischen Reichs- und
+Rechtsgedanken, dem jüdischen Legalismus und seiner Kasuistik, den
+paganisch-magischen Faktoren (Messe) und der nach Heiler auf den Orient
+zurückgehenden hellenischen Philosophie und Mystik. Die Methode der
+Betrachtung ist hier im wesentlichen diejenige Harnacks. Das religiöse,
+bei Heiler vorherrschende, aber von seinen Stimmungen stark abhängige
+"Ideal" soll gegeben sein in dem, was er in seiner Anlehnung an den
+schwedischen Bischof Soederbloem die "Evangelische Katholizität" nennt.
+-- Die "Religionsphilosophie" von H. Scholz, die besonders in ihren
+kritischen Partien ausgezeichnet geraten ist, will ähnlich wie R. Otto
+und in mancher Hinsicht auch ähnlich wie der Verfasser in seinem Werke
+"Vom Ewigen im Menschen" die Religion auf eine besondere F o r m d e r
+r e l i g i ö s e n E r f a h r u n g gründen, die aber nicht
+allen Menschen zukommen soll. Auch dieses Werk nimmt seinen
+Ausgangspunkt vor allem in dem Wesen der m y s t i s c h e n
+Gotteserfahrung und sucht von hier aus die Religion mit dem Ganzen des
+menschlichen Geisteslebens in innere Beziehung zu setzen. Auch K.
+Oesterreich hat in seiner Schrift "Über die religiöse Erfahrung"
+dieselbe Methode und denselben Ausgangspunkt wie die genannten
+phänomenologischen vorgehenden Forscher. Überblickt man diese und
+andere hier aus Raummangel nicht genannten Erscheinungen der
+protestantischen Religionsphilosophie und Theologie und vergleicht sie
+mit den augustinisch gefärbten Arbeiten innerhalb des katholischen
+Kulturkreises, so eröffnet sich eine A u s s i c h t, die nach meiner
+Meinung von größter Tragweite ist. Es ist die Aussicht auf eine mählich
+fortschreitende Einigung der Forscher verschiedener Konfessionen über
+die Grundfragen wenigstens der natürlichen Theologie und der
+Religionsphilosophie. Solange auf der einen Seite einseitigster
+Kantianismus, auf der anderen Seite ein ausschließlicher Thomismus
+traditionalistisch herrschten, war auch der bloße V e r s u c h einer
+solchen Einigung völlig ausgeschlossen (siehe dazu auch R. Eucken:
+"Kant und Thomas, der Kampf zweier Welten"). Den W e r t einer solchen
+Einigung aber wird man nicht gering anschlagen dürfen, denn es würde
+dadurch der widersinnige Zustand, den ich a. a. O. als einen "Skandal
+der Philosophie und Theologie zugleich" bezeichnet habe, aufgehoben,
+daß in der nicht auf positiver Offenbarung und Tradition beruhenden
+sogenannten "natürlichen Gotteserkenntnis" (die jedem Menschen spontan
+zugänglich sein soll) gerade am m e i s t e n der bloße historische
+Traditionalismus herrscht, und daß die konfessionell verschiedenartigen
+religiösen Bildungskreise in der natürlichen Theologie und
+Religionsbeurteilung eher n o c h w e i t e r auseinandergehen als in
+den Fragen der positiven Theologie und der Glaubensbekenntnisse.
+
+Auch innerhalb der theoretischen und praktischen Führerschaft der
+deutschen Sozialdemokratie sind gegenwärtig Versuche bemerkenswert, das
+religiöse Problem einer neuen Durchforschung zu unterziehen, die von
+der marxistischen überkommenen Lehre, der gemäß die göttlichen Dinge
+nur ein phantastisches "Aroma" sein sollen, das als
+"Begleiterscheinungen" ökonomischer Herrschaftsverhältnisse aus der
+"bürgerlichen Gesellschaft" aufsteigt (Marx), prinzipiell abweichen.
+Noch sehr fadenscheinig ist die Religion in Paul Göhres "Der unbekannte
+Gott" gefaßt, dagegen haben Radbruch, Maurenbrecher, mehrere Freunde
+der "Sozialistischen Monatshefte", die theoretischen Vertreter des
+Bundes sogenannter "religiöser Sozialisten" Ansichten geäußert, die,
+wie immer man sie beurteilen mag, eine neue Stellung auch der
+sozialdemokratischen Arbeiterklasse zu den Problemen der Religion
+ankündigen. Da nach unserer Meinung jeder religiös nicht an das höchste
+Gut und Gott glaubende Mensch, und jede Klasse solcher Menschen ein
+nachweisbares S u r r o g a t des höchsten Gutes in Form eines zu einem
+"Götzen" gestempelten endlichen Wertes (heiße er Geld, Nation,
+Zukunftsstaat oder sonstwie) besitzen, wird der vermutlich bald
+vollständig einsetzende, schon heute (siehe das neue
+sozialdemokratische Parteiprogramm) sehr weitgehende Verzicht auf die
+Verwirklichung der Ideale des Kommunismus und des "Zukunftsstaates" (an
+die ein gewaltiges Maß eschatologischer Religiosität gleichsam
+festgebunden war) einen l e e r e n Raum in der Seele der
+Arbeiterklasse schaffen, der ihre Disposition für die Aufnahme echt
+religiöser Güter bedeutend steigern dürfte. In diesem Sinne hat sich
+auch Otto Baumgarten in seinem Buche "Der Aufbau der Volkskirche", das
+die Möglichkeit des Aufbaus einer protestantischen Volkskirche an
+Stelle einer bloßen "Pastorenkirche" eingehend und feinsinnig erwägt,
+ausgesprochen.
+
+Nicht minder tief greifen, wie gesagt, die Wirkungen der Weltereignisse
+auf die geschichtsphilosophischen und soziologischen
+Neuorientierungsversuche der Gegenwart ein. Alle größeren
+geschichtsphilosophischen Versuche der europäischen Geschichte, die wir
+kennen, die Versuche Augustins und Johanns von Freising, die Versuche
+Vicos, Bossuets, Hegels und Comtes haben ihren Ursprung in Zeitaltern,
+die nach großen, die Verhältnisse tief umformenden Geschichtswendungen,
+gleichsam eine Besinnung der Menschheit über den bisherigen Verlauf
+ihrer Geschichte anregen. Der Französischen Revolution wohnte in diesem
+Sinne die mächtigste Anregungskraft für geschichtsphilosophische
+Besinnung ein, und so ist es kein Wunder, daß gerade gegenwärtig die
+geschichtsphilosophisch m a t e r i a l e B e t r a c h t u n g der
+Dinge eine neue Auferstehung gefeiert hat. Zum Teil knüpfen diese
+Versuche an Gedanken an, die schon vor dem Kriege wieder eine Rolle zu
+spielen begannen. Kaum ein geschichtsphilosophischer Versuch der
+Gegenwart zeigt sich z. B. nicht irgendwie durch Nietzsches starke
+Anregungen bedingt. Ferner fühlt man überall die Ideen Burckhardts, wie
+er sie in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" entwickelt hat,
+die Auffassungen von Dilthey, Troeltsch, Hegel und Hartmann noch
+lebendig. Der grundlegende Gesichtspunkt, welcher der gegenwärtigen
+Geschichtsphilosophie ihr b e s o n d e r e s Gepräge verleiht, ist vor
+allem der Gegensatz zwischen Dekadenz oder Erneuerungsmöglichkeit der
+europäischen Menschheit und dazu die noch mögliche Aufgabe und Rolle
+"Europas" im zukünftigen Weltgetriebe. Schon diese Frage führt wie von
+selbst dazu, die E n g e und B e d i n g t h e i t der spezifisch
+europäischen Maßstäbe und europäischen Denkformen in allen bisherigen
+Geschichtsauffassungen und -beurteilungen immer tiefer zu erkennen.
+Diesen Fragen gegenüber sind heute die mehr formalen Probleme der
+Geschichts e r k e n n t n i s weitgehend zurückgetreten. Oswald
+Spengler hat dem auf alle Fälle starken Wurfe seines "Untergang des
+Abendlandes" in seinem Aufsatz über "Pessimismus?" eine sehr
+eigenartige Interpretation nachfolgenlassen (der zweite Band des
+"Untergangs" wird demnächst erwartet). Seine D e k a d e n z l e h r e
+ist in seinem "Untergang" weniger tiefgehend als sensationell
+vertreten. Die ungeheure Wirkung dieses Buches und der aufregende
+Neuheitseindruck, mit dem es entgegengenommen wurde, ist psychologisch
+nur aus der N i e d e r l a g e Deutschlands im Kriege zu verstehen.
+Aber außerdem ist er nur begreiflich daraus, daß das große Publikum
+offenbar keine Ahnung davon hatte, wie sehr diese Dekadenzlehre bereits
+durch anderweitige Forscher vorbereitet war. Graf Gobineau, J.
+Burckhardt, Fr. Nietzsche, F. Tönnies, E. Hammacher (siehe sein Buch:
+"Grundprobleme der modernen Kultur"), M. Scheler (siehe "Ressentiment
+im Aufbau der Moralen"), W. Sombart -- sie alle hatten ja, wenn auch
+mit weitgehend verschiedener Begründung und Fundierung, im Grunde der
+These gehuldigt, daß sich das Abendland des 19. Jahrhunderts im
+Niedergang befinde. Der Kreis Stefan Georges dachte in derselben
+Richtung. E. von Hartmanns universaler Geschichtspessimismus zielte
+gleichfalls auf eine geschichtsphilosophische Dekadenzlehre hin. Nur
+das satte Behagen der deutschen Oberklassen während des Wilhelminischen
+Zeitalters konnte diese warnenden Stimmen über hören lassen und den
+Schein erzeugen, daß man über Fortschritt und Aufstieg Europas so einig
+sei, wie es etwa Hegel und in anderer Form und Art die Positivisten
+Comte und Spencer gelehrt hatten. Freilich maßten sich alle diese
+genannten Denker n i c h t an, astronomisch voraussagen zu können, was
+in Zukunft sein und geschehen werde, so wie es Spengler auf Grund
+seiner vermeintlichen vagen Phasen- und Gleichzeitigkeitsgesetze getan
+hat, nach denen z. B. Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus innerhalb
+der Phasenabfolge der indischen, römischen und modernen Zivilisation
+"gleichzeitig" sein sollen. Es genügte ihnen so wie es allein möglich
+und sinnvoll ist, von Niedergangstendenzen zu reden, deren Realisierung
+durch die ursprüngliche Freiheit der menschlichen Persönlichkeit oder
+doch durch arationale Geschichtsfaktoren auch prinzipiell umgebogen
+werden könne. Eine solche "Freiheit" kennt Spengler nicht, er
+betrachtet die großen Kulturen, die er an sich mit Recht als eine
+ursprüngliche Vielheit ansieht (siehe hierzu auch des Verfassers
+Abschnitt "Die Einheit Europas" in seinem Buche "Genius des Krieges"),
+wie Pflanzenvegetationen, die aus der "mütterlichen Landschaft"
+herauswachsen, dann einen Prozeß des Aufblühens, Alterns und Sterbens
+durchlaufen. Diese biologischen Analogien sind aber auf die Geschichte
+unanwendbar. Wertvoll dagegen ist der Versuch Spenglers, a l l e
+Sphären der geschichtlichen Güterwelt (Wissenschaft, Künste,
+Staatsformen usw.) auf die Einheit einer "Kulturseele"
+zurückzubeziehen, und ihre Strukturidentität aufzuweisen. Die
+Durchführung des Gedankens, den auch Dilthey, Duhem (siehe "Geschichte
+der physikalischen Theorien"), Scheler und andere längst aufgenommen
+hatten, ist indes oft überaus spielerisch und willkürlich (vergleiche
+dazu das Heft des "Logos" indem sich eine Reihe von Forschern mit
+Spengler beschäftigen). Zur Kritik Spenglers ist schon eine kleine
+Literatur erschienen, aus der ich Th. Haerings "Die Struktur der
+Weltgeschichte" (1921), die Schrift von H. Scholz "Zum Untergang des
+Abendlandes" (1920) und Götz Briefs "Untergang des Abendlandes,
+Christentum und Sozialismus" (1920), Kurt Breysigs "Der Prophet des
+Untergangs" hervorhebe. Ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und
+überdies aus den mannigfaltigsten verschwiegenen Anregungen
+zusammengeflossen sind die philosophischen und erkenntnistheoretischen
+V o r a u s s e t z u n g e n des Buches. Sie enthalten einen
+Relativismus, der sich im tiefsten Gegensätze befindet zu aller
+ernsthaften gegenwärtigen Philosophie, und sind nur ein letzter
+Nachklang des romantischen Historismus der Vorkriegszeit und seiner
+verantwortungslosen, sich in alles und jedes "einfühlenden"
+schauspielerischen Verwandlungskunst -- Haltungen, von der heutigen J u
+g e n d mit Recht scharf zurückgewiesen werden. Wenn wir nicht glauben,
+daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg, stark mitbedingt durch die
+psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen
+gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem
+gewissen "Troste" vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des
+Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung
+befindet so daß man gewissermaßen sagen kann auch jetzt wieder:
+"Deutschland in der Welt voran" -- wenn auch in absteigender Richtung
+-- überdauern wird, so erhoffen wir um so Wertvolleres von anderen
+wichtigen Erscheinungen der gegenwärtigen Soziologie und
+Geschichtsphilosophie.
+
+Das Grundbuch der deutschen Soziologie wird noch auf lange Zeit hinaus
+Ferdinand Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" bleiben, das erst
+langsam seine volle Bedeutung auswirkt. Max Weber, dessen Werke jetzt
+gesammelt erscheinen, hat uns noch kurz vor seinem Tode mit seinen
+großangelegten religionssoziologischen Untersuchungen über die
+Religionsformen Chinas, Indiens und der verschiedenen kirchlichen
+Bildungen des Christentums beschenkt, die sich seiner ungemein
+wirksamen Untersuchung über die Bedeutung der calvinistischen
+Religiosität und systematischen Selbstkontrolle für die Ausbildung des
+"kapitalistischen Geistes" würdig angereiht haben. Die Bedeutung der
+Weltreligionen für die soziale Struktur der Völker und für ihre
+Wirtschaftsgesinnung ist in diesen Untersuchungen überaus großartig
+hervorgetreten. Nimmt man noch hinzu die bekannten "Soziallehren der
+christlichen Kirchen von E. Troeltsch und die Untersuchungen von P.
+Honigsheim Über den Einfluß des Jansenismus auf die französische
+Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" so ist in diesen Arbeiten ein
+bedeutendes, zusammenhängendes Bild entstanden von der soziologischen
+Bedeutung der Religion überhaupt (vgl. auch des Verfassers
+"Abhandlungen und Aufsätze"). In anderer Richtung hat Werner Sombart in
+seinen Kapitalismusbüchern und seinem "Bourgeois", vor allem aber in
+der neuen Auflage seiner "Grundlagen des modernen Kapitalismus" nun
+eine s y s t e m a t i s c h e A n o r d n u n g aller Kausalfaktoren
+für die Entstehung der Phasen des modernen Kapitalismus gegeben, die
+den älteren Einwänden gegen seine Aufstellungen weitgehend standhält.
+Sein zu erwartendes Buch über die geistesgeschichtlichen Bedingungen
+des modernen Sozialismus, zu dem er sein bekanntes "Sozialismus und
+soziale Bewegung" umzuarbeiten im Begriffe ist, wird über die
+Entstehung besonders der marxistischen Theorien neues Licht verbreiten.
+Die neuen, in den Schriften der Kantgesellschaften herausgekommenen
+Untersuchungen von E. Troeltsch über die bisherigen Formen der
+Soziologie seit Comte und über die dialektische Methode Hegels haben
+gleichfalls über die Entstehung des Gegensatzes unserer deutschen
+Geschichtsauffassung von der bei den Westvölkern vorliegenden
+Auffassung uns wichtige Einsichten erschlossen. Erwägt man dazu, daß
+die gesamte marxistische Soziologie (siehe dazu die neueren Arbeiten
+von J. Plenge, Lederer, Cunow, Lensch, Schumpeter, Renner, R. Michels,
+Max Adler und anderer) sich in der tiefgehendsten Krisis befindet, in
+der sie sich seit der Auseinandersetzung von Lassalle und Marx befunden
+hat, so wird man die langsam beginnende geschichtsphilosophische und
+soziologische Auseinandersetzung der sozialistischen und bürgerlichen
+Soziologie und Geschichtsauffassungen nicht gering anschlagen dürfen.
+Was uns gegenwärtig vor allem notwendig ist, das wäre eine neue, auf
+der Gesamtheit der durch diese Literatur erschlossenen empirischen
+Einsichten fußende T h e o r i e d e r h i s t o r i s c h e n
+K a u s a l f a k t o r e n, die insbesondere die O r d n u n g ihrer
+Wirksamkeit genau bestimmt und feststellt, und die zugleich mit allen
+bisherigen Einseitigkeiten, vorwiegend spiritueller und
+naturalistischer Geschichtsauffassungen, endgültig bricht. Der
+Verfasser ist damit beschäftigt, in einem demnächst erscheinenden Buche
+über die Gesellschafts- und Geschichtslehre des "Solidarismus" eine
+solche Theorie zu entwickeln. --
+
+Wenn man die ungemeine, nur noch mit dem Zeitalter Kants und Hegels
+vergleichbare, g e i s t i g e R e g s a m k e i t auf dem Boden der
+Philosophie im gegenwärtigen Deutschland (von der diese Zeilen ein
+schwaches, durch den Raum engbegrenztes Bild geboten haben) mit dem
+vergleicht, was gegenwärtig in den Ländern der Sieger auf diesem Boden
+geschieht, so ist -- wie alle, die vom Ausland zu dem Verfasser nach
+Köln kommen, bezeugen -- der Abstand ein u n g e h e u e r g r o ß e
+r. Dieser Eindruck ist, wenn man noch hinzunimmt, was trotz des neuen
+Elends des Bibliothekswesens und der geringen Aufwendungen, die seitens
+des Staates für die Wissenschaft und ihre Institute heute allein
+möglich sind, auch auf dem Boden der Naturwissenschaften und der
+Erfindungen geleistet wird, so stark, daß an ihm allein schon das
+tiefgesunkene Selbstgefühl und Selbstwertgefühl der Nation s i c h
+w i e d e r a u f z u r i c h t e n v e r m a g. Ein Volk, das im
+größten Elend seiner politischen und ökonomischen Lage zu einer solchen
+Fülle geistiger Anstrengungen und Leistungen fähig ist, kann nicht
+zugrunde gehen. Einem in gewissem Sinne tragischen Grundgesetze der
+deutschen Geschichte gemäß (das man preisen oder beklagen mag) wird
+auch diesmal die Nation; gerade aus ihren tiefsten Leiden und Nöten
+heraus, mit neuen und frischen Energien, die ihr aus der dunklen Tiefe
+ihrer durch kein Geschick zerbrechlichen Seele zufließen, mit neuem
+Wagemut wieder zu den ewigen Sternen ihrer eigentlichen "Bestimmung"
+greifen. Der Philosophie kommt dabei die nicht zu unterschätzende Rolle
+zu, die einseitige Verfachlichung und Spezialisierung, in die das
+deutsche Volk vor dem Kriege so sehr versunken war, daß ihm die auch zu
+einer gesunden und einheitlichen Politik und zur Führung des Krieges
+notwendige spontane Einigungsbereitschaft und Einigungsbefähigung
+weitgehend gebrach, allmählich aufzulösen und damit beizutragen, eine
+neue, einheitlichere geistige Bildungsgestalt dem deutschen Menschen
+aufzuprägen.
+
+
+
+
+RELATIVITÄTSTHEORIE
+VON A. SOMMERFELD
+
+VORTRAG, GEHALTEN IN EINEM ZYKLUS GEMEINVERSTÄNDLICHER EINZELVORTRÄGE,
+VERANSTALTET VON DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN, SOMMER 1921
+
+Konrad Ferdinand Meyer läßt im "Hutten" den alten Pfarrer von Ufenau
+sagen:
+
+ Erfahrt, daß unter uns, die wir bemüht
+ Um die Natur sind, ein Geheimnis glüht!
+ Mit hat's ein fahr'nder Schüler anvertraut.
+ Neigt euch zu mir! Man sagt's nicht gerne laut.
+ Ein Chorherr lebt in Thorn, der hat gewacht,
+ Bis er die Rätsel deutete der Nacht.
+ Herr Köpernick beweist mit bünd'gem Schluß,
+ Daß -- staunet -- unsre Erde wandern muß!
+
+Dasselbe Staunen, das vor 400 Jahren die Menschheit bei der Kunde von
+der Umwälzung des Kopernikus erfaßte, ist heute lebendig, wo es sich um
+eine neue Umwälzung im Weltbilde handelt, vergleichbar der
+kopernikanischen, ja vielleicht mit ihren erkenntnistheoretischen
+Wurzeln noch tiefer reichend. Dasselbe geheimnisvolle Dunkel wie damals
+-- "man sagt's nicht gerne laut" -- umweht die neue Theorie von Raum,
+Zeit und Schwere. Wird es mir gelingen, das Dunkel in etwas zu lichten?
+Ich weiß nur zu gut, daß dies ohne die sichere Leitschnur des
+mathematischen Gedankens letzten Endes unmöglich ist. Für viele meiner
+Behauptungen werde ich den Beweis schuldig bleiben müssen, da er sich
+nur aus der vollen Kenntnis der physikalischen Tatsachen und zum guten
+Teil nur mit den Hilfsmitteln der mathematischen Rechnung erbringen
+ließe. Ich muß zufrieden sein, wenn ich Ihnen eine Vorstellung von den
+Problemen und von den Gedankengängen, die zu ihrer Lösung führen, geben
+kann. Etwas genauer möchte ich dann darauf eingehen, wie es mit der
+erfahrungsmäßigen Prüfung der neuen Lehre steht. Insbesondere werde ich
+von der Sonnenfinsternis des Jahres 1919 zu sprechen haben. Während in
+Fachkreisen das Interesse an der Relativitätstheorie seit 15 Jahren
+lebendig ist, datiert das allgemeine Aufsehen und die Popularität der
+Theorie erst von ihrer Bestätigung durch diese Sonnenfinsternis.
+
+ "Ihr meint, wie sitzen ruhig hier? Erlaubt,
+ Wir schweben, wie von Adlerkraft geraubt" --
+
+so fährt der Pfarrer von Ufenau zu reden fort. "Wir sitzen ruhig hier."
+Und doch drehen wir uns, so belehrt uns Kopernikus, um die Erdachse mit
+einer Geschwindigkeit von einigen hundert Metern in der Sekunde;
+gleichzeitig bewegt sich die Erde und wir mit ihr um die Sonne mit
+einer Geschwindigkeit von 30 km in der Sekunde, also hundertmal
+schneller, als der Schall die Luft durcheilt. Und die Sonne selbst
+bewegt sich gegen die Fixsterne und führt die Erde und uns selbst "wie
+mit Adlerkraft" fort. Von diesem ganzen zusammengesetzten
+Bewegungsvorgang spüren wir nichts, es sei denn, daß wir mit genauen
+Hilfsmitteln ausgerüstet sind, um an den Sternen Beobachtungen zu
+machen. Wir müssen daraus schließen: Bewegung an sich ist nicht
+beobachtbar, sie ist an sich nichts. Nur relative Bewegung können wir
+konstatieren. Und weiter: Der Raum ist an sich nichts, das
+Fortschreiten im Raum betrifft keine wirkliche Tatsache. Es gibt keinen
+absoluten Raum. Der Raum existiert nur durch die in ihm enthaltenen
+Körper und Energien. Ein Fortschreiten im Raum ist nur zu messen am
+Rauminhalt und läßt sich überhaupt nur denken relativ zu den
+raumerfüllenden Körpern und Energien.
+
+Dies ist das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik. Es bildet
+seit 200 Jahren die Grundlage für das Studium der himmlischen und
+irdischen Bewegungen. Der genaue Ausdruck dieses ältesten
+Relativitätsprinzips lautet: Es ist unmöglich, festzustellen, ob sich
+ein System von Körpern als Ganzes in Ruhe oder in gleichförmig
+geradliniger Bewegung befindet, sofern wir nur innerhalb dieses
+Körpersystems Erfahrungen anstellen und keine Merkmale außerhalb
+desselben beobachten können. Wir können also nichts von der
+fortschreitenden Bewegung der Erde bemerken, wenn wir keinen Ausblick
+nach dem Fixsternhimmel haben. Mit der drehenden Bewegung der Erde ist
+es allerdings zunächst anders, sie fällt nicht unter das
+Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik, da bei ihr die Richtung
+der Geschwindigkeit fortgesetzt wechselt. In der Tat können wir sie
+durch Pendelbeobachtungen auf der Erde messen oder an der Abplattung
+der Erde nachweisen. Wir werden hierauf zurückkommen, wenn wir das
+allgemeine, über die klassische Mechanik hinausgehende
+Relativitätsprinzip entwickelt haben werden.
+
+Gehen wir von der Mechanik zur Optik über. Die Erscheinungen des
+Lichtes beruhen, wie wir heutzutage wissen, auf der Ausbreitung
+elektromagnetischer Felder. Die Optik und Elektrodynamik glaubte einen
+L i c h t ä t h e r nötig zu haben, einen feinen materialisierten Raum,
+in dem sich die Lichtwirkungen ausbreiten sollten. Hiernach wäre es
+denkbar, absolute Bewegung im Raum als Bewegung gegen den Lichtäther
+durch Lichtstrahlen nachzuweisen. Ein Lichtstrahl, der sich im Sinne
+der Erdbewegung, diese überholend, fortpflanzt, sollte sich relativ zur
+Erde langsamer fortpflanzen als ein Lichtstrahl, der senkrecht zur
+Erdbewegung fortschreitet. Das Relativitätsprinzip wäre damit
+durchbrochen und die absolute Bewegung der Erde im Raum nachweisbar.
+Der Versuch ist mit außerordentlicher Schärfe von M i c h e l s o n
+angestellt worden und lieferte kein Anzeichen der Erdbewegung. Es hätte
+keinen Zweck, wenn ich Ihnen den Michelsonschen Versuch näher schildern
+wollte. Die Überzeugung von seiner bindenden Kraft könnte ich Ihnen
+doch nicht beibringen, ohne mich in experimentelle Einzelheiten zu
+verlieren. Der Versuch ist so schwierig und verlangt so
+außerordentliche Hilfsmittel, daß er nur zweimal durchgeführt worden
+ist. Hier, wie in vielen anderen Punkten, muß ich auf Ihren guten
+Glauben an die Zuverlässigkeit der physikalischen und astronomischen
+Messungen rechnen können. Der Michelsonsche Versuch und andere weniger
+genaue Erfahrungen zeigen also, daß das Relativitätsprinzip zu Recht
+besteht, daß absolute Bewegung auch nicht optisch als Bewegung gegen
+den Lichtäther nachgewiesen werden kann. Daraus folgt weiter, wie
+Einstein hervorhob, daß der Lichtäther keine reale, beobachtbare
+Existenz besitzt. Er ist nicht physikalisch, sondern metaphysisch, ein
+verkappter absoluter Raum und als solcher irreführend.
+
+Aber noch weiter: Die Lichtfortpflanzung findet statt in Raum und Zeit.
+Sie hat, von der im Sonnensystem fortschreitenden Erde aus gemessen,
+dieselbe Geschwindigkeit, wie sie von der Sonne aus gesehen werden
+würde, die doch an der Erdbewegung nicht teilnimmt. Wir nennen
+allgemein B e z u g s s y s t e m ein physikalisches Laboratorium,
+welches mit Maßstäben und Uhren zu Raum- und Zeitmessung ausgerüstet
+ist. Dieser Hörsaal ist ein Bezugssystem, da ich in ihm die jeweilige
+Lage eines bewegten Körpers durch seine Abstände von dreien seiner
+Begrenzungsebenen und durch die Angaben einer Uhr bestimmen kann. Drei
+solche Abstände nennt man die R a u m k o r d i n a t e n des
+betrachteten Punktes, die zugehörige Zeitangabe kann man seine
+Zeitkoordinate nennen. Wir haben es hier mit einem irdischen
+Bezugssystem zu tun. Wir können uns aber auch ein entsprechendes
+Bezugssystem auf der Sonne oder auf einem gegen die Erde bewegten
+Eisenbahnzuge denken. Die allgemeinen Tatsachen der Lichtfortpflanzung
+zeigen nun, daß sich das Licht in jedem Bezugssystem in gleicher Weise
+ausbreitet, nämlich in Kugelwellen mit der gleichen
+Lichtgeschwindigkeit, unabhängig von dem Bewegungszustande der
+Lichtquelle gegen den Beobachter. Das scheint widerspruchsvoll zu sein.
+Denn wenn wir eine Kugelwelle, die sich im irdischen Bezugssystem
+ausbreitet, von der Sonne aus betrachten, so würde auf der Vorderseite
+(das sei diejenige Seite, nach der die augenblickliche Geschwindigkeit
+des Erdkörpers gerichtet ist) zur Lichtgeschwindigkeit noch die
+Erdgeschwindigkeit hinzukommen; auf der Rückseite der Welle würde sich
+die Erdgeschwindigkeit von der Lichtgeschwindigkeit abziehen. Die
+Vorderseite der Welle würde also, von der Sonne aus gesehen, schneller
+fortschreiten als die Rückseite. Das widerspricht dem
+Relativitätsprinzip und den optischen Erfahrungen. Die Lichtwelle weiß
+nichts davon, ob sie zum Bezugssystem der Erde oder der Sonne gehört.
+Jedem Beobachter erscheint sie als Lichtwelle von der gleichen
+Fortpflanzungsgeschwindigkeit.
+
+Der Widerspruch löst sich dadurch, daß wir auch die Zeit ihres
+absoluten Charakters entkleiden. Jedes Bezugssystem hat seine eigene
+Zeitskala. Es gibt keine absolute universale Zeit. Die Mechanik
+leugnete den absoluten Raum, ließ aber die absolute Zeit bestehen; sie
+konnte es tun, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, weil sie nicht über
+so exorbitante Geschwindigkeiten wie die Lichtgeschwindigkeit verfügt.
+Die Optik und Elektrodynamik verlangen auch die Relativierung der Zeit.
+Auch die Zeit ist an sich nichts. Sie besteht nur vermöge der sich in
+ihr abspielenden Ereignisse. Diese Ereignisse, z. B. eine Lichtwelle,
+sind real und objektiv; die Beurteilung des zeitlichen Ablaufs aber
+hängt vom Standpunkt des Beobachters, vom Bezugssystem ab. Daraus folgt
+weiter: Es gibt keine absolute Gleichzeitigkeit. Zwei Ereignisse, die
+in meinem Bezugssystem gleichzeitig sind, sind vom Standpunkte eines
+relativ gegen mich bewegten Bezugssystems aus nicht gleichzeitig. Wenn
+ich mir einmal erlaube (in Fig. 1), Zeit und Raum durch zwei Richtungen
+in der Zeichenebene darzustellen,
+
+[=== Abbildung 1 -- siehe figure1.png ===]
+
+so sind die beiden Ereignisse A und B gleichzeitig im Bezugssystem
+(Raum -- Zeit); A ist aber früher als B im Bezugssystem (Raum --
+Zeit), welches durch die punktierten Achsen dargestellt wird. Diese
+bildliche Darstellung, die hier nur als Gleichnis aufgefaßt werden
+möge, gibt sogar den wirklichen Sachverhalt zahlenmäßig wieder, wenn
+wir auf der Zeitachse mit einem im Verhältnis der Lichtgeschwindigkeit
+vergrößerten Maßstab messen, wobei dann die in der Figur durch die
+Strecke a b dargestellte Ungleichzeitigkeit nur als winzig kleine
+Zeitdifferenz erscheint.
+
+Ein anderes Beispiel: Von der Erde löst sich in einem bestimmten
+Augenblick ein ihr gleiches Abbild los und entfernt sich von ihr mit
+einer gewissen Geschwindigkeit. Zwei Zwillinge, A und B, werden in
+diesem Augenblick geboren, A bleibt auf der Erde, B wird auf ihr Abbild
+ausgesetzt. Sie entwickeln sich auf den beiden identischen Sternen bei
+identischen Lebensverhältnissen in genau identischer Weise, aber in
+verschiedenem Zeitmaß. Wenn A irgendwie Kunde von B erhält, findet er,
+daß B langsamer lebt, daß er in seinem Lebensalter und in seinen
+Lebensschicksale immer etwas hinter A zurückbleibt. Dasselbe
+konstatiert B von A; A ist jünger als B vom Standpunkte des B, B ist
+jünger als A vom Standpunkte des A.
+
+Es wurde kürzlich vorgeschlagen, das Wort Relativitätstheorie zu
+ersetzen durch Standpunktslehre. Das Wort ist gut; es verdeutscht und
+verdeutlicht den wesentlichen Inhalt der neuen Auffassung. Wenn wir den
+Standpunkt wechseln, indem wir ihn von der Erde auf ihr Abbild verlegen
+oder auf einen über die Erde fahrenden Eisenbahnzug, sehen wir, was an
+unserem Weltbilde vom Standpunkt abhängt, also gewissermaßen subjektive
+Zutat ist, und was vom Standpunkte unabhängig ist, also in den Dingen
+liegt. Raum und Zeit sind vom Standpunkte abhängig oder relativ; auch
+die Auffassung zweier Ereignisse als gleichzeitig ist es. Aber die
+Ereignisse selbst sind wirklich, ebenso wie die Tatsache einer sich
+ausbreitenden Lichtwelle oder wie ein Menschenleben. Dabei ist jeder
+Standpunkt zulässig und gleichberechtigt mit jedem anderen. Es gibt
+keinen bevorzugten Ätherstandpunkt oder Erdstandpunkt oder
+Sonnenstandpunkt: daß die Erscheinungen von jedem Standpunkte gesehen
+miteinander harmonieren, trotz mancher Paradoxien, und niemals in
+wirkliche Widersprüche geraten können, zeigt die mathematische
+Ausführung der ganzen Lehre.
+
+Man wolle den Sinn des Wortes Relativität ja nicht so deuten, als ob
+alles Geschehen vom Standpunkte des Beobachters abhinge, als ob alles
+subjektiv wäre. Gerade der Wechsel des Standpunktes läßt erst das
+Naturgesetz in seinem unveränderlichen Kern hervortreten. Die
+Relativitätstheorie hat nicht nur eine negative, wegräumende, sie hat
+vor allem eine positive, aufbauende Seite. Als positive Aufgabe der
+Standpunktslehre wollen wir ausdrücklich statuieren: Die
+Gesetzmäßigkeit in der Natur als einen "Felsen aus Erz" aufzurichten,
+der hinüberragt über die wechselnden Erscheinungsformen von Raum und
+Zeit, der von allen Standpunkten aus zu sichten ist für denjenigen,
+dessen Auge mit dem Fernblick des mathematischen Organs ausgerüstet
+ist. Die Aufräumung alles metaphysischen, unbeobachtbaren Absoluten war
+ein großes Verdienst der neuen Theorie. Aber die Aufrichtung des für
+alle Standpunkte und Bezugssysteme Gültigen, Bleibenden und
+Unabhängigen war ihr größeres Verdienst. Mathematisch erreicht die
+Theorie dieses, indem sie die Unveränderlichkeit (Invarianz) der die
+Naturgeschehnisse beschreibenden Gleichungen gegenüber beliebigen
+Transformationen derjenigen Hilfsgrößen (Koordinaten von Raum und Zeit,
+Feldstärken, Energien) nachweist, durch die wir die Naturgeschehnisse
+beschreiben.
+
+Das ist gerade der Unterschied zwischen Mach und Einstein, dem
+Vorarbeiter und dem Vollender des Relativitätsgedankens. Bei Mach war
+der Blick auf das Negative gerichtet. Er wollte das Gestrüpp entfernen,
+das den Ausblick auf die Wirklichkeit versperrt, das Vorurteil eines
+absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Aber ihm entschwand bei
+dieser nützlichen Rodearbeit unter den Händen der Glaube an die
+Festigkeit der Naturgesetze. Er sagt einmal: "Die absolute Exaktheit,
+die vollkommen genaue eindeutige Bestimmung der Folgen einer
+Voraussetzung besteht nicht in der sinnlichen Wirklichkeit, sondern nur
+in der Theorie." Die Naturgesetze werden ihm zu ökonomischen Maßnahmen,
+zu Ordnungsschematen, in die sich die Mannigfaltigkeit der
+Erscheinungen bequem unterbringen läßt. Aber das ist es nicht, was wir
+brauchen. Naturgesetze von so unbestimmter und formalistischer Art
+wären kaum der Mühsal und Aufregung des Forschens wert. Der tastende
+Naturforscher, der auf dunklen Wegen nach einem geahnten Ziel strebt,
+braucht einen helleren Leitstern als die Machsche Lehre. Positivismus
+heißt diese Lehre bei seinen Nachfolgern, trotzdem ihr Verdienst
+wesentlich in der Negation des Unbeobachtbaren liegt. Einstein denkt
+anders. Das Negieren des Metaphysischen ist ihm nur das Mittel, um den
+Weg frei zu bekommen zur höchsten Bejahung der Naturgesetze, zu ihrer
+invarianten Gültigkeit, unabhängig von jedem Standpunkte. Es ist
+charakteristisch, daß die Positivisten den halben Einstein, den
+abbauenden, begeistert loben, den anderen Einstein, den aufbauenden,
+aber nicht anerkennen wollen. Ich hatte kürzlich einen ausgiebigen
+Briefwechsel mit einem geistvollen Vertreter des Positivismus, einen
+Briefwechsel, der natürlich zu keiner Einigung führte. Zum Schluß
+schrieb ich dem Kollegen: "Wenn Sie uns nicht die Exaktheit der
+Naturgesetze lassen, kann es zwischen uns keinen wirklichen Frieden,
+sondern nur eine achtungsvolle gegenseitige Duldung geben."
+
+Wir sind mit unseren letzten Äußerungen schon hinübergeglitten von dem
+Gedankenkreis der ursprünglichen, speziellen Relativitätstheorie zu der
+allgemeinen, voraussichtlich endgültigen Theorie; jene datierend von
+1905, diese von 1915. Jene ließ nur die gleichförmig und geradlinig
+bewegten Bezugssysteme als berechtigt zu, diese erkennt jeden
+Standpunkt an und verwendet grundsätzlich alle möglichen Bezugssysteme
+zur Beschreibung der physikalischen Erscheinungen, also beliebig
+gedrehte und beschleunigte Bezugssysteme, veränderliche Maßstäbe und
+beliebig laufende Uhren. Sie behauptet, daß die Naturgesetze ihre Form
+beibehalten auch bei so allgemeiner Beschreibung, wenn wir nur von
+Anfang an den richtigen, hinreichend verallgemeinerten mathematischen
+Ausdruck der Naturgesetze wählen. Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu
+dieser allgemeinsten Auswirkung des Relativitätsgedankens war M i n k o w
+s k i s vierdimensionale Zusammenfassung von Raum und Zeit.
+
+Die Zeit hat eine Ausdehnung, der Raum drei; beide zusammen haben vier
+Dimensionen, das heißt: zur Fixierung eines Raumzeitpunktes, zur
+Beschreibung eines Ereignisses in Raum und Zeit sind vier unabhängige
+Zahlen erforderlich, von denen drei die räumliche, eine die zeitliche
+Lage angeben. Minkowski spricht von der v i e r d i m e n s i o n a l e n
+W e l t als der Zusammenfassung von Raum und Zeit. Es lassen sich auf
+diese vierdimensionale Welt die Gesetze der gewöhnlichen
+dreidimensionalen Geometrie übertragen, teils in zeichnerischer, teils
+und besonders erfolgreich in rechnerischer Verallgemeinerung. Ich kann
+von Ihnen nicht verlangen, daß Sie sich eine vierdimensionale Welt
+vorstellen sollen. Denn ich kann es selbst nicht. Aber wir können uns
+leicht eine zweidimensionale Welt vorstellen. Nehmen Sie einmal an, daß
+Sie als denkendes Wesen mit all Ihren Erfahrungen und Sinnen in eine
+Ebene gebannt wären. Dann gäbe es für Sie kein Oben und Unten, sondern
+nur ein Nebeneinander. In dieser ebenen Welt können sich
+Lichterregungen als Kreise, wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche,
+fortpflanzen. Sie können in der Ebene Erfahrungen sammeln und sich eine
+Geometrie aufbauen, die E u k l i d i s c h e G e o m e t r i e der
+Ebene, wie wir sie in der Schule gelernt haben. Aber Sie können niemals
+zu der Vorstellung z. B. eines Würfels gelangen. Sie können auf einer
+Geraden Ihrer Ebene ein Lot innerhalb der Ebene errichten, aber Sie
+können sich nicht anschauungsgemäß ein Lot auf der Ebene vorstellen,
+weil es für Sie nichts außerhalb Ihrer Ebene gibt. Wenn Sie aber als
+Flächenwesen hinreichende mathematische Phantasie haben, so können Sie
+doch begrifflich von Ihren zwei zu drei Dimensionen fortschreiten. Sie
+brauchen nur statt Ihrer zwei Koordinaten in der Ebene drei Koordinaten
+als Rechnungsgrößen einzuführen und können das Lot auf der Ebene durch
+Gleichungen in diesen drei Koordinaten beschreiben, von denen Sie sich
+allerdings nur zwei richtig vorstellen können. In demselben Verhältnis
+wie diese Flächenwesen zur dreidimensionalen Euklidischen
+Raumgeometrie, stehen wir zur vierdimensionalen Weltgeometrie. Wenn wir
+sie uns auch nicht vorstellen können, so können wir doch in ihr denken
+und rechnen. Insbesondere können wir uns ebene und räumliche
+Ausschnitte aus dieser Welt konstruieren, die dann wieder unserer
+Anschauung zugänglich sind.
+
+Im dreidimensionalen Raum ist uns die Erscheinung der perspektivischen
+Verkürzung geläufig. Diese Tischplatte erscheint mir von der Seite
+gesehen schmäler, als von oben gesehen. (Der Positivist, dem die
+Empfindungen selbst das letzte und einzige sind, würde sogar sagen: sie
+ist von der Seite gesehen schmäler als von oben gesehen.) Unter
+dasselbe Bild der perspektivischen Verkürzung, wenn wir es auf die
+vierdimensionale Welt übertragen, lassen sich alle die seltsamen
+Folgerungen bringen, die die Relativitätstheorie gezogen hat. Ein gegen
+den Beobachter bewegter Körper erscheint in der Bewegungsrichtung
+verkürzt (Lorentz-Kontraktion als einfachste Erklärung des
+Michelson-Versuches). Der Zeitablauf in einem gegen den Beobachter
+bewegten Bezugssystem erscheint diesem Beobachter verlangsamt
+(Aufhebung der Gleichzeitigkeit, Verjüngung eines unserer beiden
+Zwillinge vom Standpunkte des anderen). Die Masse eines Körpers, z. B.
+eines Elektrons, das sich gegen den Beobachter bewegt, erscheint diesem
+vergrößert, nämlich größer als einem Beobachter, der auf dem bewegten
+Körper selbst seine Beobachtungsgeräte aufstellt und die Masse des für
+ihn ruhenden Körpers mißt. Dieses Gesetz von der Massenveränderlichkeit
+des Elektrons wurde zum Prüfstein der ursprünglichen speziellen
+Relativitätstheorie. Zuerst bestritten, hat es sich im Laufe der Jahre
+mit immer größerer Genauigkeit als wahr herausgestellt, am schärfsten
+in den Feinsten Äußerungen bewegter Elektronen, in den Spektren der
+einfachsten Atome. Seitdem darf der Vorstellungskreis der speziellen
+Relativitätstheorie als experimentell gesichert gelten; seitdem haben
+wir uns in der vierdimensionalen Minkowskischen Welt wohnlich
+eingerichtet und wissen uns in ihren zum Teil paradox verzerrten
+Anblicken zurechtzufinden.
+
+Aber ich muß leider noch höhere Anforderungen an Ihre Abstraktion
+stellen. Denn nun muß ich Ihnen zeigen, wie Einstein die alte
+Rätselkraft der Gravitation in sein System eingearbeitet hat. Die
+Gravitation war seit Newton in der Formel des Newtonschen Gesetzes:
+"proportional den wirkenden Maßen, umgekehrt proportional dem Quadrat
+ihrer Entfernungen" erstarrt. Darüber hinaus hatte sich aus unseren
+täglichen Erfahrungen über die Erdschwere oder aus den Beobachtungen
+der Astronomen über die Gravitationswirkungen zwischen den Gestirnen
+nichts über ihre Wirkungsweise ergeben. Unter allen Kräften hatte sich
+die Gravitation allein als momentane Fernwirkung behauptet. Erst
+Einstein konnte ihr neue beobachtbare Seiten abgewinnen. Ich will Ihnen
+nicht den Weg schildern, wie Einstein nach manchen Kreuz- und
+Quergängen zum Ziel gekommen ist, sondern nur das Ziel selbst
+schildern, zu dem er gelangt ist.
+
+Stellen wir uns wieder auf den Standpunkt unseres Flächenwesens, aber
+versetzen wir uns diesmal nicht in eine Ebene, sondern in eine
+gekrümmte Fläche, z. B. auf eine Kugel. Wir können uns nicht aus der
+Kugeloberfläche entfernen, wir können nichts außerhalb der
+Kugeloberfläche wahrnehmen, weder dringt irgendeine Kunde vom Äußern
+noch vom Innern der Kugel zu uns. Es gibt auch jetzt für uns kein Oben
+und Unten, sondern nur ein Nebeneinander. Unsere Welt ist wie vorher
+nur zweifach ausgedehnt. Sie ist in diesem Falle übrigens nicht
+unendlich groß, sondern sie schließt sich im Endlichen. Es gibt keine
+Geraden in unserer Welt, sondern nur gewisse geradeste Linien. Das sind
+im Falle der Kugel die größten Kreise, z. B. die Meridiane von
+irgendeinem Pol aus, aber nicht die Parallelkreise. Stoßen wir einen
+Massenpunkt in der Ebene an, so läuft er in einer geraden Linie. Stoßen
+wir ihn in gleicher Weise auf der Kugel an, so läuft er, sich selbst
+überlassen und von keinen äußeren Kräften beeinflußt, in einer
+geradesten Linie, in einem größten Kreise um die Kugel herum. Die
+natürlichen kräftefreien Bahnen sind in der gekrümmten Fläche die
+geradesten Linien, wie sie in der nicht gekrümmten Ebene die geraden
+Linien sind. Konstruieren wir uns in der Kugelfläche eine Geometrie, so
+wird sie von der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie verschieden. Auf
+der Kugeloberfläche haben wir den einfachsten Fall der sogenannten
+Nicht-Euklidischen Geometrie. Während es in der Euklidischen Geometrie
+bekanntlich heißt: Die Winkelsumme im Dreieck ist gleich zwei Rechten,
+heißt es in der Nicht-Euklidischen Kugelgeometrie: Die Winkelsumme im
+Dreieck ist größer als zwei Rechte. Konstruieren wir z. B. ein Dreieck
+aus lauter geradesten Linien auf folgende Weise: Wir gehen vom Nordpol
+N auf einem Meridian bis zum Äquator, diesen entlang um ein Viertel
+seines Umfanges und abermals auf
+
+[=== Abbildung 2 -- siehe figure2.png ===]
+
+einem Meridian zum Pol zurück, das letzte Stück im entgegengesetzten
+Sinne zu den eingezeichneten Pfeilen, auf deren Bedeutung wir später
+zurückkommen. Jeder Winkel dieses Dreiecks ist ein Rechter (in der
+Figur mit R bezeichnet), die Winkelsumme gleicht drei Rechten, also
+größer als zwei Rechte, wie es unser Satz von der Winkelsumme in der
+Nicht-Euklidischen Geometrie verlangt.
+
+Alle diese Behauptungen sind bequem durch die Anschauung zu
+kontrollieren. Aber nun kommt ein Schritt, zu dem eine gewisse
+intellektuelle Unerschrockenheit gehört. Unser Flächenwesen soll sich
+im Anschluß an seine Kugelfläche begrifflich einen dreifach
+ausgedehnten Raum konstruieren, der dieselben Eigenschaften hat wie
+seine Kugelfläche, in dem z. B. der Nicht-Euklidische Satz von der
+Winkelsumme allgemein gilt, und in dem alle geradesten Linien in sich
+zurücklaufen, also keine geraden Linien sind. Einen solchen "gekrümmten
+Raum" können wir uns nicht vorstellen; und doch müssen wir uns
+begrifflich und rechnerisch in ihm orientieren. Und mehr noch, wir
+müssen zu einer gekrümmten v i e r d i m e n s i o n a l e n W e l t
+fortschreiten und nicht nur zu einer gleichmäßig, nach Art der Kugel
+gekrümmten Welt, sondern zu einer Welt von w e c h s e l n d e n K r
+ü m m u n g s v e r h ä l t n i s s e n.
+
+Was hat nun dieser seltsame geometrische Vorstellungskreis mit der
+Gravitationstheorie zu tun? Gehen wir zunächst nochmals der besseren
+Übersicht wegen in unsere flache, nur zweifach ausgedehnte Welt zurück.
+Die Fläche sei zwar im allgemeinen und ungefähren eben, also nicht
+gekrümmt; sie habe aber Buckel, gekrümmte Auswölbungen an solchen
+Stellen, wo sich Massen befinden. Jede Materie ist Sitz mannigfacher
+Energieformen, chemischer und physikalischer Energien, welche in der
+Bindung der Atome untereinander und in dem Aufbau der Atome stecken.
+Statt Materie können wir daher auch allgemeine Energie im weitesten
+Sinne des Wortes sagen. Überall, wo sich physikalische Ereignisse
+abspielen und daher Energie lokalisiert ist, insbesondere in den
+Stellen stärkster Energiekonzentration, der greifbaren Materie, soll
+unsere flache Welt ausgewölbt sein, mehr oder minder, je nachdem wir es
+mit größerer oder geringerer Energiekonzentration zu tun haben.
+Betrachten wir insbesondere zwei solcher Buckel: einen von
+überwiegender Wölbung, den wir Sonne nennen, und einen kleinen Buckel,
+den wir Planet nennen. Wir geben letzterem einen Anstoß und lassen ihn
+durch unsere Welt laufen. Wäre der Sonnenbuckel nicht da und alles
+eben, so würde sich unser Planet auf gerader Bahn bewegen. Das
+Vorhandensein des Sonnenbuckels hat zur Folge, daß er sich statt dessen
+auf einer geradesten Bahn bewegt. Diese weicht von der Geraden um so
+mehr ab, je näher der Planet an die Sonne herankommt.
+
+Sie sehen hiernach bereits, wie sich dieses zweidimensionale Gleichnis
+zur Gravitationstheorie verhält. An den Stellen großer
+Energiekonzentration ist die Raumzeitstrukur eine singuläre, gekrümmte.
+die geradesten Bahnen in der Nähe solcher Stellen weichen weit ab von
+den geraden Bahnen; sie verhalten sich annähernd so, wie wir es aus der
+alten Gravitationstheorie her wissen, als Keplerellipsen. Dabei haben
+wir nicht nötig, eine besondere Gravitationskraft einzuführen. Bahnen,
+die lediglich unter dem Einfluß der Gravitation durchlaufen werden,
+sind kräftefreie, geradeste Bahnen; ihre Krümmung spiegelt nur die
+durch die Energieanhäufung bewirkte Weltkrümmung wider. Der
+Ausgangspunkt der Relativitätstheorie bleibt dabei durchaus erhalten.
+Raum und Zeit sind an sich nichts. Sie erhalten ihre Eigenschaften,
+ihre Struktur erst durch die in ihnen enthaltenen physikalischen
+Energien aufgeprägt.
+
+[=== Abbildung 3 -- siehe figure3.png ===]
+
+Die Bahnen sind nach dieser Gravitationstheorie angenähert
+Keplerbahnen, aber nicht genau. Das Newtonsche Gesetz ergibt sich nur
+in erster Näherung; bei genauerer Rechnung treten Abweichungen auf. Die
+Ellipse ist keine geschlossene, sondern eine langsam sich drehende,
+eine solche von fortschreitendem Perihel. (Perihel heißt bekanntlich
+der Punkt größter Sonnennähe auf der Planetenbahn.) Die Figur zeigt in
+sehr Übertriebenem Maßstabe diesen Perihelfortschritt. Er ist um so
+stärker zu erwarten, je näher der Planet der Sonne kommt, also beim
+Merkur, dem sonnennächsten der Planeten am stärksten. Nach den
+Beobachtungen und Rechnungen der Astronomen tritt nun in der Tat beim
+Merkur eine Perihelbewegung auf, die sich nach der Newtonschen Theorie
+nicht erklären läßt. Sie beträgt hier 43 Bogensekunden im Jahrhundert;
+das will sagen, daß erst nach 30 000 Jahrhunderten die Merkurbahn in
+ihre Anfangslage zurückgekehrt erscheint. Bei den sonnenferneren
+Planeten, z. B. bei der Erde, ist das Fortschreiten des Perihels
+dagegen unmeßbar klein.
+
+Gerade diesen Wert von 43 Sekunden im Jahrhundert ergab nun die
+Einsteinsche Rechnung auf Grund seiner neuen Auffassung der
+Gravitation. Man beachte wohl: der Einsteinsche Gedankengang nahm
+seinen Ausgang von erkenntnistheoretischen Forderungen, hatte nirgends
+eine Unbestimmtheit oder Lücke, wußte von Hause aus nichts vom
+Merkurperihel und führte doch zwangläufig auf den astronomischen
+Beobachtungswert.
+
+Ich darf nicht verschweigen, daß eine kritische Überprüfung der
+astronomischen Angabe von 43 Sekunden, die Herr Kollege Großmann
+kürzlich durchgeführt hat, diesen Wert unsicherer erscheinen läßt, als
+die Astronomen bisher annahmen. Der wahrscheinlichste Wert liegt nach
+Herrn Großmann etwas tiefer als 43 Sekunden. Bis die Astronomen sich
+hierüber geeinigt haben werden, kann man also nur sagen, daß die neue
+Gravitationstheorie jedenfalls die Größenordnung der
+Merkur-Perihelbewegung richtig wiedergibt.
+
+[=== Abbildung 4 -- siehe figure4.png ===]
+
+Wir kehren zu unserem Bilde des Sonnenbuckels in der zweidimensionalen
+flachen Welt zurück. Statt eines Planeten jagen wir jetzt einen
+Lichtstrahl an der Sonne vorbei. Auch dieser läuft auf einer geradesten
+Bahn; bei fehlender Weltkrümmung würde er eine gerade Bahn beschreiben.
+Auch hier wirkt, wie bei dem Planeten, die Krümmung des Raums in der
+Sonnennähe so, als ob eine Anziehung von der Sonne auf den Lichtstrahl
+ausgeübt würde, als ob der Lichtstrahl nach der Sonne hin fiele. Man
+denke an die analogen, aber im Grunde doch wesensverschiedenen
+Verhältnisse bei der atmosphärischen Strahlenbrechung, wo sich der
+Lichtstrahl in der Erdatmosphäre ebenfalls krümmt. Was wir hier zu
+erwarten haben, zeigt die nächste Figur. Der Stern A, der sein Licht
+hart an der Sonne vorbeischickt, erscheint dem Erdbeobachter nicht in
+A, sondern wegen der gekrümmten Form des Lichtweges in der Verlängerung
+des Strahlenendes, d. h. an der Stelle B des Himmelsgewölbes.
+Sonnennahe Sterne zeigen also eine scheinbare Ablenkung vom Sonnenrande
+fort. Natürlich läßt sich diese Ablenkung nur bei einer t o t a l e n
+S o n n e n f i n s t e r n i s beobachten, weil sonst das Sternlicht
+vom Sonnenlicht überstrahlt wird.
+
+[=== Abbildung 5 -- siehe figure5.png ===]
+
+Am 29. Mai 1919 fand eine Sonnenfinsternis statt, die in Brasilien
+total war. Deutschland war von ihrer Beobachtung ausgesperrt, England
+rüstete zwei Expeditionen aus. Die Ergebnisse sind mir zugeschickt
+worden. Die Konstellation war besonders günstig, weil 7 verhältnismäßig
+helle Sterne in Sonnennähe standen. Unser Bild in Figur 5 stellt die
+verdunkelte Sonne mit ihrem leuchtenden Strahlenkranze, der Korona,
+dar. Die 7 Sterne sind durch kleine Kreise markiert.
+
+Von den Sternen aus sind die Ablenkungen als gerade Strecken
+aufgetragen, wie sie theoretisch nach Einstein sich errechnen; sie
+verlaufen in radialer Richtung und sind für die sonnennäheren Sterne
+größer als für die sonnenferneren. Der Maßstab ist dabei viele
+tausendmal übertrieben. Am Sonnenrande ist die theoretische Ablenkung
+nur 1,7 Bogensekunden, d. h. so klein, daß wir sie in unserem Bilde gar
+nicht einzeichnen können; im doppelten Abstande von der Sonnenmitte ist
+die Ablenkung noch halbmal kleiner. In demselben übertriebenen Maßstab
+sind nun auch die beobachteten Ablenkungen als Striche mit einer
+Pfeilspitze eingetragen. Die wirklichen Ablenkungen auf der
+photographischen Platte sind nur unter dem Mikroskop auszumessen und
+überhaupt nur indirekt festzustellen. Außer der
+Sonnenfinsternisaufnahme selbst wurde eine Aufnahme einige Wochen nach
+der Sonnenfinsternis gemacht, zu einer Zeit, wo sich die Sonne aus der
+fraglichen Gegend des Fixsternhimmels entfernt hatte. Überdies wurde
+eine dritte Vergleichsplatte aufgenommen, die in das photographierende
+Fernrohr verkehrt, d. h. mit der Glasseite nach außen, mit der
+Schichtseite nach innen eingelegt war. Diese Vergleichsplatte konnte
+dann mit den beiden Bebachtungsplatten, der bei der Sonnenfinsternis
+und der nach derselben aufgenommenen, Schicht auf Schicht zur Deckung
+gebracht werden. Die Ablenkungen der Sterne sind durch dieses indirekte
+Verfahren unter dem Mikroskop ausgemessen und nach dem
+Ausgleichsverfahren rechnerisch ermittelt worden. Wie unsere Figur
+zeigt, stimmen die so gewonnenen empirischen Ablenkungen aufs
+überraschendste mit den theoretischen überein. Sie zeigen nicht nur,
+wie diese annähernd die radiale Richtung vom Sonnenmittelpunkte nach
+außen hin (was zum Teil durch das angewandte Ausgleichsverfahren
+bewirkt wird, also noch nicht ohne weiteres beweisend wäre), sondern
+sie zeigen auch durchweg fast dieselbe Größe und die von der Theorie
+geforderte Größenabnahme bei zunehmender Entfernung des Sterns von der
+Sonne.
+
+[=== Abbildung 6 -- siehe figure6.png ===]
+
+Dies wird besonders überzeugend im nächsten Bilde dargetan, welches dem
+englischen Originalbericht entnommen ist. Nach oben hin sind die
+Sternablenkungen, nach rechts hin die reziproken Abstände vom
+Sonnenmittelpunkte aufgetragen, mit denen die theoretischen Ablenkungen
+proportional gehen. Die Abnahme der Ablenkung mit zunehmender
+Entfernung von der Sonne wird theoretisch durch die stark ausgezogene
+Gerade dargestellt. Die wirklichen Beobachtungspunkte (durch starke
+Punkte wiedergegeben) liegen dieser Geraden äußerst nahe, viel näher
+als der punktierten Geraden, welche nach einer älteren, nicht
+konsequenten Theorie Einsteins die Sternablenkung darstellen würde. Man
+wende nicht ein, daß die Ablenkung des Sternortes durch die
+Sonnenatmosphäre bewirkt sein könnte. In so großen Entfernungen, wie
+sie hier in Frage kommen, ist die Sonnenatmosphäre einfach belanglos.
+Die astronomischen Sachkundigen sind sich darüber einig, daß die
+Beweiskraft der englischen Sonnenfinsternisaufnahmen bündig ist.
+
+Das Ziel jeder Wissenschaft ist, nach einem schönen Worte des
+Mathematikers Jacobi, die Ehre des menschlichen Geistes. Der 29. Mai
+1919 wird für alle Zeiten ein Ehrentag des menschlichen Geistes bleiben.
+
+Neben dem Merkurperihel und den Sonnenfinsternisbeobachtungen gibt es
+noch ein drittes Kriterium für die Einsteinsche Gravitationstheorie:
+die Rotverschiebung von Spektrallinien, die auf der Sonne entstehen,
+gegenüber den Spektrallinien des gleichen Stoffes, wenn sie unter
+irdischen Verhältnissen hervorgerufen werden. Man kennt, seitdem es
+eine Astrophysik gibt, die Erscheinung des sogenannten Dopplereffektes.
+Sie besteht in der Verschiebung eines Spektrums nach der roten Seite
+hin bei Sternen, die sich von der Erde entfernen, in einer Verschiebung
+nach der violetten Seite bei Sternen, die auf die Erde zukommen. Die
+Größe dieser Verschiebung entspricht der Geschwindigkeit, mit der sich
+der betreffende Stern von uns fort oder auf uns zu bewegt. Man pflegt
+daher auch die von Einstein vorhergesagte Rotverschiebung im
+Sonnenspektrum durch eine Geschwindigkeit zu charakterisieren, die im
+Dopplereffekt dieselbe Rotverschiebung bewirken würde, und zwar beträgt
+diese Geschwindigkeit 0,6 Kilometer in der Sekunde.
+
+Über den physikalischen Grund dieser Rotverschiebung sei hier nur
+soviel gesagt, daß er natürlich nicht wie der gewöhnliche Dopplereffekt
+in einer relativen Bewegung der Sonne gegen die Erde, sondern in dem
+Gravitationsfelde der Sonne liegt. Dieses ist außerordentlich viel
+stärker als das Schwerefeld der Erde. Die Rotverschiebung entspricht
+direkt dem Unterschied der Schwere an der Sonnenoberfläche und
+Erdoberfläche.
+
+[=== Abbildung 7 -- siehe figure7.png ===]
+
+Das geeignetste Versuchsobjekt zur Prüfung dieses Effektes bilden
+Linien der sogenannten Zyanbanden. Merkwürdigerweise konnten die mit
+den besten Hilfsmitteln ausgestatteten amerikanischen Sternwarten keine
+systematische Verschiebung dieser Linien nach der roten Seite
+nachweisen. Die Bonner Physiker Grebe und Bachem haben aber erst
+gezeigt, mit welcher Vorsicht man beim Vergleich der Sonnenlinien und
+der Linien aus irdischen Lichtquellen vorgehen muß, um sichere
+Resultate zu erhalten. Beide Spektren enthalten nicht nur die in Rede
+stehenden Zyanlinien, sondern daneben ein Gewirr von Linien anderen
+Ursprungs, die sich jenen überlagern. Photometriert man ein solches
+Spektrum, d. h. stellt man die Lichtintensität in ihrer Abhängigkeit
+von der Wellenlänge durch ein Schaubild dar, so entsteht eine
+Zackenkurve nach Art eines Gebirgskammes. Nur solche Linien sind
+einwandfrei, die im Schaubild durch eine isolierte Zacke dargestellt
+werden; wenn eine Erhebung fremden Ursprungs in der Nähe liegt, fälscht
+sie die Lage der Hauptzacke und macht sie zur Untersuchung der
+Rotverschiebung ungeeignet. Bei diesem kritischen Vorgehen erwiesen
+sich von 36 gemessenen Zyanlinien nur 9 als unverdächtig und brauchbar.
+Nach R. T. Birge ist die Auswahl sogar noch weiter zu beschränken auf
+zwei von diesen Linien. Und siehe da: Wenn alle verdächtigen Linien
+ausgeschaltet und nur die 9 bzw. 2 tadellosen benutzt werden, so ergibt
+sich der richtige Betrag der Rotverschiebung, wie er von Einstein
+vorhergesagt wurde, nämlich rund 0,6 Kilometer in der Sekunde.
+
+[=== Abbildung 8 -- siehe figure8.png ===]
+
+Ich möchte noch ein letztes Beispiel zur Sprache bringen, welches zwar
+nicht als Prüfstein der Einsteinschen Gravitationstheorie, wohl aber
+als Mittel zu ihrer Veranschaulichung wertvoll ist. Wir wissen, daß ein
+Kreisel, der aufgezogen ist und keinen äußeren Kräften unterliegt,
+bestrebt ist, seine Richtung im Raume beizubehalten. Unsere Erde ist
+ein solcher Kreisel von gewaltigen Ausmessungen. Freischwebend im Raum
+würde er die Richtung seiner Drehachse nicht ändern. In Wirklichkeit
+beschreibt die Erdachse in langsamstem Tempo einen Kegel um die Normale
+zur Erdbahnebene (Ekliptik). Figur 8 zeigt die Erde mit eingezeichneter
+Erdachse in ihrem Umlauf um die Sonne und deutet in ihrer Stellung am
+weitesten rechts den Kegel an, den die Erdachse im Verlauf vieler
+Umläufe beschreibt. Der Kegel wird erst in 26 000 Jahren vollständig
+durchlaufen, in jedem Jahr beträgt die Winkelverlagerung 50 Sekunden
+(Präzession der Äquinoktien). Nach der gewöhnlichen Auffassung rührt
+diese Verlagerung der Erdachse von der Anziehung der Sonne auf den am
+Äquator wulstförmig aufgetriebenen Erdkörper her, also daher, daß die
+Erde kein kräftefreier, sondern ein von der Sonnengravitation
+beeinflußter Kreisel ist. In der Einsteinschen Theorie aber ist die
+Gravitation keine äußere Kraft; die Gravitationsbahnen der
+fortschreitenden sowohl wie der drehenen Erdbewegung verlaufen
+kräftefrei als geradeste Bahnen im gekrümmten Raume; die Erdachse
+sollte also im Schwerfelde sich selbst parallel bleiben. Was aber
+heißt: sich selbst parallel bleiben im Nicht-Euklidischen Sinne, bei
+gekrümmter Raumstruktur?
+
+Wir ziehen nochmals unsere Figur 2 zu Rate. Wir gehen jetzt vom Nordpol
+aus zunächst auf unserem ersten Meridian äquatorwärts und halten dabei
+stets einen geraden Stab vor uns hin. Zweifellos bleibt er bei dieser
+Wanderung sich selbst parallel, da er dabei ja dauernd in die Richtung
+einer geradesten Bahn, in den Meridian, weist. Im Äquator angelangt,
+steht er senkrecht zu diesem. Soll er sich selbst parallel bleiben, so
+muß er dauernd senkrecht zum Äquator gehalten werden, solange wir den
+Äquator abschreiten. Gehen wir auf dem zweiten Meridian zum Pole
+zurück, so bleibt unser Stab wieder sich selbst parallel, wenn er
+dauernd die Richtung dieses Meridians einhält. Kommen wir in den Pol
+zurück, so hat sich, wie unsere Figur zeigt, unser Stab um einen
+rechten Winkel gedreht, trotzdem er dauernd mit sich parallel war!
+Nehmen wir statt des Stabes einen Kreisel zur Hand, so stellt sich
+dessen Drehachse selbst so ein, wie wir soeben die Stabachse richteten;
+es gilt also für den Kreisel das gleiche wie für unseren Stab: Trotzdem
+er mit sich parallel bleibt, schließt er nach beendetem Umgang einen
+Winkel gegen seine Anfangslage ein. Der Grund liegt in der Krümmung der
+Kugelfläche. Bei einem Umgang in der Ebene, das heißt: wenn wir ein
+ebenes Dreieck mit einem Kreisel in der Hand umschreiten, würde von
+einer Winkelverlagerung des Kreisels keine Rede sein.
+
+Die Anwendung auf das Problem der Erdachse ist unmittelbar
+einleuchtend. Dem Umgang um das Kugeldreieck entspricht bei der Erde
+ihr jährlicher Umgang um die Sonne, der Kugelkrümmung die von der Sonne
+bewirkte gekrümmte Raum-Zeit-Struktur. Indem die Erdachse nach einem
+Umgang um die Sonne in den Frühlings-Tagundnachtgleichenpunkt
+zurückkehrt, schließt sie einen Winkel mit sich ein. Dieser beträgt
+zwar nicht, wie in unserem Beispiel, einen Rechten, sondern nur 50
+Sekunden, hat aber dieselbe Bedeutung wie jener, er zeigt uns nämlich
+an, daß der umlaufene Flächeninhalt der Erdbahn nicht eben, sondern
+gekrümmt war. Man sieht, wie schön und einfach sich die ältere
+Auffassung, nach der die Gravitation als äußere Kraft wirkt, in die
+neuere Auffassung umsetzt, nach der sie sich nur auf dem Wege über die
+Verkrümmung der Welt äußert. Beide Auffassungen sind im Ergebnis
+gleich; nur insofern, als die neue Auffassung eine Korrektion am
+Newtonschen Anziehungsgesetz mit sich bringt, eine Korrektion, die sich
+z. B. in der Perihelbewegung des Merkur äußerte, wird auch die nach
+Einstein berechnete Winkelverlagerung der Erdachse bei ihrem jährlichen
+Umgang um die Sonne ein wenig verschieden von der nach Newton
+berechneten ausfallen. Doch betrifft diese Verschiedenheit nur die
+höheren Dezimalen der angegebenen Zahl von 50 Sekunden. Als Kriterium
+für oder wider Einsteins Gravitationstheorie wird also diese
+Erscheinung nicht dienen können, insbesondere deshalb nicht, weil zu
+ihrer praktischen Verwertung eine anderweitige Kenntnis der Mondmasse
+erforderlich wäre.
+
+Hiernach kehren wir von Sonne, Mond und Sternen zu unserem Standpunkt
+auf der rotierenden Erde zurück. Nach unserem Relativitätsglauben ist
+jeder Standpunkt berechtigt, auch derjenige auf einem rotierenden
+Bewegungssystem. Die Naturgesetze gelten für diesen Standpunkt ebenso
+wie für jeden anderen, wenn wir sie nur hinreichend allgemeingültig
+gefaßt haben. Ja, es entsteht die Frage: Was heißt überhaupt rotieren?
+Hat es einen Sinn, von der rotierenden Erde zu reden, wenn Sonne und
+Fixsterne nicht da Wären, an denen wir die Rotation der Erde doch erst
+wahrnehmen können? Würde es nicht wieder einen absoluten Raum oder
+einen Äther voraussetzen, gegen den die Drehung gedacht wird, wenn wir
+von der Erddrehung schlechtweg, ohne Beziehung zum Sternhimmel,
+sprechen wollten? Wie aber steht es dann mit den Folgen der Erddrehung,
+den Fliehkräften, die wir bei der Drehung des Foucaultschen Pendels
+oder die wir in der Abplattung der Erde beobachten? Wenn die Erddrehung
+nur relativ zu den Gestirnen gedacht werden kann, nur durch
+Vorhandensein äußerer Massen ermöglicht wird, so können auch die
+Fliehkräfte der Erddrehung ihre Existenz nur dem Vorhandensein der
+Gestirne verdanken, sie müssen als Wechselwirkungen zwischen diesen und
+den Massen der Erde aufgefaßt werden.
+
+Bis zu diesem fundamentalen Schluß war Mach gekommen. Durch ihn hat er
+Einstein den Weg bereitet. Mach stellte eine Frage und Einstein
+beantwortete sie. Er beantwortete sie zugleich mit seiner Antwort auf
+die Rätselfrage der Gravitation. Die Gravitation erwies sich als eine
+Scheinkraft, de ihren Grund in der Raumstruktur hat. Auch die
+Fliehkräfte sind Scheinkräfte oder Trägheitskräfte, die nach Newton
+ihren Grund in dem absoluten Charakter der Rotation haben würden. D i e
+s e n Grund können wir nicht gelten lassen. Aber stellen wir uns auf
+den Standpunkt des gedrehten Bezugssystems. Wenn äußere Massen und
+Geschehnisse vorhanden sind, die an der Drehung nicht teilnehmen, so
+wandern diese gegen das Bezugssystem. Da sie ihrerseits eine Verzerrung
+der Raumstruktur bedingen, de mit ihnen umläuft, erscheint die
+Raumkrümmung vom gedrehten System aus anders als ohne Drehung. Diese
+vom Standpunkt abhängige Änderung der Raumkrümmung bedingt
+Scheinkräfte, die wir mit der Gravitation auf eine Stufe stellen
+können. Diese Scheinkräfte sind die Fliehkräfte der Erdumdrehung. Wären
+aber Massen und Geschehnisse außerhalb der Erde nicht vorhanden, so
+könnten Fliehkräfte nicht auftreten; die im Raum isolierte Erde könnte
+sich, physikalisch gesprochen, nicht drehen, das heißt: sie könnte
+keine beobachtbaren Anzeichen ihrer Umdrehung verraten.
+
+Die Wesensgleichheit von Schwerkräften und Trägheitskräften, auf die
+wir so geführt worden sind, findet ihre überzeugende Bestätigung in der
+Gleichheit von schwerer und träger Masse. Vor hundert Jahren durch
+Bessels Pendelbeobachtungen bewiesen, hat diese Identität zweier
+scheinbar verschieden definierter Größen viel zu wenig Beachtung
+gefunden. Erst jetzt sind uns die Augen geöffnet, sie richtig zu sehen
+und sie in Zusammenhang zu bringen mit der Erneuerung unserer
+Zeit-Raum-Auffassung und mit der Vertiefung aller Naturgesetze. --
+
+Was würde nun unser Pfarrer von Ufenau zu dieser Wendung der Dinge
+sagen, wenn sie ihm ein fahrender Schüler des zwanzigsten Jahrhunderts
+anvertrauen würde? Würde er glauben, daß Herr Köpernick umsonst gewacht
+hat? Sicherlich nicht. Der Wechsel des Standpunktes, den Kopernikus
+vornahm, war der erste Schritt zur Wahrheit. Der Erdstandpunkt des
+Ptolemäischen Systems mußte zuerst einmal aufgegeben und durch den
+Sonnenstandpunkt des Kopernikanischen ersetzt werden. Indem Kopernikus
+Sonne und Fixsterne stillstehen und die Erde wandern hieß, erhielt er
+ein vereinfachtes Weltbild. Die Raumkrümmung wird von diesem Standpunkt
+aus so gering wie möglich, der Raum erscheint so euklidisch, als es
+nach Lage der Sache sein kann. Deshalb wird der Kopernikanische
+Standpunkt für alle Zeiten dem rechnenden Astronomen und dem
+beobachtenden Erdbewohner die besten Dienste leisten. Aber dieser
+Standpunkt ist nicht mehr der einzig mögliche. Es ist zwar sehr
+unpraktisch, aber nicht mehr falsch zu sagen: Die Erde ruht und die
+Sonne wandert. -- Darüber hinaus sehen wir mit E i n st e i n den
+wahren und endgültigen Standpunkt darin: alle Standpunkte souverän zu
+umfassen, je nach der besonderen Aufgabe den Standpunkt besonders zu
+wählen und zu der Überzeugung vorzudtingen: Die Natur ist, unabhängig
+von dem wechselnden menschlichen Standpunkte, immer gleich groß und
+gleich gesetzmäßig.
+
+
+
+
+GEGENWARTSFRAGEN DES DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSLEBENS
+VON UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. GOETZ BRIEFS (WÜRZBURG)
+
+ Anmerkung: Der Aufsatz wurde Ende August 1921 abgeschlossen. G.B.
+
+Wer dieses Thema liest, möchte leicht geneigt sein, es umzuändern in:
+die Fraglichkeit des deutschen Wirtschaftslebens. Und wer sich mit dem
+vollen Ernst dieser Fraglichkeit erfüllt hat und sieht, welche
+Zusammenhänge heute von der Wirtschaft in alle anderen deutschen Lebens
+gebiete bis in die Kultur, in die politische Freiheit und das
+Volksleben ausstrahlen, möchte wohl von der Fraglichkeit des deutschen
+Lebens im ganzen sprechen und die düstersten Zukunftsbefürchtungen
+daran anschließen.
+
+Zu jäh ist für uns alle dieser Titanensturz, den Volk und Reich seit
+jenen tragischen Juli- und Augusttagen 1914 erlebt haben. Wir sind wie
+betäubt vom Sturz. Wir wissen nur eines: Nicht am Boden liegen bleiben!
+Sonst ist Ehre, Reich und Volk auf immer verloren. Wo standen wir? Wo
+stehen wir? Das sind die festen Punkte, an denen wir Richtung nehmen,
+um uns zunächst einmal mit der vollen Schwere dessen zu erfüllen, was
+geschehen ist, und um an ihnen zu ermessen, was nun geschehen soll.
+
+Wo standen wir? Wir jüngere Generation kennen aus eigenem Erlebnis der
+Vorkriegszeit nur das starke, stolze Reich, das im Inneren Einigung und
+Blüte, nach außen schimmernde Wehr und hohe Geltung besaß. Die
+Reibungen unseres innerpolitischen und wirtschaftlich-sozialen Lebens
+schienen uns Wachstumsschmerzen, die keinen verschonen, aber mit denen
+man fertig wird. Unsere Weltgeltung stand auf der Stärke einer
+gewaltigen Kriegsmacht und einer Wirtschaftsmaschine von unerhörter
+Leistungsfähigkeit, aber auch auf sozialen Kulturtaten und geistigen
+Leistungen, die vorbildlich waren. Mit diesen Eindrücken von Macht,
+Größe und Reichtum erfüllte sich unsere Seele. Wer von uns draußen war,
+sah auf allen Meeren, in allen Ländern die Zeichen eines aufstrebenden,
+gewerbefleißigen, "in allen Künsten und Hantierungen geschickten"
+Volkes, das im Herzen Europas saß und von dort aus das Reich seines
+wirtschaftlichen und technischen Unternehmungsgeistes aufbaute. Das war
+das Deutschland der jüngsten Vorkriegsgeneration. Ihre Väter und
+Großväter noch hatten das andere alte Deutschland gekannt, jenes
+Deutschland, das weltpolitisch und weltwirtschaftlich nicht viel mehr
+als ein geographischer Begriff, "Provinz" war; jenes Deutschland,
+dessen Getreideausfuhr der Londoner Produktenbörse den Namen "Baltic"
+gab, jenes bäuerlich-handwerkerliche Deutschland, das oft genug
+auslaufende fremde Schiffe mit Sand als Ballast befrachten mußte, weil
+ihm Waren zur Ausfuhr fehlten, jenes Deutschland, dessen Vorstellung
+für Gladstone noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts verbunden war
+mit Ärmlichkeit, Spießbürgertum, viel Militär und einem Bündel von
+Kleinstaaten. Und greift man nun zurück auf die ersten Jahrzehnte des
+19. Jahrhunderts, dann taucht man in die schwere Luft eines
+kontinentalen bäuerlich-handwerkerlichen Volkstums ein, das politisch
+nicht zu eigener Form kam, dessen Ohnmacht im Konzert der Völker mit
+seiner Zersplitterung wetteiferte, und das im ganzen mehr Objekt als
+Subjekt der hohen Politik war. Wenn in jenen Zeiten der deutsche Name
+in fremden Landen respektvoll genannt wurde, dann war es um der Werte
+des G e i s t e s willen. Wer von den großen Geistern unserer
+klassischen Zeit war Prophet und Seher genug, vorauszuschauen, was aus
+diesem Volke im Laufe zweier oder dreier knapper Generationen werden
+sollte! Wer von ihnen h o f f t e auch nur auf jene Wendungen in
+unserem Geschick, die wir als Volk bald nahmen? Dem Briten die See, dem
+Franzosen das Land, dem Deutschen das Reich des Geistes: das war jene
+nicht etwa schmerzvoll den Tatsachen entnommene, sondern aus innerstem
+Bewußtsein gewertete Teilung der Erde, die Schiller in einem seiner
+Gedichte vor Augen hat. Freilich: das konnte der Dichter wohl nicht
+ahnen, daß das "Luftreich der Gedanken" der Boden sein werde, auf dem
+der beispiellose deutsche Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19.
+Jahrhunderts reifen würde. Man möge in dem trefflichen Buche: "Die
+deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert" selbst nachlesen, was
+Sombart mit großer Meisterschaft der Darstellung zu erzählen weiß von
+dem Leben der dritten Generation vor uns, von ihrem Schaffen und Mühen,
+von der Kleinheit -- und so schien uns wenigstens in den reichen Tagen
+der Vorkriegszeit -- Ärmlichkeit dieses Lebens! "Eine an Dürftigkeit
+grenzende Einfachheit" allerorten, in Wirtschaft und Staat, im privaten
+Leben und in der Gesellschaft!
+
+Beengt, klein, dürftig blieb im ganzen genommen das Dasein unseres
+Volkes bis in hohe Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Gewiß, es kamen
+schon stärkere Impulse; im Westen und Süden regte sich industrielles
+Leben, das in Friedrich List den genialen Anwalt seiner Bedeutung für
+das ganze Volkstum fand. Aber der eigentliche Aufmarsch der deutschen
+Wirtschaft zu jener Stärke und Geltung, in deren Bewußtsein wir
+aufgewachsen sind, liegt sehr erheblich später. Noch in den sechziger
+Jahren hatten wir eine stärkere Getreideausfuhr als Einfuhr; erst 1873
+verschwand der letzte Getreideausfuhrüberschuß, der Weizenüberschuß. Es
+war damals noch nicht die Konkurrenzunfähigkeit der deutschen
+Landwirtschaft die Ursache der Einfuhrüberschüsse bei Getreide, sondern
+die verstärkte Hinwendung der Landwirtschaft zum Kartoffel-,
+Futtermittel- und Rübenbau. Aber diese Wendung leitete eine
+wirtschaftliche Umwälzung ein: an der Zuckerrübe wurde eine der ersten
+und blühendsten deutschen Industrien wach, auf den Kartoffelböden des
+Ostens entstand eine landwirtschaftliche Nebenindustrie (Brennereien
+und Stärkefabriken) von großer Bedeutung. Im Westen und Süden
+entwickelte sich im Anschluß an eine alte Tradition des Gewerbefleißes
+eine Industrie der Textilien, des Eisens und der Kohle; sie hatte
+jahrzehntelang einen schweren Stand gegenüber der hochentwickelten
+englischen Industrie wie auch gegenüber dem französischen und
+belgischen Wettbewerb, der teilweise mit Ausfuhrprämien arbeitete.
+Aufschwungsimpulse von größter Bedeutung waren die Reichseinigung, die
+Kriegsentschädigung von 1870 und das gehobene Nationalgefühl, das nach
+dem glorreichen Kriege durch das deutsche Volk ging. Die Bevölkerung
+wuchs von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in starken Rhythmen, das industrielle
+Leben entfaltete sich, wenn auch über Wellentäler von Depressionen weg,
+so doch im ganzen stark und nachhaltig; die Schutzzollgesetzgebung von
+1879 kräftigte jenes Doppelfundament der deutschen Wirtschaft,
+Industrie und Landwirtschaft gegen die vom Weltmarkt her drohenden
+Erschütterungen. Wenn schon in den letzten Jahrzehnten des 19.
+Jahrhunderts die deutsche Industrie- und Reichtumsentfaltung den
+ausländischen Beobachtern so überraschend -- und gestehen wir auch das,
+in mancher Hinsicht überstürzt und gewaltsam -- vorkam, so waren das
+nur Auftakte zu jener ungeheuren, fast möchte man sagen: elementaren
+Expansion, die mit dem neuen Jahrhundert einsetzte.
+
+Drei Züge kennzeichnen diesen neuen Abschnitt der deutschen
+Wirtschaftsentfaltung: das Aufschießen von Riesenbetrieben, zumal in
+der Kohlen- und Eisenindustrie, in der chemischen und
+Elektrizitätsindustrie; weiterhin der Organisationsprozeß der deutschen
+Wirtschaft in Gestalt von Betriebskombinationen, Kartellen, Syndikaten,
+Interessengemeinschaften usw.; und drittens das Vordringen der
+wissenschaftlich fundierten Industriewirtschaft, mit anderen Worten:
+der wirtschaftlichen Auswertung naturwissenschaftlicher Forschungen
+einerseits, andererseits des Aufbaues von Betrieben und Unternehmungen
+nach Methoden, die wissenschaftlich auf ihre höchste Zweckmäßigkeit
+ausgeklügelt sind. Während Großbetriebe, Kartelle und Truste Ergebnisse
+von Tendenzen sind, die alle moderne Wirtschaft in fast allen Ländern
+kennzeichnen, ist der Weg zur Wirtschaft über die Wissenschaft ein
+spezifisch deutscher Weg gewesen; seine geistigen und sittlichen
+Voraussetzungen lagen nur hier in der Stärke und Reinheit vor, die
+nötig waren, ihn zu beschreiten und zu erobern. Jedenfalls ist das
+Schrittmaß der deutschen Wirtschaftsentwicklung unter dem Antrieb jener
+neuen Organisationsformen und Produktionsmethoden so schnell, daß in
+seinem Gefolge schwerwiegende Erscheinungen im Inneren des deutschen
+Volkskörpers auftauchten. Noch schwerer wiegende nach außen!
+
+Ein wachsendes Volk auf schmaler Rohstoffbasis! Was das wachsende Volk
+an Nahrung und Kleidung brauchte, konnte der deutsche Boden allein
+nicht hergeben; die Einfuhr mußte über eine Million Tonnen Brotgetreide
+und für eine Milliarde Mark (Goldmark!) Futtermittel zuschießen; dazu
+Milliardenbeiträge für Wolle, Baumwolle, Erze usw. Wir könnten diese
+wenigen Angaben noch vermehren um den Hinweis auf den stark
+anwachsenden Tonnengehalt unserer Handelsflotte, die Ausweise unserer
+Banken, die deutsche Kapitalanlage im Auslande, unsere Steuerkraft und
+vieles andere mehr. Doch genug der Zahlen! Sie sind heute schmerzvolle
+Erinnerungen. Wer sich sinnfällig den Unterschied des damaligen und des
+heutigen Deutschlands vergegenwärtigen will, überlege nur einen
+Augenblick den Wert der Mark von heute gegenüber dem der alten
+Goldmark. Der Unterschied redet eine Sprache, die auch der Einfältige
+versteht.
+
+Und doch müssen wir noch einmal vom alten Deutschland reden, ehe wir
+uns dem armen Deutschland unserer Tage zuwenden, und zwar nach einer
+doppelten Hinsicht. Ein Volk, das keine Hoffnung mehr sieht und auf
+Generationen hinaus Wüstenwanderung vor sich hat, gibt sich auf. Haben
+wir dazu Anlaß? Wir hätten Anlaß dazu, wenn alle Wurzeln unserer
+Vorkriegsblüte verdorrt wären. Stellen wir fest, welches diese Wurzeln
+waren. 1. La n d als Grundlage von Ackerbau und Viehzucht, Land als
+Fundstätte von Rohstoffen und Kraftquellen, Land als räumliche
+Grundlage von Leben und Wohnen. Nach allen drei Richtungen haben wir
+schmerzvollste Verluste erlitten, aber keine, die nicht mehr oder
+minder zu mildern wären. 2. Die natürliche Lebenskraft der N a t i o n:
+Arbeitskraft, Geschlechtsverteilung, Altersaufbau, Gesundheit. Auch
+hier sind schwere Einbußen zu verbuchen, aber wiederum keine, die nicht
+auszugleichen oder zu ertragen wären. 3. K a p i t a l k r a f t,
+Vermögensmacht, Reichtum, "Wohlstand": hier liegt die gewaltigste
+Einbuße vor, diejenige auch, die am wenigsten von heute auf morgen
+ausgeglichen werden kann. Hier ist Anlaß, in der Tat von einer
+hochgradigen Verarmung zu reden. Teils ist sie eine Folge der
+Erschöpfung unserer Reichtumsquellen durch den Krieg, teils der
+Ausplünderung und Ausraubung durch den Frieden. Wenn es heute ein
+"Proletariervolk" im Sinne eines Volkes, das in Dürftigkeit von der
+Hand in den Mund lebt, gibt, dann sind w i r e s. Wir sind das
+Proletariervolk, auf das für Jahrzehnte hinaus ungeheuerliche
+Verpflichtungen gelegt sind. Wir sind ein verarmtes, ausgeraubtes Volk,
+das noch von seiner Hände Arbeit und von seiner Armut Fabelsummen in
+Gold ausgepreßt bekommt. Hier liegt der Punkt, wo die Wirtschaftslage
+in das allgemeine Leben des ganzen Volkes auf Jahrzehnte hinaus
+empfindlich einzuschneiden droht. Alle Kultur, alle Zivilisation, alle
+Bildung des Geistes und des Herzens, alle soziale Fürsorge, alle gute
+Verwaltung, alle Schaffung von Recht und Sicherheit hängt mit tausend
+Fäden an der Wirtschaftsblüte; sie entscheidet über das Leben
+ungeborener Geschlechter, und vor allem darüber, ob der junge Aufwuchs
+der Nation an Leib und Seele verkrüppelt und verwildert aufwächst oder
+nicht; sie entscheidet darüber, ob Mitteleuropa zurücksinkt in die
+stumpfe Dumpfheit und Stickigkeit einer geistig und physisch elenden
+Volksmasse, und weiterhin darüber, ob sich damit die Nachtschatten über
+ganz Europa senken. Denn man kann nicht das Mittelstück eines Kultur-
+und Zivilisationszusammenhanges mit frevlen Händen herausbrechen und
+sich dabei einbilden, das könnte den Anschlußstücken in Ost und West
+von Vorteil sein. Die wirtschaftliche Erschöpfung bei gleichzeitiger
+Überbürdung mit Verpflichtungen ist der Boden der schlimmsten
+Gegenwartsbefürchtungen; an diesem Punkte kann a l l e s fraglich
+werden. Ob die Befürchtungen sich verwirklichen, hängt ab von der
+Freiheit, die man unserer Arbeitskraft, unserer Unternehmungslust und
+unserem Erfindergeist im fremden Lande gewähren wird, und hängt nicht
+zuletzt ab von der tätigen Hilfe in Gestalt von Krediten,
+Rohstoffvorschüssen und vor allem Verpflichtungserleichterungen, die
+uns das Ausland gewährt 4. S i t t l i c h e E i g e n s c h a f t e n:
+Arbeitswilligkeit, Arbeitsfreude, Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit,
+Genügsamkeit, Wille zum Vorwärtsstreben, Mut zum Leben. Wer will
+behaupten, daß diese Eigenschaften, die gewiß zeitweise getrübt und in
+manchen Einzelgruppen heute noch geschwächt sind, im ganzen
+unerträglich gelitten hätten? Nur interessierte Böswilligkeit oder
+Unverstand kann derartiges behaupten. Festzustellen ist wohl, daß das
+Maß der Leistungen nicht so stürmisch und ungezügelt ist wie früher.
+Aber das hat seine besonderen Gründe in schlechter Lebenshaltung,
+wirtschaftlichen Beengungen durch den Friedensvertrag und seine Folgen
+und ist übrigens zu einem Teil eine verständliche Reaktionserscheinung
+auf de ungeheueren Anforderungen der letztem sieben Jahre. 5. D e r
+d e u t s c h e S t a a t. Sicher war das alte Staatsgefüge mit seiner
+inneren Ordnung, seiner Stärke und Macht nach außen ein gewichtiger
+Hebel wirtschaftlichen Aufstiegs. Zweifellos hat die allgemeine
+Heerespflicht Eigenschaften geweckt und gefördert, Sachverhalte
+geschaffen, die der Wirtschaft zugute kamen. Was ein starker, politisch
+unabhängiger Kultur- und Machtstaat der Wirtschaft zu bieten vermag,
+weiß kein Volk besser als das deutsche. Wir müssen uns mit dem Gedanken
+vertraut machen, daß unser Staat von heute so schwer nach außen und
+innen zu tragen hat, so überbürdet ist mit Aufgaben und toten Lasten,
+daß ihm die Wirtschaft eher helfen muß, als er der Wirtschaft helfen
+kann. Das sind Folgen des Krieges und des Friedens, Folgen aber auch
+der gerade in Deutschland so weit verbreiteten Neigung, in allen Nöten
+des Lebens nach dem Staate zu rufen. Und doch ist es nicht so, wie
+mancher wohl gelegentlich denken möchte, als ob der Staat von heute nur
+eine tote Last unserer Wirtschaft sei. Auch heute lebt die Wirtschaft
+auf dem Boden des staatlich gesicherten Rechtes und der staatlich
+gewährleisteten Ordnung. Und vor jedem vorschnellen Urteil sollte man
+bedenken: Das Staatsgefüge in Deutschland hat eine ungeheuere
+Anspannung und Probe ausgehalten, ohne unterzugehen! Gewiß, es hat sich
+neue Formen geschaffen; es ringt in manchen Hinsichten noch mit sich
+selbst und den neuen Verhältnissen -- aber das Wesentliche ist
+gesichert: im neuen Staate sind die Unterlagen des Wirtschaftslebens
+und die Voraussetzungen eines wirtschaftlichen Aufbaues gegeben. Es ist
+Aufgabe des Staates, auf seinem Gebiete der Wirtschaft aufzuhelfen; es
+ist Aufgabe der Wirtschaft, mit ihren Mitteln den Staat zu stützen. Die
+Vorstellung, es könne eines von beiden o h ne e das andere gedeihen,
+ist eine gefährliche Illusion.
+
+Das ist der e i n e Blick auf das alte Reich, ein Blick, der uns
+vergegenwärtigen sollte, wieviel noch von den Pfeilern der alten Macht
+und Größe steht und Tragkraft besitzt für den Neubau. Und nun der
+andere Blick auf das alte Reich: wieviel von den Nöten, Sorgen und
+Schwierigkeiten unserer Gegenwart lagen in ihm schon mit zugrunde! Aus
+der Tiefe seiner Armut könnte es einem kommenden Geschlecht einmal
+scheinen, als ob in den glanzvollen Jahrzehnten des Kaiserreiches eitel
+Friede und Wohlfahrt in Deutschland geherrscht habe. Und ein
+Geschlecht, das in seinen Tagen die Fehden blutdürstiger Matabelestämme
+auf europäischem, politisch zerkleinertem Boden zu erleben glauben
+wird, könnte vielleicht einmal denken, der europäische Friede vor dem
+Kriege sei eitel Völkerfreundschaft gewesen. Solche Auffassungen haben
+mit der Wahrheit sehr wenig gemein. Das von jeher an Gegensätzen und
+Spannungen so reiche deutsche Leben hat auch unter dem zweiten
+Kaiserreiche den inneren Frieden nicht gefunden. Gewiß trat der alte
+Bruch zwischen Nord und Süd für das Bewußtsein der jungen Generationen
+als eine praktisch erledigte Angelegenheit, deren gefühlsmäßige
+Restbestände allmählich ganz erlöschen werden, zurück; auch war nach
+dem Einschwenken in der Kulturkampfpolitik der konfessionelle Gegensatz
+kein auseinanderreißendes Element mehr, soviel Kraft er im übrigen noch
+verschlingen mochte. Aber dafür ging der Riß der w i r t s c h a f t
+l i c h - s o z i a l e n G e g e n s ä t z e in Gestalt des
+Klassenkampfes durch unser Volk. Wie die moderne Wirtschaftsverfassung,
+zumal in ihrer hochgesteigerten deutschen Gestalt, Besitz und Verfügung
+über die Produktionsmittel von der Arbeit an ihnen trennt, so
+schichteten sich auch politisch und sozial die Gruppen. Hier Besitz und
+wirtschaftliche Machtverfügung, dort Nichtbesitz und ausführende
+Arbeit; hier stärkste soziale Geltung mit erhöhten politischen Rechten
+und Ansprüchen, dort tatsächliche soziale Mindergeltung und politische
+Minderberechtigung; hier die relativ dünnen Schichten, die mit Stolz
+Besitz und Bildung berufen konnten, dort die ungeheueren Massenheere
+der Arbeiterschaft, besitzlos, hungrig nach Bildung und Wissen. Das war
+der Sachverhalt, der den Ausgangspunkt gefährlicher innerer Spannungen
+abgab, der den Trennungsstrich zog durch das Volk, und der, so schien
+es manchmal, zwei feindliche Völker auf einem Boden und in einem
+Staatsverbande zusammenhielt. Wenn schon festzustellen ist, daß der
+schärfste Radikalismus von beiden Seiten sich allmählich abstumpfte,
+und wenn schon zugegeben werden muß, daß die staatliche Sozialpolitik
+sehr viel zur Milderung der Konflikte tat, so traf doch noch der
+plötzliche Kriegsausbruch in eine Spannung der Gegensätze, die nicht
+unbedingte Sicherheit gab, daß die Zusammenfassung aller Kräfte nach
+außen restlos gewährleistet, der Burgfriede nach innen gewahrt sei. --
+Und noch eine Frage der Vorkriegszeit ragt in unsere Gegenwart hinein,
+doppelt und dreifach verschärft. Es ist Tatsache, daß unser
+Volkswachstum, getragen von dem gigantischen Aufschwung unserer
+Wirtschaft, mit der Folge der Überflügelung aller übrigen europäischen
+Wirtschaften politisch unsere Lage erschwerte. Gegnerschaften, die das
+alte Deutschland von vor 1870 nie herausgefordert hatte, forderte das
+hochindustriell entwickelte Deutschland heraus. Verständliche
+Besorgnis, Machtgier und Racheinstinkte schlugen vor dem Bilde des
+wirtschaftlich so gewaltig sich reckenden Deutschland zur verzehrenden
+Flamme empor und führten Staaten zu feindlichem Bund zusammen, deren
+Lebensinteressen an sich gegeneinanderstanden. Es wird sich zeigen, wie
+die Wirtschaftslage auf die politische Konstellation heute unheilvoll
+nachwirkt, teils infolge des Friedens und des Londoner Ultimatums,
+teils als Folge unserer trotz Kriegsverlust äußerlich scheinbar
+intakten Wirtschaft.
+
+Man hat gesagt, der Versailler Vertrag sei die Urkunde des neuen
+Europas. Unser Volk weiß und fühlt es Tag für Tag, daß er allerdings
+die haß- und infamiegesättigte Urkunde s e i n e s Lebens ist. Seine
+Einzelheiten wollen wir nicht betrachten; aber was er im gröbsten für
+uns bedeutet, bedarf der Skizzierung. Er raubt uns ganze Länder und
+Provinzen. 6,7 Millionen Hektar Fläche schneidet er in Ost und West aus
+dem deutschen Gebietskörper heraus. Er nimmt uns alle Kolonien. Fast 6
+Millionen Menschen, von denen die Mehrzahl Deutsche sind und deutsch
+fühlen, spricht er mit oder ohne Abstimmung fremden Völkern zu.
+Außerdem werden 32 000 Quadratkilometer unseres Staatsgebietes
+langjähriger Besetzung und feindlichen Eingriffen unterworfen, die
+wiederum auf 6,5 Millionen Menschen ihr Zwangsjoch legen. Suchen wir
+uns zu vergegenwärtigen, was nur diese wenigen Bestimmungen des
+Friedensvertrages wirtschaftlich besagen. Eine Regierungsdenkschrift
+hat berechnet, daß ohne Berücksichtigung der Abstimmungsgebiete 14,9%
+unserer Ackerfläche durch die Abtretungen verloren gehen. Naturgemäß
+bedeutet das stärkste Einbuße an landwirtschaftlichen Erträgen, um so
+mehr, als die verlorenen Ostgebiete geradezu die Korn- und
+Kartoffelkammern des Reiches darstellten. Man hat berechnet, daß 19%
+der Roggenernte, je 20% der Gersten- und Kartoffelernte und teilweise
+noch höhere Prozentzahlen bei anderen Produkten mit der Abtretung jener
+Gebiete unserer Volksernährung verloren gegangen sind. Also rund ein
+Fünftel der deutschen Ernährungsgrundlage! Dazu der Verlust an unserem
+stark verminderten Viehstapel. Diese Einbußen verstärken sich dadurch,
+daß in jenen abgetretenen Gebieten nur 13,3% der deutschen Bevölkerung
+wohnten. 3,6 Millionen Menschen durchschnittlich könnten von den Ü b e r
+s c h ü s s e n der verlorenen Provinzen ernährt werden, wenn man
+jene Mehl- und Kartoffelrationen zugrunde legt, die 1920 zugeteilt
+wurden. Mit anderen Worten: Die Schwierigkeit der deutschen
+Volkswirtschaft, ihre Menschen zu ernähren, ist heute, zur Zeit ihrer
+allgemeinen Verarmung und Belastung, weitaus größer als in jenen
+reichen Tagen der Vorkriegszeit! Um so mehr, als durch den Raubbau
+während des Krieges die Erträge der Böden und das Schlachtgewicht
+unserer Viehstapel erschreckend zurückgegangen sind. Problem: bei
+verminderter Fläche und ab gewirtschafteten Böden die Bedarfsversorgung
+einer nicht im gleichen Umfange zurückgegangenen Bevölkerung zu
+gewährleisten. Und wir müssen noch hinzufügen: den Bedarf einer
+Bevölkerung, die teilweise entkräftet ist durch die mangelnde
+Ernährung, die 1,7 Millionen ihrer kräftigsten Männer verloren bat, die
+1,5 Millionen ganz oder teilweise erwerbsunfähiger Kriegsbeschädigter
+zu versorgen hat, und deren Kaufkraft für die Erzeugnisse des Auslandes
+ins Bodenlose zusammengefallen ist. Das ist eine Bergeslast, die der
+Friedensvertrag auf uns wälzte; unsere landwirtschaftliche
+Eigenversorgung ist völlig unzureichend; an ihr und an unserem
+verbliebenen Wohlstand gemessen, sind wir ein übervölkertes Land.
+
+Mancher mag geneigt sein, das nicht so tragisch zu nehmen. Er erinnert
+an die wachsenden Millionen der Vorkriegszeit, für die ja auch die
+Eigenversorgung des deutschen Bodens nicht auslangte, und tröstet sich
+damit, unsere I n d u s t r i e müsse den Überschuß an Menschen
+ernähren. Doch so einfach liegen die Dinge nicht mehr. Zunächst ist die
+Quote der heute auf die Industrie angewiesenen Menschen verhältnismäßig
+größer als damals. Und weiterhin kann die Industrie die Menschen nur
+dann ernähren, wenn sie 1. Ausfuhrmöglichkeiten hat, die auf G e g e n
+l e i s t u n g e n beruhen, und 2. wenn ihre eigene Kraft nicht
+gelähmt ist. Zum ersten Punkt sei in diesem Zusammenhange nur kurz
+bemerken, daß die geschmälerten Ausfuhrmöglichkeiten der deutschen
+Industrie von heute im größten Umfange o h n e Gegenleistung sind. Es
+sind großenteils einseitige Leistungen, die direkt oder indirekt auf
+Konto der Reparation laufen und in diesem Umfange tote Lasten unserer
+Wirtschaft darstellen, für die in Deutschland zwar Millionen fronden,
+von denen aber keiner leben kann. Davon abgesehen aber hat der
+Friedensvertrag auch die Grundlagen unserer Industrie erheblich
+geschmälert. Schätzungsweise ein Viertel unserer deutschen
+Kaliförderung ging mit Elsaß-Lothringen verloren; wichtiger als der
+Förderverlust ist der Verlust der Monopolstellung, die Deutschland auf
+dem Kalimarkte hatte. 79% unserer vor dem Kriege geförderten Eisenerze
+-- das Rückgrat unserer Industrie und jeden industriellen Lebens --
+sind durch den Verlust Lothringens und den Zollausschluß Luxemburgs
+dahin; ungefähr 9% unserer Kohlenförderung ist, wenigstens für 15
+Jahre, durch die Abtrennung des Saargebietes uns entzogen; ungefähr
+zwei Fünftel unserer Kohlengesamtförderung wäre verloren, wenn
+Oberschlesien an Polen fällt[1].
+
+ [1] Das ist inzwischen geschehen, indem der Völkerbund gerade
+ die industriereichen Teile Oberschlesiens Polen zusprach.
+
+Das Ruhr-, Wurm- und mitteldeutsche Kohlengebiet ist alles, was uns
+verbleibt. Aber auch deren Förderung steht nicht zu unserer freien
+Verfügung. Der Friedensvertrag belastet uns auf in Jahre mit
+Lieferungen an die Entente, die sich auf über 40 Millionen Tonnen
+stellen. Das Spaaer Abkommen hat dann diese Phantasieforderung
+ermäßigt. Da uns auch die freie Verfügung über die oberschlesische
+Kohle seit der Besetzung des Landes genommen ist, ruht die schwere Last
+der Versorgung auf dem Ruhrrevier. Diesem Anfordern war weder die alte
+Belegschaft gewachsen, noch langten die Förder- und
+Verkehrseinrichtungen. Die Wirkung war eine doppelte: Es mußten die
+Belegschaften vermehrt und die Verkehrsmöglichkeiten gesteigert werden
+-- was nur mit ungeheueren Opfern seitens des Reiches zu machen war
+(Wohnungsbauten, Löhne, Lebensmittelzuschüsse) --, und es mußten
+deutsche Betriebe in ihrem Kohlenverbrauche sich beschränken, oft genug
+gar die Arbeiter entlassen und stillliegen, weil die
+Zwangslieferungskohle vorgeht. Das waren zeitweise geradezu
+katastrophale Zustände, die an das Mark unseres industriellen Lebens
+rührten. Heute ist in der Tat die Rohstoffdecke zu knapp geworden, an
+Kohle, an Zinkerzen, an Blei usw. Heute hat der deutsche Osten noch
+weniger als bisher die Möglichkeit, seine Menschen festzuhalten,
+während das Ruhrrevier schlimmer als je bisher mit Anforderungen für
+die deutsche Wirtschaft aller Provinzen belastet und für deren
+Erfüllung mit Menschen unerwünscht dicht belegt werden muß. Das sind
+Verschiebungen, die unsere industrielle Basis erschüttern, uns
+außerstande setzen, unsere Menschen selbst zu ernähren, und die
+natürlich uns vorher zum Aussetzen unserer Vertragsleistungen an die
+Entente zwingen -- mit der Wirkung umübersehbarer politischer Folgen!
+
+Das sind nicht die einzigen Beschneidungen unseres Daseins durch den
+Friedensvertrag. Der Vertrag raubt das deutsche Volk mit einer
+Gründlichkeit und Schamlosigkeit nach allen Richtungen hin aus, in der
+sich Haß, Brutalität und Pharisäertum zu einer widerlichen Fratze
+verbinden. Kein Guthaben im Auslande, kein Schiffspark, kein Kabel,
+keine Ansprüche, Rechte und Privilegien, keine Patente und keine
+Gebrauchsmuster werden übersehen. Und um die ganze Schamlosigkeit
+dieses Raubzuges wird der Pharisäermantel der vergeltenden
+Gerechtigkeit gelegt. Alle gerechte Entrüstung ändert nichts daran, daß
+die wertvollen Posten unserer Wirtschaft in Gestalt von
+wirtschaftlichem, militärischem und maritimem Rüstzeug allesamt
+verloren sind, und daß die Sieger sich auf deutschem Boden und in der
+deutschen Wirtschaft Rechte zwangsmäßig usurpiert haben, die die an
+sich schon schmale Basis des deutschen Bodens und der deutschen
+Hoheitsrechte unerhört verengen. In richtiger Erkenntnis der Sachlage
+schrieb die englische Zeitschrift "Nation" vom 22. März 1919: "Es gibt
+Leute in und außer Europa, die, wenn sie vom Frieden sprechen,
+Diebstahl meinen. Sie möchten Deutschland seine Bergwerke stehlen,
+seine Kabel, Kanäle, Kohlen, Land, Schiffe, Kredit, Industrien,
+Patente, Handelsgeheimnisse; sie möchten seine Grenzsteine verschieben
+und seine offene Brust allen Feinden an allen Ecken und Enden
+preisgeben. Das wäre das Ende von Europas Zivilisation."
+
+Gerade die letzterwähnten Verluste müssen den Versuch, durch verstärkte
+industrielle Tätigkeit wiederum zu Atem und Leben zu kommen, aufs
+stärkste gefährden. Fünf Jahre war uns der Weltmarkt entfremdet. In
+dieser Zeit reifte einerseits der amerikanische und japanische Weizen
+im Welthandel, industrialisierten sich andererseits manche
+Auslandsmärkte, um für jetzt und in Zukunft unabhängig zu sein von
+Versorgungsstörungen auf Grund europäischer Verwicklungen. Typische
+Beispiele: Holland und Dänemark legen sich Eisenhütten zu, Schweden
+baut seine Hütten- und Stahlwerke aus, Amerika entwickelt eine große
+Farbenindustrie, Argentinien und Brasilien bemühen sich um industrielle
+Selbstversorgung auf wichtigen Gebieten. Während des Krieges wurde
+gerade von England eine intensive Zerstörung aller deutschen
+Überseeinteressen vorgenommen, bis zur Vernichtung der Geschäftsbücher,
+der Aufstellung schwarzer Listen, des geistigen Diebstahls an deutschen
+Patenten und Geschäftsmethoden und vor allem bis zur Verzerrung des
+deutschen Antlitzes vor der Welt zur Fratze, mittels einer Lüge und
+Verleumdung zu systematischen Kampfmitteln erhebenden beispiellosen
+Hetzpropaganda. Wer will ermessen, welche Barren gerade der Raub des
+deutschen guten Namens dem deutschen Handel und Gewerbefleiß in der
+ganzen Welt bereiten muß? Wer will auf Milliarden aufzählen, was uns
+die raffinierte Bearbeitung der öffentlichen Meinung in aller Herren
+Länder durch das feindliche Kabelmonopol gekostet hat und noch kostet?
+Dieser Verlust des deutschen guten Namens vor aller Welt gehört sicher
+mit zu den schlimmsten Kriegsverlusten. Es wird unserer zähesten und
+unermüdlichsten Arbeit bedürfen, allmählich durch diese Berge von
+Verleumdung, Haß und Vorurteil zu dringen, die sich schlimmer als eine
+Blockade um uns legen und uns das moralische Recht und das
+wirtschaftliche Leben unerträglich schmälern. Hier hilft uns die doch
+zu offensichtige Brutalität und Ungerechtigkeit des Friedensvertrages,
+hier hilft uns das allmähliche Wachwerden des Anstands- und
+Wahrheitsempfindens in allen edlen Geistern aller Nationen. "Von nun an
+müssen wir uns der Aufgabe widmen, diesen Schandfleck des Versailler
+Vertrages von dem guten Namen Englands auszulöschen." ("Daily Herald",
+10. Mai 1919.)
+
+Bis zum 1. Mai 1921 sollte nach Bestimmung des Friedensvertrages die
+sogenannte Wiederherstellungssumme, die aber in der Art, wie sie
+berechnet wird, tatsächlich eine Kriegsentschädigung darstellt,
+festgelegt werden. Es ist bekannt, daß diese Summe durch das Londoner
+Ultimatum diktiert und die deutsche Unterschrift unter sie erpreßt
+wurde. Gefordert wurde vom deutschen Volke ein Gesamtbetrag von 132
+Milliarden Goldmark, abzahlbar in jährlichen Raten von 2 Milliarden,
+zuzüglich 26% des Wertes unserer Ausfuhr in Gold, dazu Leistungen auf
+Grund von Ausgleichsforderungen und Besatzungskosten, deren Höhe nicht
+festgelegt ist, aber in die Goldmilliarden geht. Die furchtbare Last
+dieser jährlichen Zahlungen erstreckt sich nach den festgesetzten
+Verzinsungs- und Tilgungsgrundsätzen auf weit mehr als ein
+Menschenalter. Diese wenigen Daten umschließen die Schuldknechtschaft
+eines ganzen Volkes und sind von einer Härte, wie sie in aller
+Geschichte unerhört ist.
+
+An der Wiege solcher Friedensbedingungen hat weder die politische noch
+die wirtschaftliche Vernunft gestanden. Das haben die leider so wenigen
+Einsichtigen in allen Ländern deutlich ausgesprochen. Auf den inneren
+Widersinn dieser Entschädigungsforderungen wies vor allem die englische
+Zeitschrift "The Nation" hin, die das Problem ganz richtig faßte:
+entweder zahlt Deutschland jene Unsummen, dann nur, indem es uns die
+Ausfuhrmärkte ruiniert und uns wirtschaftlich aufs äußerste bedrängt;
+oder wir unterbinden ihm unsere Märkte, dann kann es nicht zahlen.
+Durchaus zutreffend! Es wird ja niemand im Ernst glauben, aus dem
+deutschen Boden selbst ließen sich jene Summen herausstampfen, sie sind
+eben nur beschaffbar, wenn die deutsche Arbeit für fremde Völker sie
+erst hereinholt und zur Verfügung stellt. Aber auch das ist richtig:
+Werden de Forderungen nicht erfüllt, dann drohen politische
+Zwangsmittel in Gestalt von Neubesetzungen, Sanktionen, die unserer
+politischen Selbständigkeit den letzten Rest geben, die eine dauernde
+Gefährdung des europäischen Friedens sind, und die mit dem Zerbruch des
+Reiches enden könnten. Der Reichskanzler Wirth hat das zutreffend
+formuliert: "Wir kämpfen mit unserer Arbeit um unsere Freiheit als Volk
+und Staat."
+
+ * *
+ *
+
+Das ist der furchtbare äußere Rahmen unseres Daseins. Aus ihm heben
+sich deutlich die Probleme heraus: Wie heilen wir im Lande selbst die
+furchtbaren Wunden des Krieges? Wie bringen wir die Mittel auf zur
+Erfüllung der ungeheueren Verpflichtungen nach außen? Welche
+wirtschaftlichen und sozialen Weiterwirkungen schließen sich an die
+Erfüllung dieser Aufgaben bzw. an den Versuch ihrer Erfüllung an?
+
+Die Not im Lande selbst ist sehr vielgestaltig. Sie äußert sich als
+Gefährdung der physischen Volkskraft und Volksgesundheit und tritt im
+einzelnen in Erscheinung als mangelnde Ernährung weiter Kreise, Mangel
+an Kleidung und Wäsche, fehlende Wohnungen, ungenügende
+Wohnungseinrichtungen. Ein Ausdruck dieser Not sind die
+Sterblichkeitsstatistiken und die Ausweise der Krankenkassen. Die
+Ursachen dieser Not sind die Erschöpfung unseres Wohlstandes durch den
+Krieg, die starke Herunterwirtschaftung unseres Sachkapitals, die
+Aushungerung unserer Böden, die Aufzehrung der privaten Vorräte und
+Ausstattungen, die Leistungen an die Entente auf Grund von
+Waffenstillstand und Friedensvertrag, der Aufkaufshunger für alle
+möglichen, teilweise sehr gut entbehrlichen Auslandsgüter nach dem
+Kriege. Diese Aufzählung wäre ungenau, wenn sie an jenen Schädigungen
+des Volksvermögens vorbeiginge, die mit der Gebietsbesetzung, mit
+Streiks und Aussperrungen, mit böswilliger Wertvernichtung und Revolten
+zusammenhängen. Unleugbar haben auch einige Bestimmungen des neuen
+Arbeitsrechtes Schädigungen mit sich gebracht. Im großen Ganzen hat die
+Volkswirtschaft noch nicht jene Umschichtung der Berufe und
+Rückschichtung der Bevölkerung weg von den Städten erreicht, die der
+neuen Wirtschaftslage entsprechen: das sind weitere Quellen
+vielgestaltiger Not. Im weiteren darf nicht übersehen werden, daß die
+Auflösung des alten Heeres, von Teilen der alten Bürokratie, die
+Rückwanderung Deutscher aus verlorenen Gebieten und die Vernichtung
+vieler Rentner-, Mittelstands- und Kleinexistenzen des bürgerlichen
+Lebens durch Krieg und Kriegsfolgen die Schleusen der Not in weiteren
+Schichten geöffnet haben. Eine Denkschrift der Regierung, die für die
+Londoner Verhandlungen fertiggestellt wurde, beziffert das deutsche
+Volkseinkommen gegenwärtig auf 234 Milliarden Papiermark == ungefähr
+22-23 Milliarden Goldmark. Vor dem Krieg berechnete man das
+Volkseinkommen auf 43 Milliarden Goldmark! Daraus ergibt sich die
+gewaltige Senkung des Realeinkommens des Volkes -- und von diesem so
+geminderten Realeinkommen sollen die Leistungen an die Entente und die
+Steuern für Reich, Länder und Gemeinden aufgebracht werden! Hier steht
+die elementare Bedingung unseres Daseins als Volk und Staat vor uns:
+wir müssen a l l e Produktivkräfte aufs ä u ß e r s t e anspannen, um
+das physische Leben und die politische Freiheit zu erhalten. Unsere
+Existenz steht auf der Schneide der äußersten Wirtschaftsergiebigkeit.
+Daraus die Forderung, alle sachlichen und geistigen Voraussetzungen
+gesteigerter Produktivität anzuspannen, allen überflüssigen Verbrauch
+zu meiden.
+
+Was brauchen wir zur Steigerung der Produktion? Zunächst natürlich
+Rohstoffe. Als deren Quelle kommen in Betracht die natürlichen
+Rohstofflagerstätten und die Landwirtschaft. Erstere sind die Kohlen-
+und Erzadern, die Gesteine und sonstige industriell verwertbaren Güter,
+die das Bodeninnere birgt. Ihnen gegenüber -- als den durch Abbau
+erschöpfbaren Gütern -- stehen die landwirtschaftlich in regelmäßiger
+Wiederkehr erzeugten Güter. Nach beiden Richtungen hin haben wir
+beträchtliche Einbußen erlitten durch Gebietsverluste, Raubbau und
+Belastung mit Abgaben.
+
+Mit dem Rest muß umso schonender umgegangen werden; denn die
+Bodenschätze sind entweder überhaupt nicht künstlich vermehrbar, oder
+nur durch Mehraufwand von Arbeit und Kapital. Abbau und Anbau stehen
+außerdem auf der Spitze der Rentabilität. Wenn wir schon vor dem Kriege
+eine starke Einfuhr von Erzen, Kohle und Ölen hatten, von
+Nahrungsmitteln, Futtermitteln, Textilien und Rohstoffen aller Art, so
+können wir sie heute noch viel weniger entbehren. Wir brauchen die
+Einfuhr, weil das Ausland vielfach ergiebigere Fundstätten und Böden
+hat und daher billiger liefert. Wir brauchen sie, weil sie Bestandteil
+neuer Ausfuhr werden, nachdem sie durch deutsche Arbeit zu fertigen
+Produkten veredelt sind. Im Grade der Einfuhr verschulden wir uns; aber
+diese Verschuldung ist so lange unbedenklich, als ihr deutsche
+Gegenleistungen in Gestalt rentabler Ausfuhr gegenüberstehen.
+Unvermeidlich ist, daß große Einfuhrposten für de Deckung des
+notwendigen, seit dem Kriege so stark vernachlässigten Eigenbedarfs des
+deutschen Volkes hereinkommen. Das bedeutet zunächst eine Belastung der
+Zahlungsbilanz oder eine Verschuldung durch Kredite; in jedem Falle
+müssen auch diese Beträge durch Ausfuhr oder durch andere geldwerte
+Gegenleistungen gedeckt werden, entweder aus laufenden
+Wirtschaftserträgen oder aus der Substanz des Volksvermögens. Wenn
+einsichtige Wirtschaftspolitiker schon vor dem Kriege den starken
+Materialverbrauch beklagten, die Zerstörung lebendiger menschlicher
+Arbeit durch ein unwirtschaftliches Vergeuden von Rohstoffen, so gilt
+das heute natürlich zehnfach. Rohstoffe sind kristallisierte
+Arbeitsstunden, Arbeit ist unser wertvollstes Kapital. Fahrlässigkeit,
+Böswilligkeit und Unverstand zerstören nach einem Worte Friedrich
+Naumanns mehr als Feuersbrunst und Überschwemmung. Dieses Gebot
+wirtschaftlichster Rohstoffverwertung hat zwei Seiten: das Haushalten
+mit dem Material der M e n g e und der G ü t e nach. Wer verwaltet
+unsere Rohstoffe? Drei große Stoffverbraucher kennen wir: die Betriebe
+in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, die Haushaltungen und die
+öffentlichen Verbände. Bezüglich der Haushaltungen ist ohne weiteres
+klar: vom Geschick vorwiegend der deutschen Hausfrau hängt es ab, wie
+mit den Verbrauchsgütern gewirtschaftet wird. Das ist teilweise eine
+Erziehungsfrage. Wie viele Hausfrauen haben sich je über zweckmäßige
+Stoffverwendung Gedanken gemacht? Tausende von Frauen, nicht nur aus
+Arbeiterkreisen, verwirtschaften ohne Ahnung von den Folgen ihres
+Ungeschickes Milliardenwerte. Das ist teilweise auch eine Folge der
+Frauenberufsarbeit. Wer die Verhältnisse in den Arbeiterfamilien der
+Industriereviere kennt, weiß, daß die erwerbstätige Frau die kürzesten
+Methoden der Haushaltsführung vorzieht und vielfach gerade wegen ihrer
+Berufstätigkeit vorziehen muß. Neben den Schäden, die die
+Frauenberufsarbeit für das Familienleben und die Erziehung mit sich
+bringt, liegen in der unwirtschaftlichen Stoffverwendung bedenkliche
+volkswirtschaftliche Seiten der Frauenberufsarbeit. Was die
+Materialverwertung der öffentlichen Verbände anlangt, so hat die
+Kriegszeit dort in erschreckendem Maße gezeigt, wie wenig hier den
+Anforderungen einer vernünftigen Bewirtschaftung Rechnung getragen
+wurde. Die bureaumäßige Verwaltung von öffentlichen Betrieben und
+Verbrauchseinrichtungen hat eben nicht jene Motive zum sparsamen
+Haushalten und jene scharfen Kontrollmöglichkeiten, die die
+Privatunternehmung hat. Dem rein verwaltungsmäßig gerichteten Sinn
+fehlt vielfach die Einsicht in die wirtschaftliche Bedeutung
+sparsamster Materialverwertung. Aber selbst in der privaten
+Unternehmung sind nicht ohne weiteres die Garantien für sparsame und
+zweckmäßige Rohstoffverwendung gegeben. Zwar drängt das Interesse der
+Unternehmung am möglichst hohen Geldertrag auf äußerste Zweckmäßigkeit
+und Ergiebigkeit in der Verwendung aller Produktionselemente; aber hier
+ist es wiederum eine Frage der Erziehung und der Einsicht der
+Arbeitskräfte, ob sie mit den ihnen anvertrauten Wirtschaftsgütern
+möglichst schonend umgehen. Keine Aufsicht kann das eigene
+Mitbesorgtsein der Arbeiter ersetzen. Dieses Mitbesorgtsein zu wecken
+und zu erhalten, ist großenteils eine Sache der Erziehung, des
+Verantwortungs- und Gemeingefühls und der Einsicht. Hier mündet die
+Aufgabe des Rohstoffschutzes unmittelbar in ethische und soziale
+Voraussetzungen. Die zweckmäßige Rohstoffverwendung in der privaten
+Unternehmung ist gleichzeitig eine Frage der Betriebsgröße, der
+Betriebsorganisation und der Produktionsweise. Die objektiv stärkste
+Möglichkeit wirtschaftlicher Produktion hat der kombinierte
+Großbetrieb, der sich in der Produktion einstellt auf normalisierte und
+typisierte Erzeugnisse. Wieviel nach dieser Richtung in Deutschland
+noch fehlt, beweisen die Klagen führender Industrieller und zünftiger
+Volkswirte.
+
+Rohstoffökonomie ist also Haushalten mit den Unterlagen unseres
+Daseins. Neben der Verfügung unserer Sachgüter ist die wichtigste
+dieser Unterlagen die l e b e n d i g e A r b e i t s k r a f t. Das
+volkswirtschaftliche Ziel hat Rathenau in Anbetracht unserer Lage
+einmal dahin zusammengefaßt: "Es ist nötig, ...den Wirkungsgrad
+menschlicher Arbeit so zu steigern, daß eine verdoppelte Produktion die
+Belastung zu tragen vermag und dennoch ihre Hilfskräfte besser entlohnt
+und versorgt werden." Das ist durchaus richtig. Wenn das Kapital, mit
+dem wir neu anfangen, im wesentlichen unsere Arbeit ist, dann muß mit
+dieser Arbeit sparsam umgegangen werden. Sie darf nicht vergeudet
+werden durch Produktion von entbehrlichen Gütern, sie darf nicht durch
+Raubbau abgewirtschaftet werden. Es müssen alle technischen,
+organisatorischen und sozialen Voraussetzungen geschaffen werden, um
+die möglichst große Produktionssteigerung durch möglichst sparsamen
+Arbeitsaufwand zu erreichen. Auch hier wieder die Voraussetzung:
+Bildung und Erziehung der heranwachsenden Geschlechter, Erfüllung mit
+Einsicht in den Ernst der Verantwortung für das Ganze, Abwehr aller
+Neigung zu einem resignierten Versinken in die stumpfe Fron für den
+laufenden Tag.
+
+Diese Aufrechterhaltung unserer Arbeitskultur und Wirtschaftshöhe ist
+wiederum gebunden an stoffliche Unterlagen, nämlich an den
+ausreichenden S u b s i s t e n z f o n d s der Nation. Man spricht
+gewöhnlich davon, es müsse genügend "Kapital" vorhanden sein, um die
+Arbeits- und Wirtschaftskultur wie übrigens die Gesamtkultur des ganzen
+Volkes, die ja immer irgendwie an sachliche Unterlagen gebunden ist, zu
+erhalten. Die Quelle dieses Kapitals aber ist die Differenz zwischen
+Volkseinkommen und Verbrauch, mit anderen Worten: das nichtverbrauchte
+"ersparte" Volkseinkommen. Von zwei Seiten her kann diese
+Kapitalbildung gefördert werden: von der Erhöhung des Volkseinkommens
+durch erhöhte Produktion und von der Minderung des Verbrauches her.
+Unsere Lage zwingt uns, beide Wege zu beschreiten: die Produktion aufs
+äußerste zu steigern, den Verbrauch an allem Entbehrlichen möglichst
+zurückzudrängen. Das wird für Jahrzehnte unser Schicksal sein, ein
+Schicksal, dessen Härte nur dadurch erträglich ist, daß es uns die
+Aussicht gibt, die Einheit des Reiches und des Volkes durch alle
+Fährlichkeiten des verlorenen Krieges und des Friedens hindurch zu
+retten. Die besondere Schwierigkeit unserer Kapitalneubildung liegt
+darin, daß sie mit ungewöhnlichen Belastungen zu rechnen hat. Die
+Belastungen bestehen in den geschilderten Zahlungsverpflichtungen
+gegenüber der Entente, in der gewaltigen Steuerlast, in der ungünstigen
+Entwicklung des Außenhandels (der im vergangenen Jahre mit zweieinhalb
+Goldmilliarden p a s s i v war!), ferner in der Ungunst der
+Einkommensverteilung.
+
+Bei sotanen Dingen ist alles, was unsere Wirtschaftserträge erhöht,
+eine Daseinserleichterung, eine neue Gewähr unseres physischen und
+kulturellen Lebens. Das gilt für alle Seiten unserer Wirtschaft, für
+Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Verkehr. In der Landwirtschaft
+zumal spielt es eine besondere Rolle. Hier sind die Erträge gegenüber
+der Vorkriegszeit sehr stark gesunken, hier ist außerdem die Quelle
+unseres dringendsten Bedarfes, der Ernährung. Das landwirtschaftliche
+Betriebskapital ist während des Krieges scharf heruntergewirtschaftet
+worden, es bedarf jetzt der Erneuerung. Kredite müssen der
+Landwirtschaft zufließen, die sie im Kriege glaubte abstoßen zu können
+oder nicht mehr zu benötigen. Durch Düngemittel aller Art, durch
+Meliorationen, durch Maschinen müssen die Böden wieder in den alten
+hochgepflegten Zustand gebracht werden. Der Viehstapel muß ergänzt
+werden. Das landwirtschaftliche Bildungswesen darf um keinen Preis
+vernachlässigt werden. Was uns diese Forderungen erheben läßt, ist die
+einfache Tatsache, daß der stark abgewirtschaftete Zustand der
+Landwirtschaft im Interesse der Allgemeinheit, des Staates, des Volkes
+in Stadt und Land und nicht zuletzt auch des Fiskus saniert werden muß,
+ehe er wiederum ein tragender Pfeiler unserer Wirtschaftsblüte werden
+kann. Erst bei solcher Intensivierung der landwirtschaftlichen
+Erzeugung besteht die Aussicht, daß der Strom von Menschen, welcher im
+Gefolge des Krieges den Städten zugeflutet ist und dort die Not
+vermehrt, wiederum vom Lande aufgenommen werden kann. Wie bedeutsam
+eine solche Rückwanderung ist, ergibt sich ohne weiteres; sie entlastet
+den Arbeitsmarkt, entlastet den Fiskus von der Erwerbslosenfürsorge,
+sie entlastet die städtische Fürsorge, sie mildert die Schärfe unserer
+sozialen Not und sie beseitigt jenes Übel, das schon vor dem Kriege auf
+dem Lande vielfach anzutreffen war, nämlich die Leutenot.
+
+Wenn die wesentliche Aufgabe der deutschen Landwirtschaft darin
+besteht, in möglichst weitem Umgange den Nahrungsbedarf unseres Volkes
+zu erstellen, so hat die Industrie demgegenüber eine verwickeltere
+Aufgabe. Sie soll einesteils den starken Verbrauch an
+Industrieerzeugnissen decken, den das Inland hat; sie soll aber
+andererseits die Grundbedingung unseres Daseins gewährleisten, nämlich
+die aktive Zahlungsbilanz. Deren Hauptbestandteil war von jeher die
+Handelsbilanz, das heißt das Wertverhältnis der Wareneinfuhr zur
+Warenausfuhr. Heute sind die anderen Bestandteile der deutschen
+Zahlungsbilanz ungefähr auf den Nullpunkt reduziert; wir haben keine
+Gewinne mehr aus Frachten für das Ausland, unsere Erträgnisse aus der
+Kapitalanlage im Auslande sind mitsamt den Kapitalien fast ganz
+verloren, unsere Gewinne aus Vermittlung und Versicherung für fremde
+Völker sind dahin. Nach all diesen Richtungen haben wir nur noch
+Passiva. Und trotzdem besteht unabweisbar das Ziel: Herstellung einer
+aktiven Zahlungsbilanz! Die Handelsbilanz muß die dazu erforderlichen
+Wertüberschüsse der Ausfuhr über die Einfuhr erbringen. Wir müssen, ob
+wir wollen oder nicht, Exportwirtschaft treiben. Unsere
+landwirtschaftlichen Erzeugnisse brauchen wir selbst, also kann der
+Überschuß der Ausfuhr über die Einfuhr im großen ganzen nur industriell
+erwirkt werden. Zwei Gesichtspunkte sind entscheidend: die
+Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie einerseits, die Aufnahmefähigkeit
+und Aufnahmewilligkeit der fremden Märkte andererseits. Was zunächst
+die Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie anlangt, so ist sie teils eine
+Frage des Preiskurants, das heißt: des billigeren deutschen Angebots,
+teils ein Produktionsproblem: Haben wir Güter, die das Ausland
+unbedingt erwerben will? Haben wir Überschüsse, die für die
+ausländische Nachfrage zu Gebote stehen? Bezüglich der ersten Frage ist
+festzustellen, daß manche Tatsachen uns günstige Aussichten im
+Wettbewerb bieten. Der Wert des deutschen Geldes, gemessen am Gelde der
+ausländischen maßgebenden Gläubigerstaaten, steht sehr tief. Niedrige
+Wechselkurse aber bedeuten eine Prämie und einen Anreiz für die
+Ausfuhr. Unsere Lebenshaltung ist relativ weniger reich und kostspielig
+wie die der fremden Konkurrenzwirtschaften. Die Arbeitsfähigkeit und
+Arbeitswilligkeit unserer Bevölkerung hat sich vergleichsweise
+schneller erholt als die der meisten anderen Völker. Außerdem waren
+deutsche Waren im allgemeinen so wohl beleumundet in der ganzen Welt,
+daß Nachfrage nach ihnen ohne weiteres wahrscheinlich ist. Aber
+übersehen wir nicht die Hemmungen unserer Überlegenheit im Preisgebot!
+Wir mußten unsere Industrie viel eingreifender als die anderen
+kriegführenden Nationen auf einen neuen Friedensstand umstellen;
+technisch und organisatorisch ist diese Aufgabe schnell und glänzend
+gelöst worden, aber sie verschlang viele Arbeitskräfte und viele
+Kapitalien. Manche Industrien hatten im Laufe des Krieges Schulden in
+fremder Währung aufgenommen; der rapide Fall des deutschen Geldwertes
+steigerte den Belauf der Schulden ins Phantastische und bewirkte neue
+Kosten der Abdeckung oder Umwandlung. Die rastlose Anstrengung der
+Kriegsarbeit hat in vielen Industrien keine Kräfte und keine Zeit frei
+gelassen zu Reparaturen, Materialergänzungen, Erneuerung des
+Sachkapitals; das mußte alles nachgeholt werden. In den Zeiten der
+Umwälzung nach dem Kriege häufen sich die Streiks, die
+Wertzerstörungen, die Lohnforderungen; das Arbeitstempo ließ nach; all
+das erscheint als Produktionskosten wiederum im Warenpreis. Und nicht
+zuletzt legt die Steuergesetzgebung der Industrie ungeheuere Lasten
+auf, die natürlich Preissteigerungen im Gefolge haben. Der gewaltige
+Anreiz zu großen Gewinnen, der nach dem Kriege im Abverkauf von
+Betriebseinrichtungen und in der Angleichung der Inlandspreise an den
+Weltmarkt lag, wirkte sich auch in den gestiegenen Preisen aus. Nicht
+zuletzt bot der Warenmangel des erschöpften Inlandsverbrauchs die
+Möglichkeit, unter dem Anreiz des Dividendenhungers den Preisstand
+scharf zu erhöhen. Auch die Verteuerung der Produktion durch die
+Einfuhr fremder Rohstoffe und durch das damit verbundene starke
+Valutarisiko wirken in die Richtung steigender Preise. Nach einer
+Periode grenzenloser Schleuderverkäufe ins Ausland, die direkt nach dem
+Kriege einsetzte, kam die Gegenwirkung: die Preishöhe vieler deutscher
+Industrieprodukte lag zeitweise über den entsprechenden
+Auslandspreisen. Die Folge davon war stockende Ausfuhr, das heißt
+Gefährdung des Zieles der aktiven Handelsbilanz. Im ganzen hat der
+Druck auf unsere Wechselkurse dafür gesorgt, daß die Ausfuhrprämie
+nicht verschwand. Aber wie prekär die Sachlage ist, zeigt sich
+regelmäßig bei selbst geringfügigen Steigerungen unserer Wechselkurse:
+es setzt in diesen Fällen eine Stockung der Ausfuhr und eine Steigerung
+der Einfuhr ein, also ein ganz bedenklicher Sachverhalt. Der hin- und
+hergehende Wertstand des deutschen Geldes gefährdet für den deutschen
+Unternehmer alle Grundlagen der Kalkulation, bringt ein spekulatives
+Moment in die ganze Wirtschaft hinein und wirft uns aus einer Periode
+der Schleuderverkäufe und der stockenden Rohstoffeinfuhr in die andere
+stockender Ausfuhr und der Überschwemmung mit Auslandsware. Das
+Verlangen, den Urheber dieser Zustände, nämlich den wilden Wechselkurs,
+zu binden, ist ebensooft erhoben wie als zunächst aussichtslos
+abgelehnt worden. Deutschland ist ohne Unterstützung der
+kapitalsstarken Gläubigerstaaten völlig außerstande, eine solche
+Festlegung des Wechselkurses vorzunehmen. Nur mit Hilfe ganz gewaltiger
+Kredite und einer vorläufig noch sehr unwahrscheinlichen vernünftigen
+Gebahrung der Entente in der Reparationsfrage könnten stabile
+Wechselkurse eingerichtet und durchgehalten werden.
+
+So steht es um die Aussichten der deutschen Industrie im
+internationalen Preiskampf! Eine andere Frage ist die, ob wir Güter
+haben, die das Ausland unbekümmert um den Preis haben muß oder haben
+will. Das gilt gewiß bei einer Anzahl von hochwertigen Erzeugnissen,
+zumal der chemischen, optischen und elektrotechnischen Industrie; es
+gilt auch in einigem Umfang für Kali. Aber auf eine Anzahl solcher
+Erzeugnisse hat der Friedensvertrag die Hand gelegt und sie uns in
+großen Mengen auf "Reparation" abgefordert. Andererseits sind manche
+Erzeugnisse, für die Deutschland vor dem Kriege einen unbestrittenen
+Markt besaß, in der Zwischenzeit von fremden Industrien aufgegriffen
+und hergestellt worden. Immerhin hat auch heute noch ein gewisses
+Marktgebiet starken Druck und starke Neigung zum Verbrauch deutscher
+Produkte. Und nun die weitere Frage, haben wir Überschüsse frei für die
+Ausfuhr? Wir rechnen nicht in diese Überschüsse dasjenige hinein, was
+auf Reparationsrechnung zwangsweise geliefert werden muß. Diese Posten
+tragen zur Aktivierung der Handelsbilanz nichts bei, so beträchtlich
+sie an Wert sein mögen. Im Gegenteil, sie verschlechtern unsere Bilanz,
+denn soweit ausländische Rohstoffe und ausländische Arbeit direkt oder
+indirekt in ihnen kristallisiert sind, müssen sie erst mit teuren
+Kosten angeworben werden. Sehen wir also von dieser Art Ausfuhr ab, so
+fällt zunächst auf, daß bestimmte Industrien ihre Ausfuhrüberschüsse
+verloren oder stark gemindert haben. Das gilt für bedeutsame Industrien
+landwirtschaftlicher Rohstoffverarbeitung, beispielsweise für die
+Zuckerindustrie, deren Ausfuhr früher mehrere hundert Millionen
+Goldmark einbrachte; es gilt ebenso für die Branntweinindustrie. Es
+gilt aber auch für die Kohlenausfuhr. In die gleiche Richtung wirkt das
+zollpolitische "Loch im Westen", das uns den Warenüberdruck der fremden
+Märkte vielfach auf Schleichwegen in unser Land pumpt, deutsche
+Industrien, besonders im besetzten Gebiete, lahmlegt und uns mit einer
+Sorte Einfuhrwaren beglückt, die nach dem Stande unserer Verarmung
+besser draußen blieben. Der Verlust von Industrien im abgetretenen
+Gebiet, die Materiallieferungen an die Entente auf Grund des
+Waffenstillstandes und des Friedens, die starke Beschäftigung für den
+Aufbau der Eigenwirtschaft und der Rückgang der Leistungen an Menge und
+Güte, die Stillegung mancher Betriebe bringen erhebliche Minderungen
+der Überschüsse mit sich. Die Ausfuhrabgaben, die Kontrolle der Ausfuhr
+und die Unübersichtlichkeit der fremden Absatzgebiete infolge des
+Abbruches alter eingefahrener Wirtschaftsbeziehungen wirken in die
+gleiche Richtung.
+
+So weit die Ausfuhrfähigkeit der deutschen Industrie. Und nun die
+andere Seite: die A u f n a h m e f ä h i g k e i t und A u f n a h m e
+w i l l i g k e i t des Auslandes! Hier sind Anreizmomente für den
+Bezug deutscher Produkte vorhanden: ihre Billigkeit, ihre Güte, ihre
+teilweise Monopolstellung. Aber lassen wir die Gegentendenzen nicht aus
+dem Auge. Der Krieg wäre für England verloren, wenn er nicht mit einer
+Zurückwerfung der deutschen Industrieausfuhr endigte. England hat im
+Kriege Zeit gehabt, unsere Auslandsmärkte zu verwüsten, viele Neutrale
+haben sich auf den englischen und amerikanischen Lieferanten
+umgestellt, haben sich auf einzelnen Marktgebieten unabhängig gemacht.
+Die meisten Länder haben ihre Zölle erhöht, manche Länder haben zum
+Schutz ihrer eigenen Produktion zu sehr drastischen Abwehrmitteln gegen
+die fremde Einfuhr gegriffen. In den ehemals feindlichen Ländern sorgt
+der mit Leidenschaft geschürte Nationalismus dafür, daß der deutschen
+Ware die Wege weithin versperrt werden. Manche Rohstoffländer sind
+während des Krieges zur Verarbeitung übergegangen und spüren geringe
+Neigung, ihre mit Opfern großgezogene Verarbeitungsindustrie durch
+Ausfuhr von Rohstoffen der fremden Konkurrenz auszusetzen. Die ganze
+Welt ist beträchtlich ärmer geworden und hat ihren Verbrauch auf einen
+tieferen Durchschnittsstand setzen müssen. Die Erwerbslosenheere sind
+heute eine internationale Erscheinung und erschweren die Rückhehr in
+die Bahnen des offenen, freien Welthandels, selbst wenn die maßgebenden
+Kreise den Willen dazu hätten. Die Neigung, nur solche Erzeugnisse
+auszuführen, in denen hochwertige Arbeit verkörpert ist, hat starke
+Antriebe erhalten mit der Wirkung, daß unsere Waren, deren Güte und Art
+geradezu auf der stark konzentrierten Arbeit aufgebaut war,
+verschärftem Wettbewerb begegnen. So ist es erklärlich, daß in der
+Ausfuhr verhältnismäßig starke Rohstoff- und Halbfabrikatposten
+anzutreffen sind. Die Gefahr lauert im Hintergrunde: ein Sinken unseres
+gewerblichen Könnens, unserer Wirtschaftskraft dem Auslande gegenüber,
+sinkende Lebenshaltung, sinkende Kultur, sinkende politische Bedeutung.
+Das scheint weit ausgeholt, ist aber drohender Ernst. Der Rückfall auf
+vorwiegende Rohstoff- und Halbfabrikatausfuhr könnte uns auf ein enges
+kontinentales Dasein zurückwerfen.
+
+Man muß die großen Linien ins Auge fassen, um diesem Pessimismus nicht
+zu erliegen. Gewiß, wir vertrauen auf die unversiegliche Lebenskraft
+unseres Volkes, auf seinen Unternehmungsmut, auf seine hohe
+Geistigkeit. Aber ein Faktor von ebenso großer Bedeutung ist die
+Herzlage Deutschlands inmitten des Kontinents. Wir sind die
+Durchfahrtsstraße von Ost nach West, von der Atlantis zum Baltischen
+Meer; wir sind das Zwischenglied zwischen Westeuropa und dem Osten, das
+wirtschaftliche Glacis Englands und Amerikas, dessen industrielles
+Leben immer noch im Osten, zur Atlantis staut, und nicht im Westen! --
+nach Mittel- und Osteuropa. Man hat im Haß des Krieges und im Rausch
+des Sieges geglaubt, uns durch neue Handelswege, deren Linien um uns
+herum zu legen seien, aus dem großcn Zuge des internationalen Verkehrs
+auskapseln zu können, ein Versuch, der keine geringere Bedeutung hat,
+als uns wirtschaftspolitisch aus der Herzlage Europas an seinen Rand zu
+drängen. Aber beim Versuch ist es geblieben. Wenn der Osten wieder für
+ruhige wirtschaftliche Entwicklung Sinn und Zeit hat -- und das wird
+auch einmal wieder der Fall sein --, dann ist Deutschland das
+Mittelstück Europas; und die vollen Vorteile dieser Lage werden ihm
+zugute kommen u n t e r d e r V o r a u s s e t z u n g, daß es
+sich nicht selbst ausschaltet und daß es politisch selbständig bleibt.
+Der industrielle Bedarf von Ost und Südost stößt irgendwie immer
+zunächst auf uns, und den Valuten jener Länder gegenüber sind wir trotz
+aller Hemmungen anderer Art leistungsfähiger als die valutastarken
+Industrieländer. Hier im Osten und Südosten erschließen sich unserer
+wirtschaftlichen Pioniertätigkeit neue Kontinente, reiche
+Rohstoffgebiete. Wenn sie mit Vernunft und in weitherziger
+Berücksichtigung der Interessen jener Länder und Völker selbst
+ausgebaut werden, so eröffnet sich eine neue Zukunft für die deutsche
+Wirtschaft. Für die Richtigkeit dieser Erwägungen spricht die Tatsache,
+daß fremde Kapitalien in großem Umfange die deutsche Industrie
+befruchten, zeigt das handelspolitische Interesse, das allenthalben in
+der Welt für unsere Wirtschaft besteht. Sorgen wir dafür, daß dieses
+Interesse kein Interesse der "Pleitegeier" an der Ausschlachtung eines
+alten soliden, ehemals blühenden Handelshauses wird! Das ist nur dann
+möglich, wenn wir alle Kräfte anspannen, die politische Freiheit und
+die Einheit des Reiches zu bewahren. Wenn das Mittel dazu die
+angestrengte Arbeit des ganzen Volkes ist, gut! so müssen wir sie auf
+uns nehmen. Vor dem Kriege war es die freie, gesunde Kraft eines stark
+wachsenden Volkes, wagender Kaufleute und Unternehmer, die uns den Weg
+in die Weltwirtschaft gehen hieß; heute ist es der Kampf um Freiheit
+und Einheit!
+
+Dieser Weg hat gewiß seine Gefahren. Die Hoffnung der Entente auf bare
+Zahlungen und Naturalleistungen hat uns wider alle wirtschaftliche
+Vernunft in die Kette der Diktate geschlagen. Heute zeigen sich die
+Folgen: Wenn wir zahlen wollen, müssen wir erst verdienen; wenn wir
+aber verdienen wollen, müssen wir erst die fremden Märkte aufsuchen.
+Unsere Ausfuhr aber und die Devisenaufkäufe zum Zwecke der Zahlung
+beginnen heute schon, unseren Gegnern empfindliche Wirtschaftsstörungen
+zu bereiten. Da taucht die Sphinx der Zukunft auf: Die Entente hat in
+Hinsicht auf das Friedensdiktat ein zweiseitiges Interesse: ein
+Gläubigerinteresse und ein Produzenteninteresse. Diese beiden
+Interessen stehen in Widerspruch. Beispielsweise: Wenn wir die im
+Friedensvertrag auferlegten 200 000 Tonnen Schiffsraum für England
+bauen, dann liegen die englischen Werften still, und die Arbeitskräfte
+müssen entlassen werden. Wenn wir die zwangsweise Kohlenlieferung
+durchführen, dann feiert der englische Bergarbeiter, oder er streikt,
+weil der Rückgang der Kohlenpreise die englischen Bergherren zwingt,
+die Löhne zu senken. Diese Gegensätze sind heute klar herausgearbeitet.
+Man faßt sie nur nicht grundsätzlich an, sondern versucht mit einer
+Politik der kleinen Mittel sich an ihnen vorbeizudrücken. Eines Tages
+aber wird die Härte der Gegensätze ihre Lösung verlangen. Entweder man
+saugt uns aus durch bare Zahlungen, dann müssen wir die Märkte mit
+allen Mitteln erobern und das feindliche Produzenteninteresse
+schädigen; oder man verwehrt uns die Märkte, dann können wir nicht
+zahlen, und das feindliche Gläubigerinteresse ist getroffen. Auf diesem
+Punkte laufen sich die Diktate tot an den wirtschaftlich
+unausweichbaren Zusammenhängen. Was soll dann geschehen? Das stärkere
+Gläubigerinteresse liegt bei Frankreich, das den geringeren
+Industrialismus und den stärksten Anteil an unseren Zwangszahlungen
+(52%) hat; das stärkere Produzenteninteresse liegt bei England, das den
+gesteigerten Industrialismus und den geringeren Anteil (22%) an unseren
+baren Leistungen hat. Welches Interesse wird durchdringen, das
+französische Gläubiger- (Rentner-) Interesse oder das englische
+Produzenten- (Arbeiter-) Interesse? Hier eröffnen sich Entscheidungen,
+die für unser Schicksal unerhört wichtig sind. Zu einem Teil haben wir
+es in der Hand, sie zu beeinflussen. Unser Interesse kann nicht mit
+Frankreich gehen, solange Frankreich in uns ein Beutestück sieht, eine
+politische Masse, deren Liquidation nicht brutal genug betrieben werden
+kann. Wir stehen wieder an dem Kreuzungspunkt -- nur mit viel
+schlechterem Einsatz --, an dem wir schon einmal standen, den wir
+damals aber in seiner Tragweite nicht genügend begriffen: vor der
+Steuerung des Kurses ins englisch-deutsche Einvernehmen, oder -- auf
+noch weiteren Aspekt gestellt -- vor der Steuerung des Kurses in das
+anglosächsisch-deutsche Einvernehmen. Oder welcher andere Weg sollte
+noch offen sein? Auf die russische Karte jetzt schon zu setzen,
+erscheint verfrüht; außerdem kann bei unserer Kapitalschwäche und der
+starken Interessierung der anglosächsischen Wirtschaftsmacht an Rußland
+diese russische Karte nur im Rahmen einer deutsch-anglosächsischen
+Verständigung geschlagen werden.
+
+Verschiedentlich mußten wir darauf hinweisen, daß unsere politische
+Freiheit in den schmalen Resten, in denen sie überhaupt noch besteht,
+auf der Schneide der Erfüllung von Diktaten steht. Diese Erfüllung aber
+ist ein fiskalisches Problem, eine Frage des Steueraufkommens des
+ganzen Volkes. Die Steuerleistung aber ist letzten Endes eine Frage der
+Wirtschaftskraft. Das Elend der deutschen Wirtschaft aber spiegelt sich
+im Elend der deutschen Finanzen. Das Elend der Finanzen ist nun nicht
+erst eine Erscheinung von heute; seit 1876 hat das Reich so ziemlich
+fortwährend in Finanzverlegenheiten gelebt. Ein Hauptgrund dafür war
+der Aufbau des Reichsfinanzwesens und hier besonders die Verteilung der
+Steuerkompetenzen zwischen Reich und Bundesstaaten. Das Reich hat eine
+Steuerdomäne, die fast ausschließlich aus indirekten Abgaben und aus
+Zöllen bestand. Die direkten Steuern, das Rückgrat jeder gesunden
+Finanzwirtschaft, lagen unter Verschluß der Einzelstaaten und wurden
+von ihnen eifersüchtig gehütet. Die Einkünfte des Reiches aus
+Betriebsverwaltungen waren recht geringfügig im Verhältnis zu dem, was
+die großen Bundesstaaten aus ihrem Staatsbesitz zogen. Das war eine
+verhängnisvolle Fehlkonstruktion der Reichsfinanzen. Im Frieden war sie
+deswegen noch erträglich, weil das Reich doch bekam, was es brauchte,
+nur sehr umständlich, unter großer Erregung der öffentlichen Meinung
+und nicht immer sehr zweckmäßig.
+
+Die v e r h e e r e n d e Wirkung dieser Fehlkonstruktion zeigte erst
+der Krieg. Die Folge der Verteilung der Steuerkompetenzen nach der
+alten Reichsverfassung war die, daß das R e i c h, der Träger der
+H a u p t l a s t des Krieges, die d ü r f t i g s t e n und r ü c k
+l ä u f i g s t e n E i n n a h m e q u e l l e n besaß, während die
+Bundesstaaten, die die Last des Krieges ja gar nicht zu tragen hatten,
+die ertragreichsten und stabilsten Steuerquellen unter Verschluß
+hatten. Die Abneigung, eine entschlossene starke Kriegssteuerpolitik
+nach englischem Muster einzurichten, ließ nur den einen Ausweg: den
+Krieg mit S c h u l d e n zu führen. Was an Kriegssteuern dann seit
+1916 kam, kam zu spät und zu zaghaft. Man rechnete im Grunde immer nur
+mit dem siegreichen Ausgang des Krieges, wollte auch die
+Durchhaltestimmung im Volke nicht gefährden, fürchtete sich vor dem
+Wachwerden alter Parteigegensätze; kurz und gut, man finanzierte den
+Krieg mit Schulden. Das Resultat war: steigende Schulden des Reiches,
+steigende Inflation, sinkende Wechselkurse, steigende Löhne und
+Warenpreise, steigende Kosten der Kriegsführung, steigende
+Reichsverschuldung, neues Sinken der Wechselkurse, neues Steigen der
+Löhne und Warenpreise und so fort. Eine Schraube ohne Ende, oder
+vielmehr eine Schraube mit einem sehr dicken Ende: Reichsüberschuldung,
+Wohlstandsvernichtung breitester Kreise, goldene Zeit für alle
+Schieber, schwerste Not in breitesten Kreisen, Verschärfung der
+sozialen Gegensätze, schleichende Enteignung gerade der Kreise, die vor
+und im Kriege dem Staate Kredit gegeben hatten. Eine beispiellose
+Umschichtung der Vermögen ist vor sich gegangen, und die staatliche
+Finanzpolitik hat ihr ebensowenig wie die Wuchergesetzgebung zu steuern
+vermocht.
+
+Zur Verdeutlichung des Bildes seien einige Zahlen angegeben. Die
+Reichsschuld betrug vor dem Kriege 5,4 Milliarden Mark; sie bezifferte
+sich September 1918 auf 133,4 Milliarden, September 1919 170,9
+Milliarden, September 1920 283,7 Milliarden. Die schwebende Schuld des
+Reiches betrug am 31. Juli 1914 300 Millionen Mark Schatzanweisungen;
+sie stieg bis Dezember 1918 auf 55,1 Milliarden und endete am 30. Juni
+1921 mit 214,2 Milliarden. Der Umlauf an Banknoten gravitierte vor dem
+Kriege um 1,5 Milliarden, dazu kamen vergleichsweise geringe Beträge an
+umlaufenden Reichskassenscheinen. Der Umlauf an Noten betrug nach dem
+Ausweis vom 11. August 1921 77,6547 Milliarden; zu dieser ungeheueren
+Papierzettelschuld kommt noch ein Umlauf an Darlehenskassenscheinen von
+rund 8,22 Milliarden. Daß zur selben Zeit der Wert des deutschen Geldes
+gegenüber dem ausländischen vollvaluten Geld ins Abgrundtiefe gestürzt
+ist, ist nicht verwunderlich. Während vor dem Kriege 100 holländische
+Gulden rund 169 Mark kosteten, kosteten sie am 12. August 1921 rund
+2560 Mark[1]. Diese Zahlen genügen zur Illustration. Sie erhalten erst
+ihr volles Relief, wenn man die Zwangsleistungen an die Entente noch
+hinzurechnet.
+
+ [1] Seit Abschluß des Aufsatzes haben sich die Verhältnisse
+ wesentlich ungünstiger entwickelt. Der Guldenkurs steht
+ im Dezember 1921 nahe an 7000, der Umlauf an Geldzeichen
+ hat die hundertste Milliarde längst hinter sich
+ gelassen!
+
+Das ist die Sachlage, der sich der Fiskus gegenübersah. Sie erforderte
+Finanzreformen allergrößten Stiles. Wir befinden uns seit Kriegsende
+zwar fortwährend in den Reformen, aber deutlich heben sich zwei
+gewaltige Reformperioden heraus: die grundlegende, heute abgeschlossene
+Reform von 1919 bis 1920, und die zweite Reformetappe, deren
+Vorbereitung und Anfänge eben sichtbar werden. Was bedeutet die Reform
+von 1919/20? Sie schafft einen fiskalischen Unitarismus, der in seinen
+politischen Folgen gemildert wird durch Artikel 8 der Reichsverfassung;
+dieser verpflichtet das Reich, auf die Lebensfähigkeit der Länder
+Rücksicht zu nehmen. Sie schafft eine einheitliche
+Reichssteuerverwaltung, sie gibt einheitliche Richtlinien der
+Steuerveranlagung und -erhebung, deren Zweck es ist, die "Steuerinseln"
+zu beseitigen und dadurch dem Grundsatz der steuerlichen Gerechtigkeit
+zu dienen. Sie gibt dem Reiche das Gesamtsystem der ertragreichen und
+anpassungsfähigen direkten Steuern. Sie läßt den Ländern und Gemeinden
+einige Ertragssteuern und beteiligt sie im übrigen mit bestimmten
+Anteilen am Ertrag der Reichseinkommensteuer, der
+Reichserbschaftssteuer, der Umsatzsteuer, der Körperschaftssteuer und
+der Grunderwerbssteuer. Entsprechend diesem Eingriff des Reiches in
+alte Steuerrechte von Ländern und Gemeinden entlastete es die Länder
+und Gemeinden durch Übernahme beträchtlicher Schuldverpflichtungen auf
+sich selbst. Es gehört zu den wesentlichen Verdiensten dieser
+Reformperiode, daß das alte Bismarcksche Projekt der Reichseisenbahnen
+nun verwirklicht wurde.
+
+Man mag zu den Einzelheiten dieser Reform stehen wie man will: das
+ganze Reformwerk ist eine ungeheuere Leistung, deren volle Segnung erst
+erkennbar wird, wenn unsere Wirtschaftslage sich einigermaßen
+erleichtert. Dr. Respondek stellt sie in seinem Buche "Die
+Reichsfinanzen auf Grund der Reform von 1920" sogar in Parallele zu der
+Stein-Hardenbergschen Reform. Ob diese Parallele treffend ist, muß die
+Zukunft zeigen.
+
+Versenken wir uns einen Augenblick in die Haushaltsrechnung des Jahres
+1920! Der "Ist-Etat" des Reiches zeigte beim Abschluß des
+Rechnungsjahres (31. März 1921) folgendes Bild: Die Reichseinnahmen aus
+Steuern, Abgaben, Gebühren, Zöllen bezifferten sich auf 27,7
+Milliarden. Die Ausgaben, betrugen netto 73,7 Milliarden. Dazu treten
+an Schuldzinsen des Reiches 10,4 Milliarden, an Zuschüssen des Reiches
+in den Betriebsverwaltungen (Reichseisenbahn, Reichspost), 18,2
+Milliarden. Mithin Totalausgabe 102,6 Milliarden. Die Differenz
+zwischen Ausgaben und Einnahmen, 74,9 Milliarden, mußte demnach auf
+neue Schulden genommen werden. Die schwebende Schuld wuchs auf 184,127
+Milliarden an. Der Voranschlag für 1921 zeigt folgende Ziffern:
+Einnahmen 46,9 Milliarden, einmalige Ausgaben 1,368 Milliarden,
+fortdauernde Ausgaben 45,579 Milliarden. Dazu kam ein Nachtragsetat von
+1,5 Milliarden. Es balanciert also der ordentliche Etat mit 48,459
+Milliarden auf der Einnahme- und Ausgabeseite. Daneben außerordentliche
+Ausgaben: 59,68 Milliarden; von diesen ungedeckt und auf schwebende
+Schulden zu nehmen: 49,18 Milliarden. In dieser Summe von 59,68
+Milliarden stecken nach Voranschlag rund 18,8 Milliarden Zuschüsse für
+Betriebsverwaltungen (Eisenbahn, Post). In den erwähnten Summen des
+ordentlichen Etats sind noch keine Aufwendungen für Reparationen
+eingeschlossen; ihre Gesamtsumme wurde bei der Beratung in der
+Kommission des Reichstages mit 53 Papiermilliarden jährlich
+veranschlagt. Ein schwankender Posten von hohem Belauf sind die
+Besatzungskosten; sie sind mit 8,5 Milliarden angesetzt. Alles in allem
+ist der heute errechenbare Fehlbetrag 110 Milliarden Mark. Der
+erschreckende Zug ist das Anwachsen der schwebenden Schuld. Das Reich
+kontrahiert sie in Gestalt von Schatzanweisungen, die an die Reichsbank
+begeben werden; diese schießt dem Reiche dafür Noten vor. Mit Noten
+bezahlt das Reich seine Verpflichtungen an Schuldzinsen, an Gehältern,
+Löhnen usw.; diese Noten kommen also als zusätzliche nominelle
+Kaufkraft in den Verkehr, nicht weil der Verkehr sie verlangt, sondern
+weil das Reich zahlen soll und ungenügende Einkünfte hat. So senken sie
+den Geldwert, steigern die Preise und Löhne, drücken die Valuta und
+führen alle die Risiken, Gefahren und Hemmungen des Wirtschaftslebens
+mit herauf, die sich an solche Währungszustände anzuschließen pflegen.
+
+Diese Sachverhalte lassen eines ganz deutlich werden: die Notwendigkeit
+n e u e r R e f o r m e n. Das erste und ursprüngliche Problem ist
+dieses: Wie bringen wir laufende Einnahmen und laufende Ausgaben zur
+Deckung? Die weitere Frage ist: Wie bringen wir die Reparationssummen
+auf? Und die dritte Frage lautet: Wie stärken und stabilisieren wir
+unseren Geldwert? Wenn man diese Probleme an den oben entwickelten
+Zahlen mißt, spürt man Neigung, zu glauben, es bandele sich um die
+Quadratur des Zirkels. Breite Strömungen im Volke, und was viel mehr
+besagen will, ernste sachverständige Kreise glauben nicht an die
+Möglichkeit, diesen furchtbaren Anforderungen gerecht zu werden.
+Grundsätzlich ist zu sagen, daß alles v e r s u c h t werden muß,
+unseren Verpflichtungen nach außen und nach innen nachzukommen und die
+Reichsfinanzwirtschaft zu sanieren. Die Gefährlichkeit der Aufgabe
+versteht an folgendem Beispiel auch der Laie. Das Reich könnte hohe
+Milliardenausgaben sparen, wenn es die Lebensmittelzuschüsse
+beseitigte, wenn es die Zuschüsse zu den Betriebsverwaltungen aufhebt,
+wenn es höhere Kohlenpreise durch Erhöhung der Kohlensteuer veranlaßt.
+Aber was ist die Wirkung? In all diesen Fällen gewinnt das Reich auf
+der einen Seite als F i s k u s, was es als B e t r i e b s v e r w a l
+t u n g und als Lohn- und Gehaltszahler wiederum wenigstens zum großen
+Teile drauflegen muß. Das ist der Punkt, an welchem sich zeigt, daß mit
+den üblichen Mitteln der Steuererhöhung schlechterdings nicht mehr
+durchzukommen ist.
+
+Mit dieser Erkenntnis sind die Voraussetzungen der zweiten großen
+Reformetappe gegeben. Ihre maßgebenden Gesichtspunkte sind, soweit sich
+das bisher beurteilen läßt, die folgenden: Zunächst Entlastung des
+Reiches von bestimmten Aufwendungen des außerordentlichen Haushaltes;
+dahin rechnen die Zuschüsse zur Verbilligung der Lebensmittel (8,6
+Milliarden), zu den Betriebsverwaltungen (18,8 Milliarden), für den Bau
+von Bergmannswohnungen (1,5 Milliarden), eventuell für
+Erwerbslosenunterstützung (1,3 Milliarden). Weiterhin eine Reform der
+Einkommensteuer und die Veredelung des Notopfers in eine drei zu drei
+Jahren zu erhebende Vermögenszuwachssteuer; die Erhöhung einer Anzahl
+indirekter Abgaben und Zölle liegt auf der Linie alter steuerlicher
+Methoden. Neu ist der Gedanke, die Unterschiede zwischen Auslands- und
+Inlandspreisen durch ein Erhöhung der Kohlensteuer zu erfassen; neu --
+wenigstens für die deutsche Finazgeschichte -- der Gedanke, das Reich
+durch eine Art Genußschein an den werbenden Sachwerten der Nation mit
+zu beteiligen.
+
+Dieser Vorschlag einer direkten Wirtschaftsbeteiligung des Reiches hat
+vieles für sich. Die papierene Blüte unserer Wirtschaft hängt eng mit
+der Finanznot des Reiches zusammen. Die Erzeugung lädt in weitem
+Umfange auf die Preise ab, was sie an Lasten zu tragen hat. Das Reich
+wird von diesen Preissteigerungen, deren wichtigste Ursache seine
+Schuldenwirtschaft ist, in größtem Stile mit betroffen. Es half sich
+bisher durch neue Schuldaufnahmen und neue Steuern, aber immer liefen
+die Preise voraus, hinkte der Fiskus nach. Die Schwäche des Fiskus und
+die relative Stärke der Wirtschaft stehen in gefährlicher
+Wechselbeziehung. Ganz zutreffend kennzeichnet die "Frankfurter
+Zeitung" (Nr. 604 vom 16. August 1921) die Lage: Mittelstand und
+Festbesoldete können durch keine nach der Leistungsfähigkeit abgestufte
+Steueraktion so schwer geschädigt werden wie durch eine unzureichende
+Reform. Das gilt in hohem Maße auch für Handel und Industrie. Unsere
+Wirtschaftskreise sollten heute, so paradox es klingt, vor zu hoher
+Steuerbelastung weniger besorgt sein als vor zu geringer. Denn auf die
+Dauer wird die Notenpresse sie immer noch unbarmherziger ausquetschen
+als die Steuerschraube. Das Reich ist eben heute kein außerhalb der
+Wirtschaft stehender "Zweckverband" mehr, an den geringe Summen
+abgeführt werden, damit er seine begrenzten Funktionen erfülle, sondern
+das Reich ist heute mit der Wirtschaft zu einem dichten einheitlichen
+Körper verwachsen. Gibt man ihm nicht, was es braucht, so zerstören
+seine Notauswege langsam aber sicher das Leben der Nation.
+
+So ist es verständlich, daß das Reichswirtschaftsministerium sich
+grundsätzlich zum Steuerprogramm und zu den Reparationslasten äußerte.
+Nach den Angaben in der oben zitierten Nummer der "Frankfurter Zeitung"
+betont eine neue Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vor
+allem die Notwendigkeit eines Gesamtprogramms, das die
+Reparationsleistungen und ihre Aufbringung durch Ausfuhrüberschüsse und
+Devisenkäufe mit dem Ziel der Kräftigung der Wirtschaft durch höchste
+Rationalisierung, mit der inneren Finanzierung der Reparationslasten
+und mit den notwendigen sozialpolitischen Übergangsmaßnahmen in
+organische Verbindung bringt. Das wirtschaftspolitische Ziel sei die
+Aktivierung der Handelsbilanz, die Beschränkung der Einfuhr an allem
+Entbehrlichen, die Hereinholung der vollen Gegenwerte der Ausfuhr durch
+Einstellung der wirklichen volkswirtschaftlichen Selbstkosten, die
+Beseitigung der Reichszuschüsse, der Abbau der Zwangswirtschaft, die
+Tiefhaltung der Preise auf dem Kohlen- und Wohnungsmarkt. Damit würden
+die mühelosen Zwischengewinne verschwinden, die deutsche Wirtschaft
+würde auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig; höchste
+Wirtschaftsleistungen, höchste Erzeugung und höchstwertige Ausfuhr
+würden gesichert. Die Umsatzsteuer, die Erhöhung der Zölle und eine
+Aufwandssteuer würden den entbehrlichen Verbrauch beschränken; die
+Zwischengewinne, die bei der Anpassung an den Weltmarktpreis abfallen,
+könnten für die Zwecke der Reparation erfaßt werden. Die Übergangszeit
+erfordere sozialpolitische Maßnahmen: Planmäßige produktive Verwendung
+der erwerbslosen und freiwerdenden Arbeitskräfte für den Ausbau der
+Verkehrsmittel, der Wasserkräfte und für die Erfordernisse des
+Baumarktes.
+
+Die Denkschrift untersucht im weiteren die Frage, ob das Reich,
+nötigenfalls zum Zwecke der Verpfändung an das Ausland, die Substanz
+der Sachwerte erfassen soll. Der Ausbau des Notopfers könnte den
+Fehlbetrag im Etat nicht decken. Die Erfassung der Substanzwerte in der
+Wirtschaft erscheine deswegen zweckmäßig, weil sie tragkräftig, weniger
+fluchtfähig und derart erfaßbar seien, daß das Betriebskapital nicht
+gefährdet werde. Notwendig sei die dinghafte Sicherung des
+Ertragsanteils und seine Kapitalisierung. Den Verfassern der
+Denkschrift schwebt eine Beteiligung des Reiches mit 20% der
+Substanzwerte der Wirtschaft vor, unter dinglicher Sicherung. Damit
+werde die Deckung der Fehlbeträge im Etat für de ersten Jahre
+erleichtert und eine Grundlage für Auslandskredite erzielt. So lange
+sollten die deutschen Sachwerte bei organisierter Beleihung den
+Fehlbetrag in der Goldbilanz des deutschen Außenhandels decken, bis die
+deutsche Wirtschaft sie planmäßig durch erhöhte Sachleistungen auf dem
+Weltmarkte abdecken könne. Den Gesamtbetrag, den das Reich durch die
+übernommenen Sachwerte für seine Zwecke verfügbar machen könne,
+berechnet die Denkschrift auf 382 Papiermilliarden. Der Erfolg dieser
+Aktion wäre eine Minderung der Inflation infolge der Ablösung der
+Grundschulden mit allen daran anschließenden günstigen Weiterwirkungen
+auf die Wechselkurse, die Preise und die Löhne; auch würde die
+Nachfrage des Reiches auf dem Devisenmarkte (für Reparationszahlungen)
+gemindert werden durch die Möglichkeit, auf der Basis der dem Reiche
+verpfändeten Vermögenssubstanz Auslandskredite zu erlangen.
+
+Ohne uns auf eine Kritik dieser Vorschläge im einzelnen einzulassen,
+sei nur so viel bemerkt: Wenn diese Ideen sich durchsetzen, dann ist
+eine Bahn beschritten, an deren Ende möglicherweise die
+"Staatswirtschaft" steht. Oder um das vielgebrauchte, wenig eindeutige
+Wort zu nennen: die Sozalisierung. "Beim ersten sind wir frei, beim
+zweiten sind wir Knechte", das muß all denen gesagt werden, die den
+vorgeschlagenen Weg der Reichswirtschaftsbeteiligung bejahen, aber
+nicht seine Folgen in den Kauf nehmen wollen. Die Dinge haben ihre
+eigene Logik, und hat man sie einmal zum Ausspielen ihrer Logik
+gebracht, dann haben sie Durchschlagskraft und Beharrung genügend
+gewonnen, ihren Weg selbst weiter zu suchen. Die Anhänger der liberalen
+Wirtschaftsidee der wirtschaftlichen Freiheit der Privatinteressen, die
+diese Entwicklung der Dinge mit höchstem Mißtrauen betrachten,
+übersehen allzuleicht, daß auch in der f r e i e n Entwicklung der
+Wirtschaft Tendenzen sich herausgebildet haben, die auf
+"Wirtschaftsherrschaft" hinauslaufen und teilweise schon eine echte,
+von privaten Wirtschaftsgewalten ausgeübte Wirtschaftsherrschaft
+darstellen. Rathenau sprach ganz zutreffend von der Herausbildung
+"wirtschaftlicher Herzogtümer", deren Leiter die maßgebenden Köpfe der
+Industrie, der hohen Bankwelt und des Handels sind. Die B i n d u n g
+der alten "elementaren" und liberalen Wirtschaftswelt ist aus sozialen
+und weltwirtschaftspolitischen Gründen im Anzug. Der Prozeß verstärkt
+sich mit seinem eigenen Wachstum. Es fragt sich bloß, ob der Staat sich
+in tatenlosem Zusehen vor Tatsachen stellen lassen will, oder ob er
+eine Politik einschlägt, deren grundsätzliches Motiv de Wahrung von
+Allgemeininteressen ist. Bis jetzt steht die Sache so, daß die
+Wirtschaft in der organisierten und ins riesenhafte zusammengeballten
+Form den inneren G e i s t d e r f r e i e n K o n k u r r e n z
+w i r t s c h a f t, nämlich die Abstellung auf private Interessen,
+beibehalten hat. Das Interesse des Staates und des Volkes in seiner
+Allgemeinheit ist meines Wissens noch von keinem der gewaltigen
+Wirtschaftskonzerne öffentlich und grundsätzlich als Richtschnur des
+Handelns anerkannt worden. Wir haben den Glauben verloren, daß das
+freie Schaltenlassen von Privatinteressen durch irgendeinen mystischen
+Zusammenhang "von selbst" zum Besten der Allgemeinheit und des Staates
+tendiere. Wir sehen die Gefahren für das politische und soziale
+Gemeinwesen zu deutlich, als daß wir diese Dinge getrost sich selbst
+überlassen könnten. --
+
+Aber was sollen wir tun, um die Dinge nicht sich selbst zu überlassen,
+um sie herauszubringen aus dem Getriebe reiner Privatinteressen? Da
+erhebt sich die Stimme, die wir seit drei Jahren so ausgiebig gehört
+haben: man sozialisiere, man tue es bald und gründlich!
+
+Wer genau zuhört, wird merken, daß dieser Ruf die innere Sicherheit und
+Überzeugungswärme stark verloren hat, die ihn noch vor zwei-drei Jahren
+auszeichnete. Das hat seine guten Gründe. Was St. Simon seinerzeit von
+England sagte, dieses Land mache zum Nutzen aller Völker einen
+gewaltigen Versuch -- nämlich den Versuch der freien industriellen
+Verkehrswirtschaft --, das können wir heute von Rußland sagen: Dieses
+Land hat zur Lehre für alle Völker ein gewaltiges Experiment
+angestellt, hat versucht, der marxistisch-soziaistischen Idee so, wie
+seine Wortführer sie verstanden, den Leib der Wirklichkeit zu gehen.
+Der Versuch hat eine alte Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung in
+tausend Scherben geschlagen, hat eine neue aufgebaut, aber, wie sich
+mehr und mehr herausstellt, keine Verfassung idealer Erfüllung, sondern
+der Gewalt, des Schreckens, der Wirtschafts- und Kulturvernichtung, der
+Not und des Hungers. Vieles am Mißerfolg ist auf spezifisch r u s s i
+s c h e Rechnung zu setzen: auf die mangelnde Industrialisierung des
+Landes, auf die schlechte Organisation der Verwaltung, auf die
+Unbildung des Volkes, auf die Weite der Landräume, auf die übereilte
+Gewaltsamkeit des Prozesses, auf die Mißachtung geistiger und
+sittlicher Vorbedingungen, auf die Direktion der Handlungen durch den
+toten Buchstaben des orthodoxen Marxismus unter Vergewaltigung aller
+Wirklichkeit. Vieles geht auf den verlorenen Krieg und auf die
+Absperrung des weiten Reiches vom Auslande zurück. Wenn wir das alles
+in gebührende Rechnung stellen, bleibt ein unbeglichener Rest: und er
+argumentiert g e g e n die Idee der Sozialisierung -- das Wort im
+strengen Sinne einer Überführung aller Produktionsmittel in öffentliche
+Hand unter Zentralisierung der Wirtschaftsverfügung und Zuteilung der
+Wirtschaftserträge verstanden. Sein Argument lautet: Die Aufgabe ist zu
+groß, um bureaukratisch und zentralistisch gelöst zu werden; das
+Wirtschaftsleben ist zu vielgestaltig, um auf den Leisten von
+Verordnungen gespannt zu werden; es gibt zu viel natürliche
+Unberechenbarkeiten in den Grundbedingungen aller Wirtschaft, die sich
+den Paragraphen und noch mehr der Gewalt entziehen; und nicht zuletzt:
+der primäre Wirtschaftsfaktor Mensch ist zu sehr -- Mensch, um jenes
+äußerste an Pflichtgefühl, Verantwortung und Arbeit, das eine
+ertragreiche Wirtschaft verlangt, aufzubringen, w e n n er nicht den
+Erfolg f ü r s i c h s e l b s t unmittelbar sieht. Das eigene
+Interesse ist der stärkste Hebel aller wirtschaftlichen Energien --
+dieser Satz wurde vor 150 Jahren von Adam Smith ausgesprochen; er wird
+so lange gelten, wie Menschen Menschen sind. Nur die besondere Fassung,
+die Smith ihm gab, ist zu eng: dieses Eigeninteresse ist nicht
+notwendig das unmittelbare Eigeninteresse jedes einzelnen. Es kann auch
+weitergreifen, es kann Stände, Körperschaften,
+Selbstverwaltungsorganisationen erfassen. Es reicht so weit, wie
+gewertete und erlebte Gemeinschaft reicht. Es hört immer da auf, wo das
+Fremde anfängt, dasjenige, was der einzelne nicht als unmittelbar --
+sei es beruflich, sei es standesmäßig, sei es familienmäßig oder
+freund-nachbarlich -- zu sich gehörig empfindet. Aber schon in diesem
+Bereich finden sich leicht Abschwächungen der Verantwortungsfredigkeit
+und des Pflichtgefühls. Man wendet ein, der Z w a n g könne die
+Gemeinschaftsgesinnung ersetzen und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen
+erzielen. Das ist ein Irrtum. Zwang und Gewalt sind keine Bindungen von
+innen, sondern Grenzen von außen. Ihre Reichweite ist beschränkt; wir
+sehen es am russischen Beispiel, wir erlebten es am eigenen Leibe in
+der Kriegswirtschaft. Eine Grenze von außen bedeutet immcr gleichzeitig
+eine Prämie auf Grenzüberschreitung, und deren Möglichkeit ist immer
+gegeben. Sie unterhöhlt das ganze Gefüge, während die klappernde Mühle
+von Verordnungen und Strafbestimmungen leeres Stroh drischt. Der
+radikale Vcrsuch, mit G e w a l t die sozialistische Gesellscafts- und
+Wirtshaftsidee durchzusetzen, führt notwendig zur Lähmung der
+Wirtschaft durch Abdrosselung der Wirtschaftsenergien und zur
+Erstickung aller Initiative durch Bureaukratie. Pflichtgefühl und
+Verantwortung für das Ganze hängen nicht an der Koppel du
+Polizeidieners.
+
+Mit dieser Ablehnung der allgemeinen und zentralistischen
+Sozialisierung ist das Sozialisierungsproblem jedoch nicht erschöpft.
+Wir sahen bis jetzt nur seine Grenzen. Nur auf dem Boden einer
+Gemeinschaftsgesinnung ist Gemeinschaftswirtschaft möglich. Diese
+Gemeinschaftsgesinnung aber kommt nicht von oben, durch Verordnung,
+sondern nur von unten, aus sittlichen Grundvorstellungen bei
+Gemeinsamkeit des Lebens und Erlebens. Wir sahen das andere: Sachliche
+Vorbedingungen sind unerläßlich; sie liegen aber von Gewerbe zu Gewerbe
+verschieden und sind selbst innerhalb der einzelnen Gewerbe mannigfach
+gelagert. Diese Verschiedenheit der sachlichen Vorbedingungen macht die
+Forderung der allgemeinen Sozialisierung zu einer unmöglichen, das
+heißt nach aller vernünftigen Erwägung fehlschlagenden Lösung. Sie
+nötigt uns, über die Herrschaft der Phrase und der wohlmeinenden, aber
+unverständigen Köpfe hinauszukommen, den vernünftigen Kern der
+Sozialisierungsidee zu retten vor ihren eigenen schlecht beratenen
+Freunden. Die ganze Sozialisierungsaktion löst sich auf in eine Fülle
+von schwierigen Einzelproblemen. Die erste und zweite
+Sozialisierungskommission hat dieses Ergebnis gezeitigt und die
+Schwierigkeit der ganzen Frage ins hellste Licht gerückt.
+Sozialisierung ist aus einer marxistischen Verheißung und einem
+sozialistischen Dogma eine Organisationsfrage der Wirtschaft geworden.
+
+Heute ist man sich allenthalben darüber klar, daß unsere äußeren und
+inneren Daseinsbedingungen jene Formen und jene Verfassung der
+Wirtschaft fordern, die technisch und wirtschaftlich die
+leistungsfähigsten sind.
+
+Damit taucht das Problem der wirtschaftlichen F o r m b i l d u n g
+auf. Es ist unbegreiflich, daß man drei kostbare Jahre hat verstreichen
+lassen, ohne durch organisatorische Versuche brauchbare Formen der
+Betriebsverfassung herauszufinden. Es macht einen kümmerlichen
+Eindruck, zu sehen, wie festgerannt man auf diese oder jene Form der
+Arbeits- und Betriebsverfassung ist. Man übersieht dabei, daß reiche
+Bauformen nötig und zweckmäßig sind. Eine Wirtschaftsverfassung ist
+kein Militärrock, der auf jeden passen muß. Die Formen der
+kapitalistischen Unternehmung sind sehr vielgestaltig, aber alle auf
+ihre Art zweckmäßig. Warum will man nicht Grundtypen
+gemeinwirtschaftlicher Unternehmungsform herauswachsen lassen? Wer
+nicht die bornierte Auffassung hat, es könne nur diese oder jene
+(natürlich gerade von ihm vertretene!) Form in Betracht kommen, wird
+zugeben, daß eine Vielgestalt der Verfassungen denkbar ist, die den
+gemeinwirtschaftlichen Ansprüchen gerecht wird ohne jene Energien zu
+ersticken, die auf dem Boden der Selbstverantwortung gedeihen.
+
+Das wird zumal derjenige zugeben, der in die inneren psychologischen
+Antriebe des Sozialisierungsverlangens geschaut hat. Woher stammt
+unsere Arbeiterbewegung, woher stammen ihre Wirtschaftsideale und
+Gesellschaftsanschauungen? Unzweifelhaft aus der Abwehr gegen die
+Arbeitsverfassung, die Arbeitsmethoden, die Ertragsverteilung und die
+gesellschaftliche Stellung der Handarbeit in unserer modernen
+Wirtschaft. Wer das nicht im Auge behält, sieht das ganze Problem der
+Sozialisierung und des Sozialismus falsch. Skizzieren wie die Punkte,
+die die Arbeiterschaft veranlassen, die moderne Wirtschafts- und
+Gesellschaftsverfassung mit so ungeheurem Nachdruck abzulehnen. Die
+Arbeit ist im kapitalistischen Betrieb fremdbestimmte Arbeit an fremden
+Arbeitsmitteln, für fremden Ertrag, unter fremdem Kommando, gegen einen
+Lohn, der die Besitzlosigkeit des Arbeiters und damit seine erzwungene
+Einordnung in das kapitalistische Arbeitsverhältnis dauernd und erblich
+macht. Sie ist mechanisierte Teilarbeit, die keine Persönlichkeitswerte
+braucht und verträgt. Sie ist weiterhin Arbeit von Massen, und zwar von
+Betriebsmassen, wie auch Großstadtmassen. Die Arbeiterschaft als Ganzes
+stand gesellschaftlich und staatsbürgerlich nicht in der Geltung und
+Achtung, die sie nach ihrer Bedeutung für Wirtschaft, Staat und
+Gesellschaft beanspruchen zu können glaubte. Zu diesen objektiv
+feststellbaren Quellen der Abneigung gegen die moderne
+Wirtschaftsverfassung kommen als weitere die spezifisch proletarischen,
+vom Marxismus formulierten und genährten Klassen- und Wertgefühle der
+Arbeiterschaft. Aus diesem Gesamtkomplex der Empfindungen und
+Anschauungen floß die Sozialisierungsidee, der Zukunftsstaatgedanke,
+die bewußte und gewollte Gettohaftigkeit des Proletariats in
+weltanschaulichen und sozialen Hinsichten. Der Grundgehalt des
+Widerstandes gegen den Kapitalismus war die Revolte des lebendigen
+Menschen dagegen, bloßes Mittel zu sein für privatwirtschaftliche
+Zwecke und für ein höchstes Produktionsideal.
+
+Wer das bedenkt, sieht de notwendig zweiseitige Lösung des
+Sozialisierungsproblems. Die eine Lösung ist die wirkliche und
+wahrhaftige Überführung dazu geeigneter Betriebe in de öffentliche Hand
+oder in gemischtwirtschaftliche Betriebsform oder in
+Selbstverwaltungskörperschaften -- alle drei unter Anteilnahme und
+Mitbestimmung der Arbeiter; beziehungsweise die Beteiligung der
+Arbeiter an den Erträgen der Unternehmung in der einen oder anderen
+Form -- Kleinaktie, Gewinnbeteiligung, auch arbeitergenossenschaftliche
+Führung und Übernahme von Betrieben. Die andere Lösung des
+Sozialisierungsproblems ist unvermeidlich die: es muß die Stellung des
+Arbeiters im Wirtschaftsprozeß selbst geändert werden. Er muß
+Mitbestimmungsrecht in gewissem Rahmen haben; er muß mit dem Betriebe
+enger verwachsen, als es bisher der Fall war; er muß gegen die
+Konjunkturgefahren, gegen Betriebsunfälle, gegen Alter und Invalidität,
+gegen Ausbeutung geschützt werden. Die soziale und rechtliche Geltung
+der Arbeiterschaft muß auf ihr richtiges Maß gebracht werden. All das,
+damit er selbst lebendige Verantwortung für den Betrieb und
+Pflichtgefühl der Arbeit gegenüber aufbringen könne! Das ist nicht nur
+eine sozialpolitische Notwendigkeit, es ist vor allem ein
+wirtschaftspolitisches Erfordernis. Nur so wecken wir Verantwortung und
+Pflichtgefühl, nur so durchdringen wir die Wirtschaft bis in de
+kleinsten Zellen mit diesen Eigenschaften.
+
+Ein gewichtiger Teil der Gesetzgebung hat sich seit der Revolution mit
+Reformen in dieser Richtung befaßt. Zunächst die Reichsverfassung
+selbst. Sie stellt die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des
+Reiches. Sie gewährleistet das freie Vereinigungsrecht für jedermann,
+für alle Berufe. Sie verspricht ein einheitliches Arbeitsrecht und
+einen entschlossenen Ausbau der Sozialpolitik. Sie nähert sich dem
+Gedanken des Rechtes auf Arbeit durch die Bestimmung, daß es jedem
+Deutschen ermöglicht werden solle, durch wirtschaftliche Arbeit seinen
+Unterhalt zu erwerben, und sichert für die Notfälle der
+Arbeitslosigkeit den Unterhalt zu. Sie bringt allerdings auch zum
+Ausdruck, daß jeder Deutsche die sittliche Pflicht habe, seine
+geistigen und körperlichen Kräfte für das Wohl der Gesamtheit
+einzusetzen. Konkreter werden die Bestimmungen der Verfassung
+hinsichtlich der Anerkennung der Gleichberechtigung von Arbeitern und
+Angestellten bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Ein
+Aufbau von Betriebsräten und Bezirksräten, sowie einige auf
+Gemeinwirtschaft zielende Bestimmungen sind verfassungsrechtlich
+festgelegt.
+
+Diese verfassungsrechtlichen Ankündigungen haben teilweise bereits ihre
+Verwirklichung erlebt. Wir erwähnen in diesem Zusammenhange das neue
+Recht der Tarifverträge und der Schiedsgerichte, und vor allem das
+Betriebsrätegesetz.
+
+Noch ehe die Reichsverfassung die Gedanken der Gemeinwirtschaft und die
+Richtlinien der sozialen Befriedung festlegte, hatten die Verbände der
+Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zusammengefunden, um auf einer neuen
+Grundlage die kommenden Schwierigkeiten der Nachkriegszeit durch
+gemeinsame Vereinbarungen zu bewältigen. Schon im November 1918
+erschien die sogenannte "Vereinbarung"; in ihr anerkennen die Vertreter
+der Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften als berufene Vertretung der
+Arbeiterschaft, in ihr wird jede Beschränkung der Koalitionsfreiheit
+untersagt, und der Arbeitsfriede in Gestalt allgemeiner
+tarifvertraglicher Regelung, der Arbeitsausschüsse, der
+Schlichtungs- und Einigungsämter grundgelegt. Auf diese Vereinbarung
+erfolgte im Dezember 1918 die Errichtung der sogenannten
+Arbeitsgemeinschaften. Man hat diese Vereinbarung nicht mit Unrecht die
+Magna Charta der Arbeiterschaft im neuen Deutschland genannt. Sie
+verwirklicht gewerkschaftliche Forderungen, um die jahrzehntelang
+umsonst gekämpft worden ist. Sie führt Arbeitgeber- und
+Arbeitnehmerverbände zusammen zu paritätischer Entscheidung all der
+Fragen, die das Arbeitsverhältnis betreffen. Wenn auch heute schon
+feststellbar ist, das [sic] längst nicht alle Blütenträume gereift
+sind, die an die Vereinbarung, die Arbeitsgemeinschaften und das
+Betriebsrätegesetz anschlossen, so ist doch der eingeschlagene Weg
+g r u n d s ä t z l i c h r i c h t i g und wird sicher nicht mehr
+aufgegeben werden für das zweifelhafte Linsenmus wilder
+Kampfauseinandersetzungen --, deren Last und Folgen würden auf beide
+Teile vernichtend zurückfallen. So können wir hoffen, nach Zeiten
+stärkster sozialer Konflikte und Spannungen allmählich alte Gegensätze
+abzubauen, den Weg zum sozialen Frieden zu finden. Was der Glanz der
+deutschen Macht, der Stolz auf das nach außen einige Vaterland und der
+Schimmer blendenden Reichtums nicht vermochten, das wird, so hoffen
+wir, als ein Werk der deutschen N o t zustande kommen: die Einigung
+Deutschlands nicht nur nach Verfassungsparagraphen, sondern aus der
+Einheitsgesinnung und aus dem Einheitswillen des ganzen Volkes heraus!
+
+Wir brauchen brauchen diesen unbeirrbaren Einheitswillen, um als Volk
+und als Staat durch die trostlose Nacht des nationalen Unglücks
+hindurchzukommen. Wir sind nicht mehr Herren im Lande, weder
+staatsrechtlich -- das einzige Souveränitätsrecht, das der
+Friedensvertrag uns gelassen hat, ist nach den Worten van Calcers das
+Recht, Krieg zu erklären; ein platonisches Recht für ein Volk, das man
+entwaffnet hat, und das nach allen Richtungen unter Kontrolle steht --
+noch wirtschaftlich. Durch ungeheuere Verpflichtungen sind wir zum
+Lohnarbeitervolk geworden; die Last der Reparationen, die
+Ausgeschöpftheit unseres Wohlstandes nötigen uns, die Betriebsmittel
+unserer Lohnarbeit sogar noch vom valutastarken Ausland uns erstellen
+zu lassen. Wir brauchen Aufbau- und Betriebskapitalien, unsere
+Kapitalbildungskraft ist minimal, und so droht uns die Gefahr, daß
+unsere Industriewerte vom ausländischen Kapital "überfremdet" werden.
+Milliardenbeträge an Mark, aufgenommen vom Ausland, strömen zurück;
+Milliardenbeträge an Schatzanweisungen, Obligationen und Industriewesen
+müssen ins Ausland verzinst werden. Der Dollar, das Pfund Sterling, der
+Gulden und der Frank bemächtigen sich unserer Industriewerte, unserer
+Häuser, unseres Grundbesitzes, unserer Vorräte. Das ist ebenso
+schmerzlich wie unabwendbar; wir brauchen das fremde Kapital. Es kommt
+darauf an, es nicht der Menge nach, sondern seinem Macht- und
+Verwaltungsanspruch nach zu begrenzen oder, wie Professor Schumacher
+das neuerdings ausdrückte, es zu "entgiften", den Strom dieser
+Kapitalien zu regulieren. Gewiß wäre es wünschenswert, wenn diese
+ausländischen Kapitalien die wenigst bedenkliche Anlage in Deutschland
+wählen würden, wenn sie dem G r u n d b e s i t z zuflössen. Aber das
+ist wenig wahrscheinlich. Die Anlage, die sie suchen, und in der die
+meisten Gewinne locken sind eben die Industriewerte; und unsere
+Regulierung dieser Kapitalzuwanderung ist damit beschränkt auf das
+Aushilfsmittel der Vorzugsaktie. Im übrigen stehen wir dem Prozeß so
+lange mit gebundenen Händen gegenüber, als die Reparationslast und die
+Steuern unsere Sparkraft lähmen.
+
+Aufkauf unserer Werte durch das valutastarke Ausland -- Abschöpfung
+unserer Arbeitserträge durch Steuern zu Zwecken der Reparation: das
+heißt wirklich das Licht an zwei Enden anzünden! Die Unhaltbarkeit
+dieser Sachlage anerkennen selbst führende Wirtschaftspolitiker aus dem
+Ententelager. Unter ihnen erwähnen wir Van der Lip und Keynes. Der
+Engländer Keynes, der in seinem bedeutungsvollen Buche über den
+Versailler Vertrag ein großes Maß an ruhiger Vernunft bewies, äußert
+sich in neuerlichen Aufsätzen in der "Industrie- und Handelszeitung"
+über die Fähigkeit Deutschlands, die ihm aufgelegten Lasten zu tragen.
+Er kommt zu einem negativen Ergebnis. Er sieht im Londoner Diktat eine
+provisorische Abmachung, die schon im nächsten Jahre ihre
+Unzulänglichkeit zeigen werde. "An einem bestimmten Zeitpunkt, der
+zwischen Februar und August 1922 liegt, muß Deutschland der
+unvermeidlichen Zahlungsunfähigkeit erliegen. Nur bis dahin reicht die
+Schonzeit, die gewährt wird." Diese Ansicht stützt Keynes auf eine
+Untersuchung der Handelsbilanz, des deutschen Staatshaushalts und des
+deutschen Volkseinkommens.
+
+Diese Darlegungen, deren sachliche Richtigkeit nicht bestritten werden
+kann, die höchstens die eine Frage offen lassen, ob der von Keynes
+genannte Termin gerade der richtige ist, zeigen uns, in welch
+gefährlichem Fahrwasser das lecke Schiff der deutschen Wirtschaft
+schwimmt. Das Echo, das sie in England und Frankreich vielfach gefunden
+haben, beweist, wie machtvoll heute die Idee der Gewaltpolitik unter
+Abweisung aller Vernunftserwägungen und aller sittlichen Begriffe in
+den Köpfen der Sieger herrscht. Man sieht nur Goldmilliarden, die mit
+dem Rechte Shylocks erpreßt werden müssen; aber man sieht nicht die
+Abgründe, die vor ihnen liegen. Die geistige und sittliche Einheit
+Europas ist vor dem nationalen Machtrausch und vor der Habgier der
+heute, zumal in Frankreich, führenden Schichten ein Schrei in die
+Wüste. Gerechtigkeit in der Behandlung großer, wehrloser Völker ein
+leerer Paradespruch für Bankette, das Drapeau, mit dem Gewalttat und
+Eroberungsgier zugedeckt werden. Der Geist Richelieus ist wieder
+lebendig geworden, am Rhein und im Osten; nur ruft er heute keine
+Türken herbei, sondern Schwarze und Braune aus allen Himmelsstrichen
+und mobilisiert die slawische Welt gegen uns. Wir sind heute das
+ungedeckte Glacis des elementar gegen Europa vordringenden Slawentums.
+Dürfen wir hoffen, daß die unwiderlegliche Logik der Geschichte selbst
+die Einsichtslosigkeit beheben, den verbrecherischen Übermut dämpfen
+wird? Müssen die Trostlosigkeiten dauernder politischer Unruhen und
+chronischer wirtschaftlicher Verarmung erst die ganze Welt schütteln
+und erschüttern, ehe der Satz begriffen wird, daß kein Volk auf die
+Dauer davon leben kann, daß es das andere unter die Füße tritt und
+ausraubt! Wahrlich, wir haben unser gutes Gewissen wiederbekommen an
+all den Furchtbarkeiten und Greueln, die man uns seit dem
+Waffenstillstand zugefügt hat. Mit diesem guten Gewissen haben wir die
+neue Pflicht für das gequälte und leidende Europa übernommen, der
+Gerechtigkeit und der Ansicht breite Tore in uns und allen zu öffnen,
+die in Europa und in der Welt noch guten Willens sind. Das sei im
+Dunkel der gegenwärtigen Stunde unser Trost, daß wir nie zu so großer
+Mission geläutert und berufen waren, wie wir heute sind!
+
+
+
+***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART***
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+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+works. See paragraph 1.E below.
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+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
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+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf.
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+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
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+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://www.gutenberg.org/about/contact
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+ Chief Executive and Director
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+Literary Archive Foundation
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+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
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+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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+where we have not received written confirmation of compliance. To
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+particular state visit https://www.gutenberg.org/fundraising/donate
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+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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+any statements concerning tax treatment of donations received from
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+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
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+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
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+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
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+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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+</head>
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+<h1 align="center">The Project Gutenberg eBook, Deutsches Leben der Gegenwart, by Philipp
+Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and Goetz Briefs,
+Edited by D. Philipp Witkop</h1>
+<pre>
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at <a href = "https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a></pre>
+<p>Title: Deutsches Leben der Gegenwart</p>
+<p> Deutsche Dichtung der Gegenwart, von Prof. Dr. Philipp Witkop; Deutsche Musik der Gegenwart, von Paul Bekker; Deutsche Philosophie der Gegenwart, von Prof. Dr. Max Scheler; Relativitätstheorie, von Prof. Dr. A. Sommerfeld; Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart, von Prof. Dr. Goetz Briefs</p>
+<p>Author: Philipp Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and Goetz Briefs</p>
+<p>Editor: D. Philipp Witkop</p>
+<p>Release Date: July 11, 2005 [eBook #16264]</p>
+<p>Language: German</p>
+<p>Character set encoding: ISO-8859-1</p>
+<p>***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART***</p>
+<br><br><center><h3>E-text prepared by Martin C. Doege<br>
+ mdoege@compuserve.com</h3></center><br><br>
+<hr noshade>
+<br>
+<br>
+<br>
+<p><a href="#lit">PROF. DR. PHILIPP WITKOP<br>Deutsche Dichtung der Gegenwart</a></p>
+
+<p><a href="#mus">PAUL BEKKER<br>Deutsche Musik der Gegenwart</a></p>
+
+<p><a href="#phi">PROF. DR. MAX SCHELER<br>Deutsche Philosophie der Gegenwart</a></p>
+
+<p><a href="#rel">PROF. DR. A. SOMMERFELD<br>Relativitätstheorie</a></p>
+
+<p><a href="#eco">PROF. DR. GOETZ BRIEFS<br>Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart</a></p>
+<br>
+<br>
+<br>
+<br>
+<h1>DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART</h1>
+
+<p><b>HERAUSGEGEBEN VON PROF. D. PHILIPP WITKOP</b></p>
+
+
+<p>Mit 8 Abbildungen</p>
+
+
+<p>Berlin 1922</p>
+
+
+<p>VOLKSVERBAND DER BÜCHERFREUNDE<br>WEGWEISER VERLAG G. M. B. H.</p>
+
+
+
+<blockquote> Dieses Buch wurde als dritter<br>
+ Band der dritten Jahresreihe<br>
+ für die Mitglieder des "Volksverbandes<br>
+ der Bücherfreunde" hergestellt und wird nur an<br>
+ diese abgegeben / Den Einband<br>
+ zeichnete A d o l f P r o p p</blockquote>
+
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+<br>
+<br>
+<br>
+<br>
+<h3>VORWORT</h3>
+
+<p>Deutsches Leben der Gegenwart &mdash; dem feindlichen Blick, der nur
+seine Oberfläche streift, möchte scheinen, daß die Gegenwart wenig vom
+deutschen Leben, mehr vom deutschen Sterben zu melden hätte. Aber der
+nachdenkliche Betrachter weiß, daß die größten geistigen Epochen
+Deutschlands über seinen politischen Niederlagen wuchsen, daß gerade
+die Zeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dem Zusammenbruch von
+Jena zu den schöpferischen des deutschen Lebens gehören. Und so wird
+seinem geschärften Auge nicht entgehen, wie auch heute hinter der
+zerstörten und zersetzten deutschen Außenwelt seelische und geistige
+Kräfte keimen &mdash; in heiligem Trotz dem Elend und Leid der
+Gegenwart entkeimen &mdash; die eine Verjüngung und Vertiefung, eine
+Erneuerung Deutschlands verheißen.</p>
+
+<p>Von solchen Kräften will dies Buch uns Kunde geben, auf daß wir der
+inneren deutschen Welt gewiß und froh werden, wenn auch die äußere noch
+darniederliegt.</p>
+
+<p>Und es ist bedeutsam, zu sehen, daß diese Mächte durch den Krieg
+zwar erst ganz befreit und gefördert, aber nicht erst durch den Krieg
+geweckt sind. Schon seit der Jahrhundertwende regen sich Kräfte in
+Deutschland, die es aus der europäischen Epoche des Materialismus und
+Rationalismus, des Technizismus und Kapitalismus hinausführen wollen zu
+geistigem und seelischem Urgrund.</p>
+
+<p>In der Dichtung, Musik, Philosophie, der Naturwissenschaft und
+Wirtschaft drängen junge, schicksalstiefere Kräfte vor. Und so wenig
+die Autoren dieses Buches einem bestimmten anderen Punkte sieht und
+schafft, so leben und schaffen doch alle nicht im Gefühl eines Ausgangs
+und Untergangs, sondern eines Anfangs und Übergangs, einer Zeitenwende,
+in der dem deutschen Volke vielleicht gerade um seiner größeren Leiden
+willen die größere, schwerere Aufgabe zugewiesen ist.</p>
+
+<blockquote> F r e i b u r g i. B., Neujahr 1922.</blockquote>
+
+<blockquote> Prof. Dr. Philipp Witkop.</blockquote>
+
+
+
+
+<h2><a name="lit">DIE DEUTSCHE DICHTUNG DER GEGENWART<br>(IN IHREN GRUNDLINIEN)<br>VON
+PHILIPP WITKOP</a></h2>
+
+
+<h3>DER ROMAN</h3>
+
+<p>Alle epische Dichtung, das Versepos wie der Roman, setzt sich als
+höchstes Ziel, ihr ganzes Volk in ihrer Zeit darzustellen, in seinen
+religiösen, sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Grundformen.
+Aber die Urzeit der Völker, da diese Formen in ungeschiedener Einheit
+das ganze Volk umfassen, hat selten ein Volk zum Bewußtsein und zur
+epischen Gestaltung seiner selbst gelangen lassen. Erst nachdem sich
+aus der Einheit und Einfachheit des ganzen Volkes einzelne Stände
+herausgehoben und gesondert ihre Anlagen und Lebensformen entwickelt
+haben, sind die großen Epen entstanden. Die Ilias wie die Nibelungen
+stellen die Lebensformen einer ritterlichen Gesellschaft dar. Und wenn
+de ständischen Volksgruppen sich kulturell und dichterisch entwickelt
+haben, meist nacheinander, so bleiben sie in der epischen Dichtung
+ihres Landes nebeneinander bestehen: fast alle großen neueren Romane
+gestalten die Lebensformen eines bedeutenden Standes; so zerfällt der
+Volksroman in den Ritter- oder Adelsroman, den Bürgerroman, den
+Bauernroman, den Arbeiterroman. Die jeweilige schöpferische Bedeutung
+dieser Stände entscheidet zumeist auch über die Bedeutung ihrer Romane.
+Sind ihre Lebensformen, ihre religiösen, sittlichen, geistigen,
+wirtschaftlichen Grundkräfte gesund, klar, einig und schöpferisch, so
+drängen sie auch nach ihrem schöpferischen Ausdruck, so geben sie einem
+wesensverbundenen Epiker die innere Form zu einem epischen
+Gesellschafts- und Volksbild, das sich in breitem Nach- und
+Nebeneinander, in plastischer Gestaltenfülle, in farbiger Sinnlichkeit
+und Sichtbarkeit, in liebevoller Bejahung des Lebens entfaltet.</p>
+
+<p>In Deutschland ist dies Wesen und Werden der epischen Dichtung von
+fremden Kräften durchkreuzt. Seine ritterliche Kultur hat zwar in
+Gottfried von Straßburgs "Tristan" und in Wolfram von Eschenbachs
+"Parzival" vollen epischen Ausdruck gefunden. Aber schon im "Parzival",
+dem eigentlich deutschen der beiden Gedichte, bricht jene deutsche
+Eigenheit durch, die dem epischen Lebensgefühl widerspricht: die
+deutsche Art schlägt das Auge eher nach innen denn nach außen auf, ist
+mehr metaphysisch als physisch, mehr musikalisch als plastisch, sie
+weiß mehr von der inneren Einsamkeit der Persönlichkeit als von der
+Gemeinsamkeit des Standes, Volkes und Staates, mehr von Kampf und
+Tragik als von Frieden und Daseinsfreude. Schon die Nibelungen sind im
+Grunde eine Tragödie, der grauenvolle Untergang eines ganzen Volkes.
+Ein unendliches Wehklagen ist ihr Schluß und die düstere Erkenntnis,
+"daß alle Freude immer zuletzt in Leid sich kehrt". Und der erste der
+großen deutschen Prosaromane, Grimmelshausens "Simplizissimus",
+schildert die irrende deutsche Seele, die aus Mord und Getümmel des
+Dreißigjährigen Krieges auf eine einsame Insel, an das Herz ihres
+Gottes flüchtet. Die Entwicklung und Vollendung der Seele wird zum
+Inhalt des deutschen Romans, nicht die Darstellung des äußeren Lebens,
+der Gesellschaft, des Volkes, der Kriege und Siege. Die großen
+deutschen Epen und Romane sind Entwicklungsromane: "Parzival",
+"Simplizissimus", "Wilhelm Meister", "Der grüne Heinrich".</p>
+
+<p>Diese deutsche Wesensart ist durch die Geschichte Deutschlands
+bedeutsam verstärkt worden &mdash; wobei vielleicht auch hier
+"Schicksal und Gemüt Namen e i n e s Begriffes sind" (Novalis). Während
+die romanische und angelsächsische Welt mit der Renaissance sich der
+Bewunderung, Erforschung und Eroberung der Natur zuwandte, verlor sich
+Deutschland in die metaphysischen Tiefen und Konflikte der Reformation,
+bis daß es in einem dreißigjährigen Religionskriege fast zugrunde ging.
+Aber während es politisch und wirtschaftlich so auf lange daniederlag,
+hob es sich philosophisch und künstlerisch zu seiner größten Bedeutung.
+Zum epischen Ausdruck dieser inneren Welt und Wesenheit wird der Roman
+der deutschen Romantik (Hölderlin, Novalis, Jean Paul. Eichendorf, E.
+T. A. Hoffmann), der durchaus musikalisch-metaphysisch bestimmt ist,
+aus der Welt der Gestalten in die "unendliche Melodie"
+hinüberdrängt.</p>
+
+<p>Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt Deutschland aus dem Reich
+der Dichtung, Philosophie und Religion in das Reich der Industrie,
+Technik und Politik hinaus. Aber die künstlerisch bedeutenden
+realistischen Romane, die um diese Zeit entstehen (Immermanns
+"Münchhausen", 1838, Ludwigs "Heiteretei", 1853, Freytags "Soll und
+Haben", 1855, Reuters "Ut mine Stromtid", 1862-64, Raabes "Der
+Hungerpastor", 1864), begleiten diese Entwicklung kaum. Ihre Welt ist
+die des alten Deutschlands, des Bauerntums, der Gutsbesitzer, des
+Kleinbürgertums geblieben. Die deutsche Kultur vermag die neuen,
+industriellen und politischen Kräfte nicht schöpferisch zu durchdringen
+und zu formen.</p>
+
+<p>Es war das Verhängnis der deutschen Kultur, daß die neue Entwicklung
+die klassische Zeit des deutschen Idealismus nicht auf ihrer Höhe,
+sondern im Niedergang antraf, daß das philosophisch-dichterische und
+das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter sich nicht durchdrangen,
+sondern einseitig ablösten. Als die idealistische deutsche
+Weltanschauung schon in sich zersetzt, Hegels Philosophie bei Feuerbach
+in ihr Gegenteil umgeschlagen war, da drangen Naturwissenschaften,
+Technik und Industrie ein. Eine abgestorbene innere Welt stand einer
+jungen äußeren gegenüber, die sich in unerhörter Jähe und Stärke
+entwickelte. Und die politischen Geschehnisse &mdash; die wieder nicht
+aus innerem Wachstum reiften, sondern von außen, durch Bismarcks Genius
+heraufgeführt wurden &mdash; steigerten diese Entwicklung ins
+Hemmungslose. So vermochten die alten bürgerlichen Lebensformen sich
+nicht mehr organisch fortzubilden; sie wurden gesprengt. Mit dem
+Aufstieg des deutschen Bürgertums zur äußeren Macht beginnt seine
+innere Zersetzung. Der Biedermeierstil ist der letzte Ausdruck einer
+bürgerlichen Lebensform in Deutschland.</p>
+
+<p>Am Ende dieser bürgerlichen Kultur steht Thomas Mann (geb. 1875).
+Seine Vaterstadt Lübeck, die alte Hansastadt, vermochte ihre
+Lebensformen am längsten zu behaupten. Die "Buddenbrooks" (1901) sind
+der größte und letzte bürgerliche Roman in Deutschland.</p>
+
+<p>Thomas Mann war &mdash; wie sein Bruder Heinrich Mann &mdash; der
+Sohn eines Lübecker Senators. Über ein Jahrhundert hinweg sah er sein
+Geschlecht in der sicheren Tradition, den festen bürgerlichen
+Lebensformen der Freien Hansastadt wurzeln und wirken. Und am Ende
+dieser Reihe standen er und sein Bruder, unwillig, unfähig, diese
+Tradition fortzuleiten. Der Dreiundzwanzigjährige suchte nach einer
+Erklärung, einer Rechtfertigung seines Andersseins. Und als Sohn eines
+naturalistischen Zeitalters, das eben Darwin aufgenommen hatte, das
+Entwicklung und Verfall der Arten, die geheimnisvolle Unübersehbarkeit
+der Erbgesetze zu durchschauen meinte, sah er &mdash; nicht ohne
+Einfluß Zolas und seiner Rougon-Macquart-Reihe &mdash; sich als den
+Ausgang eines alten, immer mehr verfeinerten Geschlechtes, das
+schließlich, durch Beimischung des mütterlichen, romanischen Blutes dem
+tätigen Leben entfremdet, im bloßen Zuschauer, Kritiker und Gestalter
+des Lebens, im Künstler, endete. Ein Entartungs-, ein Dekadenzproblem!
+Auf mehr denn tausend Seiten schrieb der Jüngling die Chronik des
+Niederganges: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie." Aber er war viel
+zu seelenhaft, zu metaphysisch, zu musikalisch, als daß er im
+naturalistischen Roman steckengeblieben wäre. Stärker als Zola
+bestimmte ihn Richard Wagner, dessen überwiegend epische Elemente ihm
+deutlich und nah waren, stärker als die Rougon-Macquart-Reihe der "Ring
+der Nibelungen". So wurde ihm die Entartung zur Verinnerlichung: Vier
+Generationen schreiten den Weg aus klarer, derber Lebenstüchtigkeit in
+die allauflösende, geheimnisdunkle, "unendliche Melodie". Durch die
+naturalistische Darstellung bricht das Lebensgefühl der deutschen
+Romantik: "Sympathie mit dem Tode".</p>
+
+<p>Die vier Generationen schreiten den Weg nicht nur kraft einer
+naturgesetzlich berechenbaren Zersetzung ihres Blutes und ihrer Nerven,
+nicht nur Kern einer metaphysisch unbedingten Wesensgegebenheit, sie
+schreiten ihn auch, weil die alten bürgerlichen Lebensformen ihrer
+Umwelt sie nicht mehr zu halten und binden vermögen. Auch hier sind, im
+weiten epischen Sinne, "Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffes"
+(Novalis). Im "Verfall einer Familie" schildert der Epiker den Verfall
+einer Welt, der Welt des alten deutschen Bürgertums. Subjektiv
+"flüchtig und ohne daß ich an diesem Gegentyp sonderlich teilgenommen
+hätte", objektiv aber notwendig und bedeutsam geht dem Abstieg der
+Buddenbrooks der Aufstieg der Hagenströms parallel, um in der Übernahme
+des Buddenbrookschen Hauses durch Hagenströms zu gipfeln: Der Bürger
+wird abgelöst durch den Bourgeois, patriarchalische, sittliche,
+geheiligte Lebensformen, die über den Personen und Generationen
+standen, weichen der egoistischen, skrupellosen Willkür des
+Individuums, das "frei von der hemmenden Fessel der Tradition und der
+Pietät auf seinen eigenen Füßen stand" dem "alles Altmodische fremd"
+war.</p>
+
+<p>In vier Generationen umfaßt der Roman die Zeit von 1768, dem
+Gründungsjahr der Firma (unmittelbar von 1835, dem Jahr des
+Wohnungswechsels) bis nach 1880: die eigentliche Zeit des neuen
+deutschen Bürgertums, in Aufstieg, Glanz und Niedergang. Schon diese
+äußere Spannweite greift über jeden deutschen Roman hinaus, nicht
+minder die innere: der Beginn: rationalistische Behaglichkeit,
+sinnlich-geruhige Lebensfreude und Lebensbejahung, das runde, rosig
+überhauchte, wohlmeinende Gesicht, das schneeweiß gepuderte Haar, das
+leise angedeutete Zöpflein des alten Monsieur Johann Buddenbrook, ein
+Diner von traditioneller Feinheit und Fülle und epischer Dauer,
+Schinken von sagenhaftem Umfang, Puddings von mythischer Schichtung und
+Mischung, Weine von staubumsponnenem Alter, anakreontisch tändelnde
+Verse: "Venus Anadyoméne &mdash; Und Vulcani fleiß'ge Hand",
+heiter-graziöse Flötentöne und ein wenig schlüpfrige Verslein im
+Billardsaal. Und das Ende: der fünfzehnjährige, lebensunwillige,
+leidverlorene Hanno Buddenbrook mit den Augen des Wissenden, Einsamen,
+Heimatlosen, der so müde des Daseins ist, der schlafen möchte und
+nichts mehr wissen: "man sollte mich nur aufgeben; ich wäre so dankbar
+dafür", der aus der Sphäre epischer Bejahung und Gegenständlichkeit in
+verzweifeltem Aufbruch sich hinüberflüchtet in das weltflüchtige,
+weltverneinende, jenseitige Reich einer an Wagner geschulten Musik:
+Hanno Buddenbrook vor dem Flügel.</p>
+
+<p>Zwischen diesen äußersten Spannungsweiten dehnt sich die Handlung.
+In einer epischen Gegenständlichkeit, die keine Reflexion, keinen
+blassen Bericht zuläßt, die ganz sichtbare, farbige Gegenwart ist,
+folgen sich die Gestalten und Generationen als feste Glieder in der
+Kette des Geschlechts, der Firma, der bürgerlichen Tradition. Dieser
+Zusammenhang umfaßt ihre Weltanschauung. Ihr Unsterblichkeitsglaube ist
+der epische des Geschlechts: "daß er (Thomas Buddenbrook) in seinen
+Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte
+nicht allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein,
+seiner geschichtlichem Pietät übereingestimmt; es hatte ihn auch in
+seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung
+unterstützt und bekräftigt." Die Bibel dieses Glaubens ist die
+Familienchronik: die feierliche Darstellung des Werdens, Ringens und
+Wachsens dieser Folge, der Menschen, der Generation und des Ideals, dem
+sie unterstellt sind: der Firma.</p>
+
+<p>Wie es die Lebensaufgabe der Fürsten- und Königshäuser ist, ihren
+überkommenen Machtbezirk taten- und ehrenvoll zu behaupten und zu
+erweitern, so ist es die verantwortungsvolle Aufgabe des Bürgerhauses,
+die ererbte Firma zu immer weiterer Wirkung, immer reicherer Würde zu
+führen. Eine überpersönliche, sittliche Aufgabe! Ihr opfert man seine
+Ruhe, seine Liebe, sein Glück. "Wir sind nicht dafür geboren, was wir
+mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück
+halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende
+Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie
+wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen
+und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und, ohne
+nach rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen
+Überlieferung folgten."</p>
+
+<p>Die ersten beiden Generationen des Romans sind von diesem
+Lebensgefühl noch bluthaft durchdrungen; in den beiden letzten zersetzt
+es sich. Nur Toni Buddenbrook bleibt sein gläubiger Träger. Ihm opfert
+sie ihre Jugendliebe, um seinetwillen heiratet sie den erst
+widerwärtigen Grünlich, um seinetwillen trennt sie sich von ihm, um
+seinetwillen geht sie die neue We mit Permaneder ein. Und als alle
+männlichen Glieder der Familie gestorben, die Firma aufgelöst ist, da
+bleibt ihr Lebenstrost, einmal in der Woche die weiblichen Verwandten
+zu sich zu laden: "Und dann lesen wir in den Familienpapieren." Ihr
+Gegensatz ist ihr Bruder Christian. Ihn vermögen die alten Lebensformen
+nicht mehr zu halten, sie lassen ihn gehen, er läßt sich gehen: "Wie
+satt ich das alles habe, dies Taktgefühl und Feingefühl und
+Gleichgewicht, diese Haltung und Würde, wie sterbenssatt!" Die Firma,
+das überpersönliche Ideal der Familie bedingt ihn nicht. Er zergeht in
+"ängstlicher, eitler und neugieriger Beschäftigung mit sich selbst".
+Sein Interesse für Theater, Varieté und Zirkus ist das Interesse des
+formlos gewordenen Bürgers für "die Fahrenden" die dem
+mittelalterlichen Bürger als unehrlich galten.</p>
+
+<p>Schließlich heiratet er seine Kurtisane; den alten, bürgerlichen
+Formen entglitten, unfähig, sich neue zu bilden, fällt er seelisch und
+körperlich auseinander. Zwischen Toni und Christian steht Thomas
+Buddenbrook. Die Gefahren Christians, der Hang zur Formlosigkeit und
+Subjektivität, ist ihm nicht fremd. Er bekämpft und überwindet sie. Er
+wird zum Helden des sinkenden bürgerlichen Ideals. Aber die alten
+Lebensformen halten weniger ihn, als daß er sie hält. Der Held wird zum
+Schauspieler des Ideals; er repräsentiert es, er verkörpert es nicht.
+"Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in
+Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Innern,
+verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen
+Enschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine
+Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Dehors zu wahren,
+hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewußt,
+gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung, jede
+geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden
+Schauspielerei geworden war."</p>
+
+<p>Diesem Schauspieler des Ideals wird als Sohn Hanno Buddenbrook, der
+viel zu müde ist, um zu schauspielern, viel zu vornehm, um gleich
+seinem Onkel Christian zum "Fahrenden" zu werden. Wenn er zur Kunst
+flüchtet, so sucht er nicht das Formlose im Leben, sondern das Formlose
+jenseits des Lebens: die Musik, die vor und über aller Erscheinung ist,
+das Meer der unendlichen Melodie, das sein Tropfendasein erlösend
+zurücknimmt. Von den alten bürgerlichen Lebensformen verlassen, nach
+neuen nicht begierig, ein Bürger des Metaphysischen, das sich seinem
+Vater nur in der Lesung Schopenhauers einmal blendend enthüllt hat,
+gibt er leidvoll und heimwehmüde vor der Zeit das Leben preis.</p>
+
+<p>Wie diese &mdash; erst in Hanno ungehemmte &mdash; "Sympathie mit
+dem Tode" heimlich aus der bürgerlichen Diesseitigkeit der Generationen
+emporwächst, ist in weitgespannter, erschütternder Symbolik
+dargestellt. Die ersten, eigentlich epischen, lebensbejahenden
+Generationen verstehen den Tod nicht: "Kurios! Kurios!" murmelt der
+alte Monsieur Buddenbrook am Sterbebett seiner Frau mit leisem,
+erstauntem Kopfschütteln; mit einem letzten "Kurios" kehrt er selber
+sich sterbend zur Wand. "Mit Furcht und einem offenkundigen, naiven
+Haß" beobachtet die Konsulin Buddenbrook, "die ehemalige Weltdame, mit
+ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und zum
+Leben überhaupt" die Fortschritte ihrer Krankheit; sie kämpft mit dem
+Tod in langer, verzweifelter Kraft. Thomas Buddenbrook aber, der Held
+und Schauspieler des bürgerlichen Ideals, ist längst so vom Tode
+unterhöhlt, daß ein Zahngeschwür genügt, um seine krampfhafte
+Lebensbehauptung niederzureißen. Mitten auf der Straße wirft es ihn um;
+der so lang und gewissenhaft Würde, Haltung, Form verteidigt, liegt im
+Kot und Schneewasser des Fahrdamms. "Seine Hände, in den weißen
+Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze." Hanno aber
+kämpft nicht mehr gegen den Tod; hemmungslos ersehnt und ruft er ihn
+als den Freund und Erlöser.</p>
+
+<p>Mit ähnlicher, weitgespannter Symbolik, mit gleicher Fülle und Dauer
+der inneren Beziehungen baut sich alles auf in diesem Roman. Von den
+alten Epen ist das Leitmotiv übernommen und über Richard Wagner her
+musikalisch verinnerlicht, symbolisch vertieft. Gegenüber der lockeren
+Form des "Wilhelm Meister" und des "Grünen Heinrich" ist hier an
+Geschlossenheit des epischen Aufbaus in Deutschland ein Höchstes
+erreicht.</p>
+
+<p>Die "Buddenbrooks" schreibt Thomas Mann, dreiundzwanzig bis
+sechsundzwanzig Jahre alt, in Italien und München, so wie Gottfried
+Keller seinen "Grünen Heinrich" in Berlin niederschrieb. Nicht er
+allein schuf diesen Roman; durch ihn schuf und gestaltete sich sein
+Geschlecht, sein Heimatstaat Lübeck, wie der Berner Stadt-Staat durch
+Jeremias Gotthelf, Zürich durch Gottfried Keller, das alte Berlin durch
+Theodor Fontane sich Gestalt erdrang. Aber Gottfried Keller kehrte aus
+Berlin nach Zürich heim, wurde Staatsschreiber und Führer, nahm in
+Anteil und Liebe neue Lebensbilder und -schicksale seines Volkes auf,
+Grund und Gehalt zu neuen Schöpfungen. Was blieb Thomas Mann, dem
+Epiker, der seine eigene Welt zu Grabe getragen, der ihr das letzte
+Zeichen seiner Liebe im Riesendenkmal seiner Dichtung geschaffen hatte?
+Ein Lyriker hat die Natur, ein Dramatiker. die Idee, die seiner Kunst
+Boden und Wachstum geben. Ein Epiker ist undenkbar ohne Volks- und
+Heimatzusammenhang. Im Weh verfrühter Hellsicht stand der Einsame,
+Zurückgebliebene, ein König ohne Land, ein Bildner ohne Stoff. Sollte
+er zum bloßen Zuschauer, Beobachter, Kritiker, zum weiteren Zersetzer
+des Lebens werden? Sollte er das Leben verachten, das ihm nicht gemäß
+war, und hochmütig sich in das Reich einer rein formalen Kunst, einer
+l'art pour l'art, zurückziehen? Das Europäisch-Intellektuelle seine
+Wesens, das Romanische seines Blutes drängte zu diesem Entscheid. Der
+Zwiespalt wurde zur Dichtung: In den "Buddenbrooks" hatte Thomas Mann
+sich Rechenschaft über das Problem seines Lebens gegeben, im "Tonio
+Kröger" gab er sich Rechenschaft über seine Kunst.</p>
+
+<p>Und er blieb dem Leben treu, obwohl es ihn allein gelassen hatte.
+Über die Qual der Einsamkeit, den Hochmut der Form und Erkenntnis
+hinweg bekannte, ja predigte er "die Bürgerliebe zum Menschlichen,
+Lebendigen und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt
+aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von
+der geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen reden
+könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle
+sei." Er verspottete und geißelte die Gefahren des Literaten- und
+Ästhetentums &mdash; seine Gefahren! &mdash; im Schriftsteller Spinell.
+In Leidverwandtschaft kehrte er sich den Enterbten des Lebens zu,
+sprach er sein Leid in ihrem Leid, im Weltleid aus. Wie in den
+"Lamentationen" Heines, den das Leben verwiesen und in die
+Matratzengruft geworfen hatte, so ziehen die Verfolgten und Verratenen
+des Lebens &mdash; Tobias Mindernickel, der kleine Herr Friedemann, der
+Bajazzo, Rechtsanwalt Jacoby, Friedrich Schiller, Baronin Anna, Lobgott
+Piepsam, Van der Qualen, Hieronymus &mdash; mit friedlosen, sehenden
+Augen an uns vorüber.</p>
+
+<p>Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein
+Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und
+Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine junge
+Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden, nicht in
+Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "Königliche Hoheit" zeichnet die
+Erlösung durch die Liebe von einem formalen, repräsentativen Dasein zur
+Tat und Gemeinschaft, zum "strengen Glück". Ein Kunst- und Märchenspiel
+von romanischer Klarheit, Bewußtheit, Überlegenheit der Form, von
+deutscher Innerlichkeit, Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des
+Gehalts. Der "Gesang vom Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines
+Töchterchens, Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast
+ohne ästhetische Form, nur als Ausdruck der formgewordenes,
+harmonischen Persönlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht
+in Bauschan, dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des
+Lebens und der Liebe ein.</p>
+
+<p>Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen
+Zugehörigkeit und Entschlossenheit, dieser Wärme, Liebe und Güte formt
+er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die
+zersetzenden Kräfte in sich und der Umwelt: an die auflösende
+Erkenntnis, die Relativierung der Werte und &mdash; tiefer und
+tragischer im Konflikt seines Helden &mdash; an die leere Schönheit,
+die bloße Form: "Der tiefe Entschluß des Meister gewordenen Manns, das
+Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber
+hinwegzugehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die
+Leidenschaft im geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen
+geeignet ist, liegt hinter dem Dichter Aschenbach, dem Helden der
+Meisternovelle 'Der Tod in Venedig'." Im Kampfe zwischen Geist und Kunst
+hat er leidenschaftlich für die Kunst gefochten. Um der Kunst willen
+hat er dem Leben entsagt, an der Einsamkeit seines Schreibtisches hat
+er gegen seinen schwächlichen Körper in zähem, unermüdlichem Ringen die
+reine Form seiner Werke erkämpft, die ihm ebenso ethische wie
+ästhetische Aufgabe war. Aber hinter dieser Form, die den Spannungen
+seines Willens und Bewußtseins abgerungen, die nicht organischen
+Lebens- und Liebestiefen entwachsen ist, droht ständig die Gefahr der
+Abspannung und Entfesselung, der Zügellosigkeit und Vernichtung. Auf
+der Höhe seines Ruhmes verführt und überwältigt sie ihn. Sie lockt ihn
+nach den Gestaden Venedigs, wo das das Leben Schein und die Kunst
+Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm die Liebe zu Tadzio, dem schönen
+Polenknaben, eine zuchtlose Ausschweifung seiner künstlerischen und
+sinnlichen Phantasie, sie sich nicht an der Wirklichkeit beruhigen,
+berichtigen, gestalten kann noch will, eine weglose Liebe zur reinen
+Form, die zur Unfruchtbarkeit verdammt ist, die nicht zeugen kann im
+Geliebten, die widernatürlich und tödlich ist. In tragischer
+Steigerung, in unentwirrbarer Mischung des Heiligen und Verworfenen,
+jagt sie "den Meister, den würdig gewordenen Künstler", durch alle
+Leiden und Leidenschaften, alle Verzückung und Erniedrigung zur
+"Unzucht und Raserei des Untergangs". Nie sind die eingeborenen
+Gefahren der Kunst würdiger und erschütternder gestaltet, die Gefahren
+der Schönheit, die dem Geist wie den Sinnen verknüpft ist, die in jedem
+von ihnen zur Ausschweifung neigt, sofern nicht beide in der höheren
+Einheit der Seele sich organisch finden und binden.</p>
+
+<p>Dann kam der Krieg. Und über alle militärischen und politischen
+Kämpfe erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche Auseinandersetzung
+zweier Weltanschauungen, jener Gegensätze, die er in sich selber
+erlitten und entschieden hatte: das Germanische und das Romanische, das
+Deutsch-Dichterische und das Europäisch-Intellektuelle, Kunst und
+Erkenntnis, Gehalt und Form, Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen
+Bruder war der Teil seines Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt
+hatte, Wille und Angriff geworden. Gegen seinen Bruder mußte er diesen
+Kampf noch einmal aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden.
+Alle großen Epiker waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im
+ästhetischen, auch im ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher:
+Wolfram von Eschenbach im "Parzival", Grimmelshausen im
+"Simplizissimus", Goethe im "Wilhelm Meister" Gottfried Keller im
+"Grünen Heinrich" und "Martin Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem
+seiner schollentreuen Romane. Es brauchte des französischen Vorbildes,
+Emil Zolas, nicht, das Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das
+Bild, das sie formen wollten und mußten aus dem Rohstoff ihres Volker:
+das entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein
+soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, französischen,
+rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Thomas
+Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er gestaltete und
+verkündete den metaphysischen, deutschen und russischen, religiösen, ja
+mystischen, pessimistischen Menschen des 19. Jahrhunderts. Dem
+Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs des Großen
+entgegengestellt, den geschwätzigen, optimistischen, rationalistischen
+"Vier Evangelien" des Romanciers die Dämonie und herrische Pflichttreue
+des gottgeschlagenen und gotterwählten Königs, der sich verzehrte in
+Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, daß von ihm nichts übrigblieb
+wie ein abgemergelter, verschrumpfter Kinderleib, den ein Diener mit
+einem seiner Hemden bekleiden mußte, da "man kein heiles, sauberes Hemd
+in seinen Schubladen fand".</p>
+
+<p>Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung
+ersehnt und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kräfte, die imstande
+sind, "die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit
+und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und
+Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt" zu
+überwinden, "dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem
+Wiederaufbau seelischer Form zu dienen" und so dem heimatlosen Epiker,
+seinem Leben wie seiner Kunst, eine neue Welt zu schaffen.</p>
+
+<p>Heinrich Mann aber, Thomas Manns Gefahr und Gegensatz, ist nicht nur
+in und durch Thomas Mann überwunden, ist politisch an der Entwicklung
+der Zeit, künstlerisch an seiner zersetzenden Subjektivität und
+Lieblosigkeit zergangen. Thomas Mann hatte sein Geschlecht und Volk
+noch im Verfall umfaßt, hatte am Ende der Reihe, ein Zugehöriger und
+doch Außenstehender, in Liebe und Ironie zugleich ihm Gestalt gegeben.
+In Sehnsucht hatte jedes seiner Werke vom Wiederaufbau, der neuen
+Lebensform und Lebensgemeinschaft gehandelt. Im tiefsten Sinn war ihm,
+dem wahren Epiker, Richard Dehmels Spruch Lebensgefühl gewesen: "Alles
+Leid ist Einsamkeit &mdash; alles Glück Gemeinsamkeit." Heinrich Mann
+hatte sich stets wichtiger genommen als sein Geschlecht und sein Volk.
+Früh und fremd hatte er Vaterstadt und Vaterland den Rücken gekehrt.
+Der romanische Tropfen in seinem Blute trieb ihn nach Italien, das
+Thomas erst sein tiefes Deutschtum deutlich machte. Eine Zeitlang
+glaubte Heinrich Mann, dort "zu Hause zu sein. Aber ich war es auch
+dort nicht; und seit ich dies spürte, begann ich etwas zu können. Das
+Alleinstehen zwischen zwei Rassen stärkt den Schwachen; es macht ihn
+rücksichtslos, schwer beeinflußbar, versessen darauf, sich selbst eine
+kleine Welt und auch die Heimat hinzubauen, die er sonst nicht fände.
+Da nirgends Volksverwandte sind, entzieht man sich achselzuckend der
+üblichen Kontrolle. Da man nirgends eine Öffentlichkeit weiß mit völlig
+gleichen Instinkten, gelangt man dahin, sein Wirkungsbedürfnis
+einzuengen, es an einem einzigen auszulassen, wodurch es gewinnt an
+Heftigkeit. Man geht grelle Wege, legt das Viehische neben das
+Verträumte, Enthusiasmen neben Satiren, koppelt Zärtlichkeit an
+Menschenfeindschaft. Nicht der Kitzel der andern ist das Ziel: wo wären
+denn andere! Sondern man schafft Sensationen für einen einzigen. Man
+ist darauf aus, das eigene Erleben reicher zu fühlen, die eigene
+Einsamkeit gewürzter zu schmecken." Welch treffendes Selbstbildnis!
+Welch Zerrbild eines Epikers! Ohne Wurzelboden, ohne Zusammenhang, ohne
+Liebe, im Selbstgenuß hochmütiger, überreizter Sensationen,
+zersetzender Erkenntnisse, ehrgeiziger Spannungen. Ihm wird die Kunst
+zur "widernatürlichen Ausschweifung". "Pippo Spano", das Gegenbild zum
+"Tonio Kröger", bekennt in leidender zuchtloser Lässigkeit: "Sie (die
+Kunst) höhlt ihr Opfer so aus, daß es unfähig bleibt auf immer zu einem
+echten Gefühl, zu einer redlichen Hingabe. Bedenke, daß mir die Welt
+nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen. Alles, was du siehst und
+genießt: mir wäre nicht an ihrem Genuß gelegen, nur an der Phrase, die
+ihn spiegelt. Jeder goldene Abend, jeder weinende Freund, alle meine
+Gefühle und noch der Schmerz darüber, daß sie so verderbt sind &mdash;
+es ist Stoff zu Worten." Das ganze Leben und Schaffen Heinrich Manns
+ist ästhetischer Selbstgenuß statt ethischer Selbstvollendung oder
+-überwindung.</p>
+
+<p>Welche epischen Werke können aus solcher Willkür wachsen? Das
+Hauptwerk "Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy"
+(1902-03) weiß der Wurzel- und Heimatlosigkeit seines Dichters keine
+andere Heldin als die Balkanprinzessin der Operetten. Macht, Kunst und
+Liebe werden &mdash; in reinlichem Nacheinander! &mdash; ihr
+Lebensinhalt. Der Balkan, Venedig, Neapel sind die billigen Kulissen
+dieser Stationen. Da Heinrich Mann nicht seine Literatur aus dem Leben,
+sondern sein Leben aus der Literatur empfängt, sind alle Figuren und
+Leidenschaften aus zweiter Hand, ästhetische, durchsichtige,
+monumentalisierte Schemen, nicht unergründliche, blut- und seelenvolle
+Gestalten, nur der papiernen Phantasie von Literaten und Großstädtern
+überzeugend. Was ihnen an organischem Leben fehlt, ersetzen sie durch
+die Überreiztheit ihrer Gefühle und Gebärden, durch Rausch und Hysterie
+&mdash; eine krampfige Nachfolge d'Annunzios.</p>
+
+<p>Neben solchen Orgien einer überreizten Literatenphantasie stehen die
+satirischen Romane: "Im Schlaraffenland", "Professor Unrat", "Der
+Untertan" usw. Sie sind Emil Zola näher, zumal ihr bester, "Im
+Schlaraffenland" &mdash; eine Schilderung des zersetzten Berlin W
+&mdash; aber ohne Zolas soziales Pathos. Auch die Satire bedarf der
+Liebe, um zeugen und gebären zu können, der Liebe zur armen,
+irregehenden Menschheit oder zum neuen, reineren Ideal. "Ich glaube
+nicht" &mdash; sagt Thomas Mann in den "Betrachtungen" &mdash; "daß
+ohne Sympathie überhaupt Gestalt werden könne; die bloße Negation gibt
+flächige Karikatur." Auch hier scheint die Literatur, nicht das Leben
+&mdash; die Witzblätter scheinen Heinrich Mann die Gestalten und
+Vorgänge zum "Professor Unrat" und "Untertan" gegeben zu haben: so
+flächig und billig sind sie gezeichnet. Jede lebendige Gestalt muß
+Monate unter dem Herzen getragen, muß mit Blut genährt sein.</p>
+
+<p>Nur e i n Roman ist Heinrich Mann gelungen, dem Wurzelboden und
+Atmosphäre eigen: "Die kleine Stadt". Es ist bedeutsam, daß er in
+Italien spielt: "Eine Zeitlang glaubte ich (dort) zu Hause zu sein."
+Einmal hat Heinrich Mann einen erlebten Gehalt und mit ihm eigene Form
+gefunden: dem immer bewegten Völkchen des Südens, den flackernden
+Leidenschaften entspricht ein bewegter, farbiger, flirrender
+Impressionismus des Stils. Diese italienischen Kleinbürger, die sich
+heißblütig und beweglich an ihren Worten und Gebärden berauschen, alle
+ein wenig Künstler, ein wenig Schauspieler, ein wenig d'Annunzio, sind
+in ihrer Menschlichkeit und Kindlichkeit so liebenswürdig erlebt und
+gestaltet, daß sie und ihr Schicksal zu menschlich-symbolischer
+Bedeutung wachsen. Ihre Instinkte glimmen unter der Asche der täglichen
+Eintönigkeit. Da zieht eine Schauspielertruppe in die Stadt und weht
+sie nach allen Seiten zu Flammen auf. Sinnlichkeit und Liebe,
+Eifersucht und Ehrgeiz, vergessene und noch schlummernde Leidenschaften
+wirbeln knisternd hoch. Der Kampf zwischen Priester und Advokat,
+Reaktion und Fortschritt teilt und erregt die Massen. Die Glocken der
+Kirche und die Melodien der Oper streiten miteinander. Doch aus dem
+Feuer der Leiden und Leidenschaften glüht die Blume der Versöhnung, der
+Verbrüderung, der Liebe zu Volk und Menschheit auf: "Was sind wir!"
+&mdash; fragt der Advokat beim Abzug der Schauspieler. &mdash; "Eine
+kleine Stadt. Was haben uns jene gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch
+&mdash; wir haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein
+Stück vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit." Für kurze
+Stunden, für eilende Seiten durchzuckt Heinrich Mann, den heimatlosen
+Literaten, das Wesen und Glück des epischen Dichters: "Was macht diese
+Dinge groß?" "Daß ein Volk sie mitfühlt, ein Volk! das wir lieben!"
+"Ich habe ein Volk gesehen! Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein
+Volk höre uns! Wir wecken seine Seele, wir... Und es gibt sie uns!"</p>
+
+<p>Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums &mdash; eines
+patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums &mdash; in der
+Grundstimmung verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf
+von Keyserling (1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen,
+so hat Kurland, Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am
+längsten und reinsten behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen
+Kriegsschicksal der baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am
+Ende einer Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München
+erlebt der Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet,
+vom Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend
+wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische,
+gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die
+Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen,
+erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken,
+keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen
+Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser",
+"Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu
+einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer
+Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden,
+melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes
+verdankt.</p>
+
+<p>Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die
+naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das
+Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den
+Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze
+hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun
+vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und
+Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und
+-gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht
+geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ",
+sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren
+kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl
+dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner
+Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht
+nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht
+um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst
+die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt
+zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser
+Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen
+kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter
+zurück: "...Unsere Gesetze hier &mdash;" "Glauben Sie an diese
+Gesetze?" "Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie
+Thomas Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten
+Ideale.</p>
+
+<p>Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer
+unterstellen sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und
+äußeren Leben die Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in
+jede Tagesstunde bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein
+Drama zu passen."</p>
+
+<p>Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die
+Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den
+Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der
+Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine
+berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und
+wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen
+Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die
+Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt
+durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum
+Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte,
+um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle
+Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um
+sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir
+sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt."</p>
+
+<p>Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der
+bäuerlichen Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam
+gestaltet durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter
+Roseggers "Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist
+durch die wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren
+Zersetzung, die da und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie
+"Die Fahnenweihe", 1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit
+der Natur, der Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene
+Formenkräfte, die das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus
+aufbauen und erneuern, wie sie Knut Hamsun im größten modernen
+Bauernroman, einem wahrhaft altepischen Werke, dargestellt hat, im
+"Segen der Erde". Unseren Bauerndichtern ist die Strenge und Größe
+dieses Zusammenhanges kaum deutlich geworden. Ganghofer ist
+oberflächlich und sentimental, auch Rosegger ist in aller
+Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu unproblematisch im tieferen
+Sinne &mdash; nur die "Schriften des Waldschulmeisters" und "Des
+Gottsucher" ragen hervor &mdash;, Gustav Frenssens einst so berühmte
+Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll landschaftlicher
+Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des liberalen
+protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in der
+Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der Gesamtdarstellung
+lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne Einheit der
+inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas Bauernromane "Andreas
+Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber naturalistisch gebunden.
+Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur grübelnden Mystik seiner Bauern
+die natürliche Fülle und plastische Kraft; er ist &mdash; wie alle
+Romane dieses Ringenden &mdash; mehr reflektiert als gewachsen.</p>
+
+<p>Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die
+Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen
+Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben
+wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads
+Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers
+Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist
+in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums
+zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal"
+ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff
+und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung
+des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen.</p>
+
+<p>Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman
+entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen
+Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der
+Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch
+hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern.
+Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen
+von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung
+stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu
+können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie
+"Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die
+reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus
+der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer
+"Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit
+ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll
+tragischer Schönheit ist.</p>
+
+<p>Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen
+Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas.
+Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen
+sind ihr Feld. Die Eiffellandschaft mit ihren wortkargen, düsteren
+Menschen, die &mdash; einmal geweckt in ihren Leidenschaften &mdash;
+furchtbar ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das
+Weiberdorf", "Vom Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer
+Beobachtung und sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme
+von außen, mehr eine geschickte Schriftstellerin als formende
+Künstlerin.</p>
+
+<p>Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus
+führen die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches
+Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und
+durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche,
+sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und
+Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl
+alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen
+Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem
+bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt
+es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des
+Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!"
+singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche
+Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist
+die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben,"
+singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.</p>
+
+<p>Eine romantische Natur &mdash; so steht Ricarda Huch in Reflexion
+und Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik
+hätte sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter
+Nietzsches, Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in
+metaphysischer Glut zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück.
+Das Leben wird ihr zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind
+Kinder der Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und
+Gegenbild: Kinder des Lebens.</p>
+
+<p>Metaphysisch klingt &mdash; nach den noch knospenhaften
+"Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren" &mdash; die Musik von der
+Schönheit und Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der
+Triumphgasse", kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone".
+Über diese metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die
+historischen Romane zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren,
+Festbeharrenden. "Die Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier
+Italiens zur herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol
+des Lebens, das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt.
+Wie "ein tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der
+Garibaldi-Romane klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri",
+des dem Tode verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In
+jenen hatte noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil
+gewechselt, hier durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen.</p>
+
+<p>Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch
+aus dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der
+drei Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman,
+sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste
+Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen
+Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches,
+Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches,
+Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in
+gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen
+auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel,
+der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber
+scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die
+lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er
+erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so
+fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?"</p>
+
+<p>Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der
+Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen.
+&mdash;</p>
+
+<p>In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die
+zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker
+geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im
+"Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die
+Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen,
+Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts
+dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater
+und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg
+erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat,
+das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer
+Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft
+dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen
+Künftigen.</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; &mdash; Gegenüber dem industrialisierten, von
+Großstädten zersetzten Norden Deutschlands ist der Süden reicher an
+Unmittelbarkeit, Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und
+Hermann Hesse wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866)
+hat sich Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und
+Farmer vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und
+Tatkraft hat er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid
+und Krankheit niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit,
+Liebe und Güte blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die
+Wirklichkeit in festen, sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem
+überirdischen Schimmer seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen
+Schwaben, der das Schicksal überlisten will, der &mdash; da ihm die
+eigene Frau keinen Erben schenkt &mdash; sich in schlauer Ausflucht an
+die Magd heranmacht. Statt des Buben kommt aber ein Mädel, und Spott
+und Lächerlichkeit umschwirren ihn. Gekränkt in seiner
+Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit der Magd und dem Kind
+heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler genarrt, geprellt,
+geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er kleinlaut und
+zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne Staunen, ohne
+Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt, ihm das Kind
+abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm widmet: eine
+reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll Freiheit und
+Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung dreier junger
+Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und Verhältnisse sich in
+tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und Wesensform selber schaffen und
+sich im Wirkungskreis der Menschheit einen Platz erobern. Im "Nackten
+Mann" geht er in die Vergangenheit seiner Heimat zurück, ohne die
+Bedenken gegen den historischen Roman zu überwinden. In "Freund Hein"
+und im "Spiegel" aber kommt hinter der herben Gegenständlichkeit seiner
+Welt die tiefe Musik seiner Seele zum klingenden Ausdruck. In "Freund
+Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in der Welt seiner musikalischen
+Berufung lebt, an den unnachsichtigen Forderungen einer wesensfremden
+Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie eine zarte Kammermusik
+Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf, eine Lebensmusik von
+ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit.</p>
+
+<p>Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto
+weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation
+zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen
+Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp,
+der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der
+Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen
+Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts
+geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts
+als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und
+in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen
+"paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung"
+in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück.
+In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den
+Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige
+stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie
+lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen
+teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen,
+daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und
+Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind."</p>
+
+<p>So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und
+Mensch als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und
+Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen
+Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und
+"Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner
+Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden
+Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die
+Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen,
+daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln
+leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der
+sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie
+sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es."
+Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges
+keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas
+wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher
+von ihnen starb an meiner Seite &mdash; denen war gefühlhaft die
+Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an
+die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele
+waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht
+dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in
+sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben
+wollte, um neu geboren werden zu können."</p>
+
+
+
+
+<h3>DAS DRAMA</h3>
+
+<p>Das Wort Drama bedeutet Handlung, insonderheit Kulthandlung. Denn
+das Drama entwickelte sich im alten Griechenland wie in den
+christlichen Staaten Europas aus den Tiefen der religiösen
+Weltanschauung und des Gottesdienstes. Sein letzter Grund ist die leid-
+und geheimnisvolle Zweiheit, in die alles Leben zerspalten ist, in der
+es fremd, kämpfend und doch sehnsüchtig sich gegenübersteht: der
+Gegensatz von Gott und Welt, Geist und Natur, Idee und Sinnlichkeit,
+All und Ich. Nur ein Gott, der vom Himmel herniedersteigt, der die Qual
+und Zerrissenheit des Endlichen selber auf sich nimmt, Dionysos,
+Christus, vermag in seinem Gottmenschentum diese Gegensätze zu einen
+und zu lösen. Sein Leiden und sein Triumph wird zum Inhalt der ersten
+Dramen: aus den dionysischen Dithyramben wächst die griechische
+Tragödie, aus der Liturgie der katholischen Kirche das Weihnachts-,
+Passions- und Osterspiel des Mittelalters. Mit der Renaissance wird an
+Stelle der kirchlichen die philosophische Weltanschauung Unter- und
+Hintergrund des europäischen Dramas. Wie die geheimnisvolle Zweiheit
+und Gegensätzlichkeit des Lebens in den großen Systemen der Philosophen
+sich darstellt und deutet, wie bald dieser, bald jener der beiden
+Lebensgegensätze entwertet, dem anderen untergeordnet, so die Einheit
+erzwungen wird, dann aber wieder beide zur vollen Macht erstarken und
+in unausweichlichem, unerbittlichem Kampf sich gegenüberstehen: das
+begleitet in unbewußter und bewußter Verbundenheit die
+ideelle Entwicklung des deutschen Dramas. Lessings Dramen wachsen
+aus Lebensgefühl und -deutung des Rationalismus, Schillers Dramen aus
+Kant, Kleist teilt den Gegensatz der deutschen Gefühlsphilosophie gegen
+Kant, um Hebbel braut die Atmosphäre Hegels, Richard Wagner findet sich
+in Schopenhauer. Dann folgt der Zusammenbruch der großen
+philosophischen Systeme, der Vormarsch der naturwissenschaftlichen,
+materialistischen Weltanschauung in Deutschland. Über die Nachfahren
+Schillers, über die Nachahmer des französischen Gesellschaftsstückes
+hebt sich seit 1888 Gerhart Hauptmann (geb. 1862) mit einem Drama
+neuen, eignen Stils. Aus welchen weltanschaulichen Zusammenhängen,
+welchem Lebensgefühl war es gewachsen?</p>
+
+<p>Als 1885 die süßlich-leere Epigonenzeit unserer Dichtung durch die
+literarische Revolution der Jungen abgelöst wurde, glaubten diese im
+"Naturalismus" eine neue Lebens- und Kunstanschauung gefunden zu haben.
+Wilhelm Scherer verkündete: "Die Weltanschauungen sind in Mißkredit
+gekommen. ...Wir fragen: wo sind die Tatsachen? ...Wir verlangen
+Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die
+wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen
+Maßstab haben wir von den Naturwissenschaften gelernt... Dieselbe
+Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe
+Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf;
+sie gestaltet die Wissenschaften um; sie drückt der Poesie ihren
+Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem
+Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind." Arno Holz und
+Johannes Schlaf glaubten dieser Weltanschauung, im "konsequenten
+Naturalismus" die entsprechende Kunstanschauung erobert zu haben: "Die
+Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach
+Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren
+Handhabung." In den drei Skizzen des "Papa Hamlet", dem Drama "Die
+Familie Selicke" schufen sie ihrer Lehre die Leistung. "Papa Hamlet"
+erschien unter dem Decknamen "Bjarne P. Holmsen". Ihm hat Gerhart
+Hauptmann sein erstes Drama "Vor Sonnenaufgang" (1889) zugeeignet, als
+"dem konsequentesten Naturalisten, in freudiger Anerkennung der durch
+sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung".</p>
+
+<p>In Wirklichkeit war diese Anregung, war der ganze konsequente
+Naturalismus weder für Gerhart Hauptmann, noch für irgendeinen Dichter
+von "entscheidender" Bedeutung; seine Lebens- wie seine Kunstanschauung
+war unhaltbar. Von einer rein beschreibenden Wissenschaft, wie der
+Naturwissenschaft, kann man niemals zu einer Weltanschauung, zur Sinn-
+und Wertsetzung, vom Sein niemals zum Sollen vordringen. Und
+ebensowenig ist ein bloßes Abkonterfeien des Lebens durch eine
+naturalistische Kunst möglich; schon der Erkenntnisprozeß ist &mdash;
+hat Kant dargetan &mdash; kein passives Abbilden, sondern ein Formen
+der Wirklichkeit; alle Kunst ist die Umsetzung der natürlichen in eine
+von Geist und Gefühl des Künstlers stilisierte Welt.</p>
+
+<p>Mehr als die Formenwelt des Naturalismus, als seine unhaltbare
+Kunstanschauung haben Ansätze zu einer Lebensanschauung aus der
+Stoffwelt des Naturalismus Gerhart Hauptmann den Weg zu sich selber
+frei gemacht. Dem Naturalismus der Form hatte sich fast überall der
+Sozialismus des Stoffs verbunden und in ihm die Keime eines neuen
+Gehalts: des sozialen Mitgefühls. Zu den ästhetischen waren ethische
+Tendenzen getreten. Die Entwicklung der Industrie und der Großstadt,
+die Einflüsse Zolas, Ibsens, Tolstois hatte sie geweckt. Von der
+erstarrten und zersetzten Ideen- und Formenwelt des dritten Standes,
+des Bürgertums, hatten sich die jungen Dichter in sozialem Mitleid zu
+der ringenden formbedürftigen des vierten Standes, den Arbeitern,
+gewandt. Und hier war der Weg, der Hauptmann in seine Tiefen führte.</p>
+
+<p>Schon seine erste veröffentlichte Dichtung, das Epos
+"Promethidenlos" (1885), hatte sein soziales Verantwortungs- und
+Mitgefühl bekundet. Ergriffen rief sie den Armen und Elenden zu: "So
+laßt in eurem Schmutz mich hocken &mdash; Laßt mich mit euch, mit euch
+im Elend sein." Und ein Gedicht von 1888 sprach die heilige
+Leidverbundenheit des Künstlers und Menschen aus:</p>
+
+<blockquote> Ich bin ein Sänger jenes düstren Tales,</blockquote>
+<blockquote> Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet. &mdash; &mdash;
+&mdash;</blockquote>
+<blockquote> Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,</blockquote>
+<blockquote> Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht
+beneiden!</blockquote>
+<blockquote> Auf mich zuerst trifft jeder eurer Pfeile.</blockquote>
+
+<p>Daß diese Leidverbundenheit nicht nur sozialen, daß sie größeren:
+metaphysischen Tiefen entwuchs, wurde der Urgrund des Dramatikers.
+Obersalzbrunn, Hauptmanns Geburtsort, lag unweit der pietistischen
+Urgemeinden Gnadenfrei und Herrnhut. Ihre christliche Innerlichkeit war
+ihm daheim und mehr noch im Hause seines Oheims zu Striegau, das den
+Sechzehnjährigen aufgenommen, zum Lebensgefühl geworden. In ihr fühlte
+er sich dem Rationalismus und Materialismus, der leeren Kultur des
+technischen Zeitalters fremd. Aus der Schein- und Außenwelt zog es ihn
+zur wahren, inneren Welt: zur Welt der Seele. Die aber offenbarte sich
+ihm nicht bei den Satten, Besitzenden, Hochmütig-Klügelnden, sondern
+bei den Armen im Geiste, den Ringenden und Leidenden. In ihnen glühte
+der ewige Funke, und sie eroberten und behaupteten ihn im Sturm und
+Streit ihres Schicksals, nicht mindere Helden in diesem metaphysischen
+Kampf als die Heroen der großen Tragödie. Ihnen fühlte sich der
+Dramatiker Hauptmann verbunden, nicht sozial nur, wie der Epiker Zola
+seinen Gestalten, sondern metaphysisch. In ihrem Leid stellte er das
+Weltleid, in ihrem Kampf den Zwiespalt alles Lebens dar.</p>
+
+<p>Die Dramen, in denen so das Stoffliche des Naturalismus und
+Sozialismus überwunden, in denen diese Weltanschauung Gestalt geworden
+ist, sind "Die Weber" (1892), "Hanneles Himmelfahrt" (1893), "Fuhrmann
+Henschel" (1898), "Rose Bernd" (1903).</p>
+
+<p>Der Aufstand der Weber im Jahre 1844 war Hauptmann aus Erzählungen
+des eigenen Großvaters, der noch Weber gewesen, vertraut. Ein Buch
+Alfred Zimmermanns "Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien"
+(1885) gab den persönlichen Einzelheiten geschichtlichen Zusammenhang.
+Den Antrieb gab die soziale Erregung der Zeit. Aber der Kampf der Weber
+wurde Hauptmann zum erschütternden Abbild alles Menschheitskampfes.</p>
+
+<p>Wie hier die Fabrikanten und die Kreaturen der Fabrikanten bis zum
+jüngsten Lehrling den hungernden, verhungernden Webern entgegenstehen,
+hartherzig, hohnlachend, während die abgemergelten Kinder ohnmächtig zu
+Boden schlagen, während die entkräfteten Greise verwirrt werden und in
+Zungen reden, das bedeutet nicht mehr einen sozialen Zwiespalt, der mit
+Geld und Brot geschlichtet werden könnte, es bedeutet die metaphysische
+Einsamkeit alles Endlichen, das brückenlose Nichtverstehen und
+Mißverstehen von Mensch zu Mensch. Und wenn nach not- und arbeitdumpfem
+Leben, am Rande des Grabes die alten Weber in weinendem, verzweifeltem
+Ingrimm ihre Knochenarme emporrecken: "Das muß anderscher wer'n, mir
+leiden's ni mehr!", so ist das nicht der Kampfruf sozialer Rebellion,
+so ist das die Anklage Karl Moors: "Menschen haben Menschheit vor mir
+verborgen, da ich an Menschheit appellierte," so ist das der tragische
+Aufschrei der Rütliszene:</p>
+
+<blockquote> Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht:</blockquote>
+<blockquote> Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann
+finden,</blockquote>
+<blockquote> Wenn unerträglich wird die Last, greift er</blockquote>
+<blockquote> Hinauf getrosten Mutes in den Himmel</blockquote>
+<blockquote> Und holt herunter seine ewigen Rechte...</blockquote>
+<blockquote> Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,</blockquote>
+<blockquote> Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht...</blockquote>
+<blockquote> Wie stehn für unsre Weiber, unsre Kinder!</blockquote>
+
+<p>Den Unterdrückten Schillers wird wenigstens das Wort zur Befreiung,
+der Gedanke zur Erlösung. Hin ist die Kreatur in der ganzen Dumpfheit
+und Gebundenheit des Endlichen. Und wenn sie anmarschieren gegen ihre
+Peiniger: "Am liebsten wär ich abgestiegen und hätte glei jed'm a
+Pulverle gegeben" &mdash; erzählt Chirurgus Schmidt, der vorüberfuhr
+&mdash; "Da trottelt eener hinter'm andern her wie's graue Elend und
+verfiehren ein Gesinge, daß een' fermlich a Magen umwend't"; und wenn
+der greise Baumert als Rebell erscheint, von den paar Tropfen
+ungewohnten Alkohols unsicher, einen geschlachteten Hahn als höchste
+Siegestrophäe mitführend, und die Arme breitet: "Brie &mdash; derle
+&mdash; mir sein alle Brieder!", so ist der trostlose Aufruhr der
+Menschheit gegen das Schicksal, der tragische Sehnsuchts- und Liebesruf
+aller Einsamen und Gehetzten niemals erschütternder symbolisiert.</p>
+
+<p>Zur höchsten dramatisch-metaphysischen Gipfelung aber steigt der
+letzte Akt. Da wendet sich der alte, fromme Hilse an seinen Sohn, der
+den Aufrührern zueilen will: nein, er wird sich nicht empören, auch am
+Rande des Grabes nicht, er weiß, daß keine Hilfe und Erfüllung möglich
+ist in der Welt des Irdischen: "Du hast hier deine Parte &mdash; ich
+drieben in jener Welt. Und ich lass' mich vierteelen &mdash; ich hab'
+ne Gewißheet. Es ist uns verheißen. Gericht wird gehalten, aber nich
+mir sein Richter, sondern: mein ist die Rache, spricht der Herr unser
+Gott." Gegen diesen Anwalt des Jenseits, der klaglos alle Leiden des
+Diesseits auf sich nimmt, der &mdash; wie je ein Schillerscher Held
+&mdash; "durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesses" die
+Tragik des Lebens überwinden will, kehrt sich seine Schwiegertochter,
+die unentwurzelbare, schicksalhafte Vertreterin des Diesseits: die
+Mutter. Nie hat ein Held Schillers oder Hebbels die tragische Wucht und
+Notwendigkeit seines Lebensgefühls gewaltiger dargetan: "Mit Euren
+bigotten Räden... dadervon da is mir o noch nich amal a Kind satt
+gewor'n. Derwegen ha'n se gelegen alle viere in Unflat und Lumpem. Da
+wurde ooch noch nich amal a eenzichtes Winderle trocken. Ich will 'ne
+Mutter sein; daß d's weeaß! und deswegen, daß 'd's weeaß, winsch ich a
+Fabrikanten de Helle und de Pest in a Rachen 'nein. Ich bin ebens 'ne
+Mutter. &mdash; Erhält ma' woll so a Wirml?! Ich hab' mehr geflennt wie
+Oden geholt von dem Augenblicke an, wo aso a Hiperle uf de Welt kam,
+bis d'r Tod und erbarmte sich drieber. Ihr babt euch an Teiwel
+geschert. Ihr habt gebet't und gesungen, und ich hab' mir de Fieße
+bluttig gelaufen nach ee'n eenzigten Neegl Puttermilch. Wie viel
+hundert Nächte hab ich mir a Kopp zerklaubt, wie ich ok und ich keente
+so a Kindl ok a eenzicb Mal um a Kirchhof 'rumpaschen. Was hat so a
+Kindl verbrochen, hä? und muß so a elendigliches Ende nehmen &mdash;
+und drieben bei Dittrichen, da wer'n se in Wein gebad't und mit Milch
+gewaschen. Nee, nee: wenn's hie losgeht &mdash; ni zehn Pferde soll'n
+mich zuricke halten. Und das sag ich: stirmen se Dittrichcns Gebäude
+&mdash; ich bin de erschte &mdash; und Gnade jeden, der mich will
+abhalten."</p>
+
+<p>Schiller hatte des überlieferten Stoffes und der überlieferten
+dramatischen Form wegen im "Wilhelm Tell", seinem Drama der
+Volkserhebung, drei Handlungen (Tell-, Rütli-, Rudenz-Handlung)
+nebeneinander laufen lassen. Hauptmann wagt es, die Masse der Weber zum
+dramatischen Helden zu machen und in einer gewaltigen Steigerung zum
+Gipfel zu führe. Im üblichen Dramenbau wäre dies die Höhe des dritten
+Aktes. Die "Peripetie" fehlt. Aber in der Seele des Zuschauers drängen
+sich die zwei letzten, ungeschriebenen Akte: sie sieht und leidet
+voraus, wie dieses Häuflein Menschheit umsonst gegen sein Schicksal
+aufstand, wie es ein paar Stunden sich frei und erlöst fühlen darf, um
+dann nur um so grausamer i de dumpfe, leidvolle Gebundenheit alles
+Endlichen zurückgeworfen zu werden.</p>
+
+<p>Nur wenn Staub und Asche des Irdischen und Körperlichen verwehen,
+wird der göttliche Funke der Seele frei: im Tode oder im Traume. Das
+vierzehnjährige "Hannele", das vor seinem verkommenen brutalen Vater in
+den vereisten Dorfteich flüchtet, das sich nur fürchtet vor dem Leben,
+das so gern in den Himmel kommen möchte zur Mutter und zum lieben Herrn
+Jesus, das im gespenstig-grotesken Elend des Armenhauses in
+Fieberträumen sein Dasein erfüllt, ehe es zu Ende geht, wird zum
+erschütternden und erlösenden Bild der Menschenseele. Wenig Dichtungen
+sind so innerst musikalisch wie diese Traumdichtung, die zwischen der
+Welt der Seele und der Wirklichkeit hin und her geht, unbehindert und
+schöpferisch. Aus den gegebenen Elementen der kindlichen, dörflichen
+Seele, der Bibel, dem Märchen, dem Vater, der Mutter, dem Lehrer, baut
+sie eine Welt und Handlung auf, die alle tieferen Beziehungen, die den
+metaphysischen Sinn des Lebens in sich schließt.</p>
+
+<p>In "Fuhrmann Henschel" geht das Gefühl von der dunklen Macht der
+Umwelt bis zur vollen Passivität. Aber es ist nicht die Abhängigkeit
+vom Einzelnen, Zufälligen &mdash; wie im Schicksalsdrama alten Stils
+&mdash;, die den Fuhrmann erdrückt, es ist die unentrinnbare tragische
+Verstrickung und Zwiespältigkeit alles Endlichen, die er dumpf erfühlt,
+gegen die jeder Widerstand unnütz ist. Ein schlichter, hilfloser Mensch
+starrt durch die Fenster seiner Kellerwohnung in den nächtlichen
+Himmel, grübelt nach einer Schuld, die ihn zu Boden gerissen, und
+findet keine, grübelt nach einem Sinn hinter den Geschehnissen, die ihn
+fortdrängen, und findet keinen, und bäumt sich nicht auf und rächt sich
+nicht und geht still ins Dunkel: "Ane Schlinge ward mir gelegt, und in
+die Schlinge da trat ich halt nein... Meinswegen kann icb auch schuld
+scin. Wer weeß 's?! Ich hätt't ja besser kenn'n Obacht geben. Der
+Teifel ist eben gewitzter wie ich. Ich bin halt bloß immer grad'aus
+gegangen."</p>
+
+<p>Hauptmann hat den "Fuhrmann Henschel" in der ersten Sammlung seiner
+Werke unter die "Sozialen Dramen" eingereiht, obwohl dieser Titel
+eigentlich nur das erste, noch tendenziöse seiner Dramen "Vor
+Sonnenaufgang" trifft Henschel steht weder sozial sonderlich tief
+&mdash; er ist Fuhrwerksbesitzer und hat einen Knecht unter sich
+&mdash;, noch ist sein Schicksal durch seine soziale Stellung bedingt.
+Auch "Rose Bernd" ist kein soziales Drama, wenngleich es so eingestellt
+ist. Man möchte es in die Reihen der bürgerlichen Tragödien ordnen, zu
+Schillers "Kabale und Liebe" und Hebbels "Maria Magdalene", zumal sich
+die Gestalt des Vaters in allen verwandt geblieben. Und doch sprengt
+die tragische Gewalt des Hauptmannschen Dramas auch die bürgerliche
+Welt, ihre verhängnisvolle In-sich-Gebundenheit, und bricht zu den
+letzten Tiefen des Metaphysischen durch. Aus naturhafter Frische und
+Lebenslust wird ein Bauernmädchen aufgescheucht von den Begierden der
+Männer, "verfolgt und gehetzt wie a Hund", in Schuld und Meineid
+gejagt, bis es das Leben verneint und verflucht, bis es am Straßenrande
+sein Kind in der Geburt mit eigenen Händen erwürgt, nicht aus Furcht
+vor Schande: "'s sullde ni laba! Ich wullte 's ni!! 's sullde ni meinc
+Martern derleida! 's sulldte duer bleib'n, wo's hiegehert." Die Natur,
+das Leben selber verneint sich im tragisch-tödlichen Mitleid dieser
+Mutter. In metaphysischer Einsamkeit und Größe ragt die Gefolterte
+gegen den tragischen Himmel des Seins: "Das iis ane Welt... da sein Sie
+versunka... da konn' Sie mer nischt nimeh antun dahier! O Jees, ei ee
+kleen' Kämmerla lebt Ihr mit'nanderl Ihr wißt nischt, was außern der
+Kammer geschieht! Ich wiß! ein Krämpfen hab ich's gelernt! Da is... ich
+weeß ni.. all's von mir gewichen... als wie Mauer um Mauer immerzu
+&mdash; und da stand ich drauß'n, im ganz'n Gewitter &mdash; und nischt
+mehr war unter und ieber mir."</p>
+
+<p>Immer wieder bricht dieser tragische Aufschrei aus Hauptmanns
+Dramen. "Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich?" &mdash; fragt
+Michael Kramer am Sarge seines Sohnes. "Das kommt, weil sie lieben
+müssen. Das drängt sich zur Einheit überall, und über uns liegt doch
+der Fluch der Zerstreuung.</p>
+
+<p>Wir wollen uns nichts entgleiten lassen, und alles entgleitet doch,
+wie es kommt!" Aber aus dem tragischen Leid wächst die tragische Liebe.
+Über Gräbern und Leichen finden sich schmerzverkrampfte Hände. Der Tod
+nimmt die Binde von den Augen, von den Herzen, ein milder Erlöser, "der
+ewigen Liebe Meisterstück".</p>
+
+<p>Im "Glashüttenmärchen", "Und Pippa tanzt" (1906) ist die Sehnsucht
+des Endlichen Melodie geworden: ein Schimmer aus der Heimat Tizians,
+ein Blütenkelch aus den Glasöfen Venedigs, eine wehende Flamme:
+Schönheit! Schönheit, nach der alle verlangend haschen, um die alle
+tanzen und werben, die dumpf gebundene Kreatur, der alte Huhn, wie der
+wissende, kühl- und hochentrückte, der greise Wann. Dem sie zu eigen
+wird, Michel Hellriegel ist der reisende Handwerksbursche des deutschen
+Märchens, der treuherzige, unbefangene, der Träumer und Dichter, eigen
+erst als Schatten und Traum, ganz eigen erst dem Erblindeten, der die
+Augen nach innen aufschlägt, unbeirrt vom Wirrsal der Welt.</p>
+
+<p>Einmal nur, im "Armen Heinrich" (1902), scheint die Liebe nicht erst
+im Tode zu siegen. In Wahrheit ist auch hier mit dem Leben gezahlt:
+Ottegebe, sein klein Gemahl, hat es zum Opfer gegeben für den Herrn und
+Geliebten, ist zu Salern unter dem Messer des Arztes gelegen. Graf
+Heinrich hat sein Leben dagegen gegeben, als er ihr Opfer zurückwies,
+als er dem Messer des Arztes Einhalt bot. Da ist der reine, gerade,
+ungebrochene Strom der Gottheit durch ihn hindurchgegangen, erlösend
+und auflösend, hat im Wunder der Liebe den Aussatz des Lebens geheilt
+und ihn aufgenommen "in das urewige Liebeselement".</p>
+
+<p>Vor der metaphysischen Leidens- und Liebestiefe solcher Werke müssen
+alle Versuche Hauptmanns, auch zur Gestaltung sinnlicher, heidnisch
+bejahender Lebenskräfte vorzudringen, unzulänglich bleiben, vom
+Rautendelein der "Versunkenen Glocke" zu Gerusind, "Kaiser Karls
+Geisel", bis zum "Ketzer von Soana". Ein Christusroman "Emanuel Quint.
+Der Narr in Christo" (1910) ist die natürliche Frucht dieses
+Weltgefühls. Ein Armer im Geiste, eines trunkenen Tischlers Stiefsohn,
+in dem Christus mächtig wird und wiederkehrt in die gegenwärtige Welt,
+um aufs neue verfolgt, verraten und gemartert zu werden. Alles
+leidvolle Wissen, alle heilige Liebeskraft Hauptmanns ist in dessen
+Christusroman eingegangen, aber in der Dumpfheit seiner Umwelt entringt
+er sich nicht dem Sektierer- und Quäkerhaften, zur Höhe von
+Dostojewskis "Idiot".</p>
+
+<p>Wie aber Kleist von der tragischen Unbedingtheit seines Lebens und
+Schaffens ausruht in der sinnlichen Lebens- und Listenfülle des
+Dorfrichters Adam, in der humorvollen Gestaltung eines parodistischen
+Heldenkampfes, so ruht Hauptmann im freiem lächelnden Anteil an der
+amoralischen, ungebundenen, ungebrochenen Natur der Waschfrau Wolff. An
+Kraft und Geschlossenheit des Aufbaus steht die Diebskomödie "Der
+Biberpelz" (1893) hinter dem "Zerbrochenen Krug" erheblich zurück; an
+Kraft und Fülle ihrer Hauptgestalt ist sie ihm nahe verwandt.</p>
+
+<p>Mit "Pippa tanzt" (1906) beginnt die schöpferische Kraft Hauptmanns
+zu versiegen. Alle späteren Dramen muten &mdash; wie auch die Erzählung
+"Der Ketzer von Soana" &mdash; nicht mehr ursprünglich, sondern
+literarisch an. Es ist bedeutsam, daß "Pippa tanzt" zugleich das letzte
+Werk ist, das aus dem Boden der schlesischen Heimat wächst. Nie war ein
+Dramatiker so tief, so schicksaltief der seelischen und sinnlichen
+Atmosphäre seiner Heimat verbunden. Da er ihr entwächst in die Welt
+seiner literarischen Erfolge und Interessen, der allgemeinen deutschen
+und europäischen Geistigkeit, sterben seine tiefsten Wünsche ab. Schon
+auf der Höhe seiner Kraft war ein großgeplanter Versuch mißlungen, eine
+Tragödie statt aus der Natur, der seelisch-sinnlichen Natur seiner
+Heimat, aus der Geschichte aufzubauen: "Florian Geyer" (1896), die
+Tragödie des Bauernkrieges war trotz gewaltiger Einzelszenen in der
+Überfülle des Stoffs und der Studien steckengeblieben. Jetzt sucht
+Hauptmann in fränkischen, italienischen, griechischen, peruanischen
+Sphären seine verlorene Lebens- und Schaffenskraft wieder &mdash;
+vergebens: er empfängt nur Leben aus zweiter Hand.</p>
+
+<p>Hauptmanns gerader weltanschaulicher Gegensatz ist Frank Wedekind
+(1864-1918). Ist Hauptmann der Anwalt der unterdrückten Seele, so ist
+Wedekind der Anwalt des unterdrückten Leibes und Fleisches. Er wendet
+sich gegen "die Geringschätzung und Entwürdigung" des Fleisches, gegen
+jene, denen "der Geist das höhere Element, der absolute Herrscher" ist,
+"der jede selbstherrliche, revolutionäre Äußerung des Fleisches aufs
+unerbittlichste rächt und straft" ("Über Erotik"). In der
+Kindertragödie: "Frühlings Erwachen" (1891) &mdash; neunzehn locker
+gereihten, kurzen Szenen im Stile Lenz' und Büchners &mdash; gestaltet
+er die dunklen Wirren und Leiden der Pubertät, der aufwachenden
+sinnlichen Triebe, die von allen Seiten, von Eltern und Lehren,
+verleugnet, verdächtigt und mißleitet werden, Gymnasiasten und
+vierzehnjährige Schulmädel, die auf der gefährlichen Grenzscheide
+zwischen Kindheit und Reife weglos allein gelassen, aller Unruhe und
+allem Dunkel der neuen Lebensmächte preisgegeben und in Verbitterung,
+Tod und Selbstmord hinausgedrängt werden, Kämpfer, die an der
+Eingangspforte des Lebens fallen. Im "Erdgeist" (1895) formt er dann
+die volle entfesselte Macht der Triebe. In Lulu zeichnet er die
+"Urgestalt des Weibes" die schon in der Bibel, im Leben der
+Kirchenväter und Heiligen immer wieder als das dämonische,
+verführerische sinnliche Element des Lebens zerstörend auftaucht, die
+Schlange, "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". "Sie ward
+geschaffen, Unheil anzustiften, &mdash; Zu locken, zu verführen, zu
+vergiften, &mdash; Zu morden, ohne daß es einer spürt". Lulu nennt sie
+der eine, Nellie, Eva, Mignon der andere; sie hat keinen Namen, wie sie
+keinen Vater hat: sie ist das Urelement der Schöpfung. Jeder sieht sie
+anders, legt seine Sehnsucht, seine Seele in sie hinein, behängt sie
+mit seinen Träumen und Phantasien. Sie aber bleibt "die seelenlose
+Kreatur". Gleichgültig schreitet sie über das Leben der Männer hinweg,
+die ihr zu Füßen stürzen, immer neue Opfer fordernd, in rastloser Gier
+&mdash; bis sie demselben Dämon verfällt, der sie getrieben, und (im 2.
+Teil der "Büchse der Pandora") unter dem Messer Jack des Aufschlitzers
+endet.</p>
+
+<p>Es war nicht leicht für Wedekind, diesem weiblichen Urbild
+sinnlicher Schönheit und Wildheit ein männliches zur Seite zu geben.
+Mit der kulturellen Entwicklung ist die geistige Kraft zum eigentlichen
+Wesen des Mannes geworden. Aber Wedekind ging in die Welt der
+Zirkusmenschen und Hochstapler, der elastischen Abenteurer, die in
+zäher Lebensgier durch Strom und Strudel jagen, untertauchen, nie
+untersinken, immer wieder in die Höhe kommen. "Der Marquis von Keith"
+(1900) ist Wedekinds dramatisch stärkste Gestaltung dieses Typus.</p>
+
+<p>In all diesen Dramen kann der Trieb, das Fleisch, nie gegen den
+Geist kämpfen, da er ihn nicht begreifen, nicht übersehen kann.
+Vertreter des Geistes, die gegen das Fleisch auftreten &mdash; wie
+Lehrer und Pfarrer in "Frühlings Erwachen" &mdash;, sind bloße
+Karikaturen. Immer kämpfen Triebe gegen Triebe. So kommt es nie zur
+Klärung und Lösung, sondern nur zur Katastrophe. Der Aufstieg und
+Absturz des Ideendramas zerfällt hier nach der Zahl der Akte in ebenso
+viele parallele Krisen und Katastrophen. Auch die Szenen, die Dialoge
+entwickeln sich eher in linearem Nebeneinander als in einem steigenden
+In- und Miteinander. Denn diese triebhaften, "unbeseelten Kreaturen"
+sind ganz in sich gebunden, in die Einsamkeit alles Sinnlichen. Sie
+reden nicht zueinander, sie sprechen aneinander vorbei. Und so dunkelt
+über dieser lebensverlangenden, lebensbejahenden Triebwelt die
+heimliche Melancholie der unerlösten Kreatur, eine Tragik, die tiefer
+gründet als die äußeren Kämpfe ihrer Instinkte.</p>
+
+<p>Die Bejahung und Verherrlichung des Fleisches, die dem jungen
+Wedekind quellende Natur ist, wird dem alternden zur Lehre, die er
+predig und verteidigt. All seinen späten Gestalten gibt er sie in den
+Mund. Das widerspricht aber dem Wesen dieser triebhaften Gestalten, die
+nicht über sich theoretisieren können. So zerfällt die durchaus
+unnaturalistische, großumrissene, sinnenbunte Bildwelt Wedekinds in
+graue fanatische Deklamationen.</p>
+
+<p>Zwischen den polar bestimmten Werten und Welten Hauptmanns und
+Wedekinds schwankt die ungewisse Welt Arthur Schnitzlers (geb. 1862).
+Die Wiener Kultur, schon in Grillparzer voll unsicherer
+Selbstreflexion, ist ganz Ausgangskultur geworden: ihre Ideenwelt hat
+den zwingenden Gehalt verloren, nur ihre Formen sind geblieben. Mit
+ihnen drapiert und maskiert man sich, man spielt mit ihnen. Das Leben
+selber wird zum Spiel. In lächelnder Skepsis ist man sich dieses Spiels
+bewußt, sucht man es zu vervollkommnen und auszukosten. Aber die
+Schwermut lauert über jenen Augenblicken, wo man des Spielens müde ist,
+wo man auf festem Ideen- und Lebensgrund ruhen möchte und nur
+erkennt:</p>
+
+<blockquote> Es fließen ineinander Traum und Wachen,</blockquote>
+<blockquote> Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.</blockquote>
+<blockquote> Wir wissen nichts von andern, nichts von
+uns.</blockquote>
+<blockquote> Wie spielen immer; wer es weiß, ist klug.</blockquote>
+
+<p>In den sieben graziösen Dialogen des "Anatol" (1894) ist diese
+Skepsis und Müdigkeit, diese Selbstreflexion und weiche
+Selbstverhätschelung zum erstenmal Wort und Gestalt geworden. Anatol,
+der junge, verwöhnte Dichter, der "leichtsinnige Melancholiker" der in
+tändelnden Abenteuern, in "zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis der
+Treue" sein Leben verträumt, der nur in Stimmungen lebt und so viel
+Mitleid mit sich selbst hat &mdash; keine moralische Forderung, kein
+Schicksal dürfte an diese Welt klopfen: sie würde in Staub verwehen.
+Aber da sie ganz in sich verbleibt, nehmen wir lächelnd Anteil an ihrem
+weichen, morbiden Stimmungszauber, ihrer Liebenswürdigkeit und
+Gebrechlichkeit.</p>
+
+<p>Die Melancholie, die aus dieser Welt steigt, kann sich nie zur
+wahren Tragik härten. Auch aus den fröstelnden Schauern des "Einsamen
+Wegs": "Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet &mdash; den Weg
+hinab gehen wir alle allein", weht weniger Lebenstragik als
+Lebemannstragik. Aber wenn in diese Welt ein Vorstadtmädel gerät mit
+der ganzen frischen Innigkeit und Unbedingtheit seines Herzens, die
+Liebe gibt und sucht in dieser Welt der "Liebelei", dann greift
+einfache Tragik ans Herz. Christin', die blasse Violinspielerstochter,
+die ihre Seele hingibt an den leichtsinnig-schwermütigen Menschen, der
+ihr auch in der tiefsten Stunde wehrt: "Sprich nicht von Ewigkeit. Es
+gibt vielleicht Augenblicke, die einen Duft von Ewigkeit um sich
+sprühen... Das ist die einzige, die wir verstehen können, die einzige,
+die uns gehört", wird zu einem holden Urbild, zu einem unvergeßlichen
+Klang, daraus die Innigkeit und Traurigkeit eines Volksliedes weht.</p>
+
+<p>Die größeren Kompositionen Schnitzlers lehnen sich an fremde Stile,
+an Ibsen oder Shakespeare, lösen sich in epische Episoden oder zergehen
+in dialektische Konversationszenen, deren geistreich-schwermutvolle
+Feinheit die Menschen mehr verschleiert und verwischt als gestaltet.
+Nur im "Grünen Kakadu" wird Schnitzler die Ausgangswelt, ja der
+Ausgangstag des ancien régime (der Tag des Bastillensturms) zum großen
+historischen Spiegel des Wiener Ausgangs. Ein Irrspiel zwischen Sein
+und Schein, das den Verfall aller Werte, die Zersetzung aller Seele in
+grellen Blitzen gespenstig umleuchtet. In einer Pariser
+Vorstadtspelunke improvisieren Schauspieler zur Aufpeitschung der
+hochadligen Gäste Verbrecherszenen, die gruselig Spiel und Wahrheit
+mischen. Wie verfolgt stürzt einer herein und berichtet von seinem
+frische Taschendiebstahl, von einer Brandstiftung ein zweiter, einem
+Morde ein dritter, bis Henri, der Genialste Truppe, vorstürmt und
+aufschreit, er habe eben in der Garderobe den Herzog von Cadignan, den
+Liebhaber seiner ihm gestern angetrauten Frau, niedergestochen. Die
+Mitspieler halten es für Wahrheit, die Zuschauer für Komödie, einen
+Augenblick glauben beide an Wahrheit &mdash; während es jäh darauf erst
+Wahrheit werden soll: der Herzog tritt ein und Henri tötet ihn
+wirklich. Und indes der Wirt wie allabendlich eben noch in aufreizendem
+Spiel seine hochadligen Gäste als Schurken und Schweine begrüßt hat,
+die das Volk hoffentlich nächstens umbringen werde, dringen plötzlich
+die Bastillenstürmer ein und lassen an der Leiche des Herzogs die
+Freiheit leben. Hier ist das Lebensgefühl des Ausgangs: "Wir spielen
+immer; wer es weiß, ist klug", schicksalhaft vertieft, das
+Schauspielertum des Lebens und der Bühne gespenstig gemischt. Mit
+höchster künstlerischer Bewußtheit sind die Schauer und Wechsel dieses
+Irrspiels in die straffe Handlung eines Einakters gebannt.</p>
+
+<p>Wenn für Schnitzler die Bedeutungslosigkeit der überkommenen Formen
+noch Lebensschicksal ist, für Hugo von Hoffmannsthal (geb. 1874) ist
+sie nur mehr literarisches Schicksal. Allein in den ersten Dramen "Der
+Tor und der Tod", "Der Abenteurer und die Sängerin" schwingt noch ihr
+Erlebnis: Schwermut und Sehnsucht. Das erste eine Dichtung des
+Neunzehnjährigen: ein junger Mensch, der das Leben zum erstenmal ahnt,
+da er es lassen muß:</p>
+
+<blockquote> Was weiß ich denn vom Menschenleben?</blockquote>
+<blockquote> Bin freiliche scheinbar drin gestanden,</blockquote>
+<blockquote> Aber ich habe es höchstens verstanden,</blockquote>
+<blockquote> Konnte mich nie darein verweben...</blockquote>
+<blockquote> Stets schleppt ich den rätselhaften Fluch,</blockquote>
+<blockquote> Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt,</blockquote>
+<blockquote> Mit kleinem Leid und schaler Lust</blockquote>
+<blockquote> Mein Leben zu erleben wie ein Buch.</blockquote>
+
+<p>Aber, da er dem Tode, der ihn zu rufen kommt, entgegenhält: "Ich
+habe nicht gelebt!" zeigt der ihm, was an Leben und Liebe sein gewesen:
+unter den Geigenklängen des Todes schweben die Schatten der Mutter, des
+jungen Mädchens, des Freundes vorüber, die einst in Sorge und Liebe
+sich um ihn mühten, ohne daß er ihrer geachtet. Er war der
+"Ewigspielende", "der keinem etwas war und keiner ihm". Erst der Tod
+lehrt ihn das Leben sehen &mdash; die süße Schwermut eines
+Frühlingsabends webt um diese jungen, goethisierenden Verse; aus
+weich-verhangener Ferne träumt Musik. Im "Abenteurer und die Sängerin"
+schimmern die Farben und Wunder Venedigs auf. Auch hier eine ausgelebte
+Welt. Auch hier ein Ewigspielender: Casanova. Fünfzehn Jahre nach einem
+seiner vielen Liebesabenteuer kreuzt dieser flüchtige Faltermensch die
+Lagunenstadt und sieht die einst Geliebte, die er zum Leben erweckt,
+die ihm glücklichste Stunden geschenkt, als Gattin eines anderen wieder
+und neben ihr seinen Sohn. Wenige festliche Stunden, wenige in Traum,
+Süße, Wehmut und Erinnerung aufschimmernde Worte. Und darüber die
+Schatten des Alters und der Vergänglichkeit.</p>
+
+<p>Je mehr in den späteren Dramen Hoffmannsthals der Lebensgehalt
+versickert, desto üppiger wuchert ihre Form. Die leere Lebensform des
+ausgehenden Wien wird zur leeren literarischen Form, einer üppigen
+barocken Form, die Leben aus zweiter Hand, aus Sophokles, Otway,
+Molière überrankt. Der sittliche Gehalt der Sophokleischen Elektra, das
+tragische Rächeramt der Kinder an der eigenen Mutter, des Vaters
+Mörderin, wird &mdash; jenseits aller Weltanschauung &mdash; zu einer
+dekorativen, schwelgerischen, brandroten Orgie in Haß, Blut und Rache.
+Bedeutsam bleiben &mdash; wie bei d'Annunzio, dem er nahekommt &mdash;
+die artistischen Werte Hofmannsthals: sein Anteil an der Entwicklung
+deutscher Sprachkunst.</p>
+
+<p>Klingt bei Hofmannsthal Wortmusik, bei Richard Beer-Hofmann (geb.
+1866), dem dritten und tiefsten der Wiener, klingt Seelenmusik. In
+hinreißendem Adagio entquillt sie seinem ersten Drama, dem "Grafen von
+Charolais" (1904), obgleich es einer alten englischen Vorlage
+Massingers und Fields unglücklich verbunden ist, obgleich es daher in
+zwei Teile zerbricht, obgleich die Requisiten des alten Stücks,
+Leichen, Pfändung, Ehebruch, Mord, Selbstmord, sich peinlich häufen. Da
+ist nicht mehr die Melancholie des Ästheten, da ist eine wehe Weisheit,
+eine milde Güte, eine dunkel-goldene Traurigkeit, aus Tiefen, die seit
+Gerhart Hauptmann keiner mehr durchmessen hat. Nur das Vorspiel zu
+einem Dramenzyklus, zur "Historie von König David", ist seitdem
+erschienen: "Jaákobs Traum" (1918), eine symphonische Dichtung von
+einer seelischen und religiösen Gewalt, die sie hoch über die Zeit
+emporträgt. Die Würde und Tragik der Berufung ist ihr Thema, Jaákobs
+Ringen mit Gott auf dem Berge Beth-El ihr biblischer Stoff. Wenn der
+musikalischen und metaphysischen Gewalt dieses Vorspiels die Kraft der
+Menschengestaltung in der Trilogie entspricht, so wird Beer-Hofmann in
+schöpferischer Erneuerung alttestamentlicher Symbole der deutschen
+Dichtung das religiöse Drama erobern helfen.</p>
+
+<p>Hauptmann und in minderem Grade auch Wedekind, Schnitzler,
+Beer-Hofmann erleben die Welt unmittelbar in weltanschaulichen
+Gegensätzen und in Gestalten, die sie verkörpern und ausfechten. Fast
+allen jüngeren Dramatikern ist dieses überpersönliche, weltgroße
+Erlebnis fremd; sie erleben einseitig, subjektiv, nur vom Gefühl oder
+vom Intellekt aus, und so kommt es nur zu lyrisch-balladesken oder
+dialektischen Spannungen.</p>
+
+<p>Herbert Eulenberg (geb. 1876) bleibt ganz in dumpfen Gefühl
+befangen. Seine Helden sind immer die gleichen Typen und leben nur im
+Schwellen und Ausschwingen ihrer Gefühlsdurchbrüche. Er erlebt nur in
+einer Richtung und nur in einem Menschen; die anderen Menschen sind
+ohne eigene Lebens- und Gegenkraft für Eulenberg wie für seine Helden.
+Einsam steht der Eulenbergsche Mensch im All; fremde Mächte werden in
+ihm wach und jagen ihn in die dunkle Hölle seines Blutes und seiner
+Träume; sie verfolgen und erfüllen ihn, wachsen, rasen und toben in
+ihm, bis sie seine Form zersprengen oder in vernichtenden Taten den
+Ausweg suchen. Von außen her dringt nichts in diesen Vorgang ein. "Ich
+höre nichts außer mir", sagt einer der Helden; "ich brenne in mir ab",
+ein anderer. Die Gegenspieler sind keine ursprünglichen Gestalten, sind
+nur Blutbilder des eigenen Innern. So wird kein Drama, so kommt es nur
+zu monologischen, lyrisch-balladesken Wirkungen, zu Farben und
+Stimmungen.</p>
+
+<p>Der Gegenpol Eulenbergs ist Karl Sternheim (geb. 1881). Er geht ganz
+vom Intellekt aus. Er erlebt nicht, er erkennt nur. Sein literarischer
+Ehrgeiz will stilisieren, zu Typen vordringen. Aber einen Typus gewinnt
+er nicht durch Fülle und Verdichtung des Persönlichen, sondern durch
+Konstruktion und Illustration eines Begriffs. Kurze Zeit weiß seine
+Beobachtung, seine literarische Erinnerung die Stilisierung
+durchzuführen, dann entgleiten und brechen die Linien, die Personen
+werden zu Karikaturen. Eine Komödie wie "Der Snob" ist in ihrer inneren
+Unwahrheit, ihrer Literaten- und Theaterkunst, gar nicht so weit von
+Blumenthal und Kadelburg; sie ist nur geistreicher und boshafter.
+Seiner Menschen-wie seiner Weltanschauung fehlt der organische Anteil,
+das Ethos, die Liebe. Es genügt nicht, die Welt lächerlich zu machen.
+Humor, nicht Witz ist das Zeichen des Schöpfers. Jede Anschauung will
+im Zusammenhang einer Weltanschauung, jede Eigenschaft im Zusammenhang
+einer Seele, jede Verzerrung im Zusammenhang eines Ideals gedeutet und
+gestaltet werden. Auch der Satiriker lacht und spottet nicht aus dem
+Gefühl billiger Überlegenheit, sondern aus dem Gefühl der Verantwortung
+und der Liebe.</p>
+
+<p>Über Wedekind und Sternheim führt der Weg Georg Kaisers, (geb.
+1878). Auch er ist ein Intellektueller, ein ehrgeiziger Literat, ein
+Formenkünstler. Ohne ein ursprüngliches Wesenszentrum überläßt er sich
+den wechselnden Strömungen der Zeit. Von der Verherrlichung des
+Fleisches à la Wedekind ("Rektor Kleist", 1905) gelangt er zum ideal
+platonisierten Denkdrama "Die Rettung des Alkibiades" (1919). "König
+Hahnrei" und die "Jüdische Witwe" stellen die tragischen Konflikte
+Tristans oder Judiths in frecher Jongleurkunst auf den Kopf. "Die
+Bürger von Calais" wissen klug errechnete tragische Situationen
+rhetorisch auszukosten. "Die Koralle" und "Gas" diskutieren die
+sozialen Probleme der Gegenwart. An artistischem Können ist Kaiser
+Sternheim bald voraus; er ist reicher, beweglicher, energischer. Aber
+es ist die Hast der Nerven, die Psychologie des Intellekts, die Technik
+des Films. In den sozialen Dramen &mdash; der Sphäre der Massen und
+Maschinen &mdash; werden der Bau mathematisch, die Menschen mechanisch,
+die Sprache zum Telegramm. Ein Druck auf die Feder &mdash; und das Werk
+läuft ab: Rede und Gegenrede, Bewegung und Gegenbewegung. Mit virtuoser
+Technik wird die ganze soziale Stoffmasse in diesem Rädertreiben
+zermahlen. &mdash; Und schließlich fallen in der "Rettung des
+Alkibiades" auch die Schemen dieser Gestalten; in Anlehnung an den
+platonischen Dialog wird das Menschenspiel zum Denkspiel, die Dramatik
+zur Dialektik.</p>
+
+<p>Über diese Artisten ragt Paul Ernst (geb. 1866) an Ethos der Kunst-
+und Weltanschauung, aber ihre intellektuelle Gebundenheit weiß er nur
+ins Geistige, nicht ins Künstlerische zu lösen. Er kommt vom naiven
+Naturalismus seines Freundes Holz und will mit Wilhelm von Scholz (geb.
+1874), der von der Neuromantik und Mystik herkommt, einen
+"neuklassischen" Stil im Drama begründen. Über Shakespeares
+individuelle Gestalten und Probleme will er zur reinen Typik der
+Griechen zurück. Aber er ist ein Kunstdenker, kein Kunstschöpfer; er
+gibt geistige Grundrisse statt organischer Gestalten. Tiefer im
+Lebensgrunde wurzelt Scholz, zumal in der zweiten Fassung seiner
+Tragödie "Der Jude von Konstanz" (1913), die der Hauch Hebbelscher
+Tragik durchweht.</p>
+
+<p>Ein großes Drama wächst nur aus einer großen, ursprünglichen
+Weltanschauung. Wie die Lebensformen der Mutterboden der epischen, so
+sind die Weltanschauungsformen der Wurzelgrund der dramatischen Kunst.
+Mit dem Weltkrieg brachen die Lebens- und Anschauungsformen des
+materialistischen und rationalistischen Zeitalters zusammen. Aus seinem
+Chaos schrie die gemarterte Seele nach ihrem Recht. Jünglinge ballten
+ihren Aufschrei zum "expressionistischen" Drama, Walter Hasenclever im
+"Sohn", Richard Goering in der "Seeschlacht", am stärksten Fritz von
+Unruh in "Ein Geschlecht". Lyrische Entladungen, Konfessionen,
+Predigten und Prophetien gaben sich dramatisch. Des späten Strindbergs
+unnachahmliches Traum- und Seelendrama ("Traumspiel", "Nach Damaskus")
+wurde unbedenklich zum Vorbild genommen. Über den zerfallenen Formen
+recke sich der befreite, von Urgefühlen trunkene Mensch empor, der
+Mensch schlechthin, der sich eins weiß mit seinen Brüdern, nach Seele,
+nach Gott, nach einer neuen wahren Gemeinschaft des Geistes. Aber
+ekstatische Schreie, rauschvolle Aufrufe, die Auflösung aller
+Lebensmächte in e i n trunkenes Urgefühl führen höchstens zur lyrischen
+Grundform. Dies neue Menschheitsgefühl will erst in der Wirklichkeit
+erhärtet, vertieft und geklärt, in Zwieklang seiner Gegenmächte
+begrenzt und behauptet und in ursprünglichen Gestalten objektiviert
+sein, ehe es zu einem neuen Drama fruchtet.</p>
+
+
+
+
+<h3>DIE LYRIK</h3>
+
+<p>Die epische Dichtung hat bestimmte Lebensformen, die dramatische
+bestimmte Weltanschauungsformen zum Unter- und Hintergrund. Der epische
+Dichter kann die Lebensformen nicht selber schaffen &mdash; sie sind
+die Voraussetzung seiner Kunst &mdash;, der dramatische kann die
+Weltanschauungsformen höchstens mitschaffen, aus den gesamten ideellen
+Mächten seiner Zeit heraus. Die Form der lyrischen Dichtung ist die
+Form der Persönlichkeit. Der Lyriker ist unabhängig in seinem
+Schöpferwillen, alles wird ihm Stoff zu sich selber, Welt und Leben
+kristallisieren in seinem Ich. So kann in einer zersetzten Zeit, im
+Kampf der Lebens- und Weltanschauungen der Lyriker zuerst zur reinen
+Form gelangen, als der Vorposten der neuen Menschheit. Und dieses
+Ringen um den neuen Menschen, um das Bürgerrecht einer neuen Menschheit
+stellt die deutsche Lyrik der letzten Jahrzehnte dar.</p>
+
+<p>1885 erschienen die "Modernen Dichtercharaktere", eingeführt von den
+Aufsätzen Hermann Conradis (1862-1890) "Unser Credo" und Karl Henckells
+(geb. 1864) "Die neue Lyrik". Die Gedichtsammlung war die Absage an die
+Epigonenlyrik Geibels und Heyses, an die "losen, leichtsinnigen
+Schelmenlieder und unwahren Spielmannsweisen" Rudolf Baumbachs und
+Julius Wolffs. Diese jungen Lyriker wollten "Hüter und Heger, Führer
+und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Ärzte und Priester der
+Menschen" werden. Hermann Conradi gibt 1887 in den "Liedern eines
+Sünders" sein lyrisches Bild. Er war der Innerlichste unter den
+Jüngeren, der Gärende, haltlos Ringende. Er fühlte sich berufen, "die
+Gegensätze der Zeit in ihrer ganzen tragischen Wucht und Fülle, in
+ihren herbsten Äußerungsmitteln zu empfinden" und "voll Inbrunst und
+Hingebung die verschiedenen Stufen und Grade des Sichabfindens mit dem
+ungeheueren Wirrwarr der Zeit schöpferisch zum Ausdruck zu bringen".
+Übergang und Untergang sah er ringsum, sich selbst empfand und
+gestaltete er in seinen Romanen "Phrasen" und "Adam Mensch" als den
+Typus des Übergangsmenschen, in den eigenen Krämpfen spürte er die
+Krämpfe der Zeit, deren Krisis er 1889 in "Wilhelm II. und die junge
+Generation" ahnend kündete: "Die Zukunft, vielleicht schon die nächste
+Zukunft: sie wird uns mit Kriegen und Revolutionen überschütten. Und
+dann? Wir wissen nur: die Intelligenz wird um die Kultur, und die
+Armut, das Elend, sie werden um den Besitz ringen. Und dann? Wir wissen
+es nicht. Vielleicht brechen dann die Tage herein, wo das alte,
+eingeborene germanische Kulturideal sich zu erfüllen beginnt. Vorher
+jedoch wird diese Generation der Übergangsmenschen, der Statistiker und
+Objektssklaven, der Nüchterlinge und Intelligenzplebejer, der Suchenden
+und Ratlosen, der Verirrten und Verkommenen, der Unzufriedenen und
+Unglücklichen &mdash; vorher wird sie mit ihrem roten Blute die
+Schlachtfelder der Zukunft gedüngt haben &mdash; und unser junger
+Kaiser hat sie in den Tod geführt. Eines ist gewiß: sie werden uns zu
+Häupten ziehen in die geheimnisvollen Zonen dieser Zukunft hinein: die
+Hohenzollern. Ob dann eine neue Zeit ihrer noch bedürfen wird? Das
+wissen wir abermals nicht." Conradis Leben und Lyrik ist nie zur
+persönlichen Form gedrungen. So tief er darum rang, die gärenden,
+brodelnden Elemente seines Wesens zur Einheit zu binden: "Und ob die
+Sehnsucht mir die Brust zerbrennt: &mdash; Auf irrer Spur &mdash; Läßt
+mich die Stunde nur &mdash; Am einzelnen verbluten."</p>
+
+<p>Karl Henckell, der zweite Herausgeber der "Modernen
+Dichtercharaktere", verlor sich vorläufig in die Stofflichkeiten des
+Naturalismus und Sozialismus. Er sang "Das Lied des Steinklopfers",
+"Das Lied vom Arbeiter", "Das Lied der Armen", besang "Das
+Blumenmädchen", "Die Engelmacherin", "Die Näherin im Erker", "Die
+Dirne", "Die kranke Proletarierin". Er zeichnete billige satirische
+Gegenbilder im "Korpsbursch" im "Einjährig-Freiwilligen Bopf", im
+"Leutnant Pump von Pumpsack" im "Polizeikommissar Fürchtegott Heinerich
+Unerbittlich". Er feierte "das ideale Proletariat": "Heil dir
+Retterheld der Erde &mdash; Siegfried Proletariat &mdash; leuchtend in
+der Kraft des Schönen." Er empfand sich als die "Nachtigall am
+Zukunftsmeer". Durch die jugendliche Rhetorik und stoffliche
+Befangenheit brach die &mdash; sozialistisch gefärbte &mdash;
+Überzeugung einer Zeitenwende, eines nahen Zusammenbruchs, einer neuen
+Zukunft.</p>
+
+<p>Ärger noch in diese Stofflichkeit, in die nächsten Bilder und
+Phrasen der Zeit verstrickt blieb Arno Holz (geb. 1863) in seinem "Buch
+der Zeit", "Lieder eines Modernen" (1885). Er glaubte sich
+schöpferisch, wenn er die Großstadt, das Großstadtelend, den
+Großstadtmorgen, den Großstadtfrühling in wässerig strömende Reime und
+Strophen zwang. Der "geheime Leierkasten", den er später aus jeder
+Strophe zu hören glaubte, klingt überlaut aus diesen jugendlichen
+Versifizierungen. Und es ist persönlich begreiflich, daß er 1899
+schließlich in seiner "Revolution der Lyrik" Reim, Strophe und festen
+Rhythmus grundsätzlich verwarf und eine Lyrik proklamierte, "die auf
+jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet, und die, rein
+formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur durch d a
+s lebt, was durch ihn zum Ausbruch ringt". Im "Phantasmus" schuf er
+dementsprechende, eindringliche, duft- und farbenreiche Stimmungsbilder
+und -bildchen.</p>
+
+<p>In Julius Hart, Bruno Wille, John Henri Mackay, dem Schüler
+Stirners, und Ludwig Scharf ergänzte und steigerte sich die soziale
+Lyrik. Richard Dehmel (1863-1920) vertiefte und beseelte sie. Er war
+der Freund Detlev von Liliencrons (1844-1909), des "Blutlebendigen,
+Lebensbeglückten", Erdursprünglichen, der zwar durch den "Naturalismus"
+erst ganz zu sich selbst befreit wurde, aber stets reine, sinnenhafte
+Natur war und blieb, dem Kampf der neuen Ideen fremd, ein voller
+Ausklang der alten lyrischen Linie, der Droste, Kellers, Storms.
+Liliencron kam der Entwicklung von Dehmels sinnlicher Anschauung zur
+Hilfe, wie Uhland einst dem jungen Hebbel. Dehmel zerbrach die
+Kunstanschauung des "Naturalismus": Nie ahmt der Künstler die Natur
+nach. "Weder die sogenannte äußere Natur, die Welt der Dinge, noch auch
+die innere, die Welt der Gefühle, will oder kann er zum zweitenmal, zum
+immer wieder zweitenmal, in die bestehende Welt setzen, in diese Welt
+der Wirklichkeiten. Er will überhaupt nicht nachahmen; er will
+schaffen, immer wieder zum erstenmal. Er will einen Zuwachs an
+Vorstellungen schaffen, Verknüpfungen von Gefühlen und Dingen, die
+vorher auseinander lagen, in der werdenden Welt unserer Einbildungen."
+Aus "chaotischen Lebenseindrücken" will er einen "planvollen Kosmos"
+schaffen, "nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder
+menschlichen Daseins und Wirkens," "überschauende Zeit-, Welt- und
+Lebenssinnbilder". So wird in Richard Dehmel zuerst der moderne Lyriker
+sich seiner Aufgabe bewußt, der sinkenden, zersetzenden Zeit neue
+Formen zu erobern, in der Form seiner Persönlichkeit und in heiliger
+Wirkung und Wechselwirkung, in immer weiteren Ringen über sie hinaus:
+"Alle Kunstwirkung läuft schließlich auf das Wunder der Liebe hinaus,
+das sich begrifflich nur umschreiben läßt als Ausgleichung des
+Widerspruchs zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und
+Selbstvergessenheit." Den Weg vom Ichgefühl, einem neuen, starken
+Ichgefühl, zu neu bewußten und vertieften Allgefühl sucht Dehmels Leben
+und Lyrik. Vom sozialen Gefühl der Zeit geht er aus. "Wie kann der
+geistige Mensch zur Herrschaft kommen, wenn er umgeben bleibt von
+Menschen, die nicht einmal der Pflege des Körpers freie Zeit genug
+widmen können! Kann denn das geistige Dasein sich steigern, wenn
+jedermanns Sinne voll geistiger Unlust sind? Und kann der Geist des
+einzelnen wachsen, wenn kein geneinsamer Boden sich bildet, der seine
+Seele zum Wachstum anreizt?" Aus dieser leidenden Bruderliebe, aus
+diesem Wissen um das Verbundensein alles Volkslebens wachsen seine
+sozialen Gedichte "Zu eng", "Vierter Klasse", "Der Märtyrer", "Jesus
+der Künstler", "Bergpsalm":</p>
+
+<blockquote> Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd
+Herz!</blockquote>
+<blockquote> Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen</blockquote>
+<blockquote> Nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein
+Schmerz!</blockquote>
+<blockquote> Nicht sickert einsam mehr von Brust zu
+Brüsten</blockquote>
+<blockquote> Wie einst die Sehnsucht, nur als stiller
+Quell;</blockquote>
+<blockquote> Hier stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und
+grell,</blockquote>
+<blockquote> Und du schwelgst noch in Wehmutslüsten?</blockquote>
+
+<p>Die beiden klassischen sozialen Lieder formen sich: "Erntefeld" ("Es
+steht ein goldnes Garbenfeld") und "Der Arbeitsmann" ("Wir haben ein
+Bett, wir haben ein Kind"). Über die Lebens- und Liebeseinheit des
+eigenen Volkes, durch die es "dem hunderttausendfachen Bann" der
+Lebensnot und -niedrigkeit entwächst, drängt Dehmels Traum und
+Leidenschaft zur Menschheitsstunde: "Bis auch die Völker sich befrei'n
+&mdash; Zum Volk! &mdash; m e i n Volk, wann wirst du sein?" Und über
+die Menschheit hinaus stürmt sein Lebenswille ins Weltall: "Wir Welt!"
+Das ist das letzte Ziel, die Durchdringung von Eins und All. Den Weg
+führt uns die Liebe: "Wer so ruht an einem Menschenherzen &mdash; Ruht
+am Herzen dieser ganzen Welt."</p>
+
+<p>Dieses Mysterium kündet der "Roman in Romanzen: Zwei Menschen"
+dreimal 36 Gedichte und drei Vorsprüche zu je zwölf Zeilen, die
+zusammen wieder 36 Zeilen ergeben. Alle Gedichte haben den gleichen
+Aufbau: eine Naturschilderung als Einleitung, die Worte des Mannes, die
+Worte der Frau, ein paar Schlußzeiten, die in neuer Einheit die
+Seelenstimmung zusammenfassen. Diese Strenge der Gliederung schafft
+architektonische Schönheit, aber hemmt und verbaut auch. Es kommt weder
+zur reinen epischen Erzählung noch zum reinen lyrischen Ausströmen.
+Überhaupt bleiben die epischen Elemente, die eigentliche Handlung, die
+Fülle der Schauplätze, bedenklich stofflich. Hinreißend ist der
+ekstatische Überschwung der Grundstimmung, der zwei Menschen aus ihrer
+Einzelhaft, durch die Liebe, zur Verbundenheit mit der Natur, der
+Menschheit, dem Weltall, zum "Weltglück" führt, bis selbst der Tod sie
+nicht mehr schreckt:</p>
+
+<blockquote> Wir sind so innig eins mit aller Welt,</blockquote>
+<blockquote> Daß wir im Tod nur neues Leben finden.</blockquote>
+
+<p>So wächst Dehmels Ich-Bewußtsein in immer weiteren Kreisen zum
+Weltbewußtsein, nicht nur im Gefühlsrausch des Lyrikers, sondern im
+menschheitlichen Vorkampf. Die Harmonien zwischen Mann und Weib
+offenbaren sich ihm nur darum so machtvoll, weil er abgründige
+Disharmonien durchlitten und durchschritten hat. Seelische Helle wächst
+aus sinnlichem Dunkel. "Die Verwandlungen der Venus" zeichnen &mdash;
+stofflich überlastet &mdash; diesen Weg der Läuterung: "Aus dumpfer
+Sucht zur lichten Glut."</p>
+
+<p>Alle Menschheitsbeziehungen werden in ihrem Doppelspiel von Haß und
+Liebe, von Selbstbehauptung und Hingabe neu zur Frage gestellt. Wie
+Mann und Weib sich gegenüberstehen, so Vater und Sohn. Im Kampf der
+Generationen, der alten und jungen Weltanschauung ruft er als Vater
+&mdash; als erster Vater! &mdash; seinem Sohne zu:</p>
+
+<blockquote> Sei du! Sei du!</blockquote>
+<blockquote> Und wenn dereinst von Sohnespflicht,</blockquote>
+<blockquote> Mein Sohn, dein alter Vater spricht,</blockquote>
+<blockquote> Gehorch' ihm nicht! Gehorch' ihm nicht!</blockquote>
+
+<p>Als der Weltkrieg ausbrach, da war es Dehmel, dessen tapferer
+Lebensglaube stets gewesen, durch die Zeit hindurch zur neuen Zeit und
+Form sich vorzuringen, Pflicht und Bedürfnis, als
+einundfünfzigjähriger, ungedienter, gemeiner Soldat in das Heer zu
+treten und den Entscheidungskampf der neuen Menschheit mitzufechten:
+"Die Begleitumstände sind allerdings scheußlich, aber das Hauptziel des
+Kampfes ist herrlich und heilig; denn wir wollen den Frieden auf Erden
+schaffen, a l l e n Menschen zum Wohlgefallen... Etwas mehr
+Himmelsluft wird sich doch nach diesem reinigenden Sturm ausbreiten,
+bei uns selbst wie im ganzen Völkerverkehr. Und was war der Hauptgrund,
+warum ich alternder Mann zur Waffe griff, nicht bloß aus
+Vaterlandsliebe und Abenteurerlust; da mein Körper noch kräftig genug
+dazu ist, muß ich ihn einsetzen für die geistige Zukunft." Als Soldat
+der neuen Menschheit ist er gestorben, an einer Venenentzündung, die er
+sich im Kriege zugezogen.</p>
+
+<p>Das Kämpferpathos Dehmels, das anfangs dem jungen Schiller nah ist,
+bevorzugt die charakteristische vor der musikalischen Form. Jeder
+Glätte in Bild, Rhythmus und Strophe setzt er herbe Eigenheiten
+entgegen. Der vierzeiligen Strophe gibt er eine fünfte Zeile mit, ohne
+Reim, von besonderem Rhythmus. Bild und Versform wirken oft geschmiedet
+und gehämmert. Auch seine "impressionistischen" Naturbilder sind keine
+nachgiebige Eindruckskunst, sind Umwandlung üblicher, erstarrter
+Anschauungen in charakteristische, von innen bewegte Bilder.</p>
+
+<p>In der Herbheit der inneren und äußeren Form ist ihm Paul Zech (geb.
+1881) verwandt. Soziales Ethos erfüllt und durchbebt sein
+bäuerisch-westfälisches Blut. Einige seiner Väter schürften Kohle. Er
+selber hat nach Vollendung seiner Studien in tiefster sozialer
+Verbundenheit nicht nur als Dichter, sondern zwei Jahre auch als
+Mensch, als Arbeiter, am Leben der Bergleute teilgenommen in Bottrop,
+Radbod, Mons und Lens. In den Vers- und Novellenbüchern "Das schwarze
+Revier", "Die eiserne Brücke", "Der schwarze Baal" zieht sein Ethos die
+Machthaber, die Harthörigen und Verblendeten vor Gericht, Güte und
+Menschlichkeit für alle zu fordern. Die Stoffwelt des jungen
+Naturalismus kehrt wieder: Fabriken, Zechen, Sortiermädchen, Fräser,
+aber durchseelt von einem Ethos und Pathos, das aus religiösen Tiefen,
+aus Christi Herzen steigt und zur "Neuen Bergpredigt" berufen ist.
+Dieser religiösen Menschheitsverbundenheit mußte der Weltkrieg, Welthaß
+und -gemetzel, die Zech als ungedienter gemeiner Soldat in den
+furchtbaren Kämpfen (Verdun und Somme) miterlebte, zum apokalyptischen
+Grauen, zur Sünde wider den Heiligen Geist werden. Von den tausend
+Kriegslyrikern hat Zech allein von Anfang an den Krieg in seiner
+metaphysischen Bedeutung erlebt und gestaltet. Seine Gedichtbücher
+"Golgatha" und "Das Terzett der Sterne" reißen den Krieg aus den
+historisch-politischen Verknüpfungen vor das Angesicht Gottes.</p>
+
+<blockquote> Ewig sind wir Kain. Unser Dasein heißt:
+vernichten!</blockquote>
+<blockquote> Käme tausendmal noch Christi Wiederkehr:</blockquote>
+<blockquote> Immer ständen Henker da, ihn hinzurichten.</blockquote>
+<blockquote> Fluch der Welt ist, daß uns Abel kindlos
+starb.</blockquote>
+
+<p>"Zweitausend Jahre noch nach Golgatha &mdash; Göttliche Jugend
+blutig auf der Bahre!" "Und immer neue Mütter stießen ihre Knaben
+&mdash; In immer helleren Scharen in das Feld &mdash; Als wär vernarrt
+die ganze Welt &mdash; Den Mord hinfort als Hausaltar zu habe?
+&mdash; ...Daß du, Gekreuzigter, nicht von dem Holz &mdash;
+Herabsprangst und mit Geißeln auf die Menge hiebst &mdash; Und klein
+zurück auf ihren Ursprung triebst." "Seit jenen Tagen braust durch das
+verführte &mdash; Geschlecht ein schriller Ton &mdash; Wie ihn schon
+einmal ausstieß der verlorene Sohn." Aber den wilden Lärm der
+Schlachten überschwillt die Musik der Sterne, wenn im Dämmern der Nacht
+Gott aus den Mauerflanken anderer Erden ein Orgelhaus erbaut; dann
+lösen sich die erdengrauen Kämpfer aus Blut und Schlamm der
+Schützengräben ins Licht und Lied der Sterne und singen mit dem
+Brüderheer der Toten und den brausenden Stimmen der Wälder die große
+Schöpferfuge:</p>
+
+<blockquote> Zuletzt ist Gott nur noch alleine</blockquote>
+<blockquote> Zuckender Puls im All...</blockquote>
+<blockquote> Weit über Wind und Wassern hämmert seine</blockquote>
+<blockquote> Urewigkeit wie Flügel von Metall.</blockquote>
+
+<p>Ist Zechs Menschenglaube und -liebe von alttestamentlichem,
+prophetischem Eifer der Klage, des Zorns, der Forderung, so ist Franz
+Werfels (geb. 1890), des Pragers, Liebe zur Welt und Menschheit
+weicher, inniger, mystischer. Er stellt des Laotse Wort vor seine
+Gedichte: "Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf
+Erden" und Dostojewskis Wort: "Was ist die Hölle! Ich glaube, sie ist
+der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag." Immer tiefer
+und reicher sprechen seine Gedichtsammlungen "Der Weltfreund", "Wir
+sind", "Einander" "Der Gerichtstag" die Lebens- und Liebesverbundenheit
+aller Kreaturen aus. Nur als Erscheinung sind wir getrennt, im Wesen
+sind wir eins, eins in Gott. Noch im ärmlichsten Menschen, im
+verachtetsten Tier und Ding ist Gott verborgen, ringt Gott nach
+Offenbarung. Und diesen göttlichen Funken, diese göttliche Einheit
+hinter aller getrennten Erscheinung, hinter Armut, Eiter und
+Niedrigkeit zu suchen und zu lieben, ist unsere religiöse Aufgabe, ist
+der Sinn unseres Lebens: "Wer sich noch nicht zerbrach &mdash; Sich
+öffnend jeder Schmach &mdash; Ist Gottes noch nicht wach. &mdash; Erst
+wenn der Mensch zerging &mdash; In jedem Tier und Ding &mdash; Zu
+lieben er anfing."</p>
+
+<p>So fleht der Dichter aus der Dumpfheit und Einsamkeit irdischer
+Gebundenheit: "O Herr, zerreiße mich!" so braust der Bittgesang der
+neuen Menschheitsgemeinde:</p>
+
+<blockquote> Komm, Heiliger Geist, du schöpferisch!</blockquote>
+<blockquote> Den Marmor unserer Form zerbrich!</blockquote>
+<blockquote> Daß nicht mehr Mauer krank und hart</blockquote>
+<blockquote> Den Brunnen dieser Welt umstarrt,</blockquote>
+<blockquote> Daß wir gemeinsam und nach oben</blockquote>
+<blockquote> Wie Flammen ineinander toben!</blockquote>
+<blockquote> &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; Daß nicht mehr fern und
+unerreicht</blockquote>
+<blockquote> Ein Wesen um das andere schleicht,</blockquote>
+<blockquote> Daß jauchzend wir in Blick, Hand, Mund und
+Haaren</blockquote>
+<blockquote> Und in uns selbst dein Attribut erfahren.</blockquote>
+
+<p>Im Dichter wird dieses Gebet zuerst und zutiefst erfüllt: "In dieser
+Welt der Gesandte, der Mittler, der Verschmähte zu sein, ist dein
+Schicksal," kündet ihm der Erzengel &mdash; "Daß dein Reich von dieser
+Welt nicht von dieser Welt ist," diese Erkenntnis, "ist, o Dichter,
+dein Geburtstag". Und so offenbart und erlöst der Dichter hinter der
+Welt der Erscheinung die wahre Welt. Von der Welt der Armen, der
+Dienstboten, der Sträflinge, der Droschkengäule, der Nattern, Kröten
+und des Aases zieht er den täuschenden Schleier der Erscheinung und
+offenbart das Geheimnis Gottes. Er will nichts sein als "Flug und
+Botengang" des Ewigen, "eine streichelnde Hand", die allen
+einsam-ängstenden Kreaturen von der göttlichen Wärme und Liebe
+mitteilt. Nicht die "Eitelkeit des Worts" nur die Reinheit und Güte der
+Seele gibt ihm die Macht zur Offenbarung und Erlösung: "Der gute
+Mensch" ist der Befreier der Welt:</p>
+
+<blockquote> Und wo er ist und sein Hände breitet...</blockquote>
+<blockquote> Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung,</blockquote>
+<blockquote> Und alle Dinge werden Gott und eins.</blockquote>
+
+<p>Nicht die Erscheinung zu fliehen und vor der Zeit abzustreifen,
+sondern die Erscheinung zu durchseelen, zu vergöttlichen, ist der Sinn
+der Schöpfung, nachdem sie einmal im Sündenfall der Vereinzelung von
+Gott abgefallen ist. In der Welt will Gott offenbart und erlöst werden.
+Ergreifend spricht sich das im "Zwiegespräch an der Mauer des
+Paradieses" aus, wo Adam, müde des Erscheinungswandels, zur alten
+paradiesischen Einheit in Gott zurückverlangt und ihn anfleht: "Höre
+auf, mich zu beginnen!", Gott aber weist ihn zurück in die Welt:</p>
+
+<blockquote> Kind, wie ich dich mit meinem Blut erlöste,</blockquote>
+<blockquote> So wart' ich weinend, daß du mich erlöst.</blockquote>
+
+<p>Werfel ist ursprünglich, innig, oft franziskanisch-kindlich in
+seiner Religiosität; gerade, sicher und sehnend wächst seine Dichtung
+zum Himmel auf, wie ein gotischer Turm (erst im "Gerichtstag" gewinnt
+die Reflexion zersetzend Macht). Rainer Maria Rilkes, des älteren
+Pragers (geb. 1875), religiöse Lyrik ist mehr die Zierart am Turm, die
+Fülle und Unruhe der gotischen Skulpturen, der Heiligen, Tiere und
+Ornamente. Sie hat keine ursprüngliche, eigenmächtige Strebe- und
+Baukraft. Rilke ist der Ausgang eines alten Kärntner Adelsgeschlechtes,
+verfeinert, müde, heimatlos. In steten Reisen wechselte er zwischen
+Wien, München, Berlin, Rußland, Paris, Italien. Er lebt wie seine
+Gestalten "am Leben hin" nicht ins Leben hinein, durchs Leben hindurch.
+Die tiefsten Offenbarungen gibt ihm nicht das unmittelbare Leben,
+sondern das mittelbare: die Kunst. Erst in den Worpsweder Malern und
+ihrer Atmosphäre wird ihm die seelische Bedeutung der Landschaft, erst
+in der Kunst und dem Künstler Rodin die religiöse Bedeutung des
+Menschen Erlebnis. Rodin, bekennt er, habe ihn "alles gelehrt, was ich
+vorher noch nicht wußte, geöffnet durch sein stilles, in unendlicher
+Tiefe vor sich gehendes Dasein, durch seine sichere, durch nichts
+erschütterte Einsamkeit, durch sein großes Versammeltsein um sich
+selbst". Sein Buch über Rodin ist wohl sein tiefstes und reichstes
+Werk. Wie Rodin, der Gotiker unter dem Bildnern, den menschlichen
+Körper auflöst in Seele, so löst Rilkes "Stundenbuch" mit den drei
+Büchern "Vom mönchischen Leben", "Von der Pilgerschaft" "Von der Armut
+und vom Tode" die Körper und Dinge in Gott. "Es gab eine Zeit, wo die
+Menschen Gott im Himmel begruben... Aber ein neuer Glaube begann... Der
+Gott, der uns aus den Himmeln entfloh, aus der Erde wird er uns
+wiederkommen." So offenbart Rilke Gott in den Kindern, den Mädchen, dem
+Volk, den Armen, den Bauern, der Landschaft, und mehr als in den
+Menschen in den Dingen: "Weil sie, die Gott am Herzen hingen &mdash;
+Nicht von ihm fortgegangen sind." Aber diese Offenbarung wächst nicht
+wie bei Werfel aus unmittelbarem Lebensanteil und -zwiespalt und
+heiliger Gewißheit, sie wächst aus der Sehnsucht des heimatlosen
+Zuschauers und Künstlers und aus dem Wissen um viele religiöse
+Vorstellungen und Symbole. Ein russischer Mönch ist der Träger und
+Schreiber des Stundenbuches, und der ganze Stimmungsreichtum russischer
+Klöster, Kuppeln, Ikone, Gossudars wird genutzt. Anderen religiösen
+Gedichtzyklen, wie den "Engelliedern" und den "Liedern der Mädchen an
+Maria" werden präraffaelitische Erinnerungen zu Stimmungsträgern. Und
+die "Neuen Gedichte", die in der Fülle ihrer Bilder die Beziehungen der
+individuellen Erscheinungen zu den letzten Prozessen und Formen des
+Daseins gestalten wollen, tun dies nicht aus der drängenden Einheit und
+Tiefe eines ursprünglichen Weltgefühls, sondern im seelischen oder
+gedanklichen Umkreisen eines Themas. Oft gestaltete, künstlerisch schon
+reizvoll umspielte Themen locken Rilke besonders: Abisag, David vor
+Saul, Pieta, Sankt Sebastian, Orpheus und Eurydike, Alkestis, Geburt
+der Venus, Eranna an Sappho usw. In diesen Lebensbildern sucht und
+schafft die Seele sich Heimat, der das Leben selber sich verschließt.
+Und sie bringt ihnen all ihre menschliche und künstlerische
+Feinfühligkeit und Bewußtheit als Gastgeschenk. Frühzeitig hat Rilke
+sich seinen Sprachstil geschaffen von solcher Eigenheit, daß er die
+Grenze der Manier streift. Unscheinbare Worte weiß er neu zu beseelen,
+verbrauchte Bilder auf ihren Ursinn zurückzuführen, Gleichnisse preziös
+auszubauen. Durch Assonanz, Binnenreim und Häufung des Endreims weiß er
+der Sprache eine slawische Weichheit und Klangfülle zu geben. Im
+letzten Gedichtbuch, der "Neuen Gedichte zweiter Teil", gewinnt jedoch
+das Artistische bedenklich Raum.</p>
+
+<p>Die Neigung zur Mystik ist Gefahr und Flucht für eine Zeit, die die
+Form der Persönlichkeit wiedergewinnen, nicht aufgeben soll. Nicht
+ichflüchtig, sondern im tiefsten ichsüchtig mußte der Lyriker werden,
+der zur Form der neuen Lyrik: zur Form des neuen Menschen vordringen
+wollte. Und wenn niemand durch die Zeit hindurch zu ihr drang, wenn
+selbst Richard Dehmel, dem stärksten Bildner, deren zersetzte Elemente
+bröckelnd in den Händen blieben, so konnte nur der die reine Form der
+Persönlichkeit, des neuen Menschen bilden, der es von Anfang an außer
+der Zeit und gegen de Zeit unternahm. So ist die Persönlichkeit und
+Dichtung Stefan Georges (geb. 1866) Form geworden.</p>
+
+<p>Der Wille zur Form war das Wesengesetz Georges von früh auf. Er
+selbst weist darauf hin, daß ihm die Formkräfte des römischen
+Imperiums, des Katholizismus, der rheinischen Landschaft im Blute
+mitgegeben seien. Zuerst wurde dieser Formwille ästhetisch seiner
+bewußt. Die "Blätter für die Kunst" die er 1892 gegründet, förderten
+&mdash; beeinflußt von den Präraffaeliten und von französischen
+Lyrikern, wie Baudelaire, Verlaine, Mallarmé, Villiers &mdash; eine
+"Kunst für die Kunst", sahen "in jedem Ereignis, jedem Zeitalter nur
+ein Mittel künstlerischer Erregung". Aber hinter diesem Willen zur
+ästhetischen Form rang und schuf bei George &mdash; nicht bei seinen
+Mitläufern &mdash; der Wille zu Lebens- und Wesensformen. Und weil er
+diese in der eigenen Zeit nicht fand, weil aus deren zersetzten
+Elementen auch keine reinen Formen zu bilden waren, floh seine Seele
+"vorübergehend in andere Zeiten und Örtlichkeiten", um dort die
+Urformen des Menschentums in ihrer Reinheit wieder zu suchen und
+bildhaft zu erneuern. In Algabal, dem römischen Priesterkaiser, fand er
+sein antikes Gegenbild: den Jüngling, den es verlangte, unabhängig von
+einer zergehenden Um- und Außenwelt ein Leben und Reich reiner
+Schönheit, reiner Formen zu schaffen:</p>
+
+<blockquote> Schöpfung, wo nur er geweckt und verwaltet,</blockquote>
+<blockquote> Wo außer dem seinen keine Wille schaltet,</blockquote>
+<blockquote> Und so er dem Wind und dem Wetter gebeut.</blockquote>
+
+<p>Der Schatten Ludwigs II. weht durch diese Strophen. Aber an der
+Vermessenheit des Einsam-Überheblichen zerbricht diese Welt. Aus dem
+Abseits und der Vereinzelung spätrömischen Herrschertums fliehen die
+"Hirtengedichte" in die mythisch geläuterten Urformen naturhaft schönen
+und reinen Menschentums, wie sie die Griechen zuerst gewahrt und
+gebildet haben. Hier beginnt die tiefe Wesensverwandtschaft Georges mit
+der Antike deutlich zu wurden. Das Christentum hatte in seiner
+Weltflüchtigkeit, seiner metaphysischen Sehnsucht und Wertung
+formsprengende Elemente in sich aufgenommen; nur im südlichen und
+rheinischen Katholizismus waren Himmel und Erde in Lebensfreude und
+Bildhaftigkeit eins geblieben. Georges reinem Formenwillen konnte nur
+eine antikische Weltanschauung genugtun, in der Gott und Welt, Seele
+und Leib sich restlos durchdrangen, und in der Schönheit der Gestalt
+zur vollkommenen Form gelangen. "Den Leib vergotten und den Gott
+verleiben", das war ihm der Sinn alles Weltgeschehens, darin Natur und
+Kunst sich trafen. Für diese religiöse Aufgabe bedurfte die Dichtung
+einer vollen Erneuerung ihrer Formsubstanz: der Sprache. Und von Anfang
+an hatte George sich darum gemüht, die epigonenhaft verbrauchten
+Elemente der deutschen Sprache neu zu schaffen. Er war in den Geist und
+Klang von sieben fremden Sprachen eingedrungen. In unermüdlichen
+Übersetzungen hatte er die deutsche Sprache bereichert, durchglüht und
+gehämmert. Im "Algabal" war ihm die Sprache ganz zu eigen geworden; es
+waren keine übernommenen und verbrauchten Elemente mehr in ihr, sie war
+wieder ursprünglich, war imstande, seinen neuen reinen. Wesens- und
+Lebensformen in reiner Sprachform Gehalt zu geben.</p>
+
+<p>Nun war George stark genug, von seiner Flucht in die Welt der
+Geschichte zurückzukehren, nicht mehr Urbilder vergangener Zeiten zu
+erneuern, sondern Urkräfte zu bannen. Im "Jahr der Seele" (1897)
+offenbart er Urformen der Natur.</p>
+
+<p>Die Natur ist ihm kein Gegensatz zum Geist oder zur Seele, ist ihm
+die Lebenseinheit beider, ursprünglich und ewig wie die Antike, die
+keine entgötterte und entseelte Natur kannte. So erschienen im "Jahr
+der Seele" die Urformen der Natur, die Jahreszeiten, in Bildern von
+räumlicher Gegenständlichkeit und Farbigkeit und zugleich tiefster
+Seelenhaftigkeit. Die Seele sucht hier nicht &mdash; wie bei Goethe
+&mdash; die Natur, um an ihr sich zu finden und auszusprechen; beide
+sprechen sich in ursprünglicher, kosmischer Einheit aus. Urformen der
+Natur offenbaren sich als Urformen der Seele, Urformen der Seele als
+Urformen der Landschaft. So sind es keine Stimmungs-, sondern
+Schicksalsbilder, die diese Gedichte schaffen. Die Fülle des Herbsttags
+hebt an, die reife Ernteruhe und -klarheit, der Friede der Erfüllung,
+den doch der Vers Hebbels schon ahnend durchschauert: "So weit im Leben
+ist zu nah am Tod." Wie sind Seele und Landschaft eins in solchem
+Gedicht:</p>
+
+<blockquote> Wir schreiten auf und ab im reichen Flitter</blockquote>
+<blockquote> Des Buchenganges beinah bis zum Tore</blockquote>
+<blockquote> Und sehen außen in dem Feld von Gitter</blockquote>
+<blockquote> Den Mandelbaum zum zweitenmal im Flore.</blockquote>
+
+<blockquote> Wir suchen nach den schattenfreien Bänken,</blockquote>
+<blockquote> Dort, wo uns niemals fremde Stimmen
+scheuchten,</blockquote>
+<blockquote> In Träumen unsre Arme sich verschränken,</blockquote>
+<blockquote> Wir laben uns am langen, milden Leuchten.</blockquote>
+
+<blockquote> Wir fühlen dankbar, wie zu leisem Brausen</blockquote>
+<blockquote> Von Wipfeln Strahlenspuren aus uns tropfen,</blockquote>
+<blockquote> Und blicken nur und horchen, wenn in Pausen</blockquote>
+<blockquote> Die reifen Früchte an den Boden klopfen.</blockquote>
+
+<p>Erst nachdem George die Urformen der Geschichte und der Natur
+erlebt, erneuert und gebannt, ist er geläutert und gestählt zur Weihe
+der Berufung. Jetzt erscheint ihm der Engel des "Vorspiels": "Das
+schöne Leben sendet mich an Dich &mdash; Als Boten." Der Geist des
+Lebens erscheint ihm jetzt, des "schönen Lebens", dem alles Dasein
+reine Einheit ist und klare Form. Der hebt ihn zu sich auf die heilige
+Höhe der Sendung. Die reinen Formen, die er bisher nur erfahren und
+erneuert &mdash; jetzt darf er sie am Urquell mit schauen und
+-schaffen; ein Leben der Weihe wartet seiner, in dem jede Stunde sich
+sinnvoll einordnen, schöpferisch rechtfertigen will. Aber die Gnade der
+Berufung fordert das Opfer, die Hingabe, den ausschließlichen Dienst
+des Berufenen. Aus irdischem Glück und menschlicher Wärme schreitet er
+zur Gipfelhöhe, Gipfeleinsamkeit, Gipfeleisigkeit.</p>
+
+<p>"Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten
+Geheiß, das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens
+zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und
+keinen, sondern aus dem einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich,
+dann gilt es dadurch den anderen; und was ihn ruft, weckt auf die
+Ohren, die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte
+und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. S i c h
+gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und
+das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eigenen
+Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des
+Lebens... und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form
+fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er, was an der Zeit
+war. Dantes Gesetz hieß: Schaue i Gott... Goethes: Werde Welt...
+Georges: Gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten
+dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis
+zur Vollendung." (Gundolf.)</p>
+
+<p>Erst der also Geweihte vermag aus dem Geist des Lebens den "Teppich
+des Lebens" (1900) zu zeichnen: die geistigen Urbilder des Menschentums
+in Natur und Geschichte, "das Kräftereich europäisch-deutscher
+Menschenbildung in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen
+Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genius". (Gundolf.) Wie
+"ein Epos des Erdgeistes" beginnt die Reihe mit dem mütterlichen Grunde
+alles Menschentums, der "Urlandschaft", in der Mensch, Tier und Erde
+noch unbewußt und einig sind: "Erzvater grub, Erzmutter molk, &mdash;
+Das Schicksal nährend für ein ganzes Volk."</p>
+
+<p>Zum erstenmal in dieser epischen Bilderfolge taucht in Georges Werk
+das Volk als Urform des Menschentums auf und als Urform seines
+Menschentums das deutsche Volk. Im Vorspiel hatte der Geist des Lebens
+ihn aus den magischen Landschaften des Südens zu "den einfachen
+Gefilden", der "strengen Linienkunst" der heimischen, rheinischen
+Landschaft geführt:</p>
+
+<blockquote> Schon lockt nicht mehr das Wunder der
+Lagunen,</blockquote>
+<blockquote> Das allumworbene, trümmergroße Rom,</blockquote>
+<blockquote> Wie herber Eichen Duft und Rebenblüten,</blockquote>
+<blockquote> Wie sie, die deines Volkes Hort behüten
+&mdash;</blockquote>
+<blockquote> Wie deine Wogen &mdash; lebensgrüner Strom!</blockquote>
+
+<p>Jetzt ist ihm das Volk als Urform deutlich geworden, die ihn selber
+umfaßt, die Wesens- und Geschichtskräfte des deutschen Volkes. Seine
+Sendung ist zur deutschen Sendung geworden: Indem er die reinen Kräfte
+des deutschen Volkes in sich zur Gestalt bildet, wird er auch der
+Bildner seines Volkes sein. &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>"Den Leib vergotten und den Gott verleiben": die Einheit von Welt
+und Gott, Natur und Geist, Leib und Seele war Georges Weltanschauung
+und -aufgabe. Sie sollte und mußte er erleben, erschauen, erschaffen.
+Das höchste Symbol dieser Einheit ist der Gott-Mensch. Und wenn je die
+Menschheit dieses Symbols bedurfte zu ihrer Vollendung &mdash; George
+konnte sich nicht begnügen, seine Weltanschauung in zerstreuten Bildern
+zu schauen und zu schaffen; sie mußte sich ihm in einer Gestalt
+verdichten. Das war die höchste Möglichkeit seiner Weltanschauung. Und
+seinem Formsehnen und -willen war die höchste Möglichkeit auch die
+höchste Notwendigkeit. So schaute und schuf er in Maximin, der
+geliebten Gestalt eines schönen, früh gestorbenen Jünglings und
+Jüngers, das Bild des Gott-Menschen, darin die Welt vollkommen ward.</p>
+
+<p>"Wir gingen", heißt es in Georges Maximin-Rede, "einer entstellten
+und erkalteten Menschheit entgegen, die sich mit ihren vielspältigen
+Eingenschaften und verästelten Empfindungen brüstete, indessen die
+große Tat und die große Liebe am Entschwinden war. Massen schufen Gebot
+und Regel und erstickten mit dem Lug flacher Auslegung die Zungen der
+Rufer, die ehemals der Mord gelinder beseitigte: unreine Hände wühlten
+in eincm Haufen von Flitterstücken, worein die wahren Edelsteine
+wahllos geworten wurden. Zerlegender Dünkel verdeckte ratlose Ohnmacht,
+und dreistes Lachen verkündete den Untergang des Heiligtums." Da
+erschien in Maximin der göttlich einfsch schöne Mensch, "Einer, der von
+den einfachen Geschehnissen ergriffen wurde und uns die Dinge zeigte,
+wie die Augen der Götter sie sehen." In ihm ward der erstarrten Zeit
+der Erlöser:</p>
+
+<blockquote> Die starre Erde pocht,</blockquote>
+<blockquote> Neu durch ein heilig Herz.</blockquote>
+
+<p>Die Gedichte auf das Leben und den Tod Maximins, seine Feier,
+Verklärung und Wirkung bilden die Gipfelhöhe des "Siebenten Rings"
+(1907). Von ihr aus sind die "Gestalten" geschaut, der zweite Zyklus
+des Werkes, "der Aufruf der letzten gotteshaltigen oder
+gottesmörderischen Urwesen zur Wende der Gesamtmenschheit". (Gundolf.)
+Im Vor- und Aufblick zu ihr ist in den "Zeitgedichten" die Gegenwart zu
+Gericht gerufen, verworfen in ihrer Fäulnis und Finsternis, gesegnet in
+den einsam ragenden Lichtgestalten, den Vorbildern: Nietzsche, Böcklin,
+Leo XIII., denen Dante, Goethe, Karl August, die alten deutschen Kaiser
+sich in ewiger Lebendigkeit zugesellen: Urformen höheren Menschentums,
+wie Held und Herrscher, Priester, Seher und Dichter usw. Hier wird
+George Gewissen und Stimme der Zeit.</p>
+
+<p>Im "Stern des Bundes" (1914) wird die Zeitschau, die in den
+"Zeitgedichten" nur aus der Ahnung des Göttlichen geschah, aus seinem
+Schauen und Wissen gegeben. Hier wächst George zum gewaltigen Richter
+und Propheten der Zeit empor. Ein paar Monate vor Beginn des
+Weltkrieges hat er hier aus heiligen Höhen den chaotischen Untergang
+der zersetzten Zeit gesichtet und gerichtet:</p>
+
+<blockquote> Aus Purpurgluten sprach des Himmels Zorn:</blockquote>
+<blockquote> Mein Blick ist abgewandt von diesem Volk.</blockquote>
+<blockquote> Siech ist der Geist! Tot ist die Tat!</blockquote>
+
+<p>In einer ungeheuren Vision sieht und hört er in gewitternden Lüften
+schreitende Scharen, klirrende Waffen, jubelnd drohende Rufe: den
+"letzten Aufruf der Götter über diesem Land". Er sieht den maß- und
+haltlosen Bau der Zeit wanken und zusammenstürzen. Er fühlt die
+furchtbare Gewißheit:</p>
+
+<blockquote> Zehntausend muß der heilige Wahnsinn
+schlagen,</blockquote>
+<blockquote> Zehntausend muß die heilige Sache raffen,</blockquote>
+<blockquote> Zehntausende der heilige Krieg.</blockquote>
+
+<p>Er hört sein Prophetenwort, seinen Schrei zur Umkehr verhallen, als
+wäre nichts geschehen. Und im letzten, flammenden Gesicht sieht er den
+Herrn des Gerichtes:</p>
+
+<blockquote> Weltabend lohte...wieder ging der Herr</blockquote>
+<blockquote> Hinein zur reichen Stadt mit Tor und
+Tempel,</blockquote>
+<blockquote> Er arm, verlacht, der all dies stürzen
+wird,</blockquote>
+<blockquote> Er wußte: kein gefügter Stein darf stehn,</blockquote>
+<blockquote> Wenn nicht der Grund, das Ganze sinken
+soll.</blockquote>
+<blockquote> Die sich bestritten, nach dem Gleichen
+trachtend:</blockquote>
+<blockquote> Unzahl von Händen rührte sich und Unzahl</blockquote>
+<blockquote> Gewichtiger Worte fiel und eins war not.</blockquote>
+<blockquote> Weltabend lohte...rings war Spiel und Sang,</blockquote>
+<blockquote> Sie alle sahen rechts &mdash; nur er sah
+links.</blockquote>
+
+<p>Und als die Vision Wahrheit geworden, das Weltverhängnis
+niedergebrocben war, als immer noch "In beiden Lagern kein Gedanke
+&mdash; Wittrung &mdash; Um was es geht", als aller Augen immer noch
+nur das strategische Hin und Her anstarrten, da kündete er in seinem
+Gedicht "Der Krieg" (1917):</p>
+
+<blockquote> Der alte Gott der Schlachten ist nicht
+mehr.</blockquote>
+<blockquote> Erkrankte Welten fiebern sich zu Ende</blockquote>
+<blockquote> In dem Getob.</blockquote>
+<blockquote> &mdash; &mdash; &mdash;</blockquote>
+<blockquote> Zu jubeln ziemt nicht: kein Triumpf wird
+sein.</blockquote>
+<blockquote> Nur viele Untergänge ohne Würde.</blockquote>
+<blockquote> &mdash; &mdash; &mdash;</blockquote>
+<blockquote> Keiner, der heute ruft und meint zu führen,</blockquote>
+<blockquote> Merkt, wie er tastet im Verhängnis, keiner</blockquote>
+<blockquote> Erspäht ein blasses Glüh'n vom Morgenrot.</blockquote>
+<blockquote> Weit minder wundert es, daß so viel
+sterben,</blockquote>
+<blockquote> Als daß so viel zu leben wagt.</blockquote>
+<blockquote> &mdash; &mdash; &mdash;</blockquote>
+<blockquote> Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot
+sind.</blockquote>
+
+<p>Aber eben weil George von heiligen Höhen über die Zeit hinwegsah,
+sah er auch weiter, über den Zerfall und Untergang hinaus, mündete sein
+Kassandraruf in die heilig-liebende deutsche Verheißung:</p>
+
+<blockquote> Doch endet nicht mit Fluch der Sang. Manch
+Ohr</blockquote>
+<blockquote> Verstand schon meinen Preis auf Stoff und
+Stamm,</blockquote>
+<blockquote> Auf Kern und Keim...schon seh' ich manche
+Hände</blockquote>
+<blockquote> Entgegen mit gestreckt, sag' ich: O Land,</blockquote>
+<blockquote> Zu schön, als daß ich dich fremder Tritt
+verheere:</blockquote>
+<blockquote> Wo Flöte aus dem Weidicht töne, aus Halmen</blockquote>
+<blockquote> Windharfen rauschen, wo der Traum noch webt</blockquote>
+<blockquote> Untilgbar durch die jeweils trünnigen
+Erben...</blockquote>
+<blockquote> Wo die allbühende Mutter der verwildert</blockquote>
+<blockquote> Zerfallnen weißen Art zuerst enthüllte</blockquote>
+<blockquote> Ihr echtes Antlitz...Land, dem viel
+Verheißung</blockquote>
+<blockquote> Noch innewohnt &mdash; das drum nicht untergeht,
+&mdash; &mdash; &mdash;</blockquote>
+<blockquote> Die ruft die Götter auf.</blockquote>
+
+<p>Der "Geist der heiligen Jugend unseres Volkes", der &mdash; in
+Maximin göttliche Gestalt geworden &mdash; schon im "Stern des Bundes"
+verkündet und in Lehre und Liebe dort unterwiesen war, wird in
+Frommheit und Würde, Zucht und Opfer, Größe und Schöne die zerfallene
+Welt erneuern.</p>
+
+<p>Als einziger einer zersetzten Zeit hat Stefan George seine Wesenheit
+in Leben und Lyrik zur reinen Form geläutert, urbildlich erhöht und
+vollkommen gestaltet. Mag das Gesetz seines Wesens wenigen gemäß sein
+&mdash; er ragt in die Zeit als Standbild des in sich Vollendeten, ein
+Vorbild jedem, das Gesetz seines eigenen Wesens zu ergründen, zu leben,
+zu formen und im eigenen göttlichen Keim die Kraft Gottes im
+entgötterten Europa zu befreien.</p>
+
+
+
+
+<h2><a name="mus">DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART<br>VON PAUL BEKKER</a></h2>
+
+<p>Was ist das: deutsche Musik? Fragt man einen Franzosen nach
+französischer, einen Italiener nach italienischer, selbst den Engländer
+nach englischer, den Amerikaner nach amerikanischer Musik, so wird die
+Antwort ohne jegliches Zaudern und Besinnen folgen. Der Russe wird
+vielleicht einige Unterscheidungen machen zwischen rein nationaler und
+aus westeuropäischen Quellen befruchteter Kunst, aber auch er wird
+nicht zögern, etwa Tschaikowski trotz dessen Abhängigkeit von
+außernationalen Anregungen als Vertreter russischer Musik anzusprechen.
+Und nun stelle man vielleicht in einer deutschen Musikzeitschrift die
+Frage: Was ist deutsche Musik, welches sind ihre Vertreter! Man wird
+ebensoviel einander widersprechende Antworten erhalten, wie die Erde
+Nationalitäten zählt. Unter den Lebenden zum mindesten ist kaum einer,
+dessen Musik von allen Seiten als einwandfrei "deutsch" anerkannt
+würde. Strauß, der den deutschen Namen am stärksten nach außen getragen
+hat, wird von den Bayreuther Siegelbewahrern in einem beträchtlichen
+Teil seines Schaffens als "undeutsch" abgelehnt, Pfitzners Musik wurde
+während des Krieges von Berlin aus als "undeutsch, weil zukunftsarm"
+gekennzeichnet, Reger gilt als verworren, Mahler und Schönberg sind
+Juden, also nicht diskussionsfähig, von Schreker in solchem
+Zusammenhange auch nur zu sprechen, wäre Lästerung. Jeder dieser
+Komponisten hat seine eigene Anhängergruppe, ihre Hauptaufgabe ist, die
+Minderwertigkeit der anderen ihrem Idol gegenüber festzustellen, und
+die Worte "deutsch" und "undeutsch" spielen dabei die ausschlaggebende
+Rolle.</p>
+
+<p>Man könnte sagen, daß eine Nation, die nicht vermag,
+verschiedenartige individuelle Eigenschaften ihrer eigenen
+Schöpferpersönlichkeiten in ihren Kulturbezirk einzuordnen, sehr
+enggefaßte Begriffe von ihren eigenen Fähigkeiten haben muß. Man sieht
+schließlich, daß auf diesem Wege eine Erkenntnis überhaupt nicht
+möglich ist, daß es sich vielmehr bei solchen Streitereien um einen
+schmählichen Mißbrauch des Wortes und Begriffes "deutsch" handelt. Eine
+Zusammenfassung, eine Einigung aller verschiedenartigen, aus einem
+Stamme erwachsenen Erscheinungen sollte es sein, ein trennendes
+Kampfmittel subjektiv kritischer Wertung ist es gegenwärtig geworden.
+Gegen solche Mißdeutung eines kulturellen Sammelbegriffes zu einseitig
+parteiischer Nutzanwendung ist von vornherein Einspruch zu erheben,
+wenn ernsthaft und sachlich von deutscher Musik gesprochen werden soll.
+Als deutsch gilt uns nicht diese oder jene subjektive Eigenheit des
+Künstlers, diese oder jene stilkritische Beschaffenheit des Werkes,
+auch nicht Gesinnung oder gar Tendenz des Schaffens. Als deutsch gilt
+uns alles, was dem Kreise der deutschen Kultur entwachsen ist, in ihm
+seinen geistigen Nährboden gefunden, ihm eigene Früchte zugetragen hat
+und so seiner Erscheinung in der Welt neue Geltung, neue Form gewinnt.
+Dieser Begriff des Deutschtums ist nichts unveränderlich Feststehendes,
+kein gegebenes Maß, dem alles unterworfen wird. Es ist ein stetig
+Wechselndes. Eben an dieser Fähigkeit des Wechselns der Erscheinung
+offenbart sich die innere Produktionskraft der nationalen Kultur. Wie
+das Deutschtum Luthers ein anderes war als das Goethes und dieses
+wieder ein anderes als das Wagners oder Bismarcks, und jede dieser
+großen Kundgebungen deutschen Geistes verzerrt würde, wollte man sie
+mit dem Maß der anderen messen, so gilt auch für unsere Zeit keine
+Norm, sondern zunächst nur der Wert der Erscheinungen. Erst aus
+aufmerksamer Betrachtung ihrer Vielfältigkeit und vorurteilsfreier
+Zusammenfassung aller Strömungen vermögen wir das Deutschtum der
+Gegenwart zu erkennen, über sein Wollen und Können Klarheit zu
+gewinnen.</p>
+
+<p>Der Franzose, der Italiener, der Engländer weiß dies, der Deutsche
+muß es noch lernen. Daß wir gegenwärtig gerade in der Musik im Kampfe
+miteinander stehen um diese Grundkenntnis, ist ein bedeutsamer Zug
+unseres kulturellen Lebens. Es mag hier unerörtert bleiben, wie weit
+politische Erbitterung zu solcher Trennung der Geister beigetragen hat,
+obschon die Tatsache, daß politische Momente überhaupt auf
+künstlerische Fragen Einfluß gewinnen konnten, als Symptom bedeutsam
+erscheint. In Wirklichkeit ist die politische Abirrung nur
+Begleiterscheinung eines Kunstlebens, das nach irgendwelchen geistigen
+Richtpunkten sucht, weil es sich von seinen natürlichen Nährquellen
+abgeschnitten fühlt, weil es den tiefen ethischen Antrieb des
+Kunstwillens verloren hat. Dieser Antrieb kommt aus dem Volk, aus dem
+Verlangen nach Formung der schöpferischen Kräfte des Volkes im Symbol
+des Kunstwerkes. Solche Formung geschah, als Bach die Matthäuspassion,
+als Mozart die Zauberflöte, als Beethoven seine Sinfonien schrieb. Aus
+dem Wunsch nach solchem Einklang von Volk und Künstler träumte sich der
+Romantiker Wagner in den Mythos der Vorzeit zurück, baute er Bayreuth,
+um dort sein "Volk" zu sammeln. Dieses Bayreuth an sich war schon ein
+Zeichen, daß die Gesamtheit des Volkes nicht so auf den Künstler hörte,
+wie er es wünschte, daß es ihn in wesentlichem mißverstand und er, um
+sich nach seinem Willen vernehmbar zu machen, eine Auslese aufrufen
+mußte. Rastlose Sehnsucht und gewaltige Tatkraft ermöglichten das
+Gelingen, das Kunstwerk wurde noch einmal zur Darstellung stärksten
+geistigen Gemeinschaftslebens, nicht mehr aus naiver Unbewußtheit, aber
+doch in imposanter Willensspannung und ohne Inanspruchnahme
+außerkünstlerischer Mittel. Seit dieser letzten zusammenfassenden Tat
+aber ist der Riß zwischen Volksgemeinschaft und Künstler scheinbar
+unüberbrückbar geworden. Die heutige Verwirrung der Geister, der Streit
+um deutsche und undeutsche Musik, der Versuch, die Teilnahme an der
+Kunst durch Entfachung politischer Leidenschaften zu steigern, ist
+nichts als Bekenntnis der Ohnmacht, durch die Kunst selbst unmittelbar
+an die Seele des Volkes zu gelangen. Statt des Volkes, statt der
+Gemeinschaft bietet sich dem Musiker die Öffentlichkeit. Sie ist nicht
+imstande, aus sich heraus Impulse zu geben, sie ist nichts als eine
+Verbrauchsgenossenschaft. Sie verlangt interessiert zu werden, die
+Wertung besorgt eine eigens dafür bestellte Fachkritik in den
+Sprechorganen der Öffentlichkeit: den Zeitungen. So ist die Musik aus
+einer Gemeinschafts-eine Fachangelegenheit geworden, für die nur der
+fachlich Interessierte verpflichtende Teilnahme hegt. So wird die
+Basis, auf der das Werk des Künstlers ruht, verhängnisvoll eingeengt
+und gleichzeitig das von seinen Musikern verlassene Volk zur
+Befriedigung seines Musikverlangens dem Gassenhauer zugedrängt.</p>
+
+<p>Man muß, um einen Blickpunkt für das Gesamtbild der heutigen
+deutschen Musik zu gewinnen, sich dieser Lage bewußt werden. Es kommt
+zunächst nicht darauf an, zu untersuchen, welche Ursachen dieses
+Ergebnis herbeiführten. Es kommt darauf an, den Sachverhalt selbst
+deutlich zu erkennen. Erst von dieser Erkenntnis aus ist es möglich,
+die heut tätigen Kräfte richtig zu sehen und zu werten, ohne dabei dem
+persönlichen Geschmacksurteil die Entscheidung zu überlassen. Dieses
+ist hier Nebensache. Eine Bestandaufnahme der gegenwärtigen
+schöpferischen Kräfte, eine Aussage über "deutsche Musik der Gegenwart"
+kann nicht die Aufzählung einer Reihe subjektiver Meinungsäußerungen
+über einzelne namhafte Komponisten erstreben. Sie muß fragen: Wie steht
+die heutige Musik zu unserem Volkstum, welchen Beitrag bietet sie zum
+Kulturleben der Nation und damit der Menschheit? Wo und wie lebt in der
+Musikerschaft der Drang, über die spezialisierte Fachkunst hinaus zur
+prophetischen Erfassung und Deutung seelischer Grundkräfte, über die
+Wirkung auf die Öffentlichkeit hinweg wieder zum Organ des Volkes, zur
+Künderin von Gemeinschaftsideen emporzuwachsen?</p>
+
+<p>Wie aber ist das Kriterium hierfür zu finden? Wollte man sämtliche
+deutsche Komponisten und Musikästhetiker der Gegenwart befragen, ob
+ihnen nicht ein solches Ziel als erstrebenswert gilt und vorschwebt, so
+würde die Antwort zweifellos von allen Seiten bedingungslos bejahend
+lauten. Und dies trotz der tiefgreifenden Wesensverschiedenheiten von
+Menschen, die einander hassen, verfolgen, verächtlich machen. So
+verheerend wirkt im Deutschen das Subjektivistische der romantischen
+Lebens- und Weltidee, daß kein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit,
+keine Erkenntnis des Gemeinschaftszieles die Begrenztheit des
+Individuellen zu überwinden, die Notwendigkeit verschieden gerichteter
+Willenskräfte achten zu lehren vermag. In dieser Unfähigkeit, die
+Möglichkeit mehrerer gleichzeitiger und doch gegensätzlicher Lösungen
+einzusehen, liegt eine verhängnisvolle Erschwerung der Annäherung von
+Künstler und Volk. Sie treibt den Schaffenden naturgemäß zu immer
+stärkerer Betonung persönlicher Einseitigkeit, sie verengt seinen
+Blick, sie läßt ihn den Begriff des Volkes nicht in der vollen
+Erfassung aller Kräfte, aller Lebensenergien, sondern in bewußt
+einseitiger Betonung individueller Wünsche, in gewollt ausschließlicher
+Hervorhebung besonderer Absichten suchen. Diese fanatische Übertreibung
+des Subjektivistischen, diese Verkennung der natürlichen Bedingtheiten
+des Persönlichen ist die Hauptursache nicht nur der gegenwärtigen
+Zersplitterung der Kräfte, auch der Entfremdung der Kunst gegenüber dem
+Volke, ihrer allmählichen Entwurzelung. Die Masse hat im Grunde kein
+Verständnis, sie hat &mdash; mit Recht &mdash; auch keine Teilnahme für
+die Kämpfe, die ausgefochten werden um Spezialfragen und über die nur
+die Studierten mitreden können. Das Volk fragt ebensowenig nach den
+Prinzipien der Kunstauffassungen, wie es nach dogmatischen Einzelheiten
+der Religionen fragt. Es hängt der Religion an, die ihm Botschaft
+bringt vom Übersinnlichen, es verlangt nach der Musik, die an seine
+Seele greift und seinem Geiste Aufschwung gibt. Das Theologengezänk
+aber der "Richtungen" ist ihm gleichgültig, und wenn solches übergreift
+auf die Produktion, macht es ihm diese verächtlich. Was nützt
+demgegenüber der gute Wille, die wohlmeinende Absicht der Künstler, die
+bekehren und demonstrieren wollen, statt glauben zu machen! Ihr Eifer
+ist nicht rein, denn es steht der Ehrgeiz der Propagandisten dahinter,
+ihre Kunst ist nicht überzeugend, denn ihr fehlt die Naivität des
+Absichtslosen.</p>
+
+<p>Diese Naivität, diese Absichtslosigkeit, diese vorbehaltlose
+Überzeugungskraft des Naturnotwendigen ist das Kriterium für die
+Bedeutung des Kunstwerkes, für die Echtheit des Schöpferwillens. Erst
+oberhalb solcher Voraussetzungen kann subjektive Wertung beginnen, die
+dann Frage des Geschmackes ist, an die entscheidenden Grundbedingungen
+aber nicht rührt. Wenn wir die Kräfte der Gegenwart erforschen wollen
+auf ihr Verhältnis zum Volkstum, auf ihre Fähigkeit prophetischer
+Deutung seelischer Grundkräfte, auf ihre Berufung zur Kündung von
+Gemeinschaftsideen, so werden wir nicht nach ihrem ästhetischen
+Programm fragen, nicht nach ihren erzieherischen Tendenzen, auch nicht
+nach ihren stilkritischen Kennzeichen. Wir werden fragen, wo und wie
+sich über diese persönlichen Merkmale hinaus ein schöpferischer Urtrieb
+betätigt, der, alles willensmäßig Bewußte weit hinter sich lassend, aus
+tiefstem Zwang des Müssens in absichtsloser Wahrhaftigkeit schafft und
+dadurch zum Wecker elementarer Gefühlskräfte wird. Was solcher
+Fragestellung standzuhalten vermag aus dem großen Bereich deutschen
+Kulturgebiete, das ist deutsch, und das vermag entscheidende Auskunft
+zu geben darüber, wie sich deutscher Geist der Gegenwart in der Musik
+darstellt.</p>
+
+<p>Religiöse Grundlagen sind die einfachsten, für die Erfassung
+weitreichender Wirkungen sichersten Stützen des Kunstwerkes. Sie
+umspannen Ideenkomplexe, die jeder ernsthaften Natur vertraut und
+zugänglich sind, mit denen zu beschäftigen immer das Verlangen der
+besten Menschen ist, und die zudem allen Graden persönlicher Bildung
+zugänglich sind. Zeiten, in denen die Kirche den religiösen Drang zu
+befriedigen und in lebendige Kultformen zu fassen wußte, sind daher für
+jede Kunst, insbesondere für die Musik, stets Zeiten der Hochblüte
+gewesen. Der Gregorianische Choral, das Werk der Niederländer, der
+alten Italiener mit Palestrina, in Deutschland der protestantische
+Choral, die Zeit der großen Kirchenkomponisten bis Bach sind Denkmäler
+dieses Zusammenwirkens von Kirche und Kunst. Die unabmeßbare Kraft der
+Musik Bachs beruht zum nicht geringen Teil darauf, daß in ihr kirchlich
+religiöse Kultformen Grundriß, Aufbau und innere Führung der
+künstlerischen Schöpfung mitbestimmt haben. Gewiß ist es richtig, das
+einzig das Genie Bachs eine solche Steigerung der gegebenen Kultformen
+ermöglicht hat, denn zahllose andere Musiker, die sich vor, neben und
+nach ihm ähnlich betätigten, sind heut vergessen. Gewiß ist es
+ebenfalls richtig, daß wir heut auch Bachs kirchliche Musik nicht mehr
+aus der Gefühlseinstellung der konfessionell gläubigen Gemeinde
+aufnehmen. Aber weder die Erkenntnis der Einzigartigkeit von Bachs
+Genie, noch der Hinfälligkeit der für ihn grundlegenden Kultformen
+verringert die Bedeutung der Tatsache, daß hier Genie und Kultus in
+gegenseitiger Durchdringung zu einem zeitlosen Ganzen emporgewachsen
+sind. So unrichtig es wäre, Bach in seinen Passionen, Kantaten, Messen,
+Chorälen, Motetten etwa nur als Interpreten kirchlicher Formideen
+anzusehen, so falsch wäre es, die lebenspendende Kraft dieser Formen zu
+unterschätzen und die Dauer dieser Werke ausschließlich als subjektive
+Leistung Bachs anzusehen. Hier hatte ein starkes Gemeinschaftsgefühl
+aus der Kultur einer Zeit Voraussetzungen geschaffen, die nun der große
+Künstler erst recht erkannte und bis auf ihre höchste Tragkraft zu
+überbauen wußte.</p>
+
+<p>Den Menschen der nachfolgenden Zeit fehlte diese feste Bindung. Wohl
+blieb das religiöse Verlangen, aber die vereinheitlichende
+Zusammenfassung durch die Kirche, die lebendige kultische Form ging
+verloren. An Stelle der kirchlich gläubigen Erfassung religiöser Werte
+trat unter dem Doppeldruck der Aufklärung wie der idealistischen
+Philosophie und Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts kritisch
+gesinnte Ethik. Sie gab der Musik die neue Fähigkeit der Leidenschart,
+des Sturmes, des individuellen Erlebens, der Beichte. Sie stellte sie
+unter den Zwang der Gefühlskritik, gab ihr zur Aufgabe die
+unerbittliche Auseinandersetzung mit menschlichstem Geschehen, setzte
+als Ziel die Gewinnung und Erkennung des Menschen. Mozarts Opern zeigen
+dieses Ziel in stofflicher Symbolisierung. Darüber hinaus aber ist die
+seelische Voraussetzung aller Musik dieser Zeit mit ihrer
+Hauptschöpfung: dem Formbau der Sonate Gestaltung kritischer
+Gefühlsauseinandersetzung und -erkenntnis. In ihr liegt das religiöse
+Grundmotiv des Idealismus. Beethovens Werke in ihrer Gesamtheit sind
+musikalische Kulthandlungen. In den verinnerlichten Formen der
+Kammermusik, in den über die Kirche hinausstrebenden Messen, selbst in
+der Oper, am stärksten zusammenfassend aber in den Sinfonien lebt als
+treibende Urkraft der ethische Erkenntnis- und Bekenntnisdrang des
+deutschen Idealismus, die Religiosität, die nicht mehr Kirche, nicht
+mehr Dogma ist, sondern die Offenbarung des Göttlichen nur aus der
+Gefühlskraft der menschlichen Seele empfängt. Diese ethische
+Religiosität war ebenso Eigentum aller geistigen Menschen des
+ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie Bachs kirchliche Gläubigkeit das
+seiner Zeitgenossen. Der Idealismus schuf seine musikalische Kultform
+im Konzert mit allen Verschiedenheiten seiner Formgattungen, gab
+gleichzeitig der bis dahin auf Luxus- oder niedrig volkstümliche
+Wirkungen begrenzten Oper den weiten Horizont allmenschlichen
+Geschehens. Aus vorher unbekannten Bezirken des Fühlens und Erlebens
+hatten sich neue Gemeinschaften der Menschen geformt, der religiöse
+Trieb hatte eine äußerlich dem Kirchlichen schroff abgewandte, der
+geistigen Schwungkraft nach aber höchster Glaubensfähigkeit ebenbürtige
+Gestaltung gefunden.</p>
+
+<p>Dieser emporflammende Auftrieb der entdogmatisierten und doch
+tiefgläubigen Seele brach zusammen in der Romantik. Es ist das
+entscheidende Kennzeichen der den größten Teil des 19. Jahrhunderts
+beherrschenden romantischen Bewegung, daß sie sich nicht fähig erwies,
+dem religiösen Problem eine neue, eigenkräftige Gestaltung zu geben.
+Der religiöse Impuls der Romantik äußerte sich zunächst in einseitiger
+Weiterführung des kritischen Elementes, dem gegenüber der seelische
+Anschwung des Idealismus mehr und mehr erlahmte. Das Ergebnis war teils
+eine sich in Einzelheiten materialistischer Art zerfasernde
+wissenschaftliche Empirie der Beobachtung, teils eine dieser
+Nüchternheit abgewandte, auf religiöse Symbole der Vergangenheit
+zurückgreifende Mystik. Naturalismus und Mystizismus sind
+dementsprechend die geistigen und seelischen Grundlagen auch der
+romantischen Musik. Zu organischer Einheit zusammengefaßt erscheinen
+sie im Gesamtwerk Richard Wagners, in dieser Kunst der Synthese, die
+einer religionssuchenden, doch innerlich glaubensunfähigen Zeit statt
+des Gemeinschaftserlebnisses den Gemeinschaftsrausch gibt und sich
+dafür der Kultform des religiösen Dramas in ästhetischer Verkleidung
+bedient. Der Romantik mit ihrem Mangel eigener Kraft des Schauens und
+Bauens geht die Naivität ursprünglichen Schöpfertums verloren. In die
+Vergangenheit zurücktaumelnd, greift sie deren absichtslos geformte
+Symbole auf und verwendet sie in bewußter Reizsteigerung zu Mitteln
+absichtsvoller, durch reflektive Kunst planmäßig gestalteter Wirkungen.
+Was Nietzsche zuerst als das Dionysische, später als das
+Schauspielerische an Wagners Kunst empfand, war in Wahrheit ihr
+Rauschhaftes, das ihn anfangs hinriß, dann abstieß. Aus der
+instinktiven Abwehr gegen diesen Rauschtrank entsprang alle Opposition
+gegen Wagner. Und doch war dieser Rausch der Wagnerschen Kunst nichts
+von der älteren und gleichzeitigen Romantik grundsätzlich
+Verschiedenes, nur ihre äußerste Steigerung. Alle romantische Kunst,
+"Freischütz" nicht minder als "Tristan" ruht auf der Grundwirkung der
+Hypnose, der Suggestion, auf der Idee des Traumes. Sie setzt die
+Unwirklichkeit als Grundlage des Geschehens voraus, bedient sich aber
+in der äußeren Gestaltung mit nachdrücklicher Betonung einer
+naturalistischen Logik des Geschehens. In solcher Auffassung der
+künstlerischen Welt als einer Welt bewußten Scheines, absichtlicher
+Sinnestäuschung lag ein tiefer Widerspruch zur Kunst des Idealismus.
+Für diesen war die Kunst Steigerung, schwunghafte Erhöhung des realen
+Seins, kein Gegensatz, sondern durch geistige Hochspannung gewonnene
+Sphäre vervielfachter Lebensenergie. Die idealistische Kunstauffassung
+war Ergebnis einer im tiefsten Grunde bejahenden, den Mächten des
+Lebens innerlich überlegenen Weltanschauung. Der Romantik fehlt diese
+Überlegenheit. Sie ist pessimistisch, weil sie sich dem Leben nicht
+gewachsen fühlt, sie bedarf des Traumes, um der Wirklichkeit zu
+entfliehen. Die Kunst ist ihr das Narkotikum, das den Traum
+heraufzaubert, und weil diese Kunst als Surrogat des Lebens dient, so
+muß sie mit allen Mitteln der Sinnestäuschung illusionistischen Zwecken
+dienstbar gemacht werden. Illusionistisch ist die Bühne der Romantik,
+ist die Faktur ihrer Technik. Die Psychologie wird in den Dienst des
+Kunstwerks gestellt, das Prinzip des Leitmotives ist das stärkste
+Kunstmittel einer illusionistisch gerichteten Phantasie. Der
+bestimmende Einfluß poetisch programmatischer Vorstellungen auf das
+sinfonische und instrumentale Schaffen beruht gleichfalls auf dem
+Streben nach Übertragung real glaubhafter Vorgänge in künstlerische
+Wirkungen. Das Leben sinkt für den Romantiker immer mehr zur Unterlage
+der Kunst herab, diese selbst wird ihm zum Inbegriff eigentlichen
+Lebens und damit auch zur Religion. Unvermögend, das reale Sein zu
+zwingen, flüchtet der romantische Künstler in die Traumwelt des
+künstlerischen Scheins, gestaltet sie mit allen Mitteln der Kunst zum
+Abbild einer gewünschten Wirklichkeit und gewinnt aus der Anbetung
+dieses selbstgeschaffenen Idols Befriedigung seiner weltlichen und
+überweltlichen Sehnsucht.</p>
+
+<p>Damit hatte die Musik, namentlich die dramatische Musik, scheinbar
+über alles Frühere hinaus eine noch nie erreichte Steigerung religiöser
+Bedeutsamkeit erreicht. Sie war nicht nur, wie bei Bach, künstlerische
+Verklärung gegebener Kultformen, sie stellte nicht nur, wie in der Zeit
+des Idealismus, die Übertragung ethischer Erkenntniskritik in
+unkirchliche Formen beseelter Geistigkeit dar. Sie war jetzt selbst
+Erkenntnis, selbst Religion geworden. Diese Steigerung war indessen nur
+scheinbar. Was die Kunst an Selbstherrlichkeit gewann, büßte sie an
+umfassender Kraft und seelischer Wahrhaftigkeit ein. Diese zur bewußten
+künstlerischen Wirkung sterilisierte Religiosität trug in sich weder
+die überzeugende Ursprünglichkeit des menschlichen Glaubenserlebnisses
+noch den emporreißenden seelischen Aufschwung des entkirchlichten und
+doch gottesahnenden Idealismus. Die romantische Religiosität war zu
+einer Angelegenheit der Ästhetik geworden, ihre Abwendung vom Leben
+entzog ihr die fließenden Kräfte dieses Lebens. Wagner glaubte, das
+Volk zu suchen, er fand den Bayreuther Patronatsverein. Er fand das
+gebildete Publikum, daß sich am Rausch seiner Ekstasen religiös zu
+erbauen meinte und nicht fähig war, zu erkennen, daß hier Symbole einer
+entseelten Religiosität zu dekorativer Schaustellung arrangiert
+waren.</p>
+
+<p>Auf der deutschen Gegenwart lastet das Erbe der Romantik. Der
+Rauschtrank der romantischen Kunst hat die Geister verwirrt und
+seelisch niedergebrochen. Einige meinen, er müsse immer wieder erneuert
+werden, sie glauben in der Fortführung der Hypnose, in der
+Aufrechterhaltung der Kunst als des Narkotikums den einzigen Weg zu
+sehen. Sie teilen mit der Vergangenheit die Scheu vor dem Leben, die
+Realität erscheint ihnen sinnlos und schlecht. Es ist die Gruppe jener
+Künstler, die neuerdings in Hans Pfitzner ihren Wortführer gefunden
+hat. Man darf, will man die symptomatische Bedeutung solcher
+Erscheinungen nicht verkennen und unterschätzen, ihren Worten nicht
+unmittelbare Widerrede, ihren Taten keine absolute Kritik
+entgegensetzen. Sie sind Opfer einer Vergangenheit, deren Blendkraft
+Generationen getäuscht und zermürbt hat. Ihre Hysterie ist ein Teil
+unserer eigenen Schwäche, weit entfernt, uns zu unfruchtbarem
+Widerspruch aufzureizen, zeigt sie uns die zersetzende Nachwirkung der
+romantischen Lüge an dem erschütternden Beispiel entnervter Talente.
+Ein heißer Drang zum Glauben, ein bedingungsloser Fanatismus sucht
+Erfüllung von der Kraft einer Theatersonne, unfähig zu erkennen, daß
+dieses künstliche Licht nur geschaffen ist, um zu täuschen, eine Welt
+des Scheines zu erhellen, eine Gemeinschaft der Lebensflüchtlinge
+anzulocken. Aber diese hingebungsvolle Bewunderung, diese
+selbstvergessene Anbetung des großen Scheines, dieser Traum von der
+Herrlichkeit des Vergangenen ist ein tiefer Wesenszug des deutschen
+Charakters. Je ärmer und reizloser die Kunst dieser Männer wird, je
+mehr sie sich in schemenhafte Phantasterei und mystischen Dunst
+verliert, um so mehr erkennen wir hier ein ursprünglich werthaltiges
+Gut deutscher Art: die Verehrung des erdhaft Heimischen, des
+geschichtlichen Werdens. Es liegt ein religiöser Zug verborgen in der
+bedingunglosen Anbetung des Blutes, der Art, der Gesinnung, und so
+wenig solche Verherrlichung des Gewesenen geeignet ist, Erkenntnis zu
+schaffen, dem Blick die Kraft wahrhaften Durchdringens zu geben, so
+wenig kann man sie aus dem Charakter des Deutschtums streichen. Als
+Kunstbekenntnis ist sie der leichtesten Eingänglichkeit sicher, sie
+erspart selbständiges Denken, bietet nichts Eigenes, verlangt nur
+Anerkennung des historisch Gegebenen. Diese Religion der Haus- und
+Nationalgötter, deren Heiligkeit bedingt wird durch ihre Herkunft,
+gehört zu den populärsten Bekenntnissen im heutigen Deutschland und
+zählt eine große Gemeinde. Es ist eine an sich durchaus unreligiös
+Religion, aber sie gibt den suchenden Menschen ein Etwas, an das sie
+glauben können, sei dieses Etwas auch nur ein Fetisch.</p>
+
+<p>Dieses Suchen, dieses Glaubenwollen, dieses starke Durchbrechen des
+religiösen Bedürfnisses ist das auffallendste Kennzeichen der Gegenwart
+im Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit. Es zeigt sich nicht
+nur an dem Versuch, dem künstlerischen Nationalismus religiöse
+Bedeutung zu geben, es zeigt sich auch an der Entwicklung anderer
+Geistesrichtungen innerhalb der gegenwärtigen Musik. Aus der
+illusionistischen Tendenz der romantischen Musikauffassung hatte sich
+allmählich ein intellektuell hochstehender Naturalismus entwickelt,
+sein talentmäßig stärkster Repräsentant ist Richard Strauß, die
+lebendigste und bewegungskräftigste deutsche Musikbegabung seit Wagner.
+Bei Strauß ist bis zu den Werken seiner besten Manneszeit,
+"Heldenleben" "Domestika" und "Rosenkavalier", der Sinn nur auf
+intellektuelle Gemeinschaft, auf die Überzeugungskraft der richtigen
+Beobachtung, auf die Freude an der Selbstsicherheit der
+naturalistischen Darstellung gerichtet. Aus der Kraft des Wurfes, mit
+der hier die materialistische Wirkung der Kunst erfaßt wurde, ergab
+sich die Unmittelbarkeit des Eindruckes. Der Rausch kam nicht mehr, wie
+bei der älteren Romantik Wagners, aus der Ekstase eines
+Scheinerlebnisses. Er war lediglich Freude an der hinreißenden
+Beherrschung der illusionistischen Darstellungskunst, deren Objekt im
+Hinblick auf seine Anregungskraft für das Talent des Künstlers gewählt
+wurde.</p>
+
+<p>Dieser Naturalismus, der mehr und mehr zur deskriptiven Virtuosität
+herabsank, hat neuerdings versucht, sich durch Anlehnung an die
+Symbolik des Idealismus einen ethischen Anschwung zu geben. Vom
+"Rosenkavalier" an über "Ariadne" und "Josefslegende" bis zur "Frau
+ohne Schatten" tritt in Stoffwahl und künstlerischer Behandlung bei
+Strauß eine unverkennbare Bezugnahme auf Mozart zutage, eine
+Bezugnahme, die freilich nirgends über die Bedeutung der
+archaisierenden Stilanlehnung hinausgelangt, weil die Straußsche Kunst
+ihrer An der Gefühlserfassung nach unlösbar verwurzelt ist in den Boden
+der Romantik. Auch diese Lebensäußerung deutschen Geistes in der
+gegenwärtigen Musik ist nicht zu unterschätzen. Sie zeigt die
+Beweglichkeit, den spekulativen Unternehmungssinn, die technische
+Phantasie eines expansiv gerichteten, auf äußere Aktivität gestellten
+Willens. Ihrer bekenntnismäßigen Bedeutung nach erscheint sie freilich
+vorwiegend Ausdruck eines Materialismus, der seine religiös ethische
+Schwäche unter dem Reichtum äußerlich reizvoller Bilder zu verbergen
+sucht und dabei doch mehr und mehr der Skepsis des Ästhetentumes
+verfällt.</p>
+
+<p>Der Traum als Mittel der Vergangenheitserinnerung war das Ziel auch
+jener Kunst, die im Anschluß an die ältere Romantik durch Vertiefung
+des gemütvoll Innigen, durch strengen Ernst und beschauliche Sammlung
+der Gefühlskräfte das Rauschharte der theatralischen Gebärde Wagners zu
+vermeiden suchte. Brahms ist die eigenkräftigste, durch Festigkeit und
+herbe Geschlossenheit des Willens imposanteste Erscheinung dieser Art,
+Reger ihr unruhvollst bewegter problematischer Ausklang. Es ergab sich
+aus der inneren Willensrichtung dieser Kunst, daß sie sich
+ausschließlich konzertmäßigen Formen zuwenden und diese unter bewußter
+Betonung ihres formalistischen Charakters einer gesteigerten Intimität
+des Gefühlslebens, damit zugleich einer Verengung ihres äußeren
+Wirkungskreises zuführen mußte. Der Wesenscharakter dieser Kunst dräng
+zur Hausmusik. Er enthüllt sich am freiesten in der Kammermusik und der
+auf intern begrenzte Wirkungen berechneten Vokallyrik. Wo er dem
+Monumentalen zustrebte, näherte er sich dem akademischen Formalismus,
+der schematisch konstruierten, nicht frei gewachsenen Form. Das
+Positive lag in der inneren Bezugnahme auf die wertvollen Kräfte eines
+konservativ beschaulichen Gefühlslebens, das sich nicht zu erweitern,
+nur zu bewahren strebt. Die Schwäche war bedingt durch bewußt
+rückschauende Tendenz, durch stille, aber hartnäckige Abwehr gegenüber
+allen Versuchen, neue Grundlagen, neue Ausgangspunkte seelischen
+Gemeinschaftslebens zu finden.</p>
+
+<p>Solche neuen Grundlagen und neuen Ausgangspunkte des Seelischen
+treten dagegen mit überraschender Bestimmtheit zutage in der Musik
+Anton Bruckners. Ähnlich wie Brahms steht auch Bruckner in naher
+innerer Beziehung zum Volkstum. Nur ruht diese Beziehung nicht auf
+bewußter Archaisierung, traumhafter Zurückführung der Gefühlsart auf
+eine innerlich als altertümlich empfundene Art der Ausdrucksgestaltung.
+Sie ergibt sich aus natürlich freier, menschlich spontaner
+Unmittelbarkeit, ist reines Erlebnis ohne irgendwelche stilistische
+Bewußtheit. Als individuelle Erscheinung ist Bruckner in seiner
+Weltfremdheit, seiner Mischung von Bauer und Mönch eine fast
+mittelalterliche Natur, als Künstler stellt er unter allen anderen
+Typen seiner Zeit die erste im wahrhaften Sinne modern gerichtete
+Persönlichkeit dar. Er steht der Wagner-Nachfolge sowohl in ihrem
+krampfhaften Verlangen nach weltfeindlicher Hypnose wie in ihrer
+ästhetenhaften Symbolspielerei ebenso fern wie der versonnen
+rückblickenden Vergangenheitsträumerei der formalistisch akademischen
+Romantik. Er ist ein gläubiger Mensch, dessen unkomplizierte
+Religiosität sich an dem weihevollen Glanz und der Autorität eines
+unkritisch empfangenen Katholizismus zur Erhabenheit aufrichtet.
+Gläubigkeit ist für ihn kein Rausch, keine Sehnsucht, kein Spiel, sie
+ist eine unerschütterliche, jenseits aller Zweifel stehende Tatsache.
+Sie gibt ihm Naivität und Kraft der großen Form, gibt ihm die Fähigkeit
+der Gemeinschaftsbildung, die hier wieder aus der Wucht des
+wahrhaftigen Erlebnisses erwächst. In Bruckners Musik tritt zum
+erstenmal seit dem Verblassen des Idealismus der wirkliche Mensch mit
+seinem Drang zur nicht künstlich vorgetäuschten lebendigen Wirklichkeit
+hervor. Der Traum als Ziel der Kunst wird überwunden, ein starkes
+Gefühl ist wieder erwacht, das den Erscheinungen der Realität gewachsen
+und fähig ist, sie formend zu gestalten. Die Quellen dieses Gefühles
+weisen wieder zurück auf die Kirche: Orgelklang, Hochamtsfeier,
+liturgisches Zeremoniell sind die Grundlagen für Bruckners
+Phantasieleben. Man könnte an eine gewaltig hervorbrechende Nachblüte
+spezifisch katholischer Kunst denken. Aber hier tritt gleichzeitig ein
+so kerniges, bei aller Gebundenheit persönlich gerichtetes Menschentum
+zutage, daß die kirchliche Bezugnahme nur Fundament und innere
+Richtlinie bleibt für eine kühn und frei in die Welt des Erdhaften
+hinausgebaute Kunst.</p>
+
+<p>Was Bruckner von der Basis einer strenggläubigen, durch inbrünstige
+seelische Erfassung und urwüchsige Einfalt bezwingenden volkstümlichen
+Kirchlichkeit aus begann, das vollendete Mahler. Bruckner wie Mahler
+entstammten dem Traumlande der Romantik, in ihnen vollzog sich das
+Erwachen der Seele zu einer neuen Lebensgestaltung aus der Kraft eines
+neuen Lebenswillens, eines positiv gerichteten Aktivitätsdranges.
+Empfing Bruckner noch die innere Anregung und Beschwingung seiner
+Phantasie aus der frommen Erfassung katholischer Glaubenssymbole, so
+drang Mahler aus der konfessionell umschriebenen Gedankenwelt vor in
+die Sphäre der reinen Naturanbetung. Das Blühen und Werden, das Keimen
+und Vergehen alles Seienden, das Wunder der zeugenden und schaffenden
+Liebe, das Geheimnis des Lebens und Sterbens der Natur, alles, was
+gleichnishaft in den Symbolen der kirchlichen Lehre dargestellt war,
+erschien jetzt wieder in unmittelbarer Anschauung gespiegelt, nur in
+das Symbol des Kunstwerkes übersetzt. Eine Welt glaubenstiefer und doch
+unkirchlicher Religiosität tat sich auf, ähnlich wie einst bei den
+Künstlern der idealistischen Zeit und doch ganz anders erschaut.
+Nicht mehr Erkenntnis ist das Ziel, nicht mehr Kritik weist den Weg.
+Der individualistische Hang, der Trieb zur Befreiung der Persönlichkeit
+und ihrer Werte, der die individualistische Bewegung getragen und im
+subjektivistischen Traumbild geendet hatte, ist erloschen. Jetzt
+wechselt er in das Streben nach Überwindung der individuellen
+Begrenztheit, nach Eingliederung des einzelnen in das Ganze. Die Natur
+in der unbemessenen Vielheit ihrer Erscheinungen wird zum höchsten
+Sinnbild der Totalerfassung schöpferischer Kräfte. Der Mensch, nicht
+mehr kritisches Geistwesen, sondern vegetabilisches Naturwesen, steht
+inmitten dieses Ganzen, nur ein Teilchen davon, pflanzenhaft
+erdgebunden und doch wieder Unsterbliches in sich tragend, höchste
+Inkarnation göttlicher Urkraft, soweit er sich kosmisch zu empfinden
+und zu erkennen vermag. Die Gemeinschaft wird auch künstlerisch wieder
+zur Quelle einer neuen Formidee: die Gemeinschaft nicht der Gläubigen,
+nicht der Erkennenden, nicht der vom romantischen Zaubertraum
+Berauschten, auch nicht der nationalistisch Gesinnten, ästhetenhaft
+Interessierten oder der Vergangenheitsträumer. Es ist eine höhere
+Gemeinschaft, die alle: Gläubige, Idealisten und Romantiker umfaßt, von
+allen ein Teil in sich trägt und es mit den übrigen zu neuer Gesamtheit
+einigt. Es ist die Gemeinschaft der Menschen als Geschöpfe einer
+Gottheit der Liebe, aus deren ahnender Erfassung alles Problematische
+sich löst, alles Individuelle verschwindet, alles Schicksalhafte
+überwunden wird. In dieser Verkündung der Liebe als der höchsten
+schaffenden Macht, in dieser Anschauung des Menschen nur als Teiles
+eines sozial bedingten Ganzen lag die neue religiöse Botschaft, lag die
+neue aktive Gestaltung tief drängenden Menschheitsverlangens, lag die
+befreiende Tat, die aus der Traumsphäre der Romantik hinausführte in
+die Wirklichkeit lebendigen Lebens, sie bejahend und in der Kunst zu
+formbewußter Gestaltung zwingend.</p>
+
+<p>Es war ein deutscher Musiker, der diese Tat vollbrachte und damit
+der deutschen Musik wieder ein hohes Ziel stellte, ihr einen neuen
+Gefühlsgehalt gab. Neu freilich nur im Hinblick auf die innerer
+Begründung. Dem Ergebnis nach deckte sich diese kosmische Religiosität
+mit der christlichen Gemeinschaftsidee wie mit der Menschheitsliebe der
+idealistischen Humanitätszeit. Alle drei sind Auseinandersetzungen mit
+dem Gemeinschaftsproblem, verschiedenartig in der Begründung,
+übereinstimmend aber im Resultat der Bejahung des Lebens in der
+Gemeinschaft, der Überwindung des Individuellen, der tätigen
+Zusammenfassung aller Kräfte. Mit dem erneuten Durchbruch zu diesem
+Ziel hatte die deutsche Musik wiederum ihre Berufung und Fähigkeit zur
+Weltmacht erwiesen, ihre Stellung als Künderin höchster
+Menschheitsideen bestätigt.</p>
+
+<blockquote><center> *&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;
+*</center></blockquote>
+<blockquote><center> *</center></blockquote>
+
+<p>Zum zweitenmal wurde die sinfonische Form Gefäß der gestaltenden
+Idee, jetzt nicht wie bei Beethoven vorwiegend auf die abstrakt
+instrumentale Sprache beschränkt, sondern stark durchsetzt, zum Teil
+beherrscht vom vokalen Ausdruck. Die Sphäre des Geschehens war dem
+sinnlich faßbaren Erlebnis nähergerückt, die Vorstellungswelt dieser
+Kunst lag mehr im Bereich des irdisch Erkennbaren, Gleichnishaften.
+Dagegen war sie ferngerückt dem Naturalismus und Illusionismus der
+Romantik, und darin lag der tiefe Wesensunterschied sowohl gegenüber
+der gleichzeitigen Programmusik als auch der Oper. Die Oper war ihrem
+Ursprung nach dem unbefangensten, kindlich buntesten Sinnenspiel
+zugewandt. Im Gegensatz zu den auf andächtig religiöse Vereinigung
+gerichteten musikeigenen Formen war sie der Verherrlichung der Freude
+gewidmet, das Fest des Dionysos und des Eros. Künstliches Erzeugnis
+bewußten Luxustriebes, als Formerscheinung abhängig von den
+Bedingtheiten verschiedenartigster, organisch unverbundener
+Wirkungsmittel, unterworfen dem gesellschaftlichen Einfluß der
+Verbraucher, war sie die unrealste, durch willkürliche Mischung der
+Gestaltungselemente zwitterhafteste musikalische Kunstgattung. Sie hat
+in den verschiedenen Ländern verschiedenartige Ausprägung erfahren, hat
+in Italien eine Entwicklung nach der musikhaft sinnlichen, in
+Frankreich nach der schauspielhaft bühnenmäßigen, in Deutschland nach
+der gedanklich dramatischen Seite hin genommen. Aber sie ist stets
+Erzeugnis und Spiegelung des Luxuswillens, der Laune, der
+phantastischen Willkür geblieben. Das bedeutet keineswegs Verkennung
+oder Unterschätzung ihres Kunstwertes. Man kann die Oper gewiß nicht
+streichen aus der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte, sie ist
+die bezeichnendste Auswirkung des Spieltriebes. Aber nur als solche
+kann sie erfaßt werden, im Gegensatz zum gesprochenen Drama, dessen
+äußere Form sie spielend nachahmt, wie sie jede andere der an ihr
+beteiligten Künste: Gesang, Instrumentalmusik, szenische und figürliche
+Darstellung gewissermaßen in eine absolut unlogische Sphäre überträgt.
+Je reiner sie diesen Charakter des phantastisch parodistischen Spieles
+wahrt, um so vollkommener wird sie als Kunstwerk wirken. Der
+unvergängliche Zauber der Oper Mozarts ruht in der tiefen
+Übereinstimmung, aus der hier Sinnenfreude, Spieltrieb, jeglicher
+Realität abgewandte Phantastik zur tiefsten Erfassung menschlicher
+Lebenstriebe und Willenskräfte gelangen. Die irrationale Form wird zur
+Spiegelung eines irrationalen Seins außerhalb aller Bedingtheiten der
+Wirklichkeit. Nicht nur die stofflichen Erscheinungen der Oper Mozarts:
+Handlung, Charaktere, äußere Aneinanderreihung der Begebenheiten sind
+dem illusionistisch gerichteten Verstande unfaßbar. Die musikalische
+Formung vor allem: das Ausströmen des Gefühles durch die
+monodramatische Gesangsarie, das gleichzeitige Ineinanderweben der
+Stimmen im Ensemble, die vielgliedrigen, lediglich aus Kontrast- und
+Steigerungswirkung des musikalischen Ausdruckes entwickelten
+Finalebauten &mdash; dies alles zusammen ergab eine Kunst, der
+gegenüber jede rationalistische Forderung zum Spott werden mußte. Hier
+war denkbar höchste Freiheit des gestaltenden Geistes, restlose
+Überwindung der stofflichen Materie, reine Anschauung des Spieles
+freier Phantasiekräfte, eine vollkommene idealistische Welt als
+verklärtes Symbol der realen. So konnten hier die großen bewegenden
+Ideen der damaligen Menschheit: die Probleme der Befreiung der
+Persönlichkeit dargestellt werden an menschlichen Elementartypen der
+Figaro-, Don-Juan-, Cosi fan tutte-Sphäre. So konnte in der Zauberflöte
+im Rahmen eines Kinderspieles das Ziel aller humanitären Kultur: die
+Menschheitsvereinigung durch Freundschaft, Liebe und Weisheit zu
+herrlichster Erfüllung in der Kunst gebracht werden.</p>
+
+<p>Die nachfolgende Zeit hat niemals die einzigartige Musikernatur
+Mozarts verkannt. Niemand hat für den Genius Mozart tieferes Gefühl und
+Verehrung gehabt als Wagner. Aber die Form der Mozartschen Oper, diese
+freieste Gestaltung des Unwirklichen, Unwahrscheinlichen, erschien ihm
+unvollkommen, mußte ihm unvollkommen erscheinen &mdash; gerade der
+Eigenschaften wegen, die über die Würdigung von Mozarts bloßem
+Musikertum hinaus die kulturelle Größe seiner Künstlerschaft bestimmen.
+Die Romantik glaubt sich über die Urbestimmung der Oper, über die
+artbestimmenden Grundlagen der Gattung hinwegsetzen zu können. Sie
+versuchte der Oper das zu nehmen, worin ihr Wesen wurzelte: den
+Charakter des Spieles. Sie versuchte, dieser auf heiterster
+Sinnenspannung, auf lebhaftestem Reiz der Bilder, auf schmeichelnder
+Phantastik der Gefühlserregung beruhenden Kunstform das zu geben, was
+ihr niemals innerhalb ihres unmittelbaren Wirkungsbezirkes eigen
+gewesen war: die religiöse Weihe des großen Dramas. Das Wesen der Oper
+als dramatischer Erscheinung beruht auf bewußter Unwahrscheinlichkeit,
+auf parodistischer Einstellung gegenüber allen Realitäten. Selbst die
+Reformen Glucks, zu Unrecht als Vorarbeiten für Wagner angesehen,
+ließen den Grundcharakter der Oper als Gattung unberührt. Sie bezogen
+sich lediglich auf die stärkere Hervorhebung der lyrisch musikalischen
+Wirkungen gegenüber gesanglich virtuosen Effekten. Ob ernste oder
+heitere, ob tragische oder komische Oper, dies war gleichgültig für die
+Auffassung des Typs, aus dem die Oper Mozarts als ideale
+Zusammenfassung aller Kräfte hervorwuchs. Dieses lyrisch phantastische
+Erosspiel war in allen Bedingtheiten seines Wesens Erzeugnis der
+Renaissance, weitergebildet von Menschen, deren sinnlich empfindsame
+und erfindungsreiche Natur hier ein neues Feld für ihren
+sensualistischen Spieltrieb fand. Der Versuch, von dieser Spielgattung
+aus den Weg zu bahnen zum kultischen Drama der Antike, bedeutete nicht
+nur eine neue Mißdeutung der Antike, entstellender noch als der
+klassisch geglättete Antikenbegriff des Idealismus. Er bedeutete die
+unwahrhaftige Theatralisierung kultischer Dinge, ihre Herabsetzung zu
+Requisiten opernhafter Wirkungen und, damit verbunden, die falsche
+Überhöhung einer in sich organisch geschlossenen Kunstgattung durch das
+steigernde Pathos des dramatischen Affektes.</p>
+
+<p>Die romantische Form des musikalischen Dramas, wie es sich in der
+Theorie darstellt, ist im Hinblick auf das Wesen der Gattung, das
+vollendet in der Oper Mozarts erscheint, eine Abirrung der Oper auf
+Gebiete, die außerhalb des Charakters der Gattung liegen, und auf denen
+sie nie Wurzel fassen konnte. Soweit Werke solcher Art in die Breite
+wirken wie bei Wagner, beruht die Wirkung in Wahrheit doch auf dem
+Spielcharakter der Oper. Er ist auch im musikalischen Drama nur
+scheinbar überwunden und lebt da weiter, wo es die lebendige Wirkung
+zeugt. Aber er lebt unter falschem Namen und falscher Einschätzung
+seines Wesens. In dieser Vortäuschung unwahrer Werte liegt die Gefahr
+des Erbes der romantischen Oper für die Gegenwart. Es gilt zunächst,
+die Unmöglichkeit der Oper als Form bewußt kultischer Dramatik klar zu
+erkennen. Es gilt gleichzeitig, die falsche Geringschätzung des
+Spieltriebes als eines gleichsam im höheren Sinne nicht vollwertigen
+Schaffensimpulses abzutun, zu erkennen, daß dieser Spieltrieb, sofern
+er vermeidet, sich aus falschem Ehrgeiz dramatisch zu maskieren, aus
+sich selbst heraus zur Erreichung wahrhaftigerer Ziele befähigt ist,
+als das höchstgeschraubte dramatische Pathos sie zugänglich macht. Es
+gilt, formelhaft gesprochen, in der Oper Mozarts nicht nur die geniale
+Musiker-, sondern gerade die geniale Künstlernatur zu erkennen. Nicht
+nur in der Oper Mozarts, sondern in der Oper überhaupt die Idealgattung
+des Phantasiespieles, das, frei von allen dogmatisch ethisierenden
+Nebenabsichten, aus lebendigstem Widerschein buntester Lebensfarben und
+Sinnesreize den ins Märchenhafte überspiegelten Abglanz des Realen,
+Bewußten, Gewollten gibt.</p>
+
+<p>Es ist lehrreich, zu beobachten, wie sich andere Völker mit diesem
+Problem der Oper abgefunden haben. Der romantischen Rauschsuggestion,
+der dramatisch zugespitzten Illusionsoper zunächst ebenso unterworfen
+wie die Deutschen, haben Italiener und Franzosen die Gefahr einer
+bewußten Überbetonung der dramatischen Zweckhaftigkeit der Oper zu
+vermeiden gewußt. Bei beiden Nationen ist in der äußeren Anlage,
+namentlich des Textes, ein auffallend realistisch naturalistischer Zug
+bemerkbar. Er beeinflußt auch die Art der musikalischen
+Gefühlseinstellung und normalen Faktur. Bizets "Carmen" ist das Muster
+der psychologischen Oper, Verdis derbe Sinnlichkeit saugt sich fest an
+der Unmittelbarkeit elementar erfaßter Bühnenvorgänge und überträgt
+diese Emotionen mit naiver Drastik in seine Musik. Bei beiden größten
+Opernkomponisten ihrer Nationen aber bleibt die dramatische Einkleidung
+stets Mittel zum Zwecke des Musizierens. Das Drama gewinnt weder in der
+Theorie noch in der Praxis die Vorherrschaft. Der Musiktrieb als der
+eigentliche und wahrhafte Spieltrieb dominiert, und selbst den
+Nachfolgern Verdis ist die veristische Fassung des Dramas nur ein
+Mittel, ihre kurzatmige Musikbegabung schnell und durchgreifend zur
+Geltung zu bringen. Bei Gounod, Massenet, Saint Saëns ist der normale
+Sinn von vornherein in viel zu hohem Maße konventionell beeinflußt, um
+die Wahl zwischen Oper und musikalischem Drama je ernsthaft zweifelhaft
+zu machen, und auch der ins bewußt Ästhetenhafte abschweifenden
+jungfranzösischen Schule ist trotz der literarischen
+Geschmacksverfeinerung die Oper stets die primär musikalische
+Kunstform.</p>
+
+<p>Nur in Deutschland hat sich unter der gewaltigen Nachwirkung von
+Wagners Theorien eine seltsame moralästhetische Auffassung vom Wesen
+des musikalischen Dramas herangebildet. Auf ihre tieferliegenden,
+innerorganischen Ursachen betrachtet, ist sie das Zeichen nachlassenden
+Produktionsvermögens. Als Lehre aber hat sie schweren Schaden gestiftet
+durch Verkennung und Herabsetzung kunsteigener Grundwerte der Oper
+zugunsten eingebildeter religiös ethischer Qualitäten des musikalischen
+Dramas. Das eigentlich Belastende und Schädigende dieser Geistes- und
+Urteilswendung lag nicht in der Tatsache, daß eine große Anzahl
+schwacher oder mittlerer Talente sich getrieben fühlte, Musikdramen zu
+schreiben. Es lag auch nicht nur in der ästhetischen
+Begriffsverwirrung, die den Blick für wesentliche Vorzüge der
+Kunstgattung und damit für die Schöpfungen ganzer Epochen trübte, dafür
+künstlerischen Belanglosigkeiten hohe sittliche Wertung angedeihen
+ließ. Dies wären zunächst Schädigungen gewesen, die nur die Kunst als
+solche betrafen. Der verhängnisvollste, in die allgemeine Volkskultur
+übergreifende Nachteil war, daß hier die auf Täuschung, Spiel, Schein,
+im sittlichen Sinne auf bewußter Unwahrhaftigkeit beruhende Welt des
+Theaters als wahr, echt, lebendig, als Trägerin und Künderin der
+höchsten ethischen Norm ausgegeben wurde. Das Gefühlsleben der Menschen
+orientierte sich innerlich an diesen Erscheinungen einer
+vorgespiegelten Lebenswahrheit. Es mußte unecht, unwahrhaftig werden,
+weil es sich zum Sklaven seines eigenen Phantasieerzeugnisses machte
+und von diesem Gesetze empfing, statt, wie es der ursprüngliche
+Spielcharakter der Gattung forderte, sie ihm zu erteilen. Das
+theatralisch Komödiantische, das so vielfach in der deutschen
+Öffentlichkeit der letzten fünfzig Jahre sich bemerkbar macht, die
+Neigung zu falschem Pathos und schlechter Rhetorik sind nicht zum
+mindesten Nachwirkungen einer Lebensauffassung, die ihre Gesetze aus
+der Oper empfängt.</p>
+
+<p>Wir stehen heut der Romantik fern genug, um die Größe ihrer
+künstlerischen Leistungen unbefangen würdigen zu können. Was uns von
+ihr trennt und zur Kritik zwingt, ist nicht diese oder jene Einzelheit
+im fachlich entwicklungsmäßigen Sinne, ist auch nicht Widerspruch gegen
+individuelle Begabungen. Es ist grundsätzlich die durchaus
+entgegengesetzte Auffassung vom ethischen Charakter des Kunstwerkes.
+Die Romantik übertrug ihn in den Stoff, in die Form, in das
+künstlerische Sujet selbst. Mit allen Mitteln genialer Beharrlichkeit
+und Tatkraft materialisierte sie ihn, unterwarf ihn dadurch allen
+Hemmungen und Täuschungen der Materie, erhob ihn selbst zum bewußten
+Träger der künstlerischen Idee. In diesem Gegensatz von absichtsvoller
+Ethik des Stofflichen und zwanglos unbewußtem Ethos des idealistischen
+Spieles wurzelt der Kontrast Wagner-Mozart, wurzelt der Widerspruch der
+heutigen Generation gegen die tendenziöse Kunstauffassung und -lehre
+Wagners, wurzelt die Abwendung vom kultischen Musikdrama, die erneute
+Neigung zum Erosspiel der Oper.</p>
+
+<p>Es gibt gegenwärtig drei deutsche Opernkomponisten, in deren
+Schaffen der Widerstreit der Meinungen klar zutage tritt: Hans
+Pfitzner, Richard Strauß, Franz Schreker. Pfitzner ist der
+bedingungslose Anhänger von Wagners Lehre, deren spekulative Züge er in
+seinen drei Musikdramen "Der arme Heinrich", "Die Rose vom
+Liebesgarten" und "Palestrina" in fanatischer Einseitigkeit zu den
+äußersten Konsequenzen geführt hat. Die Vorherrschaft der stofflichen
+Ethik, die bei dem großen Bühnenpraktiker Wagner ungeachtet aller
+Theorien doch stets im Rahmen des bühnensinnlich Wirksamen bleibt,
+greift bei Pfitzner schließlich auch das organische Leben des Dramas
+an, das aus vorsätzlicher Askese immer theaterfremder wirkt. Es ist
+bezeichnend, daß in "Palestrina" keine einzige Frauenfigur erscheint.
+Das Mönchtum dieser Kunst geht bis zur Verbannung des Eros von der
+Bühne. Unbemerkt bleibt der grausame Widerspruch, daß eine scheinbar
+alle profanen Bedingtheiten überwindende Kunst sich der Mittel einer
+Gattung bedient, deren Wesen der wechselvollsten Sinnlichkeit der Form
+unlösbar verhaftet ist. Richard Strauß ist sich der Theaternatur der
+Oper wohl bewußt. Sein Schaffen ist auf stilkünstlerischen Ausgleich
+von Drama und Oper gerichtet unter allmählich immer stärker betonter
+Annäherung an den älteren Formtyp. Soweit ein Problem dieser Art die
+Lösung auf experimentellem Wege zuließ, ist sie ihm in mehreren Fällen,
+nie einheitlich, wohl aber für beträchtliche Teile innerhalb eines
+Werkes, geglückt. Das lebhafte, temperamentbeschwingte Musiziertalent
+Straußens, seine hinreißende, aus starkem Augenblicksimpuls schöpfende
+Überredungsgabe, die unmittelbare Gegenständlichkeit seiner Tonsprache,
+dies alles, verbunden mit außergewöhnlicher, treffsicherer
+Formgewandtheit, macht seine großen Erfolge erklärlich und berechtigt.
+In einer Zeit allgemeiner Geschmacksunsicherheit und Talentarmut war er
+der einzige, der sich mit unbekümmerter Frische und reflexionsloser
+Begabungskraft dem musikalischen Naturalismus zuwandte und als echtes
+Weltkind dem Geist der Zeit stets zu geben wußte, was dieser bedurfte.
+Solche in allem Technischen und Artistischen meisterliche
+Anpassungsgabe konnte allerdings immer nur zu Augenblickslösungen, zu
+Gegenwartserfolgen gelangen. Sie konnte in ihrer allerseits
+verbindlichen Art niemals zu einer im Wesenhaften eigenen und neuen
+Erfassung des Opernproblems gelangen. Die stilistischen
+Verkleidungs- und Verwandlungskünste auch des stärksten Formtalentes
+waren günstigstenfalls nur geeignet, zu erreichen, daß die romantische
+Auffassung der Oper als des kultischen Dramas keine Gefolgschaft mehr
+fand, keine innere Werbekraft mehr übte, ohne daß es gelungen wäre, ihr
+einen selbständigen neuen Operntyp entgegenzustellen.</p>
+
+<p>Erst mit dem Auftreten Franz Schrekers hat sich hier eine Wandlung
+vollzogen. Das Bemerkenswerte der Erscheinung Schrekers liegt nicht in
+Einzelzügen seiner Musikerbegabung, so sicher und stark sich diese aus
+konventionellen Anfängen zur Erringung individueller Eigenwerte
+durchzusetzen vermochte. Es liegt auch keineswegs in auffallenden
+Besonderheiten stilistischer Art, an denen Bezugnahme auf die
+jungromanische Kunst namentlich in Melodik und Harmonik auffällt,
+gesteigert durch üppige koloristische Phantasie und großlinige
+architektonische Gestaltungsgabe. Aber mit all diesen Eigenschaften
+wäre Schreker nur einer unter mehreren. Seine Ausnahmestellung ergibt
+sich aus anderem. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist hier eine Reihe
+von Werken geschaffen, die jenseits aller Tendenzmacherei und
+spekulativen Theorie, jenseits auch jeglicher Stilkünstelei und
+jeglichen Formexperimentes steht. Erwachsen ist sie aus gänzlich
+vorbehaltloser, naiver Erfassung der Oper als eines Spielstückes für
+eine ungebunden schweifende Phantasie, der als Richtlinie lediglich ein
+kühner, naturhaft elementarer Theaterinstinkt dient. Schreker sieht die
+Bühne nicht als Kanzel, auch nicht als Ort geistreicher Unterhaltung.
+Er sieht sie mit der Unbefangenheit des Kindes, dem sich hier eine Welt
+zauberhaftester Unwahrscheinlichkeiten, unbegrenzter Möglichkeiten des
+Unmöglichen öffnet, die nur von Künstlers Gnaden ihr Sein empfangen und
+um so stärker reizen, je lebensferner sie sind. Schreker sieht die
+Opernbühne wieder mit dem Auge des irrational empfindenden
+Phantasiemenschen.</p>
+
+<p>Aus dieser Grundeinstellung ergibt sich der Unterschied nicht nur
+gegenüber der doktrinären Ideenoper Pfitzners oder der intellektuell
+bedingten Geschmackskunst Straußens. Auch andere zeitgenössische Kunst,
+wie die Eugen d'Alberts oder neuerdings die Opernmusik des jungen Erich
+Wolfgang Korngold steht im Gegensatz zur Theorie des Wagnerschen Dramas
+und zielt auf den Theatereffekt. Aber hier ist dieser mit bewußter
+Methodik als Wirkungsfaktor herangezogen. Es werden wieder
+periodisierte Melodien und geschlossene Formen geschrieben, weil das
+Prinzip des Leitmotives und des deklamatorischen Stiles verbraucht
+erscheint. Schreker ist gegenüber diesen auf das Praktische im Sinne
+der Lebensklugheit und des Erfolges zielenden Begabungen eine
+naturwüchsige Kraft. Seine Beziehung zur Bühne ruht nicht auf
+irgendwelchen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sie ist elementaren
+Ursprunges. Seine vier Opern "Der ferne Klang", "Das Spielwerk", "Die
+Gezeichneten", "Der Schatzgräber" sind Erfolge nicht nur im Sinne des
+Kassenberichtes einer Spielzeit, sondern der geistigen Bewegung. Sie
+geben der Musik auf der Bühne wieder ihr ursprüngliches, durch
+keinerlei Dienstbarkeit gegenüber dramatischen Absichten behindertes
+Recht des freien Phantasiespieles. Sie gewinnen ihr damit das im Laufe
+des 19. Jahrhunderts verlorene Heimatgebiet zurück und führen so die
+Ausdrucksmittel der Oper wieder ihrer natürlichen Bestimmung zu. Es ist
+denkbar und nicht unbegreiflich, daß manche Menschen einer vorwiegend
+auf kritisch intellektuelle Bildung erzogenen Generation solche Kunst
+als für ihre Begriffe von Kultur nicht ausreichend ablehnen. Damit wäre
+sachlich nichts bewiesen, nur die Zuverlässigkeit dieses
+Kulturbegriffes in Frage gestellt. Vom Standpunkt einer abstinenten
+Geschmacksbildung aus wird die Oper wegen der unorganischen Vielheit
+ihrer Mittel stets ein nicht ganz vollwertiges Kunstgebilde sein.
+Einheitlichkeit gewinnen kann sie nur durch den Musiker, der diese
+Buntheit der Mittel als natürliche Quellen seiner Phantasie empfindet
+und fruchtbar macht, nicht aber das Ganze durch</p>
+
+<p>Prinzipien und Theorien regelt oder stilisiert. Solcherart ist
+Schrekers Musik. Als dramatische Gebilde bedeuten seine Opern das
+Gegenteil dessen, was etwa dem gesprochenen Drama notwendig und
+wesenseigentümlich ist. Der Musik aber öffnen sie den Bezirk, auf dem
+sie sich als Element der Bühnenwirkung entwickeln kann, ohne von ihrem
+ureigenen Wesen etwas aufzugeben, ohne sich selbst zugunsten eines
+anderen Zweckes opfern oder begrenzen zu müssen.</p>
+
+<p>Dieses ureigene Wesen der Musik ist das Beziehungslose, das
+verstandesmäßig Unfaßbare, nicht zu Greifende. Will man das Verhältnis
+der Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit, zum 19. Jahrhundert kurz
+kennzeichnen, so kann man es nennen den Kampf gegen den Rationalismus
+der Romantik. Der Rationalismus war bedingt durch das
+Illusionsbedürfnis der Romantik und dieses wiederum durch ihre
+Resignation gegenüber dem Leben, aus der die Auffassung der Kunst als
+des Gegensatzes zum Leben, als des großen Täuschungsmittels, als des
+Lebenssurrogates erwuchs. Solche Auffassung mußte notwendig in der
+Theorie zur Kunstideologie, in der Praxis zur Wirklichkeits-Imitation
+führen. Das Unbeziehbare des klanglichen Erlebnisses wurde in allerlei
+Beziehungen gesetzt: die Oper mußte predigen, philosophieren,
+moralisieren, zum mindesten psychologischen Anschauungsunterricht
+geben. Die Sinfonie wurde der freien Poesie gewidmet, sie stellte dar,
+wobei es im Wollen und Ergebnis gleichgültig war, ob das Dargestellte
+ein direkt bezeichneter dichterischer Vorwurf war oder eine bewußt
+erfaßte formalistische Idee. Wie es aber der Oper und der Sinfonie
+erging, so auch den intimeren Gestaltungsformen der Vokal- und
+Instrumentalmusik: dem Lied, dem Chorgesang, der Solo- und Kammermusik
+verschiedenster Art. Das Lied, durch Schubert aus zopfiger Beengtheit
+zur freiesten Spiegelung individuell erfaßten seelischen
+Gemütsgeschehens erhoben, wurde durch Schumann, Jensen, Franz zur
+Stimmungsschilderung abgeschwächt. Bei Brahms erscheint es unter
+Neigung zu volkstümlich vereinfachender Formung, bei Hugo Wolf und
+seinen neudeutschen Nachkommen wird es zur psychologischen Kleinstudie
+&mdash; ohne daß Komponisten und Hörern die damit verbundene Entseelung
+des Lyrischen zum Bewußtsein gekommen wäre. Das Vernunftgemäße, auch in
+künstlerischer Fassung stets irgendwie dem rein logischen Begreifen
+Zugängliche war unausgesprochene Voraussetzung für die Anerkennung des
+Kunstwerkes. Dieses selbst blieb nur Dokument des Talentes, etwas durch
+Musik auszudrücken, was dem Inhalt nach ein Andersbegabter ebenso oder
+ähnlich auf anderem Wege gesagt hätte. So zerfloß hier, wie in der
+Sinfonie und der Oper, das Musikeigene. Das Interesse wurde fachlich
+begrenzt, vorwiegend auf das Wie der Darstellung hingelenkt. Die
+Kammermusik der Romantik einschließlich ihres gehaltvollsten Teiles:
+der Brahmsschen Kammermusik bestätigt dies. Formalistischer Bau, Faktur
+des musikalischen Satzes, klanglich koloristische Fassung, Art und
+Entwicklung der Gefühlsdarstellung sind gegeben durch die klassischen
+Vorbilder, das äußerlich Strukturelle vorwiegend durch Beethoven, das
+lyrisch Empfindungsmäßige mehr durch Schubert. Dieses Erbe wird nun in
+kleine Individualitätsgebiete aufgeteilt. Die gegebenen Grundmaße
+ästhetischer, musikalischer Art bedeuten gewissermaßen ein festes,
+geistiges Wirtschaftsgut, das nun aus dem Bereich des Urschöpferischen,
+wo jene großen Geister es gefunden, in die kleine, irdisch bewegte Welt
+als fertige Tatsache übernommen und verarbeitet wird.</p>
+
+<p>Entwicklungsmäßig gesehen ist solcher Verlauf natürlich und richtig,
+sein Wert und seine Bedeutung liegt in der allmählichen
+Zugänglichmachung und Durchdringung der Ideen primär schaffender
+Künstler. Wenn wir etwa die gesamte Kammermusik nach Beethoven bis zur
+folgenden Jahrhundertwende auffassen als Mittel, durch variierende
+Einzelausführung die gewaltige Masse der Hinterlassenschaft Beethovens
+zunächst stofflich zu zerlegen und zu konsumieren, um dadurch den
+Zugang zu ihrer höheren Geistessphäre allmählich zu gewinnen, so wäre
+mit solcher Auffassung etwa die geschichtliche Mission der romantischen
+Kammermusik bezeichnet. Damit ist aber zugleich gesagt, daß ihr selbst
+die urzeugende Kraft abgeht, ja eigentlich mit Bewußtsein außerhalb
+ihres künstlerischen Wollens gehalten wird, und daß sie, unter
+Vermeidung eigener Stellungnahme und Auseinandersetzung mit den
+Grundproblemen musikalisch schöpferischer Gestaltung, den gegebenen
+Darstellungsapparat materialisierte, ihn als Schema im technischen
+Sinne behandelte und ausbaute. Auf diese Art konnte bei ausreichendem
+Einfühlungs- und Anpassungstalent noch manches an sich recht
+beachtliche Musikstück entstehen. Die Gebiete, die Beethoven und
+Schubert in ihrem Ideenflug abgesteckt hatten, boten Raum genug für
+Sondersiedlungen. Aber das eigentlich Wertschaffende: die Kraft und der
+elementare Zwang, aus dem heraus die idealistisch klassische Kunst
+überhaupt erst die Regel ihrer Gestaltungsart gefunden hatte, mußte bei
+den Nachfolgenden notwendigerweise fehlen. Die Gesetzlichkeit einer
+bestimmten Ausdruckstechnik, der der schöpferische Gedanke noch vor
+seiner Geburt untergeordnet war, die Einspannung des Gefühlsablaufes in
+feste Normen unterstellt auch auf diesem Gebiet Gefühl und Phantasie
+den Forderungen des Verstandes und des erklärungfordernden Bewußtseins.
+Bezeichnend dafür ist Pfitzners Schaffenstheorie. Nach ihr zerfällt die
+Entstehung des Musikstückes in die Empfängnis des thematischen
+Einfalles und in dessen handwerklich formale Verarbeitung. Solche
+Theorie ist nur möglich bei Auffassung der Form als eines gegebenen
+Schemas, bei Verkennung des organischen Eigenlebens der Form aus dem
+Zwang selbständigen Gestaltungstriebes, bei freiwilliger Beschränkung
+der Schaffenstätigkeit auf individuelle Variierung als unveränderlich
+genommener Typen. Das Primäre der musikalischen Konzeption wird auf den
+melodisch thematischen Brocken des Einfalles beschränkt, der dann das
+Objekt rationalistischer "Durchführung" bildet &mdash; eine Auffassung
+des Schaffensvorganges, die nicht nur Erzeugnis spekulativer Phantasie
+ist, sondern wahrhaftige Charakteristik einer bis in die Gegenwart
+hinein üblichen und anerkannten Praxis.</p>
+
+<p>Wie nun in der großen sinfonischen Form ein zeiteigenes religiöses
+Gemeinschaftsgefühl als neue Grundlage gewonnen wurde, wie in der Oper
+an Stelle bewußter ethisch dramatischer Tendenz der irrationale
+Spieltrieb wieder hervordrängte, so hat dieser Zug zum
+Außervernunftmäßigen, zum ursprünglich Musikhaften der Musik, zur
+reinen Gefühlskundgebung auch die Elemente der Tonsprache ergriffen,
+aus denen sich Vokal- und Kammermusik formen. Er hat hier, auf dem
+geistigsten, intimsten Ausdrucksgebiet die radikalste Umwälzung
+hervorgerufen, zeigt am schärfsten oppositionelle Haltung gegenüber der
+unmittelbaren Vergangenheit, ist in den Ergebnissen einstweilen
+erheblich problematischer als in der Sinfonie und Oper. Er läßt aber
+gleichzeitig die entscheidenden Grundfragen der künstlerischen
+Wesensrichtung in klarster Eindeutigkeit hervortreten und gibt damit
+eigentlich die letzte Auskunft über die Gegensätzlichkeit der
+Anschauungen, den Wechsel der Zielsetzung. Sinfonie und Oper sind in
+stärkerem Maße stoffgebunden. Wirken auch in ihnen die gleichen
+Probleme, so sind sie doch von der begrifflichen Seite her leichter zu
+fassen. In der Kammermusik fallen alle Bindungen nach außen fort. Es
+bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem zu innerst Wesenhaften der
+Musik, wie es hier in Klang, Stil und Form zutage tritt.</p>
+
+<p>In diesen eigentlichen Elementen der Musik aber ist mehr und anderes
+lebendig, als die Fachästhetik gemeinhin gelten läßt. In ihnen wirkt
+und aus ihnen spricht die geistige Grundkraft der Zeit überhaupt, der
+sie angehören, und aus deren innerstem Gefühlstrieb sie ihre Gesetze
+empfangen.</p>
+
+<blockquote><center> *&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;
+*</center></blockquote>
+<blockquote><center> *</center></blockquote>
+
+<p>Wenn wir die in den beiden letztvergangenen Jahrhunderten
+zurückgelegten Wege der musikalischen Gestaltungsart überblicken, so
+zeigen sich zwei große, deutlich getrennte Entwicklungsgebiete: das des
+polyphonen und das des homophonen Ausdruckes. Die Gegensätze sind dem
+Prinzip nach nicht neu, sie waren schon im Mittelalter vorhanden, wenn
+auch im einzelnen anders geformt. Allgemein gesprochen, ohne damit
+bestimmte historische Umgrenzungen festlegen zu wollen, kann man sagen,
+daß Zeiten mit vorwiegend religiös gerichtetem Geistesleben in der
+Musik der Polyphonie, solche mit verweltlichter Interessenrichtung der
+Homophonie zuneigen werden. Die letzte große polyphone Kunst der
+Neuzeit war die Musik Bachs. Die Polyphonie &mdash; Vielstimmigkeit
+&mdash; ist eine Kunst der linear bewegten Fläche. Das artistische
+Problem liegt in der Vereinigung von organischer Selbständigkeit der
+Einzelstimme mit strenger Gebundenheit des Ganzen. An dieser
+zusammenfassenden Kraft, an dieser Fähigkeit, die reichste
+Mannigfaltigkeit linearer Sonderbewegung in einen großen Totalkomplex
+zu vereinen, bewährt sich die polyphone Kunst des Meisters. Was er
+schafft ist entstanden aus der Vorstellung der Gesamtheitswirkung, ist
+bestimmt, ohne Verlust seiner Eigenheit sich zu überindividueller
+Erscheinung zusammenzuschließen. Der Unterschied der stimmlichen
+Einzelwesen ist lediglich Unterschied der Lage, des Klanges, der
+Bewegungsschnelligkeit, dem Charakter nach sind alle gleich, gehören
+alle der gleichen Gefühlsdimension an, sind sie Linien, die sich nach
+dem Gesetz des Bewegungsimpulses ineinanderschlingen, schneiden, zum
+Ornament formen, ohne je die reale Sinnlichkeit der Linie, die
+Festigkeit des individuellen Seins zu verlieren. Als Sprachmittel ist
+die Orgel mit der reichgegliederten und doch im Charakter gleichartigen
+Fülle ihrer Klangschichtungen das typische instrumentale, der
+vielstimmige Chor mit seinen artverwandten Stimmindividuen das vokale
+Ausdruckselement der Polyphonie.</p>
+
+<p>Die homophone Kunst, die schon zu Bachs Zeit und dann immer
+mächtiger empordrängt, hebt die Gebundenheit der Vielheit, hebt die
+Wirkung durch Zusammenwachsen der Organismen zur überindividuellen
+Erscheinung auf. Alle Kraft, aller Wille, alles Leben konzentriert sich
+auf eine Einzelstimme, die Führung nimmt, das Typenhafte abstreift und
+subjektive Bestimmtheit erhält. Die Flächenhaftigkeit der
+nebeneinandergelagerten Linien verschwindet, da nur noch eine
+dominiert. Unter dieser aber bildet sich ein magischer Raum, eine neue
+Dimension der Tiefe, gewonnen durch Schichtung geheimnisvoll
+beziehungsreicher Tonstufen: die Harmonie. Die mit jedem Ton
+gleichzeitig erklingenden Obertöne werden als seine Ergänzung empfunden
+und festgehalten, diese vertikale Tonreihe gibt jetzt der gestaltenden
+Phantasie entscheidende Anregung. Der Klang gliedert sich in Hauptton
+und Nebentöne, jener als Leitpunkt der Melodie, diese als begleitender
+harmonischer Untergrund. An Stelle des geometrisch flächigen tritt das
+akustisch räumliche Tonsystem, an Stelle der Linienbewegung die durch
+Wechsel der Tiefenbewegung wirkende Harmonie. Mit dieser Veränderung
+der Tonvorstellung zugleich vollzieht sich eine entsprechende
+Umgestaltung des Klangempfindens. Der Unterschied von melodischem
+Hauptton und harmonischen Begleittönen bedingt auch ein anderes System
+der Klanggruppierung. Der farbige Reiz des Klanges kommt zu
+selbständiger Geltung. Gegenüber dem Streben nach Zusammenfassung
+möglichst gleichartiger Charaktere in der polyphonen Musik herrscht
+jetzt der Drang nach Gleichzeitigkeit heterogener Klangelemente, deren
+verschiedenartig abgestufte Lichtwirkungen die Vorstellung des
+räumlichen Übereinander steigern. In gleichem Maße und aus gleichem
+Bedürfnis erhält die bis dahin vorwiegend auf einfache, primitive
+Kontraste gestellte Dynamik lebendig bewegte Durchbildung. Das
+Orchester, diese Vielheit des Ungleichartigen, wird das wichtigste
+Instrument der melodisch homophonen Kunst, soweit andere Sprachmittel
+herangezogen werden, geschieht es stets unter Mischung
+verschiedenartiger Klangcharaktere. Im Streichquartett, der reinsten
+Klangeinheit der homophonen Kunst, ist zunächst die dominierende
+Stellung der Oberstimme, die begleitende, lediglich harmonisch füllende
+Funktion der übrigen selbstverständlich und wird erst in den späteren
+Quartetten Beethovens zu gesteigerter Subjektivierung und klanglicher
+Gegensätzlichkeit der Einzelstimmen umgewandelt.</p>
+
+<p>Den Anfang dieser großen, mit den tiefsten Regungen der zeitlichen
+Geistesgeschichte unmittelbar verbundenen Umwälzung bildet das
+Generalbaß-Zeitalter, so genannt nach der Gewohnheit, nur die
+melodische Linie und die Baßstimme aufzuzeichnen, während die
+erforderlichen harmonischen Füllstimmen durch Ziffern angedeutet und
+bei der Aufführung improvisatorisch hinzugesetzt wurden. Man kann diese
+Methode, deren naive Praxis deutlich die Unterscheidung zwischen
+Wichtigem und minder Wichtigem spiegelt, gewissermaßen als Beginn der
+musikalischen Aufklärung bezeichnen. Zeitlich ist sie schon vor Bach
+vorhanden, wird auch von ihm selbst verwendet, erlangt aber
+vorherrschende Bedeutung erst mit dem endgültigen Durchbruch des
+homophonen Stiles, als Vorbereitung und Übergang zur Gewinnung der
+harmonischen Vorstellungsart. Diese ist das eigentliche Ausdrucksgebiet
+der Zeit des klassischen Idealismus. Hier hat die melodische Oberstimme
+unumschränkte Freiheit, reichste Bewegungskraft, vollendeten
+Persönlichkeitswert gewonnen. Keine Gebundenheit mehr, keine vorbewußte
+Bezugnahme auf ein überindividuelles Ganzes ist vorhanden die
+typenhafte Einzelformung hat sich zu schärfster Subjektivierung
+gesteigert. Es herrscht die Melodie, als unmittelbare Spiegelung des
+Persönlichkeitsbewußtseins, periodisch umgrenzt, physiognomisch von
+äußerster Bestimmtheit des Schnittes. Diese Melodie ist empfangen aus
+dem Vorgefühl der Harmonie. Die innere Bewegung der Harmonie, ihr
+gesetzmäßiger Ablauf gibt die inneren Richtpunkte für die Melodie,
+ähnlich und doch ganz anders wie in der Polyphonie die konstruktive
+Idee der Gesamtform den Wuchs des thematischen Gedankens beeinflußte.
+Dieser thematische Gedanke der polyphonen Musik war bei allem Eigenwert
+ein Partialgedanke, die Melodie dagegen, namentlich der frühklassischen
+Zeit bis zu Mozart, ist in sich geschlossen, fertig, ein lebendiges,
+organisch gegliedertes, selbständiges Wesen. So offenkundig ihre
+Gestaltung aus der Einbeziehung des Harmoniegefühles mitbedingt ist, so
+zweifellos ist doch der bestimmende Zug des rein melodischen Impulses,
+die Unterordnung der Harmonie vorzugsweise zur Stützung und
+Bekräftigung der melodischen Erscheinung.</p>
+
+<p>Melodie im Sinne der großen klassischen Kunst, wie sie am reinsten
+bei Mozart, vorbereitend bei Haydn, abschließend bei Beethoven und
+Schubert erklingt, ist das musikalische Symbol der freien
+Persönlichkeit, die künstlerische Formung höchsten
+Individualitätsbewußtseins. Man kann die Gesetze. ihres Baues
+durchforschen, man kann sie stilistisch kopieren. Aber keine noch so
+starke melodische Erfindungsgabe einer späteren Zeit kann ihre Wirkung
+annähernd erreichen, weil ihr Geheimnis nicht in spezifisch
+musikalischen Gesetzen liegt, sondern in der Gewalt des Ethos, dem sie
+entsprungen ist. Dieses Ethos zwang die Harmonie zur Dienstbarkeit
+gegenüber der melodischen Individualität. Sie blieb Trägerin der Kraft,
+sie durchdrang in der Hochblüte der klassischen Kunst den harmonischen
+Unterbau bis in die feinsten Verästelungen, so daß in den späteren
+Quartetten Beethovens die harmonische Fügung der Stimmen durch freieste
+melodische Auflockerung fast bis zur Polyphonie gesteigert wird, ja
+teilweise zu deren Formenbau zurückkehrt: in Mozarts Jupiter-Sinfonie
+und "Zauberflöte"-Ouvertüre, in Beethovens Ouvertüre "Weihe des Hauses"
+im Finale der Neunten Sinfonie, vor allem in den drei großen
+B-Dur-Fugen: der Sonate op. 106, des Credo der "Missa", des
+Streichquartetts op. 130. Doch ist diese Übereinstimmung der melodisch
+homophonen mit der polyphonen Kunst nur äußerlich stilistischer Art.
+Aus einer ins Grandiose gesteigerten melodischen Phantasiekraft heraus
+wird die Linienkunst der alten Polyphonie hier dem harmonischen
+Bewußtsein dienstbar gemacht, aus der Flächendimension in die
+Tiefendimension übertragen, auf solche Art diese mit konstruktiver
+Klarheit füllend: Kundgebung höchstgesteigerter Persönlichkeitskraft,
+deren melodischer Wille Höhe und Tiefe der Klangwelt durchdringt und
+mit tätiger Schaffensenergie nach seinem Bilde gestaltet.</p>
+
+<p>Linear sich entfaltende Polyphonie mit dem Ziel flächenhafter
+Ausbreitung und Zusammenfassung, melodische Homophonie, gestützt auf
+den imaginären Unterbau der harmonisch räumlichen Tiefe waren zwei in
+sich grundverschiedene Arten der Klanggestaltung, schöpferische
+Kundgebungen zweier in sich selbständiger, mit eigener Kraft des
+Schauens und Formens begabter Zeitalter. Der Romantik fehlt diese
+Fähigheit eigenschöpferischen Bildens. Wie hinsichtlich der
+Stoffbehandlung, wie hinsichtlich der geistigen Problemstellung, ist
+sie auch in bezug auf spezifisch klangmusikalische Formung eine
+Niederbruchserscheinung im Gefolge des Klassizismus. Die beherrschende
+melodische Kunst, dieses Siegelzeichen der festen Persönlichkeit, geht
+ihr verloren. Wohl bleibt ihr Musikempfinden melodisch orientiert, aber
+die Melodie verliert die feste, in sich ruhende Geschlossenheit der
+klassischen Melodik. Der Schwerpunkt sinkt unter die melodische
+Oberfläche in die Harmonik, diese trägt jetzt den Bewegungsantrieb in
+sich. Bei den Klassikern erscheint das ganze musikalische Gebilde in
+unmittelbarer plastischer Gegenständlichkeit, Melodik als
+formbestimmender Umriß, Harmonik als füllende Körperhaftigkeit. Nun
+wird die Harmonik zur innerlich führenden Kraft, und die Melodie zeigt
+in ihrem Verlauf mehr und mehr nur den Wellenschlag der harmonischen
+Innenbewegung, Wagners Begriff der "unendlichen Melodie", die "mit
+einer einzigen harmonischen Wendung den Ausdruck auf das Ergreifendste
+umstimmen kann," ist die natürliche und richtige Kennzeichnung einer
+Musikempfindung, deren Zentrum in der Vorstellung und Betonung der
+harmonischen Wirkung liegt, deren Melodik daher mehr und mehr zur
+Verknüpfung der Harmonien wird. Nicht nur bei Wagner und Liszt, auch
+bei Schumann, Spohr, Marschner, Weber, selbst bei dem klassizistisch
+eklektischen Mendelssohn ist diese Gestaltung der Melodie aus dem
+Willen der Harmonie erkennbar. Sie steigert sich bei Brahms, den
+Wagner- und Liszt-Epigonen bis zur völligen Abhängigkeit des mehr und
+mehr zur Andeutung verflüchtigten melodischen Gedankens voll der
+dominierenden harmonischen Konzeption. Es bedarf kaum des Hinweises,
+daß, gerade wie sich bei Bach in Einzelfällen bereits häufig Beispiele
+melodischer Homophonie finden, so auch bei den Klassikern, namentlich
+bei Beethoven und dem innerlich bereits stark romantisierten Schubert,
+die Harmonie gelegentlich führend und ausdrucksbestimmend hervortritt.
+Aber abgesehen davon, daß solche Fälle im Hinblick auf das Gesamtwerk
+Ausnahmen bedeuten, zeigt sich auch bei genauer Betrachtung, daß selbst
+hier der bestimmende Grundimpuls melodischer Natur ist. Die
+Klangvorstellung, aus der die Musiker des klassischen Idealismus
+schöpfen, läßt sich bezeichnen als harmonisierte Melodik, die der
+Romantiker als melodisierte Harmonik.</p>
+
+<p>In solcher Gegenüberstellung liegt zunächst keine Wertung. Sie
+ergibt sich erst, wenn man Sinn und Folge dieser Wendung betrachtet.
+Der Sinn war der gleiche wie in der romantischen Bewegung überhaupt:
+Abkehr von der Realität, von der Gegenständlichkeit des Fühlens, wie
+sie sich in der Formung der selbsteigenen, geschlossenen Melodie
+aussprach, Flucht in die Unwirklichkeit, in die magische Phantastik des
+harmonischen Raumes, dessen Unbestimmtheit durch die zu ständigem
+Wechsel, plötzlicher Umstellung und Überraschung führende Chromatik
+noch gesteigert wurde. Die Harmonie, die sich nicht, wie in der
+polyphonen Kunst, als sekundäre Folge ergibt, auch nicht, wie in der
+klassischen Homophonie, dienender Unterbau der melodischen Gestalt,
+sondern Herrin und Führerin ist, bedeutet als ästhetisches Phänomen die
+Verlegung des Gefühlszentrums in eine spekulative Sphäre. Belebt wurde
+sie durch eine allmählich bis ins kleinste sich erstreckende motivische
+Gliederung, aus deren sinnvollem Ineinandergreifen sich ein künstlich
+organisches Gegenbild der Wirklichkeit ergab. Wagner macht sich
+Schopenhauers romantische Musikästhetik zu eigen: die Musik ist
+Spiegelung aller Objektivierungen des Willens, von der niedersten bis
+zur höchsten Stufe. Alles ist innerlich aufeinander bezogen durch die
+Harmonie, und oben schwebt als letzte Bindung der einigende melodische
+Faden. Schopenhauer exemplifiziert zwar nicht auf Wagner, auch nicht
+auf die Klassiker, sondern auf Rossini. Seine Betonung der primären
+Bedeutung der Melodie zeigt seine Herkunft vom Idealismus, in seiner
+Auffassung vom Wesen der Harmonie aber ist er durchaus der an die
+Vorstellung des imaginären musikalischen Raumes und seines
+innerorganischen Lebens gebundene Romantiker.</p>
+
+<p>Dies ist der Sinn der romantischen Wendung zur melodisierten
+Harmonik: die Gewinnung der musikalischen Raumvorstellung zum Aufbau
+einer illusionistisch bewegten Klangwelt als Widerspiel und Korrektiv
+der Realität. Die Folge war eine ständig zunehmende Überschätzung des
+Wesens und der Bedeutung der Harmonie, die für den Romantiker
+schließlich der Inbegriff des Wesens der Musik überhaupt wurde. In
+seiner Schrift "Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz" gibt Hans
+Pfitzner eine entwicklungsphilosophische musikgeschichtliche Skizze, in
+der er eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen der Zeit, wo Musik nur
+Wissenschaft gewesen, und der Zeit, wo sie Kunst geworden sei. Als
+Kennzeichen des Übergangs von der Wissenschaft zur Kunst wird genannt
+der Augenblick, in dem "der Geist der Musik endlich das so lange
+vorenthaltene Kleinod" herausgab, "den Teil seines Wesens, in dessen
+Besitz die Musik zum erstenmal in der Welt als selbstherrliche Kunst
+auftreten konnte: die Welt der Harmonie". Es ist hinzuzusetzen, daß
+Pfitzner den Beginn der harmonischen Musikauffassung wesentlich früher
+ansetzt, als es hier geschieht, nämlich schon im späten Mittelalter,
+daß er also Unterschiede zwischen polyphoner, melodisch homophoner und
+harmonischer Musikempfindung nicht annimmt. Indessen handelt es sich
+nicht darum, über Notwendigkeit und Berechtigung dieser Abgrenzungen zu
+sprechen. Bezeichnend ist lediglich die Tatsache, daß der Epigone der
+Romantik in der Harmonie schlechthin das Wesenhafte der Musik erblickt,
+daß es ihm "äußerst schwer, wenn nicht unmöglich ist, sich eine
+wahrhafte homophone Tongestalt vorzustellen", daß bei ihm eben
+jegliches Musikempfinden an die bewußt oder unbewußt mitschwingende
+Harmonie gebunden ist. Das ist als subjektives Bekenntnis zweifellos
+wahr und richtig und erklärt alle weiteren Folgerungen, die Pfitzner
+aus seiner ästhetischen Grundanschauung zieht. Falsch daran ist nichts
+als die These selbst von der Harmonie als dem Urwesen der Musik, falsch
+in bezug auf die Bezeichnung der frühmittelalterlichen Musik als bloßer
+Wissenschaft und das Nichtvorstellbare einer homophonen Tongestalt:
+gäbe es kein anderes Denkmal der musikalischen Frühzeit als den
+Gregorianischen Choral, so wäre der unwiderlegliche Gegenbeweis
+erbracht. Aber auch in der Neuzeit ist die harmonische Musikvorstellung
+als richtunggebende Empfindungsart erst zuletzt mit allen Symptomen
+einer Nachblüte zur Geltung gekommen. Wer in ihr das Wesenhafte der
+Musik überhaupt erkennt, der freilich muß unvermeidlich, selbst wenn es
+heute keine andersgerichtete Musik gäbe, wenn also eine Opposition gar
+nicht in Frage käme, zur ästhetischen Erkenntnis eines Unterganges
+kommen. Denn wirklich: diese Welt der Harmonie, dieses kunstvolle,
+praktisch und theoretisch zur vollkommensten Organik entwickelte
+Phantom einer musikalischen Raumvorstellung, dieses Illusionsgebilde,
+dessen imaginäre Realität Verstand und Spekulation zu denkbar höchster
+rationaler Gesetzmäßigkeit ausgebaut haben &mdash; es geht wahrhaft
+unter, geradeso, wie die Romantik untergeht, deren merkwürdigste und
+eigentümlichste Schöpfung es ist.</p>
+
+<p>Die Welt der Harmonie geht unter &mdash; aber die Welt der Musik
+bleibt bestehen. Beide sind nicht identisch, und die Zeit der
+harmonischen Musikempfindung ist im Ablauf des geistigen Werdens nur
+eine Episode der Musikgeschichte, nicht einmal eine selbständige,
+sondern eine Ableitung, eine Wucherung der melodisch homophonen Musik.
+Was sie der Romantik innerlich zugehörend und konform erwies, war der
+starke spekulative Anreiz, den ihr Ausbau dem Verstande bot, war der
+Grundzug rationeller Vernünftigkeit, der ihr nicht nur äußerlich,
+sondern rein gefühlsmäßig aufgeprägt war und ebendarum schematisch
+formalistische Bildungen außerordentlich begünstigte, ja ihnen noch den
+Charakter besonderer Ehrwürdigkeit und Tugend gab. An und in diesen
+Bildungen ist nun die Welt der Harmonie erstarrt. Sie vermag sich nicht
+mehr aus ihnen zu lösen, weil sie in Wahrheit gar keine Welt ist oder
+war, sondern nur eine Insel in der Welt, deren Umkreis nun erkannt ist
+und deren Geheimnisse durchforscht sind. Auf dieser Insel stehen wir
+heut und spähen in die Weite, um den Weg zu neuen Küsten und Ländern zu
+erforschen. Der Kompaß, der dahin führen soll, ist das Bewußtsein der
+irrationalen Natur der Musik. Aus diesem Bewußtsein erwächst die
+Abwendung von der Harmonie als Grundlage der Klangempfindung. Diese
+Harmonie hatte in ihrer Entwicklung die Verbindung mit dem
+gefühlsmäßigen Quell musikalischen Lebens verloren, sie hatte sich zu
+einer Massenhäufung von "Systemen" verhärtet &mdash; keine Art der
+Klanganschauung hat eine solche, fast unübersehbare Menge von Systemen
+hervorgebracht, hat die Denkart der Menschen derart auf dogmatische
+Gebiete abgeleitet. Es gilt nun, diese lebendige Dogmatik der
+Harmonielehren als Lehren nicht etwa nur des technischen Satzes,
+sondern vor allem als Zwangsschienen des Empfindungsvermögens
+abzustreifen. Es gilt, darüber hinaus den Weg zu einer neuen, dem
+Verlangen nach außervernunftmäßiger Klanganschauung und -gestaltung
+entsprechenden Kunst zu finden.</p>
+
+<p>Hier stehen wir gegenwärtig, und in der gekennzeichneten Aufgabe,
+der Gewinnung einer im Wesen neuen Art der Musikanschauung überhaupt
+liegt alles beschlossen, was die Musik an Teilproblemen anderer Art
+bietet. Gemeinschaftsgefühl, religiöses Bewußtsein, Symbolik des
+Spieles, alles dies sind ins Begriffliche gewendete Ausstrahlungen des
+zutiefst musikeigenen Problems unserer Gefühlsauffassung der Musik. Die
+Fragen des Stiles, der Form, der klanglichen Fassung sind gleichfalls
+an sich nicht primärer, entscheidender Art. Auch ihre Lösung ist
+bedingt durch die Art, wie wir Musik als Phänomen an sich empfinden,
+aus welcher Einstellung des Gefühles wir sie erfassen.</p>
+
+<p>Wir sind Suchende. In dieser Tatsache des Suchens mag mancher im
+[sic] Zeichen zeitlicher Schwäche sehen. "Alles Neue und Originelle
+gebieret sich von selbst, ohne daß man danach suchet", hat Beethoven
+gesagt. Es war zweifellos richtig &mdash; für Beethoven, und wir
+dürfen, ohne uns zu schämen, zugestehen, daß unter uns gegenwärtig kein
+Beethoven lebt. Aber wir dürfen auch hinzusetzen, daß Kolumbus Amerika
+nicht entdeckt hätte, ohne es zu suchen. Wir dürfen sogar weiter sagen,
+daß er eigentlich etwas Ganz anderes suchte als Amerika, daß er von
+diesem Erdteil gar nichts wußte, ja daß er ihn in Wirklichkeit auch
+nicht entdeckt hat, sondern einer Täuschung verfiel &mdash; und daß er
+doch die kühnste Entdeckernatur war, vor deren Namen und Tat die
+Geschichte innehält. Was ihn trieb, war der Zwang zur neuen Welt. In
+der Kraft, mit der er dieses Muß des Zwanges zur Tat wandelte, lag das
+Entscheidende seiner Größe, nicht im unmittelbaren realen Ergebnis. Wir
+sind in der Lage der Kolumbuszeit.</p>
+
+<p>Die Säfte der alten Welt sind vertrocknet, sie stirbt, ihre
+gläubigen Einwohner sagen es selbst, und wir müssen einsehen, daß sie
+recht haben. Aber wir hängen nicht so an ihr, wir fühlen uns ihr nicht
+so verbunden, daß wir mit ihr sterben wollen. Im Gegenteil, wir sind
+der Meinung, daß sie wohl tut, zu sterben, weil ihre Zeit um ist und
+wir den Glauben haben an die neue Welt, obwohl wir sie noch nicht
+sehen. In der Tatsache dieses Glaubens an das Unbekannte liegt etwas,
+das mehr ist als lediglich negative Opposition gegen das Bestehende,
+etwas, das der bisherigen Zeit fremd war, uns ihr überlegen macht und
+uns die Überzeugung gibt, daß die Fahrt sein muß, weil eben der Glaube
+es befiehlt. Ob wir nun Indien auf dem andern Wege um die Welt
+erreichen, oder vielleicht ein ganz neues Land, das können wir nicht
+sagen. Wir wissen nur, daß wir fahren müssen, nicht aus Abenteurerlust,
+sondern unter dem Gebot der inneren Verheißung. In der Erfüllung dieses
+Gebotes liegt unsere Sendung.</p>
+
+<p>So verlassen wir die alte romantische Welt der Harmonie. Der Blick
+wendet sich zurück auf das, was vor ihr war. Die schöne Idealwelt des
+Klassizismus erkennen und verehren wir in all ihrer Hoheit, die
+Sinfonien Haydns, die Opern Mozarts, die Quartette Beethovens sind
+Bestandteile unsres Menschentums, die wir nicht hergeben könnten, ohne
+uns selbst zu vernichten. Aber diese Welt ist fertig. Sie hat die freie
+Persönlichkeit, die große Melodie der Menschen gebracht. Was darüber
+hinaus lebendig und triebkräftig an ihr war, hat auf eben den Weg
+geführt, den wir jetzt verlassen. Der Mensch als Einzelwesen hat als
+Objekt der Kunst alles gegeben, wag er zu geben vermochte, von der
+reinen Zusammenfassung stärkster Schwungkräfte des Geistes bis zur
+leidvollen Selbstzersetzung. Psychische und akustische Vorgänge
+entsprechen einander: die Harmonie, diese merkwürdige Auseinanderlegung
+des Haupttones in die gleichzeitig klingenden Nebentöne ist als
+Klangphänomen eine Zersetzungserscheinung, die die plastische Kraft der
+Melodik von innen her zerstört. Dieser Zerstörungskeim lag in der
+klassischen Kunst der melodischen Homophonie eingeschlossen, ähnlich
+wie die immer höher gesteigerte Individualbelebung schließlich zur
+Auflösung der Polyphonie geführt hatte. Nun haben wir den Kreis des
+Einzelwesens umschritten und ausgeforscht, das Individuum als solches
+ist wieder einmal im Lauf der Menschheitsgeschichte erkannt. Es hat von
+sich allein aus nicht mehr viel oder gar nichts mehr zu geben auf lange
+Zeit hinaus, wir haben kein Interesse mehr an ihm, seinen Gesetzen,
+seinen Intimitäten. Die Gattung, der Typus, die Gesamtheit rückt wieder
+vor, das menschlich Gemeinsame tritt an die Stelle des persönlich
+Besonderen, die Wage des Gefühles senkt sich wieder nach der anderen
+Seite: vom melodisch harmonischen Individualismus zum polyphonen
+Kollektivismus. Freilich zielt diese Umschaltung nicht auf
+Wiederaufnahme der alten polyphonen Kunst. In diesem Fall wäre sie
+nichts anderes als ebenfalls romantische Stilkünstelei, die nur statt
+auf Mozart auf Bach Bezug nimmt. Es handelt sich vielmehr um einen
+neuen, elementar bedingten Durchbruch der polyphonen Musikauffassung,
+die als solche der vorklassischen Zeit nähersteht als der klassischen,
+im übrigen ihrer stilgesetzlichen Besonderheit nach von der Polyphonie
+Bachs mindestens ebenso weit entfernt ist wie diese etwa von der
+polyphonen Kunst des Mittelalters. Die zwischen zwei derartigen
+geistesartlich verwandten Epochen liegenden Erlebnisse und Ausblicke
+sind Erfahrungen, die nicht vergessen werden können. So sicher der
+subjektivistische Auflösungsprozeß der harmonischen Empfindungsart
+nicht mehr im Mittelpunkt des musikalischen Fühlens steht, so bedeutsam
+wirken doch seine Ergebnisse auf die sich neu heranbildende Art der
+Musikauffassung nach.</p>
+
+<p>Das hier angeschlagene Problem ist keines einer einzelnen Nation,
+sondern der Menschheit. Die große Krise, in der wir stehen, die
+Erkenntnis der Notwendigkeit einer Änderung unserer Gefühlseinstellung
+gegenüber allen Erscheinungen des Seins, der Überwindung des
+Individuums, der Erfassung von Leben und Welt aus einem Mittelpunkt
+außerhalb unsrer selbst ist eine Aufgabe, die schon ihrer Natur nach
+nicht auf nur ein Volk beschränkt bleiben kann. Wir sehen auch überall
+gerade in der Musik der Völker alter und neuer Kultur Ansätze zu einer
+Entwicklung im angedeuteten Sinn. Wir sehen sie aber in der deutschen
+Musik besonders auffallend. Sicherlich nicht nur, weil wir ihr am
+nächsten stehen. Kein Volk hat das Erlebnis der Romantik mit so
+starker, gläubiger Intensität in sich aufgenommen, keines ist so bis
+auf die tiefsten Wurzeln seines Wesens davon ergriffen worden. Keines
+hat dieser Entwicklung zum Individualismus und Subjektivismus so
+mannigfaltige, reiche Früchte abgewonnen und &mdash; bei keinem hat der
+geistige Zersetzungsprozeß, die Krankheitserscheinung der Romantik so
+verheerende Folgen gehabt. Es ist begreiflich, daß daher auch gerade aus
+der deutschen Musik der erste und stärkste Vorstoß gegen die
+romantische Kunst erfolgte, der ihn in gedanklichem Phantasiespiel
+vorbereitete, ist der Deutsch-Italiener Busoni, der ihn führte, ist
+Arnold Schönberg. Gleich Mahler und Schreker ist auch Schönberg ein
+Abkömmling der Romantik, der in seinen Anfangswerken mit vollem
+Bewußtsein die vielleicht reichste, phantasievollste Harmoniewelt der
+Epigonenzeit aufbaute. Aber eben diese Leichtigkeit der Weiterbildung
+überkommener Gesetzmäßigkeiten hat in ihm früh den kritischen Trieb
+geweckt, hat die Erkenntnis geschärft für das konventionell Gebundene
+dieser Kunst. Was Mahler durch seine vorwiegend ethisch religiöse,
+Schreker durch die elementare Triebhaftigkeit seiner sinnlichen
+Phantasie fand, das erreichte Schönberg durch die unerbittliche Schärfe
+und fanatische Härte seiner kritischen Fragestellung. Der kühnste,
+rücksichtsloseste Intellekt der Nachromantik erkannte die
+intellektuelle Bedingtheit dieser Kunstart. Auf dem Gebiet
+vernunftmäßig geregelten Musizierens floh er in das Bereich der
+beziehungslosen, rein phantastisch bewegten Musik, die aus der
+Übersteigerung des Subjektivismus diesen überwindet, aus der
+spekulativen Zerfaserung der Harmonie diese aufhebt, aus der
+atomisierenden Auflösung des Einzelnen, Besonderen wieder zur Erfassung
+des Allgemeingültigen, Typischen, Menschlichen gelangt. Es ist das, was
+nach Abstreifung des Individuellen übrigbleibt, im Gegensatz zu der
+älteren Typenauffassung, vor der das Persönliche als eigenberechtigt
+noch gar nicht bestand. Dementsprechend ist Schönbergs Musik im
+Vergleich zu der visuell flächenhaft empfundenen, wuchtig klaren
+Ornamentik der Bachschen Polyphonie auf Erfassung des seelisch
+Essentiellen gerichtet, mehr Gefühlsvibration als -darstellung. Das
+Polyphone an ihr ist mehr Mittel als Zweck. Es ergibt sich nicht aus
+dem Willen des Zusammenschlusses, sondern des irregulären
+Nebeneinander, das die Harmonie nicht mehr kennt und die Stimmen aus
+der räumlichen Tiefe wieder in die lineare Parallele zu bringen sucht.
+Das Ziel aber, die Idee der Einigung, ist nicht eigentlich
+kollektivistischer Art, es ist nicht Vielstimmigkeit im Sinne der
+alten, organisch gebauten Polyphonie. Es ist vielmehr eine
+Einstimmigkeit im absoluten Sinne, entharmonisierte Melodik freiester
+Art, Projizierung aller Bewegungskräfte des Gefühls in eine einzige
+Linie, die polyphone Mannigfaltigkeit des Stimmklangs,
+individualisierende melodische Geschlossenheit und harmonisches
+Raumgefühl in einem vereinigt.</p>
+
+<p>Die verwirrende, scheinbar mißtönende Polyphonie des Schönbergischen
+Satzes ist in Wahrheit nichts anderes als das Suchen nach dieser
+Einstimmigkeit höchster Art, als der Versuch, den Klang immer mehr auf
+das Urwesenhafte zu beschränken, ihn aller einengenden Subjektivismen
+zu entkleiden, ihn lediglich zum Symbol des auch formal im
+Verstandessinne Unfaßbaren, des psychologisch nicht Deutbaren, des
+Irrationalen zu machen. Damit gelangt die Musik durch das Mittel der
+Polyphonie wieder zu einer Homophonie zurück, von der der romantische
+Musikästhetiker meint, daß man sie sich in Wahrheit überhaupt nicht
+vorstellen könnte. Und doch liegt in der Aufgabe, diese
+Vorstellungsgabe zu gewinnen, der Kern der musikalischen Probleme
+unserer Zeit. Je mehr wir erkennen, daß die Kurve der musikalischen
+Bewegung tatsächlich dauernd in absteigender Linie läuft, daß alles,
+was uns das 19. Jahrhundert gebracht hat, Produkt ständig zunehmender
+Materialisierung, Steigerung der Mittel unter Vergessen oder
+theatralischer Vortäuschung der seelischen Grundkräfte bedeutet, um so
+stärker wird der Drang nach Abstreifung all dieser artifiziellen
+Auswüchse, nach Vereinfachung, nach Rückgewinnung der ursprünglichen
+Naturkraft des musikalischen Klanges. Solche Vereinfachung ist nicht zu
+finden durch Reduzierung der üblichen Mittel, nicht durch eigensinniges
+Festhalten an einem gegebenen historischen Schema, auch nicht durch
+stilistische Verkleidungskünste. Sie setzt voraus völlige Umstellung
+der seelischen Grundkräfte, aus denen die Musik erwächst, Wille und
+Fähigkeit, Musik überhaupt außerhalb aller Konvention als Formung
+elementarer Gefühlskraft, als Naturlaut zu erkennen. Um zu solcher
+reinen Homophonie zu gelangen, müssen wir fähig werden, die absolute
+Linie nicht als Teilornament eines polyphonen Gewebes, nicht als
+Führerin oder abgrenzende Umkleidung der harmonischen Bewegung, sondern
+als selbständige Ausdrucksgestaltung höchst potenzierter Kraft zu
+empfinden. Dies ist wohl die Richtung, in die Schönbergs Schaffen
+deutet. Wenn wir überhaupt an die Möglichkeit des Weiterlebens der
+Musik oberhalb der blöden Gewohnheit und des gedankenlosen Betriebes
+glauben, so können wir es nur in der Richtung der prophetischen Kunst
+Schönbergs für denkbar halten.</p>
+
+<blockquote><center> *&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;
+*</center></blockquote>
+<blockquote><center> *</center></blockquote>
+
+<p>Man pflegt in Deutschland den Deutschen im allgemeinen als
+musikalisch hervorragend begabt und das deutsche Volk als auf
+musikalischem Gebiet vor allen anderen ausgezeichnet anzusehen. Wie
+weit solche Ansicht der Wirklichkeit entspricht, wäre genau wohl nur
+durch vergleichende Statistik festzustellen. Zunächst ist die Tatsache
+unzweifelhaft, daß Franzosen und Italiener eine sehr hochstehende
+geschichtliche Musikkultur, die Russen eine außerordentlich
+eigentümliche Kirchen- und Volksmusik aufzuweisen haben, und daß der
+Durchschnittstyp des Italieners, Tschechen, Russen an natürlicher
+Musikalität dem Deutschen mindestens gleichkommt. Dem Talent und der
+produktiven Veranlagung nach dürfte es vielleicht schwerfallen, den
+Vorrang der Deutschen zu beweisen. In einer Beziehung aber scheinen sie
+sich gegenüber anderen, ähnlich begabten Völkern hervorzutun: in der
+Art nämlich, wie ihre Musik zum unmittelbaren Abbild ihrer
+Geistesgeschichte wird, wie sie alle Wandlungen der Volksseele in sich
+aufnimmt, sie widerspiegelt, ja aus ihnen eigentlich die Impulse ihres
+Seins empfängt. Die Musik anderer Völker ist wohl ebenfalls Wandlungen
+unterworfen, aber dies sind Wandlungen des Geschmackes, und so
+mannigfache Verschiedenheiten es etwa innerhalb der italienischen oder
+französischen Oper der beiden letzten Jahrhunderte gibt, so sind dies
+im Grunde genommen nur Unterschiede des Zeitstiles, der Einkleidung.
+Gleich bleibt sich stets die durch nationales Temperament bedingte
+Auffassung der Musik als unmittelbarer Sprache der Sinne, des Blutes,
+des Formwillens. Für den Deutschen dagegen ist die Musik angewandte
+Metaphysik. Dies gilt nicht nur für den betrachtenden Beobachter, es
+gilt für den Schaffenden wie für den Aufnehmenden, es gilt für jeden
+Deutschen. Diese metaphysische Einstellung zur Musik ist eine der
+grundlegenden, logisch nicht zu erklärenden Eigenschaften des
+Volkscharakters oder der Volksseele. Sie wird ebenso offenbar am
+einfachsten Lied wie an der kompliziertesten Kunstmusik, und sie ist
+es, nicht irgendwelche konventionelle Eigenheit der Faktur, die der
+deutschen Musik ihr eigentümliches Gepräge, ihre Sonderstellung
+innerhalb der Kunst aller Völker gibt. An sinnlicher Wärme des Blutes
+wird uns stets der Italiener, an Klarheit und logischer Beherrschtheit
+der Gestaltung stets der Franzose überlegen sein. Das
+Übersinnlich-Unaussprechbare, der Wille zum Transzendenten, die
+Verwebung feinster Probleme des Geisteslebens mit den Gesetzen der
+Klangformung, die Empfindung des Klanges überhaupt als metaphysischen
+Symboles ist die bezeichnende Eigenheit der deutschen Musik.</p>
+
+<p>Schon daraus ergibt sich ihr Angewiesensein auf Zuflüsse von außen.
+Es ist nie zu befürchten, daß solche Zuflüsse sie schädigen, ihrer
+Originalität berauben könnten. Abgesehen davon, daß es eine schwache
+Originalität wäre, die sich nur durch gewaltsame Absperrung zu halten
+vermag, wird die deutsche Musik niemals ernstlich fähig sein,
+fremdländische Muster wirklich zu kopieren. Sie kann gar nicht anders,
+als die ihr zugetragenen Gefühls- und Formanregungen aus der ihr
+eigentümlichen metaphysischen Grundeinstellung erfassen, sie also in
+eine völlig andersgeartete Vorstellungs- und Empfindungssphäre
+übertragen. Andererseits macht gerade diese Art der Grundeinstellung
+steten Zufluß blut- und formgebender Kräfte von außen her erforderlich.
+Wir sind auch als musikalische Kulturträger kein Volk der
+Selbsterzeuger, wir sind ein Volk der Verarbeiter. Wo je im Lauf der
+gesamten Geschichte die deutsche Musik einen Höhepunkt erreicht hat, da
+hatte sie auf fremdvölkischem Material aufgebaut. Wegen dieses
+außernationalen Ursprunges und wegen der metaphysischen
+Steigerungskraft der deutschen Musik sind solche Höhepunkte zugleich
+Höhepunkte der musikalischen Kunst überhaupt geworden. Wo aber die
+deutsche Musik durch den Gang der Ereignisse nach außen abgeschlossen
+wurde, da ist sie blaß und schwach geworden, ihre Metaphysik hat der
+Unterlage einer lebendigen Physis entbehrt.</p>
+
+<p>So ist die deutsche Musik unmittelbar dem deutschen Geistesleben im
+tiefsten Sinne verknüpft und spiegelt dessen Wandlungen ihrer
+metaphysischen Natur nach in unerbittlich genauer Schärfe. Zur Führung
+berufen, der letzten Abklärung fähig und zugewandt, vermag sie zu
+diesen höchsten Eigenschaften ihres Wesens nur im Durchgang durch
+andere zu gelangen. National bedingt, ist sie nach Gesinnung und
+Auswirkung eine europäische Kunst, in ihr leben und kämpfen die
+Probleme des europäischen oder schlechthin des Menschentums überhaupt.
+Der große Niederbruch hat sie gepackt und mitgerissen wie kaum eine
+andere Zeiterscheinung der Geistesgeschichte. Was im heutigen
+musikalischen Leben Deutschlands vor sich geht, ist das getreue, im
+einzelnen ins Groteske verzerrte Abbild unseres allgemeinen Lebens. Es
+wird gekämpft nicht nur um Überzeugungen und Urteile, es wird gekämpft
+um Gesinnung und Macht, es wird gekämpft nicht mit Einsichten und
+Gründen, sondern mit Terror und Lüge, es wird gekämpft nicht um
+sachliche Werte, sondern um persönliche Interessen, und das Was und Wie
+all dieser Kämpfe ist eine grobe Karikatur der Dinge, deren reiner Name
+mißbraucht wird.</p>
+
+<p>Aber in dieser Musik lebt hinter allen Trugmasken, heut noch fern
+dem Tage, Erkenntnis der tiefsten Notwendigkeit geistiger Erneuerung.
+Es lebt der Glaube an das Kommende, das andere, das mit Namen nicht zu
+nennen ist, und dessen Dasein doch innerlichst erspürt wird. Es lebt
+die Idee, daß nicht nur Untergang, sondern auch Aufgang bevorsteht, es
+lebt die Vorstellung des unbekannten Gottes. Gerade in der deutschen
+Musik ist sie lebendig, zieht sie ihre starken Spuren, wirkt sie mit
+wachsender prophetischer Kraft. Sie hat uns die Fähigkeit des Glaubens,
+de Überzeugung von der Notwendigkeit dieses Glaubens als seelischer
+Voraussetzung aller Offenbarung gebracht. Das ist ihre stärkste
+Leistung. Der Erfüllung müssen wir noch harren, bis wir selbst ihrer
+fähig sind.</p>
+
+
+
+
+<h2><a name="phi">DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART<br>VON MAX SCHELER</a></h2>
+
+<p>Vom "Volksverband der Bücherfreunde" und dem Herausgeber
+aufgefordert, auf engem Raum ein Bild zu geben von der gegenwärtigen
+deutschen Philosophie, ist der Verfasser sich bewußt, daß der
+Gegenstand mehr wie je als ein im Werden befindlicher betrachtet werden
+muß. Die Tendenz auf Zersprengung vorhandener, lange bewährter Formen,
+die in den Sphären des sozialen Lebens, der Kunst (Expressionismus) und
+der Wissenschaft (Relativitätslehre) mit seltsamer Gleichzeitigkeit
+auftritt, ist auch in der Philosophie der Gegenwart weit größer, als es
+der erste Augenschein lehrt. Die besondere Absicht, die der sonst
+solchen Zusammenfassungen wenig geneigte Verfasser mit diesen Zeilen
+verbindet, ist, einem größeren Bildungskreise die Möglichkeit zu geben,
+sich durch eigene Gedankenarbeit in diejenigen Leistungen der
+gegenwärtigen Philosophie tiefer einzuarbeiten, die er nach eigenem
+philosophischen Urteil für die triebkräftigsten und zukunftsreichsten
+hält. Die menschliche und nationale Selbstbesinnung nach dem
+tiefgreifenden Zusammenbruch unseres Staates und unserer bisherigen
+gesellschaftlichen Ordnungen vollzieht sich in der Philosophie in der
+höchsten und durchgeistigtsten Form. Richtungen und Wege zu ihr mögen
+daher indirekt auch auf diesen Blättern mitbezeichnet werden. Es wird
+dem Verständnis dienlich sein, wenn der Verfasser schon hier am Anfange
+in vager Weise die formale Gestalt der Art von Philosophie bezeichnet,
+auf die hin das Beste der gegenwärtigen Arbeit zielt. Insofern
+behauptet er: Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht
+gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren
+terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S a c h
+philosophie, die auch die metaphysischen Weltanschauungsfragen in den
+Grenzen, in denen es Philosophie im Unterschied zur Religion allein
+vermag, in kritischer und vorsichtiger Weise wieder einer Lösung
+zuzuführen sucht, beginnt sich unter der methodischen Leitung des
+Satzes vom Primat des Seins vor dem Erkennen in der Gegenwart von den
+verschiedensten Seiten her aufzuarbeiten. Der Subjektivismus,
+erkenntnistheoretische Idealismus, Relativismus, Sensualismus,
+Empirismus und Naturalismus wird im Aufbau dieser Philosophie langsam ü
+b e r w u n d e n, und es wird wie von selbst eine Wiederanknüpfung der
+Philosophie stattfinden an die großen Traditionen jenes objektiven
+Ideenidealismus, der etwa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts das
+europäisch-christliche Denken immer noch notdürftig zusammenhielt
+&mdash; eine Wiederanknüpfung, die um so wertvoller sein dürfte, als
+sie ungewollt und aus der schlichten Untersuchung der Sachprobleme der
+Philosophie selbst sich ergibt: gleichzeitig aber das neue positive
+Wissen, das die Einzelwissenschaften erarbeitet haben, in sich
+aufnimmt. Diese Philosophie wird nicht sein wollen die D e s p o t i n
+der Einzelwissenschaften, wie in der sogenannten "klassischen" Epoche
+der deutschen Spekulation (z. B. Hegel), noch bloße D i e n e r i n
+der Einzelwissenschaften (als Erkenntnistheorie und Methodologie),
+sondern wird in dem daseinsfreien "W e s e n" aller Seinsgebiete der
+Welt einen selbständigen, n u r der Philosophie zugänglichen G e g e n
+s t a n d besitzen, den sie mit eigenen Methoden zu erkennen
+unternimmt.</p>
+
+<p>Will man die Philosophie der Gegenwart verstehen, so wird man sie
+auf den größeren Hintergrund der Philosophie des 19. Jahrhunderts mit
+ihren Phasen projizieren müssen. Die Merkmale der G e s a m t g e s t a
+l t der Philosophie des 19. Jahrhunderts sind gegenüber der
+Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts die folgenden:</p>
+
+<p>Die Philosophie des 19. Jahrhunderts zeigt erstens eine weitgehende
+n a t i o n a l e Verengung. Der Denkverkehr der europäischen
+Nationen, wie er uns etwa in einer Figur wie Leibniz gegenwärtig ist,
+wird durch die steigende Ausbildung des nationalen Selbstbewußtseins
+und des nationalen Mythos erheblich geschwächt. Besonders in
+Deutschland wird mit Kant, obzwar dieser große Geist sich selbst noch
+vollständig als Bürger der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik fühlt,
+eine Denkrichtung angebahnt, die die deutsche Philosophie in starkem
+Maße aus der christlich-europäischen Tradition herauslöst und ihr einen
+national-partikularistischen Charakter auf viele Jahrzehnte hin
+erteilt.</p>
+
+<p>Ein zweites Merkmal ist die wachsende V i e l h e i t der
+philosophischen Standpunkte, Schulen, Sekten. Indem die Philosophie in
+der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen vorwiegend geschlossenen S
+y s t e m charakter annimmt und damit weit mehr als früher persönlich
+gebundener wird ("Romane der Denker" nannte es Sophie Germaine), in der
+zweiten Hälfte aber umgekehrt sich in Einzelwissenschaften aufzulösen
+oder als deren bloße Dienerin zu konstituieren suchte, geht beidemal
+der Gedanke "einer" s e l b s t ä n d i g e n Philosophie, an der
+Generationen und Völker g e m e i n s a m zu bauen haben, verloren.</p>
+
+<p>Ein drittes Merkmal, das für die d e u t s c h e Philosophie
+besonders aufdringlich ist, ist die diskontinuierliche antithetische
+Entwicklung. Während sich die Philosophie der Neuzeit bis zum 19.
+Jahrhundert im großen Ganzen, um wenige Grundfragen bemüht,
+kontinuierlich entfaltete, ist das 19. Jahrhundert von Diskontinuität,
+Abbruch, plötzlicher Wiederanknüpfung an ältere Gedankenrichtungen
+durchzogen. Der Zusammenbruch der deutschen Spekulation nach Hegels
+Tod, die zeitweise Herrschaft des Materialismus in den Jahren von 1840
+bis 1860, die Wiederanknüpfung an Kant (Neukantianismus), an Thomas von
+Aquin (Neuthomismus), später an Fichte und Hegel sind dafür nur die
+sichtbarsten Beispiele dieser Diskontinuität. Die Reaktions- und
+Restaurationsphilosophie der Romantik versuchte mit ganz
+subjektivistischen und unmittelalterlichen Methoden mittelalterliche I
+n h a l t e und W e r t e wiederzugewinnen, um auf diese Weise rein
+antithetisch und reaktiv die gewaltige zusammenhängende Vernunfts- und
+Menschheitskultur des 18. Jahrhunderts zu überwinden. Bis zu
+Schopenhauer, Nietzsche, E. Rohde, J. Burckhardt, E. von Hartmann, ja
+bis zu O. Spengler hat die romantische Bewegung einen tiefgehenden Z w
+i e s p a l t in das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts
+hineingelegt, der bis heute unüberbrückt ist. Aller gegenwärtige
+"Irrationalismus" (Bergson, Theosophie usw.) knüpft wieder an sie an.
+Aus der Verbindung von Ausläufern der romantischen Bewegung mit der
+durch die Kenntnis des Sanskrit (in Deutschland zuerst verbreitet durch
+W. von Humboldt) erschlossenen Weisheit des Ostens (insbesondere
+Indiens) ist auch das gegenüber der Philosophie des 17. und 18.
+Jahrhunderts gänzlich n e u e Element des metaphysischen, ethischen und
+geschichtsphilosophischen P e s s i m i s m u s (Schopenhauer, E. von
+Hartmann, Mainländer, Spir, in anderer Richtung Nietzsche in seiner
+ersten Phase) hervorgegangen. Auch der zuerst im Pessimismus erfolgende
+Eintritt der Philosophie des O s t e n s in die Geschichte des
+europäischen Denkens (in Deutschland besonders durch Paul Deußens
+"Geschichte der indischen Philosophie" verbreitet), ist ein s p e z i
+f i s c h e s Merkmal des 19. Jahrhunderts. Durch die im Krieg
+erfolgte stärkere Berührung der deutschen Bevölkerung mit dem Osten ist
+diese Bewegung noch gewaltig gefördert worden (Neubuddhismus,
+Theosophie, Anthroposophie); auch die Überwindung des "Europäismus" in
+der Geschichtsauffassung (der Hegel und Comte noch gemeinsam ist), das
+heißt der Methode, an die ganze Entwicklung der Weltgeschichte
+europäische Maßstäbe und geschichtliche Bewegungsformen anzulegen, ist
+in dieser Bewegung stark in Frage gesetzt worden. Indem die Romantik
+ferner das Studium der positiven Religionen in die Sphäre der
+allgemeinen Bildung hineintrug, hat sie auch die konfessionellen
+Bindungen des philosophischen Denkens gegenüber dem 18. Jahrhundert
+wieder bedeutend verstärkt. Sie hat ferner auf viele Jahrzehnte hin die
+philosophische Arbeit so einseitig auf das Studium der Geschichte der
+Philosophie hingerichtet, daß ein Mann wie Kuno Fischer sagen konnte:
+"Geschichte der Philosophie treiben heißt selbst philosophieren."
+Während Kant noch meinte, das "wäre ein armseliger Kopf, dem die
+Geschichte der Philosophie seine Philosophie ist", hat der historische
+R e l a t i v i s m u s in der Philosophie bis in die achtziger Jahre
+des vorigen Jahrhunderts hinein die philosophische Arbeit aufs stärkste
+niedergehalten. Erst die Philosophie der letzten beiden Jahrzehnte ging
+daran, diesen Historismus zu überwinden. Freilich nur in maßvoller
+Weise: denn auch in den Forschern, bei denen sich die Philosophie,
+abgesehen von Erkenntnistheorie, in bloße Weltanschauungs l e h r e
+auflöst, d. h. in Typologie und Psychologie der Weltanschauung (W.
+Dilthey, M. Weber, K. Jaspers, H. Gomperz, O. Spengler) ist der aus der
+Romantik entsprungene Historismus noch stark gegenwärtig. Und nur in
+anderer, naturalistischerer Form erscheint er wieder bei den
+Neupositivisten (E. Mach, Levy-Brühl und anderen), die selbst die
+Denkformen und Denkgesetze soziologisch aus Traditionen und Erblichkeit
+herleiten wollen.</p>
+
+<p>Ein letztes Merkmal der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist es, daß
+sie aus Biologie, Geisteswissenschaften und der seit Fechner in die
+Philosophie eingegangenen Disziplin der experimentellen Psychologie
+weit stärkere Antriebe empfangen hat als die Philosophie des 17. und
+18. Jahrhunderts, deren Probleme überaus einseitig durch die
+mathematischen Naturwissenschaften Galileis und Newtons gebunden und
+bestimmt waren.</p>
+
+<p>Auf diesem allgemeinen Hintergrund der Gestaltung der Philosophie
+des 19. Jahrhunderts überhaupt gewinnt die gegenwärtige Philosophie
+Deutschlands ein um so größeres Interesse, als ihre bedeutsamsten
+Erscheinungen, obzwar weitgehend genährt durch das gesamte Gedankengut
+der Philosophie des 19. Jahrhunderts, sich in vieler Hinsicht in
+scharfem Gegensatz zu dieser Gestaltung befinden. Die Philosophie der
+Gegenwart strebt danach, den mehr oder weniger a n a r c h i s c h e n
+ Zustand zu überwinden, der &mdash; diese Merkmale zusammengeschaut
+&mdash; das allgemeinste unterscheidende Moment der Philosophie des 19.
+Jahrhunderts ausmacht. Dies wird die folgende Darstellung genauer
+erhellen.</p>
+
+<p>Wir behandeln im folgenden nur die deutsche Philosophie der
+Gegenwart. Um so mehr müssen wir uns klarmachen, daß die deutsche
+Philosophie das Übergewicht, das sie vor hundert Jahren in der Welt
+besaß, längst verloren hatte. Der größte internationale Einfluß ist,
+wie K. Österreich in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart" I/6, 3. Auflage,
+treffend bemerkt, von der französischen Philosophie in den letzten
+Jahrzehnten ausgegangen. Der Einfluß Bergsons und der Einfluß W. James'
+läßt sich mit keinem Einfluß eines Deutschen vergleichen. Andererseits
+wirkt die ältere deutsche Spekulation, insbesondere Hegel, im Ausland
+(besonders England, Amerika, Rußland, Italien) auch heute noch stärker
+als irgendein nachhegelscher deutscher Denker &mdash; mit Ausnahme
+vielleicht Nietzsches. Trotzdem waren die internationalen Beziehungen
+der deutschen Philosophie zum Auslande vor dem Krieg in starker Zunahme
+begriffen, und es ist aus manchen Anzeichen zu erhoffen, daß sie sich
+auch bald wiederherstellen werden.</p>
+
+<p>Will man die gegenwärtige deutsche Philosophie zur ersten Übersicht
+in gewisse G r u p p e n ordnen und zugleich einige ihrer allgemeinen
+Charakterzüge hervorheben, so sind es vor allem d r e i Gegensätze,
+nach denen man diese Gruppierung vollziehen kann.</p>
+
+<p>Der erste ist der höchst unerfreuliche Gegensatz einer nur engste
+Kreise berührenden streng wissenschaftlichen Fach- und
+Universitätsphilosophie und einer unmethodischen, wenig strengen, mehr
+oder weniger aphoristischen, aber weiteste Bildungskreise suggestiv in
+Bann haltenden "philosophischen Literatur". Im Gegensatz zur
+Philosophie des 18. Jahrhunderts, zum Zeitalter Kants und Hegels, aber
+auch noch im Gegensatz zum Zeitalter Fechners und Lotzes, vermochte die
+akademische Philosophie das geistige Interesse größerer Bildungskreise
+bis vor kurzem n i c h t zu gewinnen. Um so mehr vermochte das aber
+eine philosophierende Literatur, deren Hauptexponent und Vorbild
+Nietzsche gewesen ist, eine Literatur, die ohne Verbindung mit der
+strengen Wissenschaft unmethodisch und weit unter der Niveauhöhe der
+großen Philosophie der Vergangenheit, in subjektiv persönlicher Form
+Meinungen und Werturteil ausspricht. Hierher gehören z. B.
+Erscheinungen wie R. Steiner, Johannes Müller, O. Spengler, W.
+Rathenau, Graf Keyserling, H. Blüher, die philosophierenden Mitglieder
+des George-Kreises und andere mehr. Dieser Z e r f a l l in zwei so
+gänzlich verschiedenartige Gattungen von "Philosophie" steht in
+scharfem Gegensatz zu allen philosophisch p r o d u k t i v e n
+Zeiten, und er muß vor allem aufgehoben werden, wenn die deutsche
+Philosophie sich aus der Anarchie des 19. Jahrhunderts wieder erheben
+soll. Das ist nur möglich, wenn zwei Arten von akademischer Philosophie
+langsam in den Hintergrund treten, die bisher an den deutschen
+Universitäten noch stark in Herrschaft sind.</p>
+
+<p>1. Die traditionalistischen Standpunkts- und Schulphilosophien. Sie
+machen sich alle dadurch kenntlich, daß sie ihre eigene Namengebung mit
+dem Worte "Neu" beginnen (z. B. Neukantianer, Neuthomisten,
+Neufichteaner, Neuhegelianer), als wollten sie nach dem Gesetz: Lucus a
+non lucendo damit sagen, daß das, was sie lehren, etwas altes ist.
+Eigen ist diesen philosophisch-akademischen Richtungen das, was das
+Wesen jeder "Scholastik" ausmacht: daß man sowohl in der Arbeit an den
+Sachproblemen in Übereinstimmung mit einer historischen A u t o r i t ä
+t (wenigstens im "wesentlichen") zu bleiben sucht, andererseits aber
+die Meinung dieser Autorität immer so interpretiert, daß man noch sagen
+kann, die eigenen Sachforschungen stimmten mit ihrer Meinung überein.
+Diese fortgesetzte Angleichung von Sachforschung und
+historisch-philologisch interpretierter Meinung eines Philosophen h i n
+d e r t aber ebensowohl echte und reine Sacherkenntnis wie echtes
+historisches Verständnis. Am weitesten in dieser "scholastischen"
+Methode sind heute merkwürdigerweise nicht die sogenannten
+"Neuscholastiker" gegangen, sondern die Neukantianer, deren
+Sachforschungen wie geschichtliche Leistungen (besonders H. Cohen, P.
+Natorp, E. Cassirer) trotz ihrer mannigfachen Anregungskraft diesen
+Charakterzug durchgehends verraten. Eng verbindet sich Schulerstarrung,
+Anschauungs- und Wirklichkeitsfremdheit und eine geheime verzwickte
+Terminologie (die alle großen Philosophen der Geschichte n i c h t
+gekannt haben, und die schon von vornherein eine dicke Wand zwischen
+Philosophie und Bildung setzt) mit dem bezeichneten "scholastischen"
+Charakter. Erst mit Edm. Husserls "Logischen Untersuchungen" hat eine
+standpunkt f r e i e, nicht traditionalistische S a c h philosophie
+wieder in breiterem Maße eingesetzt, wenn auch Männer wie Franz
+Brentano, Rehmke, Driesch, B. Erdmann, Stumpf auch schon vor Husserls
+Auftreten die Philosophie in diese Richtung geleitet haben.</p>
+
+<p>Ein zweiter Grund für das Auseinanderfallen der deutschen
+Philosophie in methodisch strenge Sachphilosophie und "philosophische
+Literatur" ist in der Tatsache zu sehen, daß die gegenwärtige deutsche
+Philosophie jahrzehntelang, wie Lotze sich ausdrückte, nur "die Messer
+zu wetzen pflegte, ohne zu schneiden", daß sie, herausgewachsen aus dem
+sogenannten Neukantianismus (Otto Liebmann, Albert Lange, H. Cohen, P.
+Natorp), der nach dem Zusammenbruch der deutschen Spekulation die
+Philosophie zuerst wieder an deutschen Hochschulen möglich machte, sich
+aufs einseitigste, auf Erkenntnistheorie und Methodologie beschränkte
+und sich dabei im Grunde nur als Dienerin der Einzelwissenschaften
+fühlte. So übertrug sich der Fachcharakter auch auf die Philosophie,
+deren Wesen es doch gerade ausschließt, ein "Fach" n e b e n anderen zu
+sein. So gab sie nicht nur ihre zentralste und ihre wesentlichste
+Disziplin, die Metaphysik, meist völlig preis, sondern hatte außerdem
+zu dem übrigen geistigen Leben der Nation, zu den Problemen des
+Staates, der Gesellschaft, zu Kunst und Dichtung, zur Religion und zum
+Problem der Gestaltung und Bildung der geistigen Persönlichkeit kaum
+irgendeinen Zugang mehr. Die Übernahme einer großen Anzahl von
+Lehrstühlen durch Vertreter der "jungen experimentellen Psychologie"
+befestigten diesen Zustand noch mehr, zumal diese junge und
+verheißungsvolle neue Wissenschaft sich erst in den letzten Jahren
+ihrer Entwicklung auch den höheren geistigen Funktionen zuwendete oder
+doch durch gewisse, in ihr erwachsene Probleme, z. B. durch das
+Gestaltproblem, wieder stärkeren Anschluß an die philosophischen Fragen
+gewann. Auf seiten der "philosophischen Literatur" aber wurde der
+echten Philosophie nicht minder Abbruch getan: einmal dadurch, daß man
+in ganz unsachlicher und subjektivistischer Weise seinen Einfällen die
+Zügel schießen ließ, das Geistreiche und Blendende an die Stelle des
+Wahren, die Suggestion an die Stelle der Überzeugung im sokratischen
+Sinne setzte; ferner dadurch, daß man in mehr oder weniger gnostischer,
+die Selbständigkeit der Religion und der Mystik gegenüber der
+Philosophie total verkennender Weise die Philosophie von aller strengen
+ W i s s e n s c h a f t loslöste und sie zu einer Sache von S e k t e
+n machte, die, im Gegensatz zu den akademischen Schul- und
+Standpunktsphilosophien, sich um das rein persönliche, echte oder
+scheinbare Charisma einer starken Natur gruppierten. So entstanden
+Sekten aller Art, die besonders zu nennen nicht notwendig ist. So ist
+es auch verständlich, daß das im 19. Jahrhundert fast verloren
+gegangene W e s e n der Philosophie in der Gegenwart erst wieder
+aufgesucht werden mußte (siehe E. Husserl: "Philosophie als strenge
+Wissenschaft", Logos Bd. I, Heft I; siehe auch M. Scheler: "Vom Ewigen
+im Menschen", Bd. I, "Vom Wesen der Philosophie").</p>
+
+<p>Ein zweiter Gegensatz durchquert die gegenwärtige Philosophie in d e
+r Richtung, ob sie in ihren Problemen mehr geistes- oder
+naturwissenschaftlich orientiert ist. Das wird in der folgenden
+Darstellung scharf hervortreten im Gegensatz sowohl der neukantischen
+und der südwestdeutschen Schule als in den Gegensätzen der einzelnen
+selbständigen Sachdenker. Auch dieser Gegensatz ist ein Zeichen dafür,
+daß wir eine u n i v e r s a l e Philosophie noch nicht besitzen:
+denn eine solche muß b e i d e n großen Daseinsgebieten, und zwar durch
+Vermittelung des selbständigen Sachgebietes der inneren und äußeren B
+i o l o g i e, ihr gleichmäßiges Interesse zuwenden und darf sich nicht
+als bloße "ancilla scientiae" zum einseitigen Vorspann e i n e r dieser
+Teile der Wissenschaften machen. Überhaupt ist nichts der Philosophie
+abträglicher als die bis vor kurzem in unserem Lande immer wieder
+erneuten Versuche, von den Gegebenheiten und Grundbegriffen einer
+Einzelwissenschaft her, das g a n z e Weltproblem lösen zu wollen.
+Solches geschah z. B. im sogenannten Psychologismus durch eine gänzlich
+unberechtigte Ausdehnung der Begriffe, "psychisch" oder "Bewußtsein":
+in der Energetik Ostwalds durch eine Verabsolutierung des
+Energiebegriffes, im Empfindungsmonismus Ernst Machs durch eine falsche
+Verabsolutierung des Empfindungsbegriffes; in gewissen Richtungen der
+"Lebensphilosophie" in einer falschen Ausdehnung und Verabsolutierung
+des Begriffes Leben, in der neukantischen Marburger Schule in einer
+falschen Verengung des Erkenntnisbegriffes auf mathematische
+Naturwissenschaft. Die Philosophie hat, von einer Lehre über die
+Grundarten der G e g e n s t ä n d e ausgehend und von dem Satze, daß
+sich alle Methoden nach der Natur, der Gegenstände zu richten haben
+(und nicht die Gegenstände nach Methoden), einen wahren Ausgleich
+zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Interessenrichtungen und
+methodischen Denkrichtungen herbeizuführen, die Wissenschaften auf dem
+Boden einer selbständigen philosophischen und allseitigen
+Erkenntnistheorie zu ordnen und in gegenseitige fruchtbare Beziehung zu
+setzen. Sie hat nach wie vor zwar nicht eine die Einzelwissenschaften
+erdrückende Despotin wie zur Zeit Hegels zu sein, noch weniger aber
+ihre Dienerin, sondern "Königin" in jenem legitimen letzten Sinn, der
+die wohlerworbenen Rechte der Fachwissenschaften von einem eigenen,
+eben nur philosophischen Standpunkt aus s e l b s t ä n d i g würdigt
+und achtet und sie für das Ganze unseres Weltbegriffes und unserer
+Weltanschauung fruchtbar macht. Die Philosophie des 17. und 18.
+Jahrhunderts, die Philosophie des Descartes und Leibniz vermochte
+gerade darum so häufig auch den Einzelwissenschaften R i c h t u n g zu
+geben und ihnen fruchtbare Anregung zu erteilen, weil sie im engen
+Konnex mit den Wissenschaften (und nicht losgelöst von ihnen, wie
+unsere Literatenphilosophie) sich nicht einseitig damit zufrieden gab,
+bloß zu formulieren, was die "Voraussetzungen der Einzelwissenschaften"
+seien und welche Methoden sie selbst anwenden. Die gegenwärtige
+Überwindung der Galilei-Newtonschen Naturansicht durch die vier großen
+naturwissenschaftlichen philosophischen Fermente unserer Zeit die
+Elektronentheorie, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Plancksche
+Quantentheorie und die positiv-wissenschaftlichen und neuvitalistischen
+Versuche, den Organismus mit übermechanischen Agenzien zu erklären,
+sollten J e d e m zeigen, was aus einer Philosophie werden muß, die
+nur objektiv logische Voraussetzungen einer fälschlich verabsolutierten
+Wissenschaftsstufe zu suchen pflegt. Sie hört mit der Überwindung
+dieser Wissenschaftsstufe eben auf, irgendeine Bedeutung zu haben. Nur
+dann, wenn die Philosophie einen e i g e n e n G e g e n s t a n d
+und eine e i g e n e Methode besitzt allen einzelnen Seinsgebieten
+gegenüber, die als solche auch die positiven Wissenschaften erforschen,
+wird sie mehr sein können als die bloße Eule der Minerva der positiven
+Wissenschaft; und nur, wenn sie die S a c h e n selbst, nicht nur die
+Wissenschaft über die Sachen als bloße "Erkenntnislehre" sich zum
+Gegenstand setzt (freilich mit Einschränkung auf ihr daseinsfreies
+Wesen, ihre e s s e n t i a), kann sie der positiven Wissenschaft auch
+geben, anstatt bloß von ihr zu nehmen.</p>
+
+<p>In Hinsicht auf einen dritten Gegensatz, der auch die gegenwärtige
+Philosophie noch unabhängig von einzelnen Sachproblemen bestimmt,
+nämlich dem Gegensatz der religiösen Traditionen (katholische und
+protestantische Philosophie), ist das Erfreuliche zu vermelden, daß
+dieser Gegensatz, der streng genommen in der Philosophie überhaupt
+keinerlei Rolle zu spielen hätte, auch tatsächlich stark zurückgetreten
+ist. Kant und seine von der Theologie ausgegangenen spekulativen
+Nachfolger hatten der deutschen Philosophie einen, geschichtlich
+gesehen, einseitigst protestantischen Charakter erteilt. Die
+katholische Philosophie oder, besser gesagt, die Philosophie des
+katholischen Kulturkreises ging, abgesehen von ganz wenigen
+Erscheinungen der Romantik (z. B. Franz Baader, Deutinger,
+Froschammer), ihre Wege völlig für sich, und es bestand bis vor kurzem
+keinerlei tiefere Berührung zwischen den Forschergruppen beider
+Konfessionen. Der von der Enzyklika "Aeterni patris" im Jahre 1897 von
+Leo XIII. angeregte Neuthomismus, der durch die Löwener Schule des
+belgischen. Kardinals Mercier auch eine für die modernen
+wissenschaftlichen Probleme etwas geöffnetere Form erhielt, hat den
+Gegensatz der philosophischen Richtungen beider Kulturkreise für viele
+Jahre hin noch erheblich gesteigert. Und je mehr die deutsche
+Philosophie sich durch Kant einseitig bestimmt erwies und die Weisungen
+Leos XIII. (der wohl an erster Stelle an eine einheitliche
+philosophische Unterweisung der P r i e st e r gedacht hat und, wie er
+selbst auf die Frage der Franziskaner versicherte, keineswegs das
+thomistische System zur allverbindlichen Norm für alle philosophischen
+Studien erheben wollte) gegen die Absichten des großen Papstes wie eine
+Art Dogmatisierung der thomistischen Philosophie interpretiert wurden,
+desto schärfer und unüberbrückbarer wurde der Gegensatz. Von den
+älteren deutschen Philosophen vermochten nur H e r b a r t in seiner
+Schule gläubige Anhänger beider Konfessionen zu vereinigen (z. B. Otto
+Willmann). Dieser Zustand hat sich in der Gegenwart weitgehend
+verändert. Besonders durch die direkten und indirekten Einflüsse Franz
+Brentanos und des von E. Husserl wiederentdeckten großen Logikers
+Bolzano, die beide noch in starker geistiger Kontinuität mit den großen
+Geistern der Scholastik philosophierten; ferner durch Husserl und die
+von ihm angeregten Forscher; endlich auch durch den starken Abbau des
+erkenntnistheoretischen Idealismus und durch das Wiedererwachen des
+erkenntnistheoretischen Realismus ist ein erfreulicher Denkverkehr
+zwischen den Philosophen der beiden Konfessionen in Gang gesetzt
+worden. Auch der Einfluß der österreichischen Philosophie (besonders
+Martys, Meinongs) auf die deutsche hat in den letzten Jahrzehnten stark
+zugenommen. Über die stärkere und lebendigere Berührung der Philosophen
+beider Konfessionen auf metaphysischem und religionsphilosophischem
+Gebiet wird im einzelnen später noch zu berichten sein. Dagegen hat der
+Einfluß der naturalistischen und freidenkerischen Weltanschauungsformen
+auf die Philosophie (die ja nicht minder wie Katholizismus und
+Protestantismus im 19. Jahrhundert längst "Tradition" geworden sind) in
+der Philosophie der Gegenwart stark abgenommen. Haeckels und seiner
+Gesinnungsgenossen Philosophie hat in Deutschland nur in den M a s s e
+n, nie unter den eigentlichen Philosophen irgendwelche Bedeutung
+erlangt. Aber auch weit höher gerichtete und freiere Formen der
+naturalistischen Philosophie haben heute an Bedeutung stark verloren.
+Die Ostwaldsche Energetik, die in ihrem naturwissenschaftlichen Teile
+durch die moderne Atomistik wieder vollständig verdrängt ist, hatte für
+die theoretische Philosophie bedeutende Folgen nicht entwickelt. Der
+Positivismus, der aus Frankreich und England in gewissen Ausläufern
+auch zu uns gekommen war (E. Mach, Avenarius, Ziehen), zählt noch
+einige Anhänger, auf die wir später zurückkommen; er mußte aber der
+erkenntnistheoretischen realistischen Lehre und der dem Sensualismus
+und der Assoziationspsychologie ganz entgegengesetzten
+Entwicklungsrichtung der modernen Psychologie mehr und mehr weichen.</p>
+
+<p>Die gegenwärtige Philosophie enthält zu einem großen Teile die
+Entwicklungsstadien des 19. Jahrhunderts noch als gegenwärtige
+Schichten in sich. Das gilt an erster Stelle von den Nachwirkungen
+älterer philosophischer S y s t e m e. Wir wollen, von den ältesten
+Schichten beginnend, die gegenwärtige Philosophie nunmehr betrachten,
+um, von ihnen fortschreitend, bei den neuesten Versuchen zu endigen.</p>
+
+<p>Eines geringen Anhangs und einer steigend geringen Achtung auch bei
+der heute philosophierenden Jugend erfreut sich der naturalistische
+Monismus, der geschichtlich an die Zeit von Ludwig Büchners "Kraft und
+Stoff" (das von 1854 bis 1904 21 Auflagen erlebte) anknüpft. Gleichwohl
+muß dieses System hier genannt werden, nicht um seiner inneren
+Bedeutung willen, sondern weil es durch seine kaum abzuschätzende
+Verbreitung weniger in der deutschen Arbeiterschaft als im kleinen
+Mittelstand eine große Wirkung auf das deutsche Geistesleben gehabt
+hat. E r n s t H a e c k e l s "Welträtsel" waren bereits in den
+Jahren 1899 bis 1914 in mehr als 300 000 Exemplaren verbreitet und in
+24 Sprachen übersetzt. Der deutsche Geist war im Ausbau der
+naturalistischen Philosophie zu allen Zeiten wenig produktiv; während
+in Frankreich und England die naturalistische Philosophie mit
+schärfstem Geist und der Form nach in strenger wissenschaftlicher
+Methode von Männern vertreten wurde, die, meist auf der Höhe der
+sozialen Stufenleiter stehend, sie in weltmännischer Form und nicht
+unbedeutendem Stil vertraten, ist der deutsche Materialismus und
+Monismus meist überaus grob, borniert und unwissenschaftlich gewesen.
+Seine Vertreter waren meist (wie schon Karl Marx bemerkt hat)
+"kleinbürgerliche", in Stil und Lebensform untergeordnete,
+philosophisch dilettierende Ärzte und Naturforscher, die ohne Kenntnis
+der Geschichte des europäischen Denkens und ohne Überschau über den
+Kosmos der Wissenschaften, aus der Ecke ihrer zufälligen Interessen
+herauß sogenannte "Konsequenzen der Naturwissenschaft" zogen. Diese
+Charakteristik gilt auch für den wirksamsten Vertreter dieser Richtung,
+Ernst Haeckel (geb. 1834). Seine "Welträtsel" (1899) und seine
+"Lebenswunder", zuletzt sein Buch über Kristallseelen sind
+philosophisch so gut wie wertlose Erzeugnisse. Mit Recht sagte Fr.
+Paulsen in einer Rezension der "Welträtsel", die in den "Preuß.
+Jahrbüchern" erschien: "Ich habe mit brennender Scham dieses Buch
+gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der
+philosophischen Bildung unseres Volkes." Nicht minder scharf war das
+Urteil, das E. Adikes mit den Worten fällte: "Haeckel ist eben durch
+und durch Dogmatiker; darin steht er mit Büchner auf einer Stufe; als
+Naturforscher überragt er ihn weit, als Philosophen sind beide völlige
+Nullen." Der russische Physiker Chwolson zeigte in einer besonderen
+Schrift, wie völlig unfähig Haeckel war, auch nur den Sinn der
+einfachsten Grundsätze der theoretischen Physik, wie z. B. des Satzes
+von der Erhaltung der Energie oder gar des zweiten Wärmesatzes (den er
+einfach "verwirft") zu verstehen. Der bekannte Ameisenforscher Wasmann
+hat in einer besonderen Schrift, "Haeckel als Kulturgefahr", auch seine
+entwicklungstheoretischen Leistungen genügsam gekennzeichnet.</p>
+
+<p>Über den sachlichen Inhalt seiner Philosophie hier noch einmal zu
+sprechen, fehlt jeder Anlaß[1].</p>
+
+<blockquote> [1] Vgl. neben den genannten kritischen Werken O.
+Külpe:</blockquote>
+<blockquote> "Philosophie der Gegenwart", 6. Aufl., und A.
+Messner:</blockquote>
+<blockquote> "Philosophie der Gegenwart" (1918).</blockquote>
+
+<p>In Form eines Versuches der Zurückführung alles Wirklichen mit
+Einschluß des organischen Lebens, des Seelenlebens und der geistigen
+Tätigkeiten auf letzte qualitative Grundarten der E n e r g i e und
+ihre Umwandlungsformen vertrat Wilhelm Ostwald (geb. 1855), Professor
+der physikalischen Chemie, den naturalistischen Monismus. Seine
+Vorlesungen über "Naturphilosophie" waren, soweit es sich um die
+Philosophie der anorganischen Natur handelt, überaus anregend. Ostwald
+versuchte, den Begriff der Materie völlig auszuschalten. Die Masse der
+Mechanik ist ihm nur ein Kapazitätsfaktor der mechanischen Energie, der
+gleichgeordnet eine Wärme, ein Licht, eine Gestalt, eine magnetische
+und elektrische, eine chemische und psychische Energie zur Seite
+stehen. Diese Energie a r t e n sind nicht, wie es die
+atomistisch-mechanische Naturansicht wollte, aufeinander
+zurückzuführen; sie sind ähnlich wie in der qualitativen Elementarlehre
+des Aristoteles letzte Gegebenheiten, die nur in formal quantitativen
+Austauschbeziehungen zueinander stehen. "Alles, was wir Materie nennen,
+ist Energie; denn sie erweist sich als ein Komplex von Schwereenergie,
+Form und Volumenenergien, sowie chemischen Energien, denen Wärme- und
+elektrische Energien in veränderlicher Weise anhaften." Trotzdem
+verfiel Ostwald in den Irrtum, die Energie, einen bloßen dynamisch
+interpretierten Beziehungsbegriff, selbst zu einer Substanz zu
+hypostasieren. Nicht minder war es vollständig unbegründet, auch das
+Psychische in die Energiearten einzureihen, obgleich ihm die
+Grundvoraussetzung, als natürliche Energieart zu gelten, die
+Meßbarkeit, fehlt und der ichartige monarchische Aufbau der
+Bewußtseinserscheinungen im Widerspruch zu dieser Auffassung steht.
+Völlig ungelöst blieb auch das Problem des organischen Lebens, ebenso
+ungelöst wie innerhalb der mechanischen Lebenslehre. Aber auch
+innerhalb des Anorganischen bewährte sich die Energetik auf die Dauer
+nicht. Die Kritik, die insbesondere Boltzmann und W. Wundt an den
+"Vorlesungen" geübt haben, ist durch die Entwicklung der
+Naturwissenschaften, insbesondere durch den glänzenden Sieg der
+Atomistik und der mechanischen Wärmelehre durchaus bestätigt worden.
+Ganz und gar unzureichend aber sind de Versuche Ostwalds gewesen (s.
+bes. "Philosophie der Werte"), die Probleme der Ethik, der
+Gesellschaft, der Zivilisation und Geschichte auf dem Boden der
+"Energetik" zu verstehen. Daß an die Stelle des kategorischen
+Imperativs der [sic] energetische Imperativ: "Vergeude keine Energie,
+verwerte sie" treten soll, mutet fast wie ein schlechter Scherz an. Und
+nicht minder mutet so an eine Erklärung, die Ostwald auf dem Hamburger
+Monistenkongreß von 1911 gibt, in der es heißt: "Denn alles, was die
+Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in den
+Begriff /Gott/ zusammengedrängt hatte, wird uns von der Wissenschaft
+erfüllt." Ostwalds rein technologische Betrachtung der Weltgeschichte,
+die, der deutschen Organisationssucht ein philosophisches Mäntelchen
+umhängend, jede geschichtliche Aufgabe zu einer "Organisationsaufgabe"
+macht, ist so kindlich, daß sie eine Kritik kaum verdient; nicht minder
+seine Meinung, das ästhetische Gefühl und die Kunst hätten nur soweit
+Bedeutung, als sie der wissenschaftlichen Arbeit Pionierdienste
+leisten, und es werde darum bei reifender Wissenschaft die Kunst einmal
+völlig aus der Welt verschwinden. In der Soziologie hat Ostwald einen
+ernsten Schüler gehabt, de noch stark in die Gegenwart hineinwirkt. Es
+ist der Wiener Soziologe und Vorsitzende des Österreichischen
+Monistenbundes R u d o l f G o l d s c h e i d. Sein Werk über
+"Höherentwicklung" und "Menschenökonomie" hat sowohl der
+Bevölkerungslehre wie der Sozialpolitik reiche und wertvolle Anregungen
+vermittelt, wenn auch sein einseitig durchgeführter Versuch, den
+Menschen selbst (ähnlich wie in der Sklavenwirtschaft) rechnungsmäßig
+als bloßen Wirtschaftswert einzustellen und eine möglichst sparsame
+Verwendung dieses "Wertes" zu fordern, soziologisch unhaltbar ist. Eine
+Auflösung der Ethik in Ökonomie hat Goldscheid nie versucht. Ein
+bedeutender Vertreter des Monismus, der auch in der Gründung und
+Entwicklung des Monistenbundes eine große Rolle gespielt hat, war der
+kürzlich verstorbene Wiener Psychologe und Ethiker Friedrich Jodl.
+Sowohl sein "Lehrbuch der Psychologie" wie vor allem seine
+großangelegte "Geschichte der Ethik" sind wertvolle und anregende
+Bücher, wenn sie auch in einseitiger Weise allen freidenkerischen und
+antikirchlichen Bestrebungen einen ihnen auch wissenschaftlich nicht
+zukommenden überragenden Wert beilegen. Wie sehr die ganze
+philosophische Richtung des Monismus von p o l i t i s c h e n, d. h.
+außerphilosophischen Tendenzen beherrscht ist, beweist ihr am 1. Januar
+1906 erfolgter Zusammenschluß zu der Organisation des "Deutschen
+Monistenbundes". Ostwald schloß den ersten Hamburger Kongreß mit dem
+Satze: "Ich eröffne das monistische Jahrhundert"; sein
+Ehrenvorsitzender war E. Haeckel, sein Vorsitzender der Bremer Pastor
+Albert Kalthoff, der, stark von Nietzsche angeregt, an den
+Junghegelianer Bruno Bauer anknüpfend, die historische Existenz Christi
+in seinen Schriften geleugnet hatte, und in loser Berührung mit den
+linksliberalen Pastoren Jatho und Traub den christlichen Kirchen eine
+scharfe Kampfansage stellte. Wider den Monismus gründete [sic] dann im
+Jahre 1907 der Kieler Naturforscher J. Reinke und E. Dennert den
+sogenannten "Keplerbund", der sich umgekehrt die Aufgabe setzte, die
+Vereinbarkeit der modernen Naturwissenschaft mit der theistischen
+Weltanschauung zu erweisen. Sehr mit Unrecht ist die Verbreitung der
+monistischen Weltanschauung häufig der Sozialdemokratie und ihren
+Führern zugeschrieben worden. Geistesgeschichtlich ist diese Auffassung
+grundfalsch. Die Führer des Monismus standen politisch zumeist den
+nationalliberalen Anschauungen sehr nahe (z. B. Haeckel selbst), und
+bei vielen von ihnen findet sich sogar eine ausgeprägte alldeutsche
+Tonart. Wie tief Karl Marx und Engels auf den Materialismus des
+deutschen Kleinbürgertums herabblickten, ist aus ihren Äußerungen
+genugsam bekannt.</p>
+
+<p>Während die monistische naturalistische Denkrichtung eigentlich nur
+kulturhistorisches und für die deutsche Mentalität vor dem Kriege
+bestimmendes Interesse bietet, sind die anderen heute noch lebendigen
+philosophischen Systeme auch rein philosophisch von Bedeutung. Das gilt
+gleich sehr von der Wirkung Fichtes, Hegels und Schellings wie von
+jener Lotzes, Fechners, E. von Hartmanns, R. Euckens und W. Wundts.
+Diese Systeme können hier nicht geschildert werden: nur was sie für die
+ g e g e n w ä r t i g e Philosophie als mitbestimmende Momente noch
+bedeuten, sei kurz erwähnt. Die geringste Wirkung von all den Genannten
+hatte merkwürdigerweise in Deutschland der zeitlich nächste letzte
+große Systematiker der deutschen Philosophie, Wilhelm Wundt. Als
+Darstellungen seines Systems sind empfehlenswert O. Külpe in der
+"Philosophie der Gegenwart", E. König: "W. Wundt", 1909 und R. Eisler:
+"Wundts Philosophie und Psychologie", 1902. Ein Grund für die geringe
+Wirkung des ausgezeichneten Forschers und Gelehrten in der Philosophie
+mag darin gelegen sein, daß seine Erkenntnistheorie und seine
+Metaphysik beiderseits an großer Vagheit und Unbestimmtheit leiden, das
+Ganze seiner Philosophie aber trotz seiner Überladenheit mit
+Gelehrsamkeit etwas überaus Farbloses und Blutloses besitzt. Auch ein
+häufiges Schwanken (z. B. zwischen Idealismus und Realismus in der
+Erkenntnistheorie, zwischen psychophysischem Parallelismus als
+metaphysischer Hypothese und methodologischer Maxime, zwischen
+Relativismus und Absolutismus in der Ethik, Theismus und
+Willenspantheismus in der Lehre vom Weltgrund) mag gleichfalls zu
+dieser Unwirksamkeit beigetragen haben.</p>
+
+<p>R u d o l f E u c k e n, der schon an der Grenze steht zwischen
+wissenschaftlicher Philosophie und jener früher charakterisierten
+philosophischen Erbauungsliteratur, hat eine weit stärkere Wirkung als
+Wundt entfaltet sowohl in Deutschland, wie im Auslande; ein deutliches
+Zeichen davon ist in letzterer Hinsicht der Nobelpreis. Dieser Denker
+ist von gleichbedeutenden Kritikern sehr verschieden beurteilt worden.
+Die einen sehen in der Verbindung von Prediger, Metaphysiker und
+Forscher, von homo religiosus und Denker, die Eucken darstellt, etwas
+besonders Wertvolles und weisen hin auf den reichen intuitiven Gehalt
+seines Werkes; die anderen beklagen den Mangel an Anatomie in seinen
+Gedanken, die Unverbundenheit seiner Philosophie mit den
+Wissenschaften, die unmethodische Art seines Denkens und die große
+Unbestimmtheit und Vagheit des eigenartigen persönlichen Stiles seiner
+Darstellung. Mögen beide in gewissem Maße recht haben, so kommt Eucken
+vor allem das entschiedene V e r d i e n s t zu, in einer Zeit, da
+die Philosophie zu einer bloßen Anmerkung zu den positiven
+Fachwissenschaften zu werden drohte, ihre Ansprüche festgehalten zu
+haben, eine Metaphysik und gleichzeitig eine den Menschen formende
+Lebensanschauung zu geben. Ausgegangen von F. A. Trendelenburg (gest.
+1872), eine Zeitlang auch Schüler Lotzes, hat Eucken mit starker
+Anknüpfung an Fichtes Tatidealismus seinen "Idealismus des
+Geisteslebens" zu begründen unternommem. Sein bedeutendstes Werk
+(leider am wenigsten gelesen) ist das 1888 erschienene "Die Einheit des
+Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit" in dem er seine
+personalistisch-theistische Philosophie nicht durch Sachuntersuchungen
+der philosophischen Probleme, sondern aus einer Kritik des Panlogismus
+Hegels und des Naturalismus hervorwachsen läßt. In den
+"Lebensanschauungen der großen Denker" und der "Geistigen Strömungen
+der Gegenwart" (ursprünglich "Grundbegriffe der Gegenwart"), die der
+wissenschaftlichen Philosophie noch am nächsten stehen, nimmt er aus
+der Geschichte der Philosophie das wesentlich "Lebensanschauliche"
+heraus und legt es im Sinne seiner Philosophie aus. Die Bücher "Der
+Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", "Der Wahrheitsgehalt der
+Religion", "Erkenntnis und Leben" und "Grundlinien einer neuen
+Lebensanschauung" wiederholen in immer neuen Wendungen dieselben
+Grundgedanken. Das Wertvolle dieser Gedanken ist weniger in ihrer sehr
+mangelhaften theoretischen Begründung gelegen als in ihrer das
+Bewußtsein der Selbständigkeit des Geistes trotz aller tiefempfundenen
+und in der endlichen Erfahrung unlösbaren Konflikte des menschlichen
+Daseins energisch aufweckenden Kraft. Eucken war in einem überwiegend
+praktisch-materialistischen Zeitalter einer der stärksten S e e l e n e
+r w e c k e r, die Deutschland besessen hat. Reinsten germanischen
+Blutes (Friese), besitzt er in seltener Weise Vorzüge und Fehler des
+germanischen Geistes: eine ahnungsvolle Intuition übersinnlicher
+Realitäten, ein energisches Festhalten dieser Realitäten inmitten
+tiefst empfundener Widerstände der "Welt" gegen die Verwirklichung der
+geistigen Forderungen; aber auch alle Vagheit und Nebelhaftigkeit,
+Unbestimmtheit und Dunkelheit nordischen Geistes. Das "Geistesleben",
+das bei ihm zwischen historischer Realität und metaphysischer Potenz
+eigenartig in der Mitte schwebt, wird von dem natürlichen Seelenleben,
+das der Mensch mit dem Tiere teilen soll, scharf unterschieden. Es soll
+in "noologischer Methode" (eine eigentümliche Erweiterung der Methode
+Kants) nicht durch Introspektion, sondern an seinen W e r k e n und
+Systemen des Lebens ("Syntagmen") studiert werden. Es soll nicht nur in
+jeder Einzelseele, sondern auch in den großen kollektiven Gruppen der
+Geschichte als selbständig tätig aufgefaßt werden. Trotzdem soll es in
+scharfem Gegensatz zum Hegelschen Panlogismus nur durch tätige
+Ergreifung des Einzelmenschen diesen zur "Persönlichkeit" und zur
+"Wesensbildung" erhöben. So ist Eucken im letzten Grunde mehr
+theistischer Personalist als Pantheist, obgleich eine starke
+pantheistische Ader seine Philosophie durchzieht. Mit Methoden, die
+denen Pascals in den "Pensées" ähnlich sind, sucht Eucken mit starker
+Heranziehung dessen, was er für den relativen Wahrheitsgehalt der
+naturalistischen und pessimistischen Systeme hält, zu zeigen, daß
+dieses "Geistesleben" in der Welt verloren und in letzter Linie
+bedeutungslos ist, wenn es nicht aus einem geistigen W e l t g r u n d
+e immer neu schöpferisch herströmend und in die Menschenseelen
+einquellend verstanden und geschaut wird. Während die ältere
+Philosophie die Vernunft des Menschen zum Reiche der "Natur" rechnete
+und ihr das Reich der "Übernatur", der "Gnade" entgegensetzte, wird die
+zum Geistesleben erweiterte Vernunft des Menschen bei Eucken selbst
+etwas "Übernatürliches". Das macht den g n o s t i s c h e n
+Charakter der Euckenschen Philosophie aus, die Religion und Metaphysik
+in einem für sie beide unstatthaften Sinne vermischt.</p>
+
+<p>Die Philosophie Fechners, der durch seine Begründung der
+Psychophysik neben Wundt als der eigentliche Begründer der
+Experimentalpsychologie gelten muß, hat auf die gegenwärtige
+Philosophie eine nur geringe Wirkung ausgeübt. Sein Versuch, die
+Empfindung als psychische Größe nachzuweisen und sie durch die Einheit
+des eben merklichen Empfindungsunterschiedes zu messen, ist sowohl nach
+seinen methodologischen Voraussetzungen als nach seiner psychologischen
+Voraussetzung hin (man könne die Empfindung unabhängig von den
+Aufmerksamkeitsschwankungen überhaupt im Bewußtsein vorfinden) fast
+allgemein zurückgewiesen worden. Stark wirkte zeitweise seine Lehre vom
+psychophysischen Parallelismus, die, wie wir noch sehen werden,
+freilich in der Gegenwart gleichfalls an Einfluß stark verloren hat.
+Seine eigentliche Metaphysik der "Tagesansicht" und der Allbeseelung
+hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die ihr meines
+Erachtens innewohnt. Auch die nächststehenden Forscher, wie Ebbinghaus
+und Wundt, haben diese Seiten seiner Philosophie meist als bloße
+"Poesie" und Begriffsdichtung abgelehnt. Was allein bis heute einen
+Einfluß ausübt, ist der auch von E. von Hartmann aufgenommene Gedanke
+einer "induktiven Metaphysik". Sie beruht bei Fechner auf den beiden
+Grundsätzen, daß, was in einem Teile der Welt als unauflösbare Grundart
+des Seienden enthalten ist, auch im Ganzen enthalten sein müsse
+(Mikrokosmos- und Makrokosmoslehre), und daß wir vermittels der Analogie
+in der Lage seien, unser Wissen über das unmittelbar und mittelbar in
+der Erfahrung Gegebene kontinuierlich zu erweitern. Diesen Gedanken
+haben auch viele moderne Metaphysiker, so Külpe, Driesch, Stern,
+Becher, Scheler und andere, aufgenommen. Eine starke Wirkung hatte
+Fechners teleologische Ganzheitsbetrachtung der E r d e als des
+besonderen Leibes und Ausdrucksfeldes einer Erdseele in der modernen
+Geographie. In diesem Sinne sind Ratzels Arbeiten und noch mehr die
+gegenwärtigen Arbeiten des Wiener Kulturgeographen Hanslick stark von
+Fechner beeinflußt. Wie immer man über Fechners Resultate urteilen mag,
+es muß als eine recht unerfreuliche Tatsache bezeichnet werden, daß die
+stets tiefsinnigen und sinnreichen Betrachtungen dieses seltenen
+Geistes, die dazu in Stil und Ausdruck für weitere Kreise der
+Gebildeten geschrieben sind, so sehr wenig gelesen werden. Daß ein
+Haeckel so viel und ein Fechner so wenig in Deutschland gelesen wurde,
+ist eine für die Mentalität des deutschen Volkes vor dem Kriege recht
+charakteristische Tatsache.</p>
+
+<p>Hermann Lotze (1817-1881) wirkt in die Gegenwart insbesondere nach
+zwei Richtungen herein: einmal durch seine "Logik" (auch in der
+"Philosophischen Bibliothek" erschienen 1912), deren Kapitel "Über die
+platonische Ideenlehre" auf die neukantischen Schulen und auch auf
+Husserl stark gewirkt hat, und durch seine Lehre von der
+psychophysischen Wechselwirkung. Außer diesen beiden Bestandteilen
+seiner Philosophie und abgesehen von seinen Wirkungen auf die
+Psychologie (besonders seine Theorie der Lokalzeichen) hat nur noch der
+metaphysische Gedanke Lotzes eine stärkere Wirkung geäußert, daß eine
+Wechselwirkung zwischen einer Vielheit von Dingen nur möglich sei, wenn
+ein und dasselbe ganze, aber von ihnen unterschiedene Seiende, in allen
+gemeinsam tätig und von allen gemeinsam reizbar sei. Diesen Gedanken
+hat z. B. auch Driesch in seine "Wirklichkeitslehre" aufgenommen.
+Lotzes großes geschichtsphilosophisches Werk "Mikrokosmos" (5. Auflage
+1909) hat wohl wegen seines allzu gewundenen ziselierten und koketten
+Stiles nicht die Wirkung geübt, die ihm vermöge seines Gedankengehaltes
+zugekommen wäre. Für den Fortschritt einer Philosophie der Biologie
+waren Lotzes Artikel über "Lebenskraft" und über "Seele und
+Seelenleben" in Wagners "Handwörterbuch der Physiologie" in denen er
+für Physiologie und Biologie eine strenge Durchführung der
+mechanistischen Methode fordert (um dann erst dem Ganzen des
+Weltmechanismus hinterher eine ideale und teleologische Bedeutung zu
+geben), nach meiner Ansicht starke Hindernisse. Sie gaben der in
+unserem Lande besonders stark verbreiteten mechanistischen
+Lebensauffassung, besonders bei den Naturforschern, ein gutes Gewissen
+&mdash; das eine aufrichtige und genaue Betrachtung der Tatsachen nicht
+im entferntesten gerechtfertigt hätte. Die stark kokette und süßliche
+Christlichkeit Lotzes konnte in religiöser und theologischer Hinsicht
+tiefere Geister nicht gewinnen. Immerhin haben insbesondere seine Lehre
+von Wert und Werturteil auf die Ritschlsche Theologie und Dogmatik
+stark eingewirkt, wenn sie sich freilich hier auch meist mit
+neukantischen und positivistischen Voraussetzungen verbanden. In der
+Ästhetik endlich wurde Lotze durch seine Lehre von der "Einfühlung"
+auch auf die letzten bedeutenden Einfühlungsästhetiker der Gegenwart,
+auf Lipps und Volkelt, erheblich wirksam.</p>
+
+<p>Die einzige Persönlichkeit, deren geistige Spannweite alle
+philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfaßte und dazu alle
+Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr
+System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden
+inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der einseitigen
+Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht hat, war E d u a
+r d v o n H a r t m a n n (1842-1906). Es ist eine der merkwürdigsten
+Tatsachen in der deutschen Geistesgeschichte, daß dieses reifste,
+durchdachteste, alle Wissensgebiete und die Religion umfassendste
+Gedankensystem, welches die zweite Hälfte des Jahrhunderts überhaupt
+hervorbrachte, nach anfänglichem Tageserfolg der "Philosophie des
+Unbewußten" (1869) auf die wissenschaftliche Philosophie zunächst kaum
+eine Wirkung ausgeübt hat. Der große Denker versuchte vergebens, einen
+Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten. Gewiß besteht der Grund
+nicht nur in der allgemeinen Metaphysikscheu der Zeit und der
+einseitigen Herrschaft neukantischer und positivistischer Richtungen;
+ein Teil der Gründe liegt auch in der Eigenart der Philosophie
+Hartmanns und der Persönlichkeit ihres Urhebers selbst. Bei aller Kraft
+logischer Organisation großer Stoffmassen, bei all seinem ungeheueren
+Wissen und seiner Gelehrsamkeit gebrach dem Forscher ein unmittelbares
+originäres Verhältnis zur Welt. Seine Philosophie ist mehr eine überaus
+kunstvolle Verbindung von philosophischen Gegebenheiten (Schelling,
+Hegel, Schopenhauer, Lotze, moderne Naturwissenschaft und Psychologie)
+als ein neues Wort. Darin bildet er den größten Gegensatz zu
+Schopenhauer, der an logisch-synthetischer Kraft ihm weit unterlegen
+ist, aber, wie er selbst an seinen Verleger schrieb, den unmittelbaren
+"Eindruck", den die Welt auf ihn gemacht, in seiner Philosophie schon
+als Jüngling wiedergab. Auf Hartmanns System kann hier nicht
+eingegangen werden. Sein in Karlsruhe lehrender Schüler Arthur Drews
+hat die beste Darstellung von ihm gegeben: die bekannten, von Hartmann
+selbst verfaßten "Grundrisse" führen am besten in es ein. Um so
+merkwürdiger ist es nun aber, daß die g e g e n w ä r t i g e
+Philosophie begonnen hat, die großen Werte auszuschöpfen, die in seinem
+Werke zweifellos vorhanden sind. Abgesehen von den bedeutenden
+Leistungen seines Schülers A. Drews und einigen Antrieben, die er dem
+vielversprechenden Leopold Ziegler gegeben hat (vor kurzem hat sich
+dieser freilich in einer kritischen Schrift, "Hartmanns Weltbild", ganz
+von Hartmann abgewandt, indem er, ohne dem Denker gerecht zu werden,
+seine Lehre sehr einseitig an den Ansichten Rickerts mißt), hat sich W.
+Windelband für die Bedeutung Hartmanns eingesetzt. Besonders ist es
+seine "K a t e g o r i e n l e h r e", sein subtilstes und gewaltigstes
+Werk, das sowohl auf Windelband als auf Rickerts Schüler, E. Lask,
+stark gewirkt hat. Die Unterscheidung der "Reflexionskategorien" von
+den "Spekulativen Kategorien" die Unterscheidung ferner der drei
+Wirklichkeitssphären, der phänomenalen, objektiv realen und
+metaphysischen Sphäre, die Auffassung, daß die Relationskategorie der
+Ausgangspunkt der Ableitung a l l e r Kategorien sein müsse, die
+Ansicht, daß die Kategorien die Ergebnisse unterbewußter synthetischer
+Kategorialfunktionen seien, die nur in ihrem Ergebnis in das Bewußtsein
+hereinfallen (ihr hat sich auch G. Simmel in seinem Kantbuch
+angeschlossen), hat stark auf die Kategorienlehre der Gegenwart
+eingewirkt. Ferner erscheint Hartmann als einer der ersten Vorkämpfer
+des nunmehr siegreich vordringenden erkenntnistheoretischen R e a l i s
+m u s gegenüber allen Formen des Bewußtseinsidealismus. Hier war es
+besonders J. Volkelt, der in seinen Arbeiten "Über Erfahrung und
+Denken" und "Die Probleme menschlicher Gewißheit" die Hartmannsche
+Auffassung übernommen hat, daß unsere überall diskontinuierliche und
+durchbrochene, rein passive Bewußtseinswelt durch die Realsetzung einer
+außerbewußten Natur und die Setzung unter- und unbewußter psychischer
+Seins- und Wirksphären gedanklich ergänzt werden müsse, um einen
+rationellen Zusammenhang zu bilden. So wenig ich diese Richtung der
+Begründung des Realismus für aussichtsreich halte, scheint mir der
+gegenwärtige Gang zum Realismus doch von diesen Vorkämpfern stark
+abhängig. Auf den heute ungemein wirksamen Denker Hans Driesch hat E.
+von Hartmann in mehreren Richtungen eingewirkt: 1. mit durch Volkelts
+Vermittlung in erkenntnistheoretischer Hinsicht; 2. in der Auffassung,
+daß es keine b e w u ß t e n "Akte und Tätigkeiten" gebe, diese
+vielmehr zu dem rein passiven Bewußtseinsinhalt erst hinzu erschlossen
+seien (siehe Driesch: "Erkennen und Denken"); 3. in der Lösung des
+Problems der möglichen Koexistenz der mechanischen Zentralkräfte und
+Gesetze mit Gestalt und Richtung bestimmenden, mechanischen, unbewußten
+Oberkräften, durch deren Annahme der gewöhnliche Naturbegriff zwecks
+Erklärung der Lebenserscheinungen eine Erweiterung erfährt; 4. auch
+Hartmanns Lehre, daß es einen Parallelismus zwischen bewußten
+seelischen Erscheinungen, erschlossenen seelischen Tätigkeiten und den
+die organischen Formen und die Bewegungsreaktion der Organismen
+bestimmenden Tätigkeiten der vitalen Oberkräfte gebe, ist von Driesch
+und in einiger Modifikation auch von dem Referenten übernommen worden.
+Auch die gegenwärtige starke Bewegung zu einer r e a l i s t i s c h e
+n P s y c h o l o g i e im Unterschiede von bloßer
+Bewußtseinspsychologie (Külpe, Scheler, M. Geiger, Driesch, in gewissem
+Sinne auch S. Freud, W. Stern) ist zuerst in E. von Hartmanns Lehre in
+die Erscheinung getreten. Wesentliches von Hartmann übernommen hat
+ferner auch W. Stern in seinen originellen und zukunftsreichen Arbeiten
+"Person und Sache" und "Die menschliche Persönlichkeit". Besonders in
+der Annahme psychophysisch indifferenter zieltätiger Kausalfaktoren,
+die sich gleichzeitig in den physiologischen Vorgängen und Reaktionen,
+wie in den Bewußtseinsprozessen auswirken, steht Stern Hartmann nahe.
+Die methodische Auffassung der Metaphysik als induktiver und nur
+wahrscheinlichen Erkenntnis, die nur gradweise über die Realsetzungen
+der positiven Wissenschaften hinausgeht und das falsche Idol, gegen das
+Kant kämpft, das Idol einer absolut gewissen und apriorischen
+Begriffsmetaphysik, verwirft, hat unter den gegenwärtigen Metaphysikern
+viele Anhänger. Die naturphilosophischen Lehren Hartmanns, besonders
+soweit sie sich auf die anorganische Welt beziehen, sind dem heutigen
+Wissensstande der Physik nicht mehr angepaßt; was aber nicht
+ausschließt, daß seine Kraftzentrenhypothese, nach der aller Stoff nur
+eine bewußtseinsideale Erscheinung ist, in modifizierter Form wieder zu
+Ehren kommt. In der Religionsphilosophie hat Hartmann den sogenannten
+"konkreten Monismus" vertreten, der dem substanzialen Weltgrund ein
+logisches und alogisch-dynamisches Attribut zuschreibt, aus deren
+Kooperation und Widerstreit der gesamte Weltprozeß erklärt werden soll.
+Durch A. Drews sind diese Gedanken auch in die allgemeine m o n i s t i
+s c h e Bewegung eingeflossen. Den Wert dieser pessimistischen, Hegel,
+Schopenhauer und den späten Schelling verknüpfenden Metaphysik können
+wir ebensowenig als zukunftsreich erachten, als die willkürlichen
+geschichtsphilosophischen Konstruktionen Hartmanns, nach denen Paulus
+der Stifter des Christentums gewesen sei, und nicht in der
+Persönlichkeit Christi, sondern in den pantheistisch ausgedeuteten I d
+e e n d e r Gottmenschheit und der Erlösung das eigentliche Wesen des
+Christentums getroffen sei. A. Drews ist in seiner "Christusmythe" von
+diesen Anregungen Hartmanns her dazu gekommen, das Christentum als eine
+Schöpfung der allgemeinen Religionsgeschichte verstehen zu wollen und
+die historische Existenz Jesu ganz zu leugnen.</p>
+
+<p>Die zweitälteste Schicht der gegenwärtigen Philosophie besteht in
+den an K a n t anknüpfenden erkenntnistheoretischen Denkrichtungen. So
+sehr sich nach meiner Ansicht diese Denkrichtungen in unaufhaltsamem
+Niedergang befinden, nehmen sie, dem Gesetz der historischen Trägheit
+folgend, doch noch einen sehr erheblichen Raum in der deutschen
+akademischen Philosophie ein. Mit Ausnahme der jüngsten, der durch
+Nelson erfolgten Wiedererweckung der Philosophie des Jenenser Physikers
+und Philosophen Jakob-Friedrich Fries, stammen sie alle aus der Zeit,
+da die deutsche Philosophie in den sechziger Jahren des vorigen
+Jahrhunderts durch den Rückgang auf Kant (zuerst O. Liebmann "Zurück zu
+Kant") sich wieder ein akademisches Existenzrecht zu erwerben suchte.
+Es sind v i e r Hauptgruppen kantianisierenden Denkens, die unter uns
+noch lebendig sind. Der neukritizistische Realismus ist besonders von
+Alois Riehl vertreten worden in seinem Werk "Der philosophische
+Kritizismus" und in seiner schönen und klaren "Einleitung in die
+Philosophie der Gegenwart". Das "Ding an sich", das die Marburger und
+Badener Schule vollständig ausscheiden, wird von Riehl als kausativer
+Faktor, auf dem die Materie der Empfindung beruhen soll, festgehalten.
+Unser Verstand erzeugt nicht das Sein der Gegenstände, sondern gibt nur
+ihrem Gegenstandsein die apriorische Form. Die logisch-synthetische
+Einheit des Bewußtseins ist nach Riehl die oberste Voraussetzung für
+die Gegenstände der Erfahrung. Ihm entspricht das synthetische
+Identitätsprinzip, von dem auch die Kausalität (ähnlich wie bei Herbart
+und Lipps) nur eine bestimmte Anwendung auf zeitliche Geschehnisse sein
+soll. Die Zeit- und Raumlehre Kants sucht Riehl mit den modernen
+empiristischen Theorien der Entstehung des Zeit und Raumbewußtseins zu
+versöhnen. Die O r d n u n g e n des zeitlichen und räumlichen
+Auseinander und Nacheinander werden nach ihm nicht durch die
+Anschauungsformen von Raum und Zeit, sondern durch die Dinge an sich
+selbst bestimmt.</p>
+
+<p>Neben der theoretischen Philosophie, die hier ausschließlich auf
+Erkenntnistheorie und Logik der exakten Wissenschaften beschränkt
+erscheint, gibt es noch eine Philosophie als "Weisheits- und
+Weltbegriff" die dem Menschen ein sittliches Ideal vor die Seele
+stellt. Aus der praktischen Philosophie Kants hebt Riehl ausschließlich
+die Autonomie der Persönlichkeit hervor, verwirft aber den
+kategorischen Imperativ; nicht minder verwirft er die gesamt religiöse
+Glaubens- und Postulatentheorie Kants. Metaphysisch nennt sich auch
+Riehl "Monist" (kritischer Monismus), indem er annimmt, daß das
+Psychische und Physische nur zwei Betrachtungsweisen ein und derselben
+Wirklichkeit sind, die uns in ihrem Wesen unerkennbar ist und durch die
+Religionen nur auf Grund verschiedener sittlicher Lebenserfahrungen
+verschiedenartig ausgewertet wird. Riehl wirkt in der gegenwärtigen
+Philosophie nur wenig mehr. Angeregt von ihm sind Hönigswald und E.
+Spranger.</p>
+
+<p>Die weitaus w i r k s a m s t e, an bedeutenden Persönlichkeiten
+reichste und vielseitigste neukantische Richtung ist auch gegenwärtig
+noch die von Hermann Cohen gegründete Schule von Marburg. Hermann Cohen
+(1842-1918) hat sich durch eine Reihe kanthistorischer und
+kantphilologischer Schriften hindurch erst sehr langsam zu einem
+eigenen, großangelegten System hindurchgearbeitet, mit dem er in seinen
+drei Werken: "Logik der reinen Erkenntnis", "Ethik des reinen Willens"
+und "Ästhetik des reinen Gefühls" wenige Jahre vor seinem Tode
+hervorgetreten ist. Zweifellos ist Cohen der herrschende Geist der
+Schule, freilich darum nicht auch derjenige, der am meisten in die
+Breite gewirkt hat. Seltsame Vorzüge und Fehler vereinigte er in sich.
+Auf dem Hintergrund einer patriarchalischen, ehrfurchtgebietenden
+Denkerwürde, durch die allein schon er den Schüler leicht mit der
+Überzeugung erfüllte, daß der Weltlogos in ihm selber und in jedem, der
+ihm folge, tätig sei, hebt sich sein philosophisches Werk ab.
+Talmudischen Scharfsinn verbindet er mit einer seltsamen Dunkelheit, ja
+häufigen Abstrusität der Darstellung, auch in diesem Punkte dem stark
+auf seine Auffassung des Ding-an-sich-Begriffes wirksamen Moses Maimon
+nicht unähnlich. Aber diese beiden Eigenschaften sind nicht die
+stärksten und wesentlichsten seiner Natur. Was ihn vor allen anderen
+Mitgliedern der Schule auszeichnete, das war eine freilich nur
+stellenweise in Vortrag und Werken hervorbrechende, Kant wahrhaft
+kongeniale Plastik des geistigen Schauens und der Darstellung; eben der
+Zug an Kant, der Goethe bei Lektüre der "Kritik der Urteilskraft"
+veranlaßt haben mag, zu sagen, "man trete in ein helles Zimmer", wenn
+man Kant lese. Dazu ging ein mächtiges, echtes und ernstes, sittliches
+Pathos von ihm aus. Wenige erkannten so wie er die Niedergangszeichen
+des Wilhelminischen Zeitalters, die Vergötzung von Macht und Geld, von
+Nation und Staat. Die ganze Reinheit und Klarheit der Denkweise des
+Kantianismus der Männer der Befreiungskriege schien in ihm, lebendig
+geworden und in seiner Person vor der Zeit anklagend zu stehen. Diese
+Denkweise verband sich aber merkwürdigerweise bei ihm mit einem sehr
+bewußten Judaismus. Freilich mit einem Judaismus, der, auf dem Ethos
+der Propheten des Alten Bundes beruhend, nicht nur alle ritualistischen
+und nomistischen Elemente des Judentums, nicht nur alle mystischen und
+pantheisierenden kabbalistischen Elemente die sich ihm später
+ansetzten, sondern auch den historisch gegebenen Theismus von ihm
+abstreiften. Die Gottesidee war Cohen nur der Garant der "Einheit der
+Menschheit" und gleichzeitig ein notwendiges sittliches Vernunftideal.
+Von Karl Marx und den deutschen sozialistischen Theoretikern hatte er,
+ähnlich wie schon A. Lange (s. s. "Arbeiterfrage"), eine Reihe
+Grundsätze in sein ethisches und soziales System aufgenommen; besonders
+den von ihm aus dem Nationalen ins menschheitlich Abstrakte erhobenen
+jüdischen Messianismus, nach dem alles geschichtlich Gegebene nur von
+einem sittlichen Zukunftsideal her aufgefaßt und beurteilt werden kann;
+das verband ihn mit Marx, der diesen Messianismus nur unter seiner
+dogmatischen ökonomischen Geschichtsauffassung verhüllt hatte. Nur so
+ist es zu verstehen, daß auf dem Boden des Marburger Kantianismus auch
+eine neue theoretische Fassung des Sozialismus erwuchs, die besonders
+von Eduard Bernstein (Revisionismus), von Paul Natorp, von Vorländer
+und in manchen Kreisen der "Sozialistischen Monatshefte" vertreten
+wurde. An H. Cohen schloß sich Paul Natorp an, der in seinen Schriften
+die neukantische Lehre zwar weit klarer und für eine philosophische
+Schulbildung eindeutiger und systematisierter vertrat als der Meister,
+aber weder dessen Tiefe noch dessen Schwung nahekam. Als dritter
+bedeutendster Vertreter der Schule ist Ernst Cassirer zu nennen, der in
+seinen geschichtlichen und systematischen Werken der neukantischen
+Lehre vielleicht den schärfsten, präzisesten und gegenwärtig
+wirksamsten Ausdruck gegeben hat.</p>
+
+<p>Der Marburger Kantianismus weicht von dem historischen Kant in sehr
+weitgehendem Maße ab. Vollständig wird verworfen die Realsetzung eines
+Dinges an sich. Cohen interpretiert Kant dahin, das Ding an sich sei
+bei Kant nur eine didaktische Anpassung an den naiven Realismus des
+Lesers; in Wirklichkeit bedeute diese Wortverbindung nur einen
+"Grenzbegriff unserer Erkenntnis" nämlich das Fernziel eines
+unendlichen Erkenntnisprogresses. Diese Auffassung ist der von Maimon
+sehr ähnlich. Daß sie historisch als Kantinterpretation falsch ist,
+duldet heute keinen Zweifel. Indem so eine transzendente Wirklichkeit
+nicht nur nach ihrer Erkennbarkeit, sondern auch nach ihrem Dasein
+geleugnet wird, wird der Boden frei für einen neuen E r k e n n t n i s
+- und W a h r h e i t s b e g r i f f, den nach der Marburger Lehre
+Kant aufgestellt habe. Erkennen bedeute nicht Abbildung, aber auch
+nicht zeichenartiges Bestimmen einer vorhandenen Gegenständlichkeit und
+Realität, sondern es bedeutet ideales "Erzeugen und Formen des
+Gegenstandes" selbst. Der Gegenstand sei nicht gegeben, sondern seine
+Erzeugung sei unserem Verstande nach den ihm einwohnenden Gesetzen
+aufgegeben. Die Naturgegenständlichkeit ist hiernach also ein
+ausschließliches Werk, freilich ein endlich nie vollendbares Werk, des
+denkenden Verstandes. Gegenständlichsein und Realsein heiße für einen
+Inhalt nichts anderes, als gesetzlich gedacht sein und im System der
+Gedanken und ihrer Relationen eine bestimmte Stelle haben. Aber von
+welcher Gegebenheit ausgehend, erzeugt so der Verstand die
+Naturgegenstände? Nach dem historischen Kant, auch nach Riehl und der
+südwestdeutschen Schule, ist ein anschaulicher Gehalt, die "Materie der
+Empfindung", gegeben. Anders nach H. Cohen. Er erklärt: "Wir fangen mit
+dem Denken an"; nichts darf dem Verstande gegeben sein, wenn er alles
+durch sich selbst erst bestimmen und erzeugen soll. "Empfindung" sei
+ein Ausdruck, der selbst erst mit Hilfe der Kausalrelation und des
+Reizgedankens zu definieren sei als dasjenige, was an unserem
+Wahrnehmungsgehalt reizbedingt sei; also können Empfindungen nicht
+gegeben sein; auch sie sind ein gesuchtes X, ein "Problem des
+Verstandes". Soll damit gesagt sein, daß der Verstand, so etwa wie bei
+Hegel, rein aus sich heraus die ganze Welt erzeuge? Das ist kaum die
+Meinung H. Cohens. Einmal gibt auch er zu, daß in der natürlichen
+Weltanschauung Dinge, Ereignisse, Raum, Zeit und Kausalität irgendwie
+gegeben seien, und zwar als bewußtseinsjenseitig; aber das macht das
+Eigentümliche der neukantischen Lehre aus, daß im Unterschiede zum
+historischen Kant die Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und die
+wissenschaftliche Erfahrung s c h r o f f getrennt und
+auseinandergerissen werden. Die Wissenschaft hat hiernach dem Gehalt
+der natürlichen Weltanschauung gar nichts zu entnehmen, auch nicht die
+Daseins f o r m e n und Strukturen dieser natürlichen Wirklichkeit,
+geschweige ihren Gehalt. Umgekehrt muß vielmehr die natürliche
+Weltanschauung und ihr Inhalt ihrerseits durch die Wissenschaft als
+physiologisches, psychologisches resp. biologisch zweckmäßiges
+Gesamtprodukt aus ursprünglichen Denksetzungen erklärt werden, die ihr
+&mdash; konsequent &mdash; also nicht entnommen sein können. Ferner
+kommt es zu dem zweideutigen Satze H. Cohens: "Nichts ist dem Denken
+gegeben," und das Denken erzeuge erst im Urteil des infinitesimalen
+Ursprungs die Realität nur dadurch, daß Cohen Existieren eines
+Gegenstandes, Gegenstandsein eines Seienden, Gegebensein und
+Bestimmtsein einander gleichsetzt. Das Apriori Kants soll, das wahr der
+ursprüngliche Wurzelpunkt der Marburger Lehre, nur im
+"transzendentalen" Sinne genommen werden, d. h. hier freilich nicht nur
+als objektiv logische Voraussetzung für die Möglichkeit der
+mathematischen Naturwissenschaft und ihrer Gegenstände, sondern
+wenigstens nach der Auslegung des späteren Systems auch als eine Grund
+l e g u n g, die unser Denken immer neu zu legen tätig ist. Die
+"Grundlage" wird also hier zur "Grundlegung". Auch die "Kategorien"
+sind nach der Marburger Lehre nicht etwa feste, auf einer Tafel ein für
+allemal zu bestimmende Schienen, in denen unser Denken laufen muß,
+sondern sie selbst sind eine prinzipiell unabgeschlossene Reihe reiner
+Denk e r z e u g u n g e n zum Ziele, je nach der gegebenen
+Problemlage, den unendlichen Prozeß der Wissenschaft fortzufahren.
+Nicht nur Ding an sich und Empfindungsgegebenheit fallen hier im
+Gegensatz zum historischen Kant weg, sondern auch die
+"Anschauungsformen" sowie die kantische Scheidung von formaler Logik,
+transzendentaler Logik und Theorie des Wahrnehmungs- und
+Erfahrungsurteils. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit werden für
+Cohen und Natorp Denkkategorien; sie lösen sich in einer an Leibnizer
+Lehre gemahnenden Weise in ein System idealer Relationen auf, und die
+gesamte Mathematik soll, von Funktionentheorie und Algebra angefangen
+bis zur Geometrie, streng kontinuierlich ohne Heranziehung von
+intuitiven Minima, ausschließlich als strenges apriorisches
+Denkerzeugnis betrachtet werden. Ferner fällt nach den Lehren der
+Marburger Schule der Unterschied zwischen Realwissenschaften und
+Idealwissenschaften vollständig dahin. Auch die theoretische Physik
+erscheint hier vollständig formalisiert (nicht minder in anderer
+Richtung Rechtsphilosophie und Kunstphilosophie). Der ganze
+Erkenntnisprozeß der "Wissenschaft" &mdash; ein Begriff, der hier aufs
+einseitigste und noch einseitiger bei Kant an der mathematischen
+Naturwissenschaft orientiert ist, und zwar an der mathematischen
+Naturwissenschaft des newtonschen Zeitalters &mdash; wird hier in
+anschauungsfreies Denken, und zwar in erzeugendes Denken aufgelöst.
+Alle Gegenstands- und Seinsprobleme werden künstlich in M e t h o d e n
+p r o b l e m e verwandelt. So auch der Unterschied des Psychischen
+und Physischen. Ein nicht zu übertreffender Scientivismus, der an die
+Stelle der Weltbegreifung ausschließlich die Begreifung der einen
+zusammenhängenden, den Kosmos aus dem Chaos erst e r z e u g e n d e n
+Wissenschaft rückt, ist eines der Hauptmerkmale der Marburger
+Philosophie. Die Rechtsphilosophie hat sich z. B. nicht direkt mit dem
+Rechte, die Kunstphilosophie nicht direkt mit der Kunst zu
+beschäftigen, sondern mit der Möglichkeit der Rechts- und Kunst w i s s
+e n s c h a f t. Die Wissenschaft selbst, die, wie Cohen sagt, in
+"gedruckten Büchern" vorliegt, ist also allein das für den Philosophen
+Urgegebene; sie erscheint hier wie vom Himmel gefallen. Auf die Art,
+wie von diesem Standpunkt aus das System der Kategorien hergeleitet
+wird, kann hier nicht ein gegangen werden. Die genannten Cohenschen
+Grundideen haben N a t o r p und C a s s i r e r sowie die übrige große
+Schülerschaft weiterentwickelt. Ein zweifelhafter Vorzug der Schule ist
+der Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer Interessen. Sie übertrifft
+hierin weit die übrigen Kantschulen. Natorp hat die Idee Cohens,
+zunächst in erkenntnistheoretischer Hinsicht, besonders in drei
+Richtungen weiterentwickelt: 1. in bezug auf die Theorie der
+mathematischen Naturwissenschaft, besonders in seinem Buche "Die
+Grundlagen der exakten Naturwissenschaft"; 2. in seiner, einer
+erkenntnistheoretischen Fundierung der Psychologie dienenden
+"Allgemeine Psychologie"; 3. in der Richtung der Ethik und
+Sozialpädagogik. Eine kurze geschickte Zusammenfassung seiner Ansichten
+hat er gegeben in den "Wegen zur Philosophie" unter dem Titel
+"Philosophie" 1918. Eine Art Geschichtsphilosophie des deutschen Volkes
+entwickelte er während des Krieges in seinem Buche "Deutscher
+Weltberuf". Ferner hat Natorp in seinem Werke über Platon versucht, die
+platonische Lehre mit Abstreifung alles dessen, was er bei Platon für
+"mythisch" hält, so zu deuten, daß an den "Ideen" Platons jeder
+dingliche Charakter verschwindet und sie als bloße "Gesetze", die unser
+denkender Geist selbst zur Grundlegung des Wirklichen hervorbringt,
+erscheinen. Schon mit diesem Werke, aber in vielleicht noch höherem
+Maße in den großen historischen Werken Ernst Cassirers über Leibniz und
+über "Geschichte der neueren Erkenntnistheorie" (in 3 Bänden) hat die
+Marburger Schule einen Weg beschritten, dessen fast einzigartig
+konsequente Verfolgung zwar ihrem eigenen System einen mächtigen
+geschichtlichen Halt zu geben scheint, der sich aber für eine objektive
+geschichtliche Auffassung der Philosophiegeschichte nach meiner Ansicht
+als geradezu ruinös erwiesen hat. Diese geschichtliche Auffassung der
+Philosophiegeschichte ist geleitet von der an Hegel gemahnenden Idee,
+daß die Geschichte der philosophischen Ideen eine strenge logische K o
+n t i n u i t ä t und einen streng logischen Sachfortschritt darstelle,
+bei dem die philosophierenden Personen, ihr ursprüngliches
+charakterologisches Verhältnis zur Welt, ferner Religion, soziale
+Formen und Klassen, Interessen und Leidenschaften überhaupt keinerlei
+Rolle spielen. Abgesehen von dieser rein fiktiven unerwiesenen
+Voraussetzung werden in den geschichtlichen Werken der Marburger Schule
+die behandelten Denker fast ausschließlich nach ihrer logischen und
+erkenntnistheoretischen Seite hin gewürdigt. Dies tritt in Natorps
+Platonbuch wie in Cassirers Leibnizbuch mit ganz unsagbarer
+Einseitigkeit hervor. Die Leibnizsche Metaphysik, die genau so der
+Ausgangspunkt seiner Logik, wie die Metaphysik des Aristoteles der
+Ausgangspunkt des "Organon" gewesen ist, wird von ihm so gut wie
+hinweginterpretiert. Und genau so ergeht z. B. Descartes in der
+"Geschichte des Erkenntnisproblems". Mit vollem Recht hat jüngst Ernst
+von Aster in seiner kürzlich erschienenen "Geschichte der
+Erkenntnistheorie" (1921), die ein wahres und objektives Bild der Dinge
+an Stelle der Marburger Konstruktionen zu geben sucht, diesen Marburger
+Vergewaltigungsversuchen der Geschichte zugunsten ihres Systemes
+scharfen Widerstand entgegengesetzt. Das erkenntnistheoretische
+Hauptwerk Cassirers heißt "Substanzbegriff und Funktionsbegriff"
+(1910). Es enthält eine Erkenntnistheorie der Mathematik, theoretischen
+Physik und Chemie und soll zeigen, wie an Stelle der Herrschaft der
+Substanzkategorie und der begrifflichen Umfangsverhältnisse in der
+Entwicklung der neueren Wissenschaften mehr und mehr eine Denkweise
+getreten sei, die alle Substanzen als bloße hypothetische und nie
+endgültig zu bestimmende Ansatzpunkte zuerst erfaßter funktioneller
+Abhängigkeiten ansieht und eine Logik der Relationen an Stelle der
+Aristotelischen Subsumptionslogik setzt. Schöne, zum Teil auch wahre
+und tiefe allgemeine Bildungsbücher hat ferner Cassirer während des
+Krieges uns geschenkt in seinen Arbeiten "Freiheit und Form" und "Idee
+und Gestalt", in denen die Entwicklung der deutschen Dichtung in einige
+ihrer Hauptgestalten (Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist) nach der
+Einheit ihrer Struktur und Form mit der philosophischen Entwicklung des
+deutschen Geistes betrachtet werden (siehe besonders den wertvollen
+Aufsatz "Goethe und die mathematische Naturwissenschaft"). In der
+Rechtsphilosophie hat R u d o l f S t a m m l e r in seinen Büchern
+"Wirtschaft und Recht" und "Das richtige Recht" den neukantischen
+Gedanken Ausdruck gegeben, ferner hat auch der Österreicher Jurist
+Kelsen diese Philosophie zur Grundlage seiner Arbeiten gemacht. Eine
+bekannte Kritik Max Webers von Stammlers Wirtschaft und Recht (siehe
+"Zeitschrift für Sozialpolitik") und ein eben erschienenes Buch des
+Bonner Juristen Kaufmann haben die ungemeinen Schwächen dieser
+Rechtstheorie treffend aufgedeckt (siehe E. Kaufmann, "Kritik der
+neukantischen Rechtsphilosophie", 1921). Die Biologie suchte N.
+Hartmann in einer Sonderschrift den neukantischen Grundsätzen zu
+unterwerfen, ein sehr zukunftsreicher Forscher, der sich aber
+neuerdings von der Marburger Schule weit abgewandt und einer mehr
+ontologischen Denkrichtung zugewendet hat, die er nicht ohne Einfluß
+der Phänomenologie genommen haben dürfte.</p>
+
+<p>Jünger unter den gegenwärtigen Kantschulen ist die "Badische" oder
+auch "Südwestdeutsche Schule". Sie ist begründet von W. Windelband,
+fand ihren größten und wirksamsten Systematiker in Heinrich Rickert,
+als dessen wichtigster Schüler, aber auch in gewissem Sinne schon
+Überwinder, der im Kriege zum Leide der deutschen Philosophie gefallene
+zukunftsreiche Emil Lask gelten muß. Nahe stehen dieser Schule vermöge
+ihres gemeinsamen Ausgangspunktes von J. G. Fichte auch Paul Hensel und
+der auch von Hegel stark beeinflußte Jonas Cohn; in etwas weiterer
+Entfernung aber der erheblich selbständige, an der Harvard-Universität
+in Amerika lehrende, während des Krieges gestorbene Hugo Münsterberg. Z
+w e i Dinge unterscheiden diese Schule scharf von jener Marburgs.
+Während die Marburger Schule sich aufs einseitigste an der
+mathematischen Naturwissenschaft zu orientieren suchte, sind es die
+historischen und Kulturwissenschaften, die den Interessenkreis dieser
+Schule vor allem beherrschen. Die Geschichte ist Rickert das "Organon
+der Philosophie". Zweitens ist es ein bereits durch J. G. Fichte
+hindurchgesehener Kant, dessen Lehren hier weiterentwickelt werden. Das
+erste Moment hat seinen Hauptgrund darin, daß der Schöpfer dieser
+Schule, W. Windelband, an erster Stelle Philosophiehistoriker war. Auf
+diesem Boden hatte Windelband bedeutende Leistungen aufzuweisen, die
+freilich auch weitgehender Kritik offenstehen und ihr zum Teil auch
+wirklich verfielen. In seinem Platonbuche z. B. gibt er nach meiner
+Meinung dem Ideal des Guten bei Platon eine Deutung, die durchaus
+fichteisch und kantisch und das gerade Gegenteil von platonisch ist.
+Fast überall, wo er über mittelalterliche Philosophie sprach, verfällt
+er, wie Baeumker und seine Schüler zeigten, tiefgreifenden Irrtümern.
+Systematisch ist Windelband zuerst hervorgetreten mit seiner
+Doktordissertation "Über den Zufall", ferner mit seiner Rektoratsrede
+"Über nomothetische und ideographische Wissenschaften", die den
+Ausgangspunkt für Rickerts Geschichtstheorie in seinem Buche über
+"Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" gebildet hat,
+ferner in seinen zwei Bänden "Präludien" in seiner "Einleitung in die
+Philosophie", in Arbeiten zur Kategorienlehre und in seinem Buche "Über
+Willensfreiheit". In seiner Schrift über den Zufall findet sich noch
+der französische Philosoph und Mathematiker Cournot zitiert, der meines
+Erachtens zuerst die Behauptung aufgebracht hat, daß es objektives,
+aber in gesetzmäßige Beziehungen unauflösbares Wirkliches gebe, das
+zwar dem Kausalprinzip, sofern es konkrete Kausalität fordere, nicht
+aber dem Gesetzesprinzip unterworfen sei; ferner, daß es die Geschichte
+mit diesem, objektiv zufälligen Sein, im Unterschiede von allem
+gesetzmäßigen Sein und Geschehen zu tun habe. Derselbe Gedanke findet
+sich übrigens v o r jener Rede Windelbands auch bereits bei Harms und
+ferner in Hermann Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte". Streng
+systematisch zu begründen versuchte ihn aber erst H. Rickert in dem
+obengenannten Werke. Rickert ging dabei aus von einer bestimmten
+Theorie der Begriffsbildung, die er in kritischer Auseinandersetzung
+mit dem Logiker Sigwart gewann. Diese Begriffstheorie ist streng
+nominalistisch und hat mit jener der Positivisten, z. B. E. Machs, eine
+große Ähnlichkeit. Der Begriff soll sein eine "Überwindung der
+extensiven und intensiven unendlich reichen Mannigfaltigkeit", die
+jeder noch so einfache Teil des unmittelbar erlebten Wirklichen
+enthalte. Den auf diese Weise gebildeten Begriffen und nicht minder den
+analog gebildeten Gesetztsrelationen, in die sich in letzter Linie auch
+die Begriffe sollen auflösen lassen, kommt "Geltung" zu, nicht aber
+Wirklichkeit oder Realität. Neben dieser Betrachtungsart ein und
+desselben, unter die Kategorie der "Gegebenheit" ursprünglich gefaßten
+formfreien "Stoffes der unmittelbaren Erlebnisse" soll es aber noch
+eine prinzipiell entgegengesetzte Richtung der Betrachtung und des
+Denkens geben. Sie sucht nicht die Mannigfaltigkeit durch
+Allgemeinbegriffe zu überwinden, sondern diese Mannigfaltigkeit durch
+Bildung von Individualbegriffen immer genauer als "Individuum" und als
+Ganzes und Teil zu bestimmen. Individuum und Allgemeines sollen also
+das Ergebnis von zwei entgegengesetzt gerichteten Formungen und
+Betrachtungsweisen ein und derselben Materie der Erfahrung sein,
+freilich so, daß die kategoriale Form des Individuums (Rickert führt
+sie als eine neue Kategorie in das Kategoriensystem Kants ein) "k o n s
+t i t u t i v e" Bedeutung für dc Wirklichkeit besitze, während der
+Gesetzeskategorie nur "regulative" Bedeutung zukomme. Die letzte Wurzel
+des Unterschiedes von Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften
+soll nun ausschließlich in diesen zwei Betrachtungsweisen gelegen sein.
+Man muß wohl beachten, daß die Betrachtungsweisen nicht k o o r d i n i
+e r t sind. Da die Kategorie des Individuums konstitutiv ist (und mit
+ihr auch die Kategorie der konkreten Kausalität), ist die
+Weltwirklichkeit p r i m ä r nicht "Natur", sondern "Geschichte". Und
+was wir "Natur" nennen, ist in letzter Linie nur ein allgemein
+abstrakter Auszug aus dieser konkreten einmaligen Wirklichkeit, der
+nicht notwendig wäre, wenn unser Geist so umfassend wäre, a l l e s
+individuell Wirkliche im g a n z e n Reichtum seiner Mannigfaltigkeit
+erfassen zu können. Dadurch erhält die Geschichtswissenschaft einen
+metaphysischen Vorzug vor der Naturwissenschaft. Diese philosophisch
+ganz unbegründete Behauptung ist nur eine ganz willkürliche logische
+Scheinrechtfertigung einer aus allen Äußerungen dieser Schule
+hervorgehenden primären geringen Wertung der Naturwissenschaft und
+insbesondere aller Natur p h i l o s o p h i e. Diesem Begriff der
+Naturwissenschaft wird von Rickert außerdem die von ihm ganz unkritisch
+rein mechanisch sensualistisch aufgefaßte Psychologie eingeordnet.</p>
+
+<p>Ein zweites Merkmal des historischen Gegenstandes soll außer der
+individualisierenden Betrachtung des Wirklichen nach Rickert die
+Beziehung dieses Wirklichen auf ein System allgemein gültiger Werte
+sein. Erst diese Beziehung soll aus der unermeßlichen Fülle des
+individuell Wirklichen dasjenige auswählen, was &mdash; sei es in
+positiver oder in negativer Wertrichtung &mdash; "kulturell bedeutsam"
+ist. Die allgemeingültigen Werte werden durch die Philosophie
+festgestellt; ja, die Philosophie wird bei Windelband und Rickert
+geradezu als die "Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten"
+definiert. Gegen diese neue "Logik der Geschichte", an deren
+Erweiterung, Kritik und Ausbau sich auch G. Simmel und H. Maier, ferner
+Troeltsch und Max Weber beteiligt haben, sind die eingehendsten und
+meiner Meinung nach treffendsten kritischen Einwände von Erich Becher
+in seinem Buche "Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" (1921)
+erhoben worden. Auch F. Krüger hat in seinem wertvollen Buche "Über
+Entwicklungspsychologie" (1915) viel Treffendes gegen Rickerts Begriff
+der Psychologie gesagt. Beide angegebenen Merkmale können den
+geschichtlichen Gegenstand nicht umgrenzen. Auch die Naturwissenschaft
+muß, z. B. in der Geographie, in der Mondkunde, vor allem aber im
+ganzen Gebiet der Naturkunde überhaupt, individualisierend vorgehen,
+und auch in den verschiedenen geschichtlichen und historischen
+Geisteswissenschaften gibt es weitgehend Gesetzlichkeit und typische
+Entwicklungsabfolge von Erscheinungsreihen. Nur wenn man ferner mit
+Rickert die mechanische Naturansicht mit Einschluß des Biologischen und
+einer ausschließlichen sensualistischen Assoziationspsychologie als die
+einzig wahre Naturwissenschaft bereits willkürlich voraussetzt, auf
+geistesgeschichtlichem Boden aber alle Versuche, neben der verstehenden
+Geschichte auch eine erklärende und zugleich phasengesetzliche
+Geschichtserkenntnis zu geben, völlig verwirft, kann man auf Rickerts
+Meinung kommen. Weder läßt sich der ontische Gegensatz des
+geistig-psychischen Seins und der äußeren Naturtatsachen, der übrigens
+durch die e i g e n g e s e t z l i c h e n Erscheinungen des
+organischen Lebens vermittelt wird, in einen bloßen Unterschied von
+"Betrachtungsweisen" verwandeln; noch läßt sich mit Fug behaupten, die
+Psychologie habe für die Geschichte keine Bedeutung (siehe hierüber
+Krüger). Auch die Wertbezogenheit ist nicht w e s e n t l i c h für
+das geschichtlich "Bedeutsame"; es genügt dazu die Größe der
+Wirkungsfähigkeit eines Tatbestandes. Die eigentlichen Probleme der
+Geschichtserkenntnis, die Frage nach den mannigfaltigen Erkenntnisarten
+und Realsetzungsgründen fremden Bewußtseins und das von W. Dilthey so
+tief aufgenommene, von E. Spranger und von dem Schreiber dieser Zeilen
+weitergeführte Problem des geschichtlichen "Verstehens" sind durch
+Rickert gar nicht ernstlich berührt. Die Erkenntnistheorie der
+Südwestdeutschen Schule hat ihr Hauptwerk in Rickerts "Gegenstand der
+Erkenntnis" (3. Auflage, Tübingen 1915). In ihrem Mittelpunkt steht ein
+erkenntnistheoretischer Idealismus, der aber nicht extremer
+Rationalismus und Logizismus wie jener der Marburger ist, sondern
+zugleich die alogischen und arationalen Fundamente gegebener
+Erlebniswirklichkeit anerkennt. Der erkenntnistheoretische Realismus
+wird am Anfang mit den denkbar billigsten Mitteln in den drei Formen
+des Kausalschlusses, des Interpolations- und des voluntativen Realismus
+(Dilthey, Frischeisen-Köhler) zu widerlegen gesucht. Alles Seiende und
+Gegenständliche soll seinen anschaulichen Fundamenten nach "Inhalt
+eines Bewußtseins überhaupt" sein, das Rickert durch ein negatives
+Verfahren, durch das er den natürlichen Ichbegriff (pssychophysisches
+Subjekt, psychologisches Subjekt, erkenntnistheoretisches Subjekt)
+immer weiter zu beschränken sucht, gewinnt. Die Fehler dieses
+Verfahrens können hier nicht aufgewiesen werden; auch der Widersinn
+nicht, ein sogenanntes "überindividuelles Ich", das weder eine
+Außenwelt, noch ein Du, noch einen Leib sich gegenüber hat, anzunehmen.
+Der eigentliche "Gegenstand der Erkenntnis" soll nun weder bestehen in
+einem bewußtseinsjenseitigen Seienden noch in einem
+bewußtseinsimmanenten Gehalt der anschauenden Akte; vielmehr soll das,
+was wir "Gegenstand" nennen, auf ein "transzendentes Sollen", d. h. auf
+die Forderungen zurückgeführt werden, über das Bewußtseinsgegebene
+bestimmte Arten von U r t e i l e n zu fällen und es in diesen Akten
+mit kategorialen Formen zu umkleiden. Dieser Gedanke ist von Fichte
+übernommen, der ja auch das "Sollen" dem Sein, das Gewissen dem Wissen,
+die sittliche Forderung der theoretischen Erkenntnis vorhergehen läßt.
+In seinem letzten Werk "System der Philosophie" (1. Band) hat Rickert
+nichts wesentlich Neues seinen früheren Arbeiten hinzugefügt.</p>
+
+<p>Übersieht man das Ganze dieser Schule, so kommt ihr gegenüber der
+Marburger Philosophie nur e i n zweifelloser Vorzug zu. Sie erkennt g e
+g e b e n e Bestände überhaupt an; sie macht nicht den Versuch, die
+ganze Welt in reine Denkbestimmungen aufzulösen; aber sie tut dies
+leider auch unter weitgehender Preisgabe der Rechte des Denkens und
+verfällt so in einen "Nominalismus", der sich von dem Nominalismus etwa
+E. Machs und der Positivisten nur der Färbung der Darstellung nach
+unterscheidet. In jeder anderen Hinsicht ist die Schule der Marburger
+Lehre weit unterlegen. An Stelle des ungemeinen Reichtums und einer
+bewunderungswürdigen Vielseitigkeit der Marburger Gedankenwelt treten
+hier einförmige schematisierende Wiederholungen von ein paar überaus
+ärmlichen und dürren Grundgedanken, die sich, verbunden mit der
+aufgeblähten, von J. G. Fichte ererbten, Icharroganz dem gesamten
+Universum gegenüber vergeblich bemühen, eine ganze Philosophie zu
+tragen. Der sogenannten "Kultur" (selbst die Religion wird hier auf ein
+fadenscheiniges "Norm- und Kulturbewußtsein" in letzter Linie
+zurückgeführt) wird eine Rolle und eine Bedeutung im Ganzen des
+Weltgetriebes zugesprochen, sie ihr nicht im entferntesten zukommt.
+Eine Naturphilosophie ernst zu nehmender Art, eine tiefere Fundierung
+der Psychologie oder irgendwelche Leistungen auf diesem Gebiet besitzt
+die Schule überhaupt nicht und kann sie gar nicht besitzen, da sie
+ihren Jünger von vornherein mit tiefster Verachtung gegen die Wunder
+der Natur erfüllt. Natur ist hier genau wie bei Fichte im Grunde nur
+"Material" für ein leeres Kulturgetue, das seinen letzten Sinn haben
+soll in frei in der Luft schwebenden rein formalen "Werten" und
+"Geltungen". Die falsche Meinung, es ließe sich der Wertbegriff auf ein
+Sollen zurückführen und "Wahr" und "Falsch" seien nur Werte n e b e n
+anderen, ist von Meinong, dem Verfasser (siehe "Formalismus in der
+Ethik", 2. Auflage), und zum Teil auch von E. Lask, der eben starb, als
+er die grobmaschigen Schematismen seiner Lehrer zu überwinden anfing,
+widerlegt worden. Es muß geradezu als ein kulturpsychologisches Problem
+gelten, wie diese l e e r s t e der deutschen Kantschulen in unserem
+Lande so starke Verbreitung finden konnte. Ich sehe seine Lösung vor
+allem darin, daß sie der herkömmlichen historischen Richtung in der
+deutschen Geschichtswissenschaft das philosophische R e c h t ihrer
+Existenz immer neu bestätigte und jedes satte Genügen an den
+herkömmlichen Methoden "philosophisch" rechtfertigte; ferner darin, daß
+die Aneignung jener paar Formeln über Wert und Sein und
+generalisierende und individualisierende Betrachtung mit Ausscheidung
+aller echt philosophischen Probleme der Metaphysik, der
+Naturphilosophie, der Psychologie, der Ethik und Ästhetik nur ein
+Minimum von Denkarbeit kostete und doch gleichzeitig den Adepten mit
+dem Bewußtsein erfüllte, nun ein ganzer Philosoph zu sein. (Vgl. auch
+hierzu W. Windelband: "Die Philosophie im deutschen Geistesleben des
+19. Jahrhunderts", 1909.) Weit tiefer faßte die Probleme der Weltlehre
+und der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der
+Geisteswissenschaften der gleichfalls von Fichte ausgegangene Hugo
+Münsterberg in seinen "Grundzügen der Psychologie" und in seiner
+"Philosophie der Werte". Er versuchte aus rein erkenntnistheoretischen
+und methodologischen Forderungen heraus (freilich überkonstruktiv und
+mit fichteischer Gewalttätigkeit) eine strenge Assoziationspsychologie
+zu versöhnen mit der Anerkennung einer primär nur gewerteten
+"Lebenswirklichkeit" (der eigentlichen metaphysischen Sphäre), die nur
+zu gewissen methodischen Zwecken technischer Daseinsbeherrschung in
+einen äußeren Naturmechanismus "umgedacht" werde. Von diesem
+Mechanismus müsse in der erklärenden Philosophie auch das Psychische
+als abhängig gedacht werden. Von ihr verschieden ist jedoch eine
+subjektivierende Aktpsychologie, die Grundlage der
+Geisteswissenschaften sei.</p>
+
+<p>In einem loseren Verbande mit beiden Kantschulen stand auch Georg
+Simmel, der sich von einer anfänglich mehr positivistisch eingestellten
+Denkrichtung über die Problematik Kants hinweg schließlich zu einer
+"Lebensphilosophie" durchrang, deren Ergebnis er in dem nach seinem
+Tode im Nachlaß erschienenen Werke "Lebensanschauung, vier
+metaphysische Kapitel" darstellte. Der Aufsatz "Über den Tod" ist das
+Tiefste und Reifste, was dieser eigenartige und weit über die deutschen
+Grenzen hinaus anregende Denker geschrieben hat. Auch sein Aufsatz über
+"Das individuelle Gesetz", in dem er ähnlich wie Schleiermacher und der
+Verfasser in seiner "Ethik" neben "allgemeingültigen moralischen
+Werten" auch "individualgültige", d. h. eine je individuell sittliche
+Bestimmung des Menschen darzutun sucht, hat die Ethik bedeutend
+gefördert. Seiner durch Bergson angeregten letzten "Lebensphilosophie"
+die dunkel, unbestimmt und verworren bleibt, kann ein gleicher Beifall
+nicht gezollt werden.</p>
+
+<p>Die vierte von Leonhard Nelson begründete Kantschule, die einen
+reichen Kreis von Forschern aller Disziplinen unter sich vereinigt, hat
+ihre Ansichten besonders in den zahlreichen Werken ihres Begründers und
+in den "Abhandlungen zur friesischen Schule" dargelegt. In scharfem
+Gegensatz zur "transzendentalen" Auffassung des kantischen Apriori, von
+dem Cohen ausging, wird hier die Lehre vertreten, daß wir nur auf dem
+Wege anthropologischer Selbstbesinnung mit Hilfe eines Verfahrens der
+Reduktion der gegebenen Wissenschaften die obersten Grundsätze der
+Vernunft feststellen können. Von einem "Vertrauen in die Vernunft"
+ausgehend, das ein rein subjektiver Akt bleibt, müssen die obersten
+evidenten Einsichten, nach denen wir das Gegebene in mittelbarem,
+Denken bearbeiten, nicht "erzeugt", sondern nur als ursprünglicher
+Besitz unseres Geistes enthüllt werden. Die Voraussetzung dieser Schule
+ist die Existenz einer unmittelbar anschauenden Vernunft, deren
+Grundsätze teils anschaulich (mathematische Grundsätze), teils
+unanschaulich (z. B. Kausalprinzip) evident sind, und die durch das
+reduktive Verfahren weder "deduziert" noch "konstruiert" sondern allein
+für die Selbstbesinnung als evident enthüllt werden müssen. So muß der
+apriorische Besitz unseres Geistes nicht auf apriorische, sondern auf
+aposteriorische Weise gefunden und entdeckt werden. Eine
+"Erkenntnistheorie" im üblichen Sinne, sofern sie die "Möglichkeit der
+Erkenntnis" erst aufweisen will, ist nach Nelson ein sinnloses
+Unternehmen; denn nur auf Grund schon gewonnener evidenter Erkenntnis
+können wir anderweitige Erkenntnis einer Prüfung und Kritik
+unterwerfen. Von dieser an Fries anknüpfenden theoretischen Basis aus
+hat die Schule eine überaus rege und, wie auch derjenige, der ihr
+fernesteht, sagen muß, s e h r wertvolle, sowohl positiv schöpferische
+als kritische Tätigkeit entfaltet. Sie hat die Theologie stark
+befruchtet (siehe Bousset und vor allem Rudolf Otto, dessen
+ausgezeichnetes Werk über "Das Heilige" von der Schule stark bestimmt
+ist). Sie hat auf dem Boden der Philosophie, der Mathematik und der
+exakten Naturwissenschaft eine sehr rege Tätigkeit entfaltet; sie hat
+in Kronfeld einen Vertreter gefunden, der nach ihren Grundsätzen die
+Erkenntnislehre der Psychiatrie eingehend bearbeitet und gefördert hat.
+Vor allem aber hat ihr charaktervoller und geradsinniger Urheber L.
+Nelson auf dem Boden der Rechts- und Sozialphilosophie achtungswerte
+Werke hervorgebracht (siehe besonders "Die Rechtswissenschaft ohne
+Recht"). In überaus scharfsinniger, freilich allzusehr im Formalismus
+Kants steckenbleibender Art und Weise wird hier mit Reinheit und Mut
+die Majestät des Rechtsgedankens auf Grund evidenter Vernunfteinsichten
+gegen alle Verdunkelungen durch Rechtspositivismus und der in der
+Jurisprudenz stark herkömmlichen Machtlehre vertreten. Auch das große
+Werk Nelsons "Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik" ist besonders
+in seinen kritischen Teilen von großem Scharfsinn. Gegenüber Kant wird
+neben dem "Pflichtgemäßen" ein "Verdienstliches" anerkannt, und die
+Liebe und das Ideal der "schönen Seele" freilich mehr als ästhetischer
+denn ethischer Wert in die Grundkategorien des menschlich Wertvollen
+eingefügt. In ihrer politischen Tendenz vertritt die Schule einen
+radikalen Liberalismus der geistigen Individualität, den sie gerne auch
+an die konfuzianische Weisheit des chinesischen Ostens anzulehnen
+sucht.</p>
+
+<p>Überblickt man das Ganze dieser vier Kantschulen, wird man mit
+Verwunderung vor der Tatsache stehen, die Kantianer immer noch über den
+Sinn der Lehre ihre Meisters streiten, und noch mehr darüber, daß so
+grundverschiedene Geistesarten auf demselben Boden des Kantianismus
+überhaupt möglich sind. Daß aus der Starrheit dieser Schulkreise heraus
+d i e Philosophie, wie wir sie oben als erstrebenswert bezeichnet
+hatten, hervorwachsen werde, glauben wir bei allem Wertvollen, das
+besonders die Marburger und die Friesschule geleistet haben, nicht. Die
+ungeheuren Literaturmassen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit
+Interpretation, Fortführung, Neugestaltung der kantischen Philosophie
+beschäftigt haben, stehen auf alle Fälle zu den Förderungen, welche die
+Philosophie durch sie erhielt, in gar keinem sinnvollen Verhältnis.
+Wenn man dazu erwägt, daß die Grundpositionen Kants (ich rechne dazu
+seinen Ausgangspunkt von der newtonschen Naturlehre, seine Lehre, das
+Gegebene sei nur ein "Chaos von Empfindungen" und alles, was Ordnung
+und Beziehung, Einheitsform und Gestalt am Gegenstand der Erfahrung
+sei, müsse durch funktionsgesetzlich geregelte Verstandestätigkeiten in
+den Gegenstand erst hineingekommen sein, ferner seine Annahme der
+prinzipiellen Erklärbarkeit der Natur auf Grund der Prinzipe der
+Mechanik) heute der schärfsten und nach meiner Meinung der strengsten
+Widerlegung verfallen sind, so wird man nur von einer neuen
+untradionalistischen S a c h philosophie &mdash; einer Philosophie, die
+nicht von einer historischen Autorität ausgeht, sondern höchstens
+retrospektiv auf Grund ihrer gewonnenen Erkenntnisse sich auch einer
+philosophiegeschichtlichen Tradition eingeordnet weiß, Wertvolles und
+Dauerndes erwarten dürfen.</p>
+
+<p>Einen weit geringeren Einfluß als die kantische Philosophie übt auf
+die Philosophie der Gegenwart der Positivismus und sein neuester
+Ableger, der von den Amerikanern Peirce und W. James und dem Engländer
+Schiller, in gewissem Sinne auch von Fr. Nietzsche (siehe besonders
+"Der Wille zur Macht") angeregte, für das engere Gebiet der
+naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie auch von Henri Bergson
+angenommene sogenannte "Pragmatismus" aus[1]. Der</p>
+
+<blockquote> [1] W. James: "Der Pragmatismus"
+(Philosophisch-Soziologische</blockquote>
+<blockquote> Bücherei Bd. 1): F. C. S. Schillers "Humanismus"
+(derselben</blockquote>
+<blockquote> Sammlung, Bd. 25); ferner W. James: "Das
+pluralistische</blockquote>
+<blockquote> Universum", übersetzt von J. Goldstein (Bd.
+33).</blockquote>
+
+<p>europäische Positivismus hat seinen Ursprung und Hauptsitz in
+Westeuropa; Bacon, D. Hume, D'Alembert, Condorcet, A. Comte, J. St.
+Mill, H. Spencer, Taine und Buckle waren seine bedeutendsten geistigen
+Väter. In der gegenwärtigen deutschen Philosophie hat er so wenig wie
+in der deutschen Philosophie überhaupt eine allseitige, alle Gebiete
+der Philosophie umfassende Vertretung gefunden. Als strengere
+Positivisten können unter den Älteren für die Erkenntnistheorie nur E.
+Mach und Avenarius, in der unmittelbaren Gegenwart der aus der
+Psychiatrie zur Philosophie gekommene selbständige und originelle
+Forscher Theodor Ziehen gelten. Eine größere Anzahl von Forschern sind
+stärker von ihm beeinflußt, so z. B. der kürzlich verstorbene Benno
+Erdmann (siehe besonders seine "Logik", 1. Band, 2. Auflage). In seinen
+älteren Arbeiten ist auch A. Riehl, ferner Hans Cornelius, der Humesche
+und Machsche Gedankengänge mit Kants Erfahrungstheorie eigenartig
+verquickt hat (siehe Cornelius: "Transzendentale Systematik", 1916),
+vom Positivismus bestimmt. Als ein dem Pragmatismus, freilich mit mehr
+Nietzschescher als angelsächsischer Färbung, näherstehendes Werk muß
+die "Philosophie des Als-ob" von H. Vaihinger angesehen werden. Unter
+den jüngsten Erkenntnistheoretikern steht Moritz Schlick ("Allgemeine
+Erkenntnislehre", 1918) freilich mit realistischem Einschlag dem
+Positivismus vermöge seines extremen Nominalismus (Erkennen sei nur
+"eindeutiges Bezeichnen und Ordnen der Gegenstände") nahe. In der Ethik
+und Religionsphilosophie lehrte Jodl einen monistisch modifizierten
+Positivismus. In der Soziologie und Geschichtsphilosophie steht ihm
+Müller-Lyer, L. von Wiese, W. Jerusalem (siehe "Die Phasen der Kultur",
+"Einleitung in die Philosophie") und R. Goldscheid nahe. Wesentlichste
+Basis des deutschen Positivismus ist eine sensualistische
+Erkenntnistheorie und ein Versuch, die Denkkategorien psychologisch
+oder soziologisch geschichtlich herzuleiten. Die Auffassung, daß die
+kategorialen Formen nicht Seinsformen, die Denkgesetze nicht
+Seinsgesetze seien, teilt der Positivismus mit den Kantianern. Während
+aber jene die apriorische Struktur unseres Denkens nur auffinden oder,
+wie die Marburger, immer neu aus ursprünglicher Denkfunktion rein
+erzeugen wollen, bemüht sich der Positivismus nach humeschem Muster,
+sie auf dem Boden einer beschreibenden (oder bei manchen selbst
+genetischen) Psychologie und Soziologie zu verstehen. Die
+sensualistische Auffassung, daß der gesamte Inhalt der natürlichen und
+wissenschaftlichen Erfahrung auf Sensationen und deren Residuen, resp.
+auf die Verknüpfung dieser Residuen nach den Assoziationsgesetzen
+zurückführbar sei, das Denken aber auf Zeichengebung und Abfolge
+ähnlicher Vorstellungsbilder in letzter Linie beruhe, macht die
+eigentliche erkenntnistheoretische These des Positivismus aus. Ihr
+entspricht dann die F o r d e r u n g, aus der Wissenschaft alles das
+auszuscheiden, was über aufweisbare Empfindungselemente und über die
+Funktionalbeziehungen von deren Komplexen hinausgehe. Jeder asensuelle
+und übersensuelle u r s p r ü n g l i c h e Bestand im Gegebenen der
+Erfahrung, der nur durch ein ursprüngliches, von Bildern nicht
+ableitbares eigengesetzmäßiges D e n k e n (oder andere geistige
+Funktionen, wie Intuition, kognitives Fühlen usw.) zu erfassen wäre,
+wird bestritten. Alle "Substanzen" und "Kräfte" und alle sinnlich nicht
+aufweisbaren Inhalte und Realsetzungen solcher müssen aus der
+Wissenschaft in letzter Linie ausgeschieden werden: sofern man aber mit
+Substanz- und Kraftbegriffen in ihr operiert, kommt diesen Operationen
+genau so wie den in der Wissenschaft verwandten allgemeinen Begriffen
+und Gesetzen nur die ökonomische Bedeutung zu, mit Bildvorstellungen zu
+sparen ("Prinzip der Denkökonomie"). Mit dieser Auffassung verbindet
+sich eine streng nominalistische Lehre vom begrifflichen Denken, die in
+Deutschland am schärfsten durch H. Cornelius ("Einleitung in die
+Psychologie"), E. von Aster und neuerdings von Schlich durchgeführt
+worden ist (zur Kritik dieser Lehre vergleiche E. Husserl: "Logische
+Untersuchungen", Band 2). In der Realitätsfrage hat sich der deutsche
+Positivismus (mit Ausnahme von Schlick) im Unterschied von jenem
+Spencers im wesentlichen ablehnend verhalten. Die Existenz der Welt ist
+ihm nur der "geordnete Inbegriff ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten".
+Avenarius hatte die Gegenstände, Bewußtsein, Seele, Ich auf eine
+ursprüngliche Täuschung zurückgeführt, die durch Introjektion eines
+Umgebungsbestandteils (z. B. wahrgenommener Baum) in den Mitmenschen
+(als "immaterielles Abbild" des Baumes) und erst sekundär auch in das
+erkennende Ausgangssubjekt noch einmal "hineinverlegt" worden sei (s.
+Avenarius: "Der natürliche Weltbegriff"). E. Mach, der mehr von
+idealistischer Seite her kam, nahm letzte qualitative Seinselemente an
+(blau, rot, hart, Ton usw.), die, wenn sie in ihrem gegenseitigen
+Zusammenhang und in den Abhängigkeiten ihrer möglichen
+Komplexveränderungen untereinander betrachtet werden, "Natur" heißen;
+"Empfindungen" aber, wenn sie und ihre Komplexänderungen betrachtet
+werden in Abhängigheit von den physiologischen Vorgängen des
+Organismus. Auch das "Ich" ist ihm nur ein solcher relativ konstanter
+Komplex von Seinselementen. Eine vorzügliche Kritik dieser "Ich"-lehre
+gibt K. Österreich in seinem Buch "Phänomenologie des Ich". Der
+Unterschied von Psychisch und Physisch soll hiernach kein Unterschied
+der Materie und der Gegenstände sein, sondern nur ein Unterschied in
+der Betrachtung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den
+Seinselementen. Mach hat diese Lehre in seinen großen Werken zur
+Geschichte der Naturwissenschaft (Geschichte der Mechanik, des Satzes
+von der Erhaltung der Arbeit, der Wärmelehre) und in seinem letzten,
+sehr wertvollen und lehrreichen Werke "Erkenntnis und Irrtum" auch
+geschichtlich zu unterbauen gesucht. Die moderne mechanische
+Naturansicht hat nach seiner Meinung nur in dem historischen Z u f a l
+l ihren Grund, daß man die Bewegungserscheinungen fester Körper
+zeitlich zuerst studierte (Galilei), um dann, nach dem Prinzip:
+Erklären heiße nur "relativ Unbekanntes auf zuvor Bekanntes"
+zurückzuführen, auch die übrigen Naturerscheinungen auf
+Bewegungsgesetze fester Dinge zurückzuführen. Tatsächlich aber bestehe
+kein Seinsunterschied zwischen "primären" und "sekundären" Qualitäten.
+Besonders die Bedeutung denkökonomischer A n a l o g i e n und Bilder
+für den wissenschaftlichen Fortschritt hob er nach dem Vorgang
+englischer Physiker (Maxwell, Lord Kelorn, Clifford) in seinen
+geschichtlichen Werken und in "Erkenntnis und Irrtum" stark hervor.
+Aber alle diese "Bilder" müssen zugunsten strenger, rein mathematisch
+formulierter Funktionsgesetze eines Tages wieder aus der Wissenschaft
+ausgeschieden werden, wenn sie den neuen Beobachtungen nicht mehr
+genügen. Auch der modernen Relativitätstheorie Einsteins hat E. Mach
+durch seine Kritik Newtons, besonders seiner Lehre von der absoluten
+Bewegung vorgearbeitet (siehe Geschichte der Mechanik). Diese
+Auffassung der Arbeit der Naturwissenschaft ist in neuester Zeit von
+Planck ("Einheit des physikalischen Weltbildes"), Stumpf, Külpe, ferner
+von allen realistischen und kantischen Schulen mit Recht scharf
+bekämpft worden (siehe besonders C. Stumpfs Akademieabhandlung: "Zur
+Einteilung der Wissenschaften", 1906). Vor allem aber war es Ed.
+Husserl, der die nominalistischen Begriffstheorien des Positivismus in
+den "Logischen Untersuchungen", Band 2, einer überaus einschneidenden
+Kritik unterzog. Die ernstesten Versuche, die Gegner des Nominalismus
+und Sensualismus, die heute den Positivismus immer mehr zurückgedrängt
+haben, zu widerlegen, haben von diesem Standort aus Ziehen in seiner
+"Psychophysiologichen Erkenntnistheorie" und seinem kürzlich
+erschienenen sehr wertvollen "Lehrbuch der Logik" (1920) und E. von
+Aster unternommen. Daß es ihnen aber geglückt sei, die positivistischen
+Positionen zu halten, glaubten wir nicht. Der schärfste Gegner ist dem
+Positivismus neuerdings entstanden in der "Phänomenologie", obzwar
+diese Denkrichtung mit ihm das Gemeinsame hat, den Aufweis aller
+Begriffe in letztfundierenden Anschauungsgegebenheiten zu fordern. Aber
+eben dabei erwies es sich, daß der Gehalt des originär Anschaubaren
+unvergleichlich r e i c h e r ist als dasjenige, was durch sensuelle
+Inhalte und ihr Derivate (und deren fernere psychische Verarbeitung) an
+ihm denkbar sein mag. Zu welchen gewagten Annahmen und immer
+verwickelter werdenden Hypothesen der Positivismus greifen muß, um
+seine Lehre durchzuführen, zeigt auch das letzte scharfsinnige Werk
+Benno Erdmanns über "Grundzüge der Reproduktionspsychologie" (1920).</p>
+
+<p>Wenn der Positivismus im Erkennen nur ein zweckmäßiges mäßiges
+Bezeichnen gegebener Sachen sieht, so geht der P r a g m a t i s m u s
+von einer etwas anderen Auffassung aus. Er behauptet, daß alles
+Erkennen nur die Bedeutung habe, ein Bild der Dinge zu geben, so
+geartet, daß seine "Folgen" uns zu Handlungen führen, die bestimmte
+praktische Bedürfnisse befriedigen. Der "Sinn" eines Gedankens falle
+zusammen mit dem Inbegriff aller möglichen praktischen
+Verhaltungsweisen, die er "leiten" und "führen" könne; und "wahr" sei
+ein Gedankengebilde dann, wenn diese Reaktionen gattungsnützlich seien
+und uns in der praktischen Beherrschung der Dinge weiterführen. Peirces
+"Erkenntnis" wird hier ähnlich wie bei den Marburgern selbst zu einem
+"Formen" und "Gestalten" einer zunächst völlig indifferenten
+chaotischen Masse von Gegebenheiten (James, Schiller). Der letzte
+Beweis z. B. für den Wahrheitswert der Naturwissenschaft ist die M a c
+h t, die sie uns über die Natur gibt, also Technik und Industrie; die
+Arbeit an den Dingen gehe überall der Erkenntnis vorher und die
+Erkenntnis zeige in letzter Linie nur die R e g e l n auf, nach denen
+unsere Bearbeitung der Welt praktisch reüssiere. In Deutschland ist
+diese völlig unhaltbare, allen Wahrheitsernst untergrabende
+amerikanistische Theorie &mdash; besonders widerlich, wenn sie zur
+Rechtfertigung des Daseins Gottes und der Religion angewandt wird, wie
+sie in W. James' "Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung" &mdash;
+mit einer eigenartigen Modifikation, die von Nietzsche herrührt (siehe
+besonders "Wille zur Macht"), von Hans Vaihinger vertreten wurde. Die
+"Modifikation" besteht in folgendem: Während die angelsächsische
+Theorie des "Pragmatismus" die Lautverbindung "wahr" geradezu als
+"praktisch brauchbar" definiert, hält Vaihinger im Grunde den a l t e n
+Wahrheitsbegriff fest, schränkt aber das unmittelbar "Wahre" ein auf
+das, was an einer Wortintention nur in reinen Empfindungen gedeckt ist.
+Alles, was darüber hinausragt &mdash; seien es Kategorien,
+Grenzbegriffe (z. B. ideales Gas, Adam Smiths "eigensüchtiges
+Wirtschaftssubjekt" usw.), seien es unanschauliche theoretische
+Setzungen (z. B. Äther, aber auch Gott, unsterbliche Seele), das heißt
+das denkbar Verschiedenartigste und logisch Verschiedenwertigste
+&mdash; faßt Vaihinger unter den Begriff "Fiktion" zusammen; so ergibt
+sich in letzter Linie die Lehre, daß die F i k t i o n sozusagen der
+tragende Grund und Sinn der Welt selber sei, und daß zwischen
+Erkenntnis und Dichtung (Vaihinger war von A. Lange ausgegangen und
+erweitert im Grunde nur dessen an Fr. Schillers philosophischen
+Gedichten gewonnene "Begriffsdichtungs" gedanken von der Metaphysik auch
+auf die exakte Wissenschaft) im letzten Grunde nur der einzige
+Unterschied sei, daß die e i n e Fiktion praktisch brauchbar sei, die
+andere nicht und nur der Betrachtung und dem ästhetischen Genusse
+diene. Dazu trat, wie gesagt, der Einfluß Nietzsches. Dies ist der
+einzige konstatierbare Einfluß, den Nietzsche, der ja auch den "Wert
+der Wahrheit" in Frage gezogen hatte (siehe schon "Unzeitgemäße
+Betrachtungen") und im Willen zur Wahrheit nur eine Abart des "Willens
+zur Macht" sah, auf die rein theoretische Philosophie in Deutschland
+ausgeübt hat. In einzelnen wissenschaftstheoretischen Ausführungen ist
+Vaihingers Werk sehr anregend. Die Art, wie es die bekannten kantischen
+Als-ob-Wendungen und insbesondere die religionsphilosophische
+Postulatenlehre Kants interpretiert, halten wir mit W. Windelband für
+historisch grundirrig. Nach unserer Meinung haben diese Wendungen (z.
+B. man solle auf den kategorischen Imperativ hören, "als ob" er ein
+göttliches Gebot wäre) nur den Sinn, die sittlich praktische M o t i v
+i e r u n g der Realsetzung Gottes von Motivierung durch theoretische
+Begründung scharf zu unterscheiden. Die Realsetzung selbst ist aber auf
+diesem Wege bei Kant genau so ernst gemeint wie die Realsetzungen durch
+theoretische Erkenntnis; ja noch ernster &mdash; nämlich im Sinne von
+metaphysischer, nicht nur empirischer Realität; der Gedanke der
+"Fiktion" oder gar bewußter Fiktion liegt unseres Erachtens Kant völlig
+fern. Als Ganzes stellt nach unserer Meinung das Werk Vaihingers den
+größten Mißgriff dar, den die deutsche Philosophie in den letzten
+Jahrzehnten getan hat. Um so interessanter ist seine starke Verbreitung
+&mdash; ein wenig erfreulicher Ausdruck für die Mentalität weiter
+Kreise.</p>
+
+<p>Den neukantischen und positivistischen Schulen hat sich in den
+letzten Jahren eine im Wachsen befindliche r e a l i s t i s c h e
+erkenntnistheoretische Richtung entgegengestellt, die zugleich den
+Übergang bildet zu einer Reihe höchst bedeutsamer Versuche der W i e d
+e r e r w e c k u n g d e r M e t a p h y s i k (siehe dazu Peter
+Wust: "die Auferstehung der Metaphysik"). Diese Erscheinung ist nicht
+nur auf Deutschland beschränkt; auch in Frankreich, England und Amerika
+sieht sich der erkenntnistheoretische Idealismus und der
+positivistische Sensualismus immer mehr in den H i n t e r g r u n d
+gedrängt. (Vgl. dazu K. Oesterreich [sic]: "Die philosophischen
+Strömungen der Gegenwart".) Die neurealistischen Richtungen (einen
+Übergang zu ihnen bilden Riehl, Volkelt und E. v. Hartmann) gehen in
+ihrer Art der Begründung des Realismus freilich noch weit auseinander.
+Im großen ganzen lassen sich unterscheiden die Formen des
+altscholastischcn Realismus, des kritischen Realismus und des
+intuitiven und voluntativen Realismus. Gerade die historisch älteste
+dieser realistischen Formen, der scholastische Realismus, gewinnt in
+gewissem Sinne gegenwärtig wieder neues Interesse. Wie ich schon sagte,
+ist es ein eigentümliches Zeichen der letzten Philosophie, daß
+überhaupt die scholastische Philosophie in lebendigen Denkverkehr mit
+der modernen Philosophie getreten ist. Ein Grund dafür ist, daß die
+moderne Philosophie auf ganz verschiedenen Punkten rein aus sich selbst
+heraus auf manche scholastische Positionen gekommen ist. So gleicht zL.
+B. der Versuch Bergsons, in seinem Buche "Gedächtnis und Materie" zu
+zeigen, wie ein ursprünglich unmittelbar gegebenes S e i n in die
+Menschenerfahrung erst eingeht, um in ihr nach einer Reihe von
+Richtungen deformiert zu werden; gleichen ferner die amerikanischen
+neurealistischen Versuche (F. J. E. Woodbridge, E. B. Mc Gilvary u. a.)
+methodisch dem altscholastischen Vorgehen, die Erkenntnis ihrem Wesen
+nach auf ein Seinsverhältnis, d. h. die Teilnahme eines Seienden an
+einem anderen, zurückzuführen. Bergsons und anderer Versuche (auch
+Meinong und H. Schwarz in seinem Buche "Die Umwälzung der
+Wahrnehmungshypothesen" wären hier zu nennen), die Lehre von der O b j
+e k t i v i t ä t der Sinnesqualitäten wieder neu zu begründen, haben
+gleichfalls erkenntnistheoretisch in die Nähe der scholastischen
+Positionen geführt. H. Driesch kam durch seine modifizierte
+Wiedereinführung des aristotelischen Entelechiebegriffs in der
+Bearbeitung der Probleme des organischen Lebens gleichfalls der
+Scholastik weit entgegen. Andererseits hat die scholastische
+Philosophie in den letzten Jahren auch in unserem Lande Vertreter
+gefunden, die es wohl verstanden, sich der modernen Probleme von ihrem
+Standort aus scharfsinnig zu bemächtigen. Abgesehen von den neuen
+Erschließungen und Interpretationen bisher unbekannter Teile der
+mittelalterlichen Philosophie, die wir an erster Stelle Grabmann (siehe
+besonders seine höchst wertvolle "Geschichte der scholastiscben
+Methode" und seine Neueditionen) und den Forschungen Baeumkers und
+Baumgartens und dieser beider Schüler verdanken, sind auch
+selbständigere systematische Denker auf scholastischem Boden neuerdings
+hervorgetreten, so z. B. der verdiente E. L. Fischer, ferner Lehmen und
+besonders J. Geyser, der in seinen der Psychologie, der Logik, der
+Erkenntnistheorie und der Metaphysik gewidmeten Arbeiten, ferner in
+seinem Buche über Husserl und eine Verknüpfung ("Neue und alte Wege der
+Philosophie") der scholastischen Lehre mit der modernen Philosophie
+anstrebt. Das große psychologische Sammelwerk von Fröbes und die
+Arbeiten des aus der Külpeschen Schule hervorgegangenen
+Experimentalpsychologen Lindworsky (besonders "Das schlußfolgernde
+Denken", 1916, "Experimentelle Psychologie", 1921) haben ferner die
+scholastischen Positionen mit der ganzen Experimentalpsychologie eng
+verknüpft. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind freilich die
+Neuscholastiker in Deutschland mehr dem sogenannten "kritischen
+Realismus", der eine reale Welt erst mittels schließender Denkakte
+gewinnen will, zugeneigt, als dem altscholastischen Standpunkt, der
+schon in der Sinneswahrnehmung eine unmittelbare Erfassung realer
+Gegenstände erblickt und der überdies auf das Problem der modernen
+Philosophie: "Wie kommen wir zu einer realen Außenwelt?" von seinem
+Ausgangspunkte im Grunde gar nicht kommen kann, da er im Gegensatz zur
+modernen Philosophie (seit Descartes) von der primären Gegebenheit
+eines Seienden ausgeht und von ihm auch erst durch die Scheidung das
+ens reale vom ens intentionale die Möglichkeit von Bewußtsein und
+Erkenntnis verständlich machen möchte. Aber auch der altscholastische
+Realismus hat gegenwärtig eine alle wesentlichen Tatsachen der
+Sinnesphysiologie und Sinnespsychologie und alle bisher für die
+sogenannte sekundäre Natur aller oder einiger Sinnesqualitäten
+vorgebrachten Argumente berücksichtigende, sehr scharfsinnige und
+beachtenswerte Darstellung gefunden in Josef Gredts beiden Büchern: "De
+cognitione sensuum externorum", Rom 1913, und in deutscher Sprache in
+dem kürzlich erschienenen "Unsere Außenwelt, eine Untersuchung über den
+gegenständlichen Wert unserer Sinneserkenntnis" (1921). Der vom
+Verfasser vertretenen realistisch gerichteten Phänomenolgie ist trotz
+verschiedenen Ausgangspunktes der Standpunkt Gredts, nach dem auch der
+kritische Realismus, wenn er einmal die Gegenständlichkeit und Realität
+der unmittelbaren Sinneserkenntnis leugnet, notwendig in die
+Konsequenzen des vollständigen Idealismus getrieben werde, ähnlicher
+als der sogenannte "kritische Realismus" vieler Neuscholastiker (z. B.
+Mercier, Hertling und Geyser). Schon Otto Liebmann hatte einmal
+bemerkt, daß alle Ergebnisse der Naturforschung im Begriffssystem der
+aristotelischtn Metaphysik und Erkenntnislehre Platz hätten. Und in der
+Tat ist es ein großes Vorurteil, zu meinen, die Fortschritte einer
+ihrer Grenzen eingedenken positiven Wissenschaft könnten o h n e
+Zuhilfenahme rein philosophischer Wesenuntersuchungen über
+metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen überhaupt etwas Letztes
+entscheiden. Der ausgezeichnete französische mathematische Physiker und
+Historiker der theoretischen Physik, Pierre Duhem (sein Werk:
+"Geschichte der physikalischen Theorien", ist mit einer Vorrede von E.
+Mach auch in deutscher Sprache erschienen), hat Liebmanns Gedanken
+gewissermaßen in großem Maßstabe ausgeführt. Duhem suchte zu zeigen,
+daß gerade bei einer strengen mathematischen Formalisierung der
+theoretischen Physik die aristotelische Metaphysik mit der modernen
+Physik wohl vereinbar sei. Er hat stark auf den auch philosophisch bei
+uns wirksamen französischen Mathematiker H. Poincaré gewirkt
+("Wissenschaft und Hypothese", "Der Wert der Wissenschaft"), ist aber,
+mit ihm verglichen, der weitaus tiefere erkenntnistheoretische
+Denker.</p>
+
+<p>Den k r i t i s c h e n Realismus haben mit sehr verschiedenartiger
+Begründung in neuester Zeit eine große Reihe von deutschen Forschern
+neu zu begründen gesucht. Es seien hier genannt B. Erdmann, Meinong,
+Stumpf, Dürr, Oesterreich [sic], Messer, Störring, Freytag, Schlick,
+Becher, Troeltsch und vor allem O. Külpe in seinem zweibändigen (der
+zweite Band ist 1920 aus dem Nachlaß von Messer herausgegeben worden)
+Werke "Die Realisierung, ein Beitrag zur Grundlegung der
+Realwissenschaften"; ein dritter Band steht noch in Aussicht. Der
+Külpesche Versuch ist ohne Zweifel der ausgedehnteste, eingehendste und
+strengste, der seitens der kritischen Realisten zur Begründung ihrer
+These unternommen worden ist. Külpe gliedert die Hauptfrage in vier
+Unterfragen, deren Beantwortung er je einen Band widmen wollte: 1. Ist
+eine Setzung von Realem möglich? 2. Wie ist eine Setzung von Realem
+möglich? 3. Ist eine Bestimmung von Realem möglich? 4. Wie ist eine
+Bestimmung von Realem möglich? Nach einer ausgezeichneten und
+tiefdringenden kritischen Durchmusterung und Widerlegung der
+verschiedenen Formen des erkenntnistheoretischen Idealismus und
+positivistischen "Wirklichkeitsstandpunktes" im ersten Band untersucht
+Külpe im zweiten Band die in der Wahrnehmung und die in rationalen
+Grundsätzen und ihrer denkenden Anwendung gelegenen Gründe und endlich
+die "gemischten Gründe" für die Setzung einer Realität. De Prüfung der
+sechs rationalen Gründe ergibt deren Insuffizienz. Man kann weder von
+der induktiven Regelmäßigkeitsvoraussetzung (wie z. B. Becher), noch
+durch Schluß auf eine transzendente Ursache unserer Wahrnehmung, noch
+vom Ich auf ein vermeintlich begrifflich notwendig dazugehöriges
+Nichtich, noch von der bloßen (gegen Berkeley und W. Schuppe
+festgehaltenen) Widerspruchslosigkeit des Gedankens einer
+bewußtseinsunabhängigen Welt, noch vor dem Transzendenzbewußtsein
+unserer Denkakte (z. B. auch Erinnerungsakte) aus (wie es W. Freytag
+versuchte), noch von der ökonomischen Zweckmäßigkeit der Annahme einer
+realen Außenwelt auf deren Existenz schließen. Auch die in der
+Wahrnehmung im Unterschiede zu den "Vorstellungen" gelegenen immanenten
+Merkmale lassen nicht ohne weiteres eine reale Welt annehmen (wie es
+der altscholastische Realismus will); erst die "gemischten Gründe"
+sollen zum Ziel führen. Die Außenwelt müsse gesetzt werden: erstens als
+"Bedingung des von dem psychophysischen Subjekt in der Wahrnehmung
+Unabhängigen und als das Substrat der vorgefundenen selbständigen
+Gesetzlichkeit der Wahrnehmungen". Külpes Versuch bezieht sich nicht
+nur auf die Realität der Natursetzung, sondern umfaßt auch das Problem
+einer von der Beschreibung der Bewußtseinserlebnisse verschiedenen
+Realpsychologie, ferner auch das Problem der Realität des
+Vergangenheits- und Fremdbewußtseins und damit auch des
+Realitätsproblems in den Geisteswissenschaften. Wie immer man zu Külpes
+Werk im einzelnen stehen mag (der Verfasser kann sich nicht überzeugen,
+daß, wenn w e d e r in der Wahrnehmung für sich noch im Denken für sich
+Gründe zur Annahme einer realen Welt gelegen sind, sie in einer bloßen
+"Mischung" beider Momente gelegen sein könne), so verdient die
+ausgezeichnete Arbeit des vortrefflichen, für die Wissenschaft viel zu
+früh heimgegangenen Forschers doch die allerernsteste Beachtung und
+Würdigung.</p>
+
+<p>Der Richtung des intuitiven Realismus ist zuzuzählen vor allem die
+auch in Deutschland stark wirksame Philosophie H. Bergsons, ferner der
+in dem Buche "Die Grundlegung des Intuitivismus" niedergelegte
+Standpunkt des beachtenswerten russischen Philosophen Losskij. Obgleich
+der Realismus in der Weise dieser beiden Forscher aus dem Grunde nicht
+durchführbar sein dürfte, da uns Intuition, soweit es eine solche neben
+mittelbarem Denken und Sinneswahrnehmung gibt, nur d a s e i n s f r e
+i e s W e s e n (und Wesenszusammenhänge) geben kann, verdienen doch
+auch ihre Lehren ernstlichste Beachtung. Für die Existenz des fremden
+Bewußtseins überhaupt ohne Existenzsetzung eines bestimmten so oder
+anders beschaffenen Ichs nahmen neuerdings auch Scheler (siehe
+"Formalismus in der Ethik" und sein Buch "Über Sympathiegefühle",
+Anhang) und in etwas anders gefärbter Weise J. Volkel (siehe sein Buch
+"Über das ästhetische Bewußtsein") intuitive Evidenz in Anspruch. Für
+die Begründung einer R e a l p y s c h o l o g i e traten außer Külpe
+auch ein Scheler (siehe "Idole der Selbsterkenntnis" in "Abhandlungen
+und Aufsätze"), M. Geiger und H. Driesch ("Fragment über den Begriff
+des Unbewußten und die psychische Realität", 1921).</p>
+
+<p>Die Richtung des v o l u n t a t i v e n R e a l i s m u s ist
+vor allem &mdash; ich sehe hier ab von ihren historischen Vorformen bei
+Maine de Biran, Bouterweek und Schopenhauer &mdash; in neuester Zeit in
+einer Akademieabhandlung von Dilthey, Frischeisen-Köhler (siehe
+"Wissenschaft und Wirklichkeit", 1912), Scheler und E. Jaensch ("Über
+die Wahrnehmung des Raumes", Anhang) vertreten worden. Nach dieser
+Auffassung führt erst das unmittelbare Widerstandserlebnis
+irgendwelcher Gegenstände als wirklicher und möglicher "Widerstände"
+zur Setzung einer Realität überhaupt. Erst die Zuweisung eines in
+seinem Sosein schon bestimmten Gegenstandes in die zuvor schon gegebene
+S p h ä r e d e s R e a l e n ist von der Einreihbarkeit des
+Gegenstandes in gesetzliche Beziehungszusammenhänge (je nach dem Wesen
+der Gegenstände verschiedener Artung) abhängig. Analog sind nach
+Scheler die fünf Sphären: "Außenwelt", "Innenwelt", "Leib",
+"Fremdbewußtsein", "Gottheit", in de ein bestimmtes Reales
+hineingesetzt wird, als Sphären jedem endlichen Bewußtsein "vor" jeder
+bestimmten Erfüllung mit Inhalten unmittelbar anschaulich gegeben.</p>
+
+<p>Dem Denken kommt nur die Rolle zu, die Daseinsbestimmung einer
+bestimmten Realität vorzunehmen, soweit solche über die unmittelbare
+Erfahrung hinausgeht.</p>
+
+<p>Viel zu wenig beachtet ist nach Meinung des Verfassers innerhalb der
+engeren Philosophenkreise die ungemeine Befruchtung, die für alle
+Gebiete der Philosophie von der g e g e n w ä r t i g e n Psychologie
+mit Einschluß der Experimentalpsychologie auszugehen vermöchte, wenn
+ein tieferes Verständnis und eine größere gegenseitige Beachtung ihrer
+Arbeiten zwischen Philosophen und Psychologen stattfände. Dieselbe
+Forderung stellten neuerdings E. Jaensch, Krüger, Marbe, ferner die
+Schulen von C. Stumpf und Külpe. Die moderne Psychologie begann ihr
+Werk mit einseitiger Untersuchung der Empfindungstatsachen und mit
+Problemen der Größenmessung. Da diese Art der älteren
+Experimentalpsychologie sich bald eine Reihe philosophischer Lehrstühle
+anzueignen wußte, entstand in den engeren Philosophenkreisen ein
+gewisser Arger und, damit verbunden, auch eine weitgehende
+Nichtbeachtung ihrer Arbeiten. Man sagte: Diese neue Psychologie ist
+eine Spezialdisziplin der Naturwissenschaft; sie sei der Medizin und
+Sinnespsychologie zuzuweisen und habe mit Philosophie gar nichts zu tun
+oder doch nicht mehr wie irgendeine andere Spezialwissenschaft; darum
+gebührten ihr auch keine philosophischen Lehrstühle. Am schärfsten und
+im anmaßendsten Tone haben die Vertreter der Südwestdeutschen Schule
+dieser Meinung häufig Ausdruck gegeben. (Vgl. hierzu die treffenden
+Schilderungen dieser Dinge bei Fr. Krüger, "Über
+Entwicklungspsychologie", 1918.) Die zeitweise Herrschaft einer
+sogenannten "Psychologie ohne Seele" und einer strengen
+sensitivistischen und assoziationspsychologischen Auffassung der
+seelischen Tatsachen (die z. B. noch wesentliche Grundlage ist den in
+der Einzelbeobachtung ausgezeichneten Arbeiten über "Das Gedächtnis"
+von G. E. Müller in seinem großen Werke über "Das Gedächtnis") schien
+eine Zeitlang dieser Haltung neue Gründe zuzuführen. Dazu blieben die
+langwierigen, philosophischen Streitigkeiten über "psychophysischen
+Parallelismus" und "Wechselwirkung", die nur von allgemeinsten
+"Prinzipien", sei es der Erkenntnistheorie, sei es neugefundener
+physikalischer Wahrheiten ausgingen, (z. B. Vereinbarkeit des seit den
+Arbeiten von Rubner und Atwater auch für den organischen Austausch von
+Nahrung und Arbeit nachgewiesenen Satzes von der Erhaltung mit einer
+psychophysischen Wechselwirkung) nicht nur überaus unfruchtbar,
+sondern, was noch weit schlimmer war, ohne jeden fühlbaren Anschluß an
+die T a t s a c h e n f o r s c h u n g der empirischen und
+experimentellen Psychologie. Nun haben sich aber diese Verhältnisse mit
+der Zeit so g r u n d s ä t z l i c h und t i e f gewandelt, daß die
+antipsychologische Haltung vieler Philosophen jeder sinnvollen
+Grundlage entbehrt. Der sogenannte "Psychologismus", der für die
+Philosophie eine Zeitlang eine Gefahr scheinen mochte, ist beute
+grundsätzlich abgetan. Die Entwicklung zeigte ferner, daß, wie auch B.
+Erdmann in seiner "Reproduktionspsychologie" treffend betont hat, eine
+wirklich vollständige Ablösung der Psychologie von der Philosophie gar
+nicht möglich ist. Selbst bei den elementarsten Untersuchungen über
+Empfindungstatsachen (siehe z. B. den besonders von Köhler geförderten
+Streit über die Existenz "unbemerkter Empfindungen"), ferner in allen
+Fragen, welche nicht aufeinander zurückführbaren G r u n d a r t e n
+s e e l i s c h e r V e r k n ü p f u n g e n es überhaupt gebe,
+läßt sich die Philosophie gar nicht ausschalten. Auch die Meinung, es
+ließe sich eine empirische Psychologie errichten ohne bestimmte,
+erkenntnistheoretische oder metaphysische Überzeugungen über das "Ich",
+und sein reales Substrat hat sich gerade durch die Arbeiten der
+gegenwärtigen Philosophie und Psychologie als ganz falsch erwiesen. Die
+"Psychologie ohne Seele" gehört heute bereits der Geschichte an und
+nicht minder die Herrschaft der Meinung, die Psychologie könne sich mit
+der Schilderung bloßer Bewußtseinserscheinungen begnügen, und es könne
+zwischen diesen selbst ein reales kausales Band aufgefunden werden. Da
+ferner die moderne Psychologie sich längst von der einseitigen
+Empfindungsforschung abgewandt hat und mit unter Anregung der
+Husserlschen logischen Arbeiten sich der experimentell unterstützten
+systematischen Selbstbeobachtung (bei der nicht der Versuchsleiter,
+sondern die psychologisch geschulte Versuchsperson die psychologische
+Beobachtung und Erkenntnis vollzieht im Gegensatz etwa zu bloßen
+sogenannten Reaktionsversuchen) auch der höheren psychischen Funktionen
+des Wollens (N. Ach, Lindvorsky) und des Denkens (Külpe, Bühler,
+Störring, Lindworsky, Selz, Grünbaum) zugewandt hat, besteht nicht der
+mindeste Grund mehr, die Experimentalpsychologie etwa der
+Sinnespsychologie oder der Medizin oder überhaupt der
+"Naturwissenschaft" zuzuweisen. Die von Dilthey, ferner von der
+Phänomenologie und von K. Jaspers (siehe seine "Psychopathologie" und
+sein neuestes Werk über "Psychologie der Weltanschauungen") auch mit in
+de Psychiatrie hineingetragene Frage, wie sich die "Sinnzusammenhänge"
+des Seelenlebens von den "psychophysischen Kausalzusammenhängen"
+unterscheiden, und welche der beiden Arten von Psychologie (verstehende
+oder erklärende Psychologie) Grundlage für die Geisteswissenschaften
+sei, hat die Psychologie wieder in allerengste Verbindung mit der
+Philosophie geführt. Die von Chr. Ehrenfels und Cornelius auf dem Boden
+einer philosophischen Psychologie angeregten Probleme einer autonomen G
+e s t a l t g e s e t z l i c h k e i t der ursprünglichsten
+psychischen Gegebenheiten sind von Külpe, Bühler, Wertheimer, Koffka,
+Benussi, Gelb, Köhler und anderen in überaus wertvollen und für de
+Philosophie überaus wichtigen experimentellen Arbeiten so intensiv
+gefördert worden, daß die Philosophie sehr übel daran täte, wollte sie
+sich um diese Dinge nicht ernsthaft kümmern. Wie sehr die hier
+neuaufgedeckten Tatsachen und Probleme auch für die philosophische
+Klärung des Problems von Körper und Seele wichtig sind, zeigt die auf
+seinen Bewegungsarbeiten ursprünglich fußende neue Theorie von
+Wertheimer, daß als gehirnphysiologische Grundlage auch jeder
+einfachsten Wahrnehmung (die stets durch einen Aufmerksamkeitsfaktor
+mitbedingt und, nach ihrem Inhalt hin betrachtet, nie bloß "reine
+Empfindung", sondern immer schon "Gestalt" ist), ein sogenannter
+"Querprozeß" zwischen den gereizten Nervenenden der Gehirnrinde
+notwendig sei. Als eine neue sehr zu begrüßende Sammelstelle der neuen
+gestaltpsychologischen Richtung erscheint jetzt die eben gegründete
+Zeitschrift "Psychologische Forschung" (Springer 1921), besonders von
+Koffka, Köhler, Wertheimer, Goldstein, Gruhle, Köhler, der den Fragen
+der Relations- und Gestalterfassung auch auf dem Boden der
+Tierpsychologie in seinen auf der Station von Teneriffa gemachten
+optischen Versuchen an Affen nachgegangen ist (Schriften der
+Preußischen Akademie, Jahrgang 1915 und 1918 physik.-math. Klasse).
+Köhler hat durch sein neuestes Buch über "Physische Gestalten" (1921)
+das Wertheimersche Problem einem höchst bedeutsamen und für die gesamte
+Naturphilosophie wichtigen Zusammenhang eingereiht, indem er auch auf
+rein physikalischem Boden (Elektrostatik) nach einer selbständigen
+Gestaltgesetzlichkeit (die sich in summenhafte Kausalität nicht
+auflösen läßt) A n a l o g i e n für psychischen Gestalten aufsuchte.
+Endlich ist seit Brentanos "Psychologie vom empirischen Standpunkt" das
+insbesondere von E. Husserl und Karl Stumpf "Erscheinungen und
+Funktionen" (1906) neu aufgegriffene Problem entstanden, ob und wie
+weit A k t e u n d F u n k t i o n e n eine von "Erscheinungen"
+unabhängige variable Natur und Gesetzmäßigkeit besitzen und eine ganz
+neue Richtung der "Psychologie", die sogenannte Aktpsychologie, hat
+sich an diese Arbeiten angeschlossen. T. Konstantin Oesterreich hat
+sich in seinem grundlegenden Werke zur "Phänomenologie des Ich" ihr
+angeschlossen. Es gibt nach meiner Meinung kein wichtigeres und
+dringlicheres Desiderat für die künftige Philosophie und Psychologie
+als eine eingehende philosophische Durchleuchtung der durch die
+Resultate der verschiedenen psychologischen Diszipline gewonnenen
+Tatsachenerkenntnisse. Der Verfasser hat es sich mit zu einer
+Hauptaufgabe gesetzt, in einer Arbeit, die er unter der Feder hat,
+diese Dinge zu fördern. Endlich verdienen auch neue Z w e i g e, die in
+den letzten Jahren aus der Psychologie hervorgewachsen sind, genaue
+philosophische Beachtung. So die Pathopsychologie, die durch den Krieg
+(Kopfschüsse und Gehirnverletzungen) mächtig gefördert wurde, die
+neuere Tierpsychologie, die von W. Stern angebahnte differentielle
+Psychologie, die zukunftsreiche "Entwicklungspsychologie" Krügers,
+nicht minder auch die Religionspsychologie und die erst neuerdings
+besonders von Oesterreich, Dessoir, Driesch endlich auch in Deutschland
+aufgegriffenen Tatsachen und Probleme der Parapsychologie, d. h. der
+Psychologie der sogenannten okkulten Phänomene (siehe dazu besonders
+Oesterreich: "Probleme der Parapsychologie" und sein Buch über
+"Besessenheit", ferner Max Dessoir: "Das Jenseits der Seele"). Die
+Forscher, die sich gegenwärtig in der Richtung auf eine philosophische
+Durcharbeitung des neuen mächtig angewachsenen psychologischen
+Erkenntnismaterials bewegen, sind vor allem E. Husserl, W. Stern, E.
+Jaensch, Wertheimer, Köhler, Grünbaum, Lindworsky, Scheler, Driesch,
+Selz, Kronfeld, Koffka, Th. Haering. Wir sind überzeugt, daß auf diesem
+Wege sich eine weit tiefer gehende, freilich auch erheblich
+kompliziertere abschließende Theorie über den Z u s a m m e n h a n g
+ v o n L e i b u n d S e e l e ergeben wird, als es durch die leeren
+Prinzipienstreitigkeiten der Vergangenheit über Wechselwirkung und
+Parallelismus je der Fall sein konnte. Schon jetzt scheiden sich meines
+Erachtens drei nicht weiter aufeinander zurückführbare Gruppen von
+Verknüpfungsarten und Gesetzen geistig psychischer Geschehnisse (resp.
+Akte): 1. die mechanisch assoziativen, 2. die biopsychischen, bei denen
+es allein konkrete zielmäßige Ganzkausalität gibt, 3. die poetischen
+Intentionalgesetzlichkeiten, denen überall parallele Gegenstands-(resp.
+Wert-) gesetzlichkeiten entsprechen.</p>
+
+<p>Wenden wir uns nun den jüngsten Schichten der gegenwärtigen
+Philosophie, die zum größten Teil erst im 20. Jahrhundert ihren
+Ursprung haben oder doch in ihm ihre stärkere Auswirkung fanden, zu, so
+sind es weniger geschlossene S c h u l e n als einzelne
+Persönlichkeiten, welche der Philosophie die Richtung auf einen neuen
+Sachkontakt und gleichzeitig auf den Wiederaufbau der Metaphysik
+gegeben haben. Einen Übergang zu dieser neuen Artung von Philosophie
+bildet Wilhelm Dilhey (1833-1912) und die Forschergruppe, die von ihm
+ausgegangen ist. Dilthey selbst war zeit seines Wirkens von
+geschichtlichen und philosophischen Interessen gleichzeitig bewegt.
+Eine in manchen Zügen dem romantischen Geistestypus verwandte, ungemein
+reiche, zarte, genialische, aber auch problematische Natur (selten
+schloß er ein Werk ganz ab), schüttelte er in seiner Entwicklung nur
+langsam und nie vollständig die Ketten des historischen Relativismus
+von sich ab. Aber was er in seinen stets tiefdringenden, gelehrten und
+vor hellen intuitiver Erkenntnisgesichten erfüllten Abhandlungen gab,
+das trug, gleichgültig, ob er sein Grundproblem, "die Kritik der
+historischen Vernunft", ob er philosophiegeschichtliche oder
+literatur- und kunstwissenschaftliche oder philosophiesystematische
+Probleme behandelt, stets reiche Frucht. Auf sein bereits der
+Geschichte angehöriges Werk, das jetzt in seinen noch nicht ganz
+herausgegebenen gesammelten Schriften vorliegt, kann hier nicht
+eingegangen werden. Alle heutigen Versuche, eine "verstehende
+Psychologie" aufzubauen (Jaspers, Spranger, Scheler, Nohl,
+Schmied-Kowarcik und auch die hierhergehörigen Versuche der jüngeren
+Phänomenologen), wären ohne seine Wirksamkeit undenkbar gewesen. In
+seinem Versuche, die Erkenntnistheorie von "der Totalität des
+menschlichen Wesens" her, nicht nur von dem "verdünnten Saft bloßer
+Denktätigkeit" aus aufzubauen und (hierin den Positivisten ähnlich) die
+Erkenntnistheorie eng zu verbinden mit einer historischen Phasen- und
+einer Typenlehre der menschlichen Erkenntnis- und der
+philosophisch-metaphysischen Weltanschauungsformen, hat er in
+Frischeisen-Köhler seinen Hauptschüler gefunden. Sein Interesse an der
+Typologie der geistigen G e s t a l t e n des Menschentums, das er in
+zahlreichen Aufsätzen bekundet hat, und seine Ideen auf diesem Gebiet
+haben besonders Eduard Spranger stark angeregt. Sprangers jetzt in
+zweiter erheblich erweiterter Auflage erschienenes Buch über
+"Lebensformen" (1921) ist eine der reichsten und feinsinnigsten
+Abhandlungen verstehender Psychologie und zugleich typologischer
+angewandter Ethik, die wir auf diesem Gebiete besitzen. G. Wisch hat in
+seiner "Geschichte der Selbstbiographie", die freilich noch unvollendet
+ist, ein Problem ergriffen, das für die Frage der Abhängigkeit der
+Selbstauffassung des Menschen von seiner geschichtlichen Umwelt und den
+in ihr herrschenden Wertstrukturen von großer Bedeutung ist. H. Nohl
+hat Diltheys Ideen über die Weltanschauungstypen in der Philosophie,
+der dauernde Typenunterschiede des Menschentums entsprechen sollen und
+die in der Geschichte sich gleichsam mit nur immer neuem
+Erkenntnisstoff, der wachsenden Menschenerfahrung gemäß, ausfüllen, mit
+Glück auf das Gebiet des Studiums der künstlerischen Darstellungsformen
+übertragen. Der Metaphysik gegenüber verhielt sich Dilthey bis zu
+seinem Lebensende skeptisch. Er hielt sie im Gegensatz zur positiven
+Wissenschaft und zum religiösen Bewußtsein für eine nur historische
+Kategorie, die einmal völlig aus der Geschichte ausscheiden werde. Das
+vor allem macht gleichzeitig seine Verwandtschaft und seinen Gegensatz
+zum Positivismus aus, dessen geschichtsmethodische und philosophische
+Anschauungen er mit den deutschen, aus der Romantik entsprungenen
+Geschichtsauffassungen eigenartig zu verknüpfen suchte (siehe besonders
+"Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften",
+1910). Allen seinen Schülern wußte er mehr zu vermitteln als bloße
+Lehre &mdash; auch etwas von seiner eigenen bedeutenden geistigen Form
+und Gestalt. Obgleich ihm Genauigkeit und Strenge in der
+Erkenntnistheorie fehlte, wie überhaupt eine letzte klare Basis für
+seine rein philosophischen Bestrebungen, hat er die Theorie der
+Geisteswissenschaften doch ungleich mehr befruchtet als die
+Südwestdeutsche Schule. Schon durch seine andersgeartete
+Problemstellung, die nicht "Logik der Geisteswissenschaften" (es gibt
+nur e i n e Logik), sondern die materialspendenden Quellen des
+historischen Denkens, d. h. die verschiedenen Stufen und Arten des V e
+r s t e h e n s fremden Erlebens, in den Mittelpunkt der Untersuchung
+gerückt hat, ist sein Unternehmen dem der Badischen Schule weit
+überlegen.</p>
+
+<p>Die bedeutsamste und wirksamste philosophische Bewegung der
+Gegenwart ist von der Jahrhundertwende ab in der sogenannten "P h ä n o
+m e n o l o g i e" aufgetreten. Das Wort darf vor allem nicht mit dem
+sogenannten "Phänomenalismus" (d. h. der Lehre z. B. Kants, daß wir nur
+"Erscheinungen", nicht die Dinge selbst erkennen) in Beziehung gebracht
+werden. Nicht der Gegensatz von "Wesen" und "Erscheinung", sondern der
+schon in der Scholastik als "grundlegend erkannte Gegensatz" von
+"existentia" und "essentia". "Wesen" und "Dasein" beherrscht das Denken
+dieser Forschergruppe; ferner deutet das Wort "Phänomenologie" an, daß
+es sich bei der Aufsuchung der in der Welt realisierten Wesenheiten
+(essentiae) vor allem um unmittelbar anschaulichen A u f w e i s
+handeln soll. Den Ausgangspunkt für diese Bewegung, die sich freilich
+in ihrem schwer durchschaubaren und auch aus Raummangel nicht zu
+schildernden Ablauf von überaus verschiedenen geschichtlichen
+Einflüssen genährt hat, bildete das Werk Edmund Husserls "Logische
+Untersuchungen", 2 Bände (2. Aufl. 1921). Der erste Band dieses überaus
+wirksamen Werkes galt einer Neubegründung der Logik. Jede Art von
+Empirismus, Psychologismus, Relativismus, Anthropologismus,
+Subjektivismus, den die herkömmliche Logik in sich aufgenommen hatte,
+wurde bis in seine letzten Schlupfwinkel verfolgt und aus der Logik zu
+entfernen versucht. Die logischen Wahrheiten sind nach Husserl streng
+evidente Gegenstandswahrheiten, die von aller Konstitution und etwaiger
+Veränderung der menschlichen Natur u n a b h ä n g i g sind. So war es
+vor allem der siegreiche Kampf gegen den bei J. St. Mill, Sigwart,
+Erdmann, Wundt und auch bei der sogenannten "normativen Logik" noch
+vorliegenden "Psychologismus", dem das Werk seine große Wirksamkeit
+verdankte. Obgleich dieser Band an erster Stelle reine Sachuntersuchung
+ist, hat er doch historische Anknüpfungspunkte; sie liegen, wie
+Grabmann gezeigt hat, schon in der Scholastik, soweit sie die
+platonisierende Richtung einhält (z. B. bei Bonaventura). Ferner haben
+Leibniz und sein später bis zu Husserls Wiederentdeckung völlig
+unbekannter Schüler, der große Logiker und fruchtbare Mathematiker
+Bolzano, der den Urteilsakt und den Satz "Ansich" als ideale
+Seinseinheit unterschied, ferner auch Lotze in seinem Logikkapitel über
+die "Platonische Ideenlehre" und Herbart in seinen logischen
+Bestrebungen analoge Ideen ausgesprochen. Die vollständige
+Vernachlässigung, ja der prinzipielle Ausschluß der Aktseite der
+Denkgebilde, und die im 1. Band herrschende Vorstellung, es könne unser
+Denken ohne Schaden für die Logik sogar etwa rein
+assoziationspsychologisch verstanden werden, läßt sich freilich n i c h
+t durchführen. Husserl selbst hat schon in seinem zweiten Bande diese
+Auffassung im Grunde stillschweigend zurückgenommen. Erst der zweite
+Band des Werkes brachte Untersuchungen, die in die Richtung der
+späteren Phänomenologie geführt haben, die indes hier noch mit
+deskriptiver Psychologie des Denkers identifiziert wird. Die zwei
+wichtigsten Bestandteile dieses zweiten Bandes bestehen in der
+ausgezeichneten und strengen Widerlegung aller seit Locke, Hume und
+Berkeley von einem großen Teil der modernen Philosophie bis zur
+Gegenwart fast wie selbstverständlich aufgenommenen nominalistischen
+Bedeutungs- und Begriffstheorie und in der sechsten Untersuchung,
+betitelt "Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis",
+die in ihrem zweiten Abschnitt den wichtigsten Begriffsgegensatz der
+"sinnlichen und kategorialen Anschauung" einführt, der nach meiner
+Meinungen u n m i t t e l b a r s t e n Ausgangspunkt für die
+Entstehung der Phänomenologie gebildet hat. Als der Verfasser im Jahre
+1901 in einer Gesellschaft, die H. Vaihinger in Halle den Mitarbeitern
+der "Kantstudien" gegeben hatte, Husserl zum erstenmal persönlich
+kennenlernte, entspann sich ein philosophisches Gespräch, das den
+Begriff der Anschauung und Wahrnehmung betraf. Der Verfasser,
+unbefriedigt von der kantischen Philosophie, der er bis dahin nahestand
+(er hatte eben schon ein halbgedrucktes Werk über Logik aus diesem
+Grunde aus dem Druck zurückgezogen), war zur Überzeugung gekommen, daß
+der Gehalt des unserer Anschauung Gegebenen ursprünglich weit reicher
+sei als das, was durch sinnliche Bestände, ihre genetischen Derivate
+und logische Einheitsformen an diesem Gehalt deckbar sei. Als er diese
+Meinung Husserl gegenüber äußerte und bemerkte, er sehe in dieser
+Einsicht ein neues fruchtbares Prinzip für den Aufbau der theoretischen
+Philosophie, bemerkte Husserl sofort, daß auch er in seinem neuen,
+demnächst erscheinenden Werke über die Logik eine analoge Erweiterung
+des Anschauungsbegriffes auf die sogenannte "kategoriale Anschauung"
+vorgenommen habe. Von diesem Augenblick an rührte die geistige
+Verbindung her, die in Zukunft zwischen Husserl und dem Verfasser
+bestand und für den Verfasser so ungemein fruchtbar geworden ist. Einen
+starken Zuwachs erfuhr die phänomenologische Bewegung in ihrer ersten
+Werdezeit dadurch, daß der ausgezeichnete und scharfsinnige Münchener
+Psychologe Th. Lipps durch die Einwirkung der "Logischen
+Untersuchungen" einen weitgehenden Umschwung seines ganzen Denkens
+erfuhr, der sich in seinen letzten Arbeiten klar kundtat. Diesen
+Umschwung machten seine hervorragendsten Schüler M. Geiger, A. Reinach,
+Pfänder und die ihnen nahestehenden jüngeren Forscher nicht nur mit,
+sondern sie schlossen sich, über Lipps überhaupt hinausgehend, den
+Husserlschen Positionen weitgehend an. So kam es schließlich zur
+Errichtung einer Sammelstelle für die phänomenologische
+Forschungsrichtung im "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
+Forschung", von dem bisher fünf Bände bei Niemeyer in Halle erschienen
+sind.</p>
+
+<p>Die Phänomenologie ist weniger eine abgegrenzte Wissenschaft als
+eine neue philosophische E i n s t e l l u n g, mehr eine neue T e c h
+n e d e s s c h a u e n d e n B e w u ß t s e i n s als eine
+bestimmte Methode des Denkens. Nur so wird es verständlich, daß die
+phänomenologische Bewegung nicht im selben Sinne die Einheit einer S c
+h u l e hervorgebracht hat, wie etwa die früher behandelten Kantschulen
+solche darstellen. Aus dem gleichen Grunde kann Phänomenologie nicht im
+selben Sinne als objektiver Wissensgehalt g e l e h r t werden, wie die
+Gedanken dieser Schulen. Nur durch fortgesetzte Ü b u n g dieser
+Bewußtseinshaltung ist es möglich, in die Ergebnisse der Phänomenologie
+tiefer einzudringen und selbst in ihr fortzuschreiten. Aus demselben
+Grund gehen auch die einzelnen, von Husserl angeregten Forscher und
+Forschergruppen in den R e s u l t a t e n viel weiter auseinander als
+die Angehörigen jener genannten Schulen, ohne doch darum ihre fühlbare
+Einheit, die eben in jener gemeinsamen neuen B e w u ß t s e i n s h a
+l t u n g liegt, verlieren zu müssen. Husserl selbst spricht, diese
+Bewußtseinshaltung charakterisierend, von einer "phänomenologischen
+Reduktion"; sie besteht darin, daß auf der Gegenstandsseite aller
+möglichen Gegenstände (physischer, psychischer, mathematischer,
+vitaler, geisteswissenschaftlicher Gegenstände) von dem zufälligen h i
+c e t n u n c D a s e i n d e r G e g e n s t ä n d e
+abgesehen und auf ihr pures W a s, das heißt ihr "W e s e n"
+hingeblickt wird; daß ferner analog der den Gegenstand erfassende
+intentionale Akt, aus dem psychophysischen Lebenszusammenhang des
+individuellen Menschen, der ihn vollzieht, gleichsam herausgelöst und
+gleichfalls nur nach seiner essentiellen Wasbestimmtheit
+charakterisiert wird. Diesen wesenserfassenden Akt, den unser geistiges
+Bewußtsein von Etwas vollzieht, nennt Husserl "Wesenschau" und
+behauptet, daß alle möglichen Theorien über das positive Wirkliche in
+solchen Wesenseinsichten und in Einsichten in solche
+Notwendigkeitsbeziehungen, die im G e h a l t e dieser "Wesen" selbst
+fundiert sind, ihren letzten tragenden Grund besäßen. Alle
+Wesenseinsichten, ob sie nun von psychischen oder von physischen oder
+von mathematischen Gegenständen handeln, sind, obgleich sie weder auf
+"eingeborenen Ideen" beruhen noch (wie nach Kant) bloße
+Funktionsgesetzlichkeiten der geistigen Akte, das heißt
+"Verstandsgesetze", ausdrücken gegenüber allem zufällig Wirklichen
+objektiv a priori gültig. Denn was immer von dem Wesen irgendwelcher
+Gegenstandsbereiche wahr ist und gilt, das muß auch gelten für alle
+möglichen Gegenstände dieses Wesens, soweit sie der zufälligen
+Daseinssphäre angehören. So begründet die Phänomenologie einen n e u a
+r t i g e n A p r i o r i s m u s, der nicht nur die rein formalen
+Sätze der Logik und der Axiologie in ihren verschiedenen
+Unterdisziplinen (Ethik, Ästhetik usw.) umfaßt, sondern auch materiale
+Ontologien entwickelt. Die Sphäre des apriorischen Wissens ist also in
+der Phänomenologie unvergleichlich reicher als im formalen Apriorismus
+Kants. Auch darin unterscheidet sich die Phänomenologie von Kants
+Lehre, daß sie das proton pseudos Kants verwirft, es müsse alles, was
+an Gegebenem n i c h t sensuell sei, erst durch eine hypothetisch
+angenommene, synthetische konstruierende Tätigkeit des Verstandes oder
+des Anschauens in den Erfahrungsgegenstand hineingekommen sein. Sie
+sucht das "Gegebene" überall möglichst s c h l i c h t, v o r u r t e i
+l s l o s und r e i n in möglichst dichte Anschauungsnähe zu bringen,
+um es dann durch phänomenologische Reduktion in sein W e s e n zu
+erheben. Das Apriori hat hier also keinen f u n k t i o n e l l e n S
+i n n mehr. (Freilich schwankt Husserl in seiner letzten Schrift
+"Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie" wieder über diesen
+fundamentalen Punkt.) Das Apriori ist, wie auch eine seiner Unterarten
+die kategorialen Formen, vielmehr Gegenstandsbestimmtheit, die von u n
+s e r e n Begriffen vom Apriori nicht genau zu unterscheiden ist.
+Ferner stellt das Apriori nicht mehr ein geschlossenes S y st e m von
+Einsichten dar, die sich voneinander herleiten ließen, sondern kann im
+Laufe der Entwicklung des Wissens immer neu vermehrt werden. Auch der
+Gegensatz von Erfahrung und Denken, um den die großen Richtungen der
+neuzeitlichen Philosophie, "Rationalismus" und "Empirismus", kreisen,
+ist hier von der Schwelle der Philosophie abgewiesen. Mit Recht hat
+Husserl immer wieder hervorgehoben, daß die Phänomenologie nicht nur
+die Einlösung sei alles Wahren, was die kontinentale rationalistische
+Richtung der Philosophie uns gegeben hat, sondern auch in gewissem
+Sinne die Einlösung aller Ansprüche des Positivismus. Auch das, was a
+priori evident ist, verdankt einem e r f a h r e n d e n (die
+Phänomenologie sagt hier "schauenden"), nicht einem schaffenden,
+formenden, konstruierendem Verhalten des Subjektes seine Erkenntnis,
+nur mit d e m Unterschied von aller Erkenntnis zufälliger (hic et nunc)
+Wirklichkeiten, daß das Ergebnis schauender Erfahrung durch die Q u a n
+t i t ä t der "Fälle", an denen Erfahrung sich vollzieht, nicht
+modifiziert werden kann. Nicht daher dem "Erfahren" überhaupt, sondern
+nur der Methode der B e o b a c h t u n g und der i n d u k t i v e n
+V e r a l l g e m e i n e r u n g an beobachtenden Fällen steht das
+phänomenologische Erfahren und "Schauen" gegenüber. Auch die
+Phänomenologie setzt so der Philosophie die Aufgabe, für alle ihre
+Disziplinen die a p r i o r i s c h e n W e s e n s - u n d I d e e
+n s t r u k t u r e n, die als objektiver Logos die gesamte
+Weltwirklichkeit durchflechten und (im Sinne der Gültigkeit)
+beherrschen, aufzudecken und alle positiven Wissenschaften und ihre
+materialen Seinsbereiche in dieser Struktur gemeinsam zu verwurzeln.
+Sie kann, geschichtlich gesehen, auch als eine Erneuerung eines i n t u
+i t i v e n P l a t o n i s m u s angesehen werden, freilich mit
+vollständiger Beseitigung der platonischen Ideenverdinglichung und
+aller mythischen Beisätze. Und es ist wohl verständlich, daß von dieser
+ihrer Eigenart her die Phänomenologie neuerdings auch mit der gesamten
+p l a t o n i s c h - a u g u s t i n i s c h e n Philosophie der
+patristischen und frühmittelalterlichen Philosophie, zum Teil aber auch
+mit dem Aristotelismus, stärkere Fühlung genommen hat. Freilich gehen
+in der Beantwortung sehr wesentlicher philosophischer Fragen und nicht
+weniger in der Auffassung und Methode der Phänomenologie selbst die ihr
+nahestehenden Forscher oft weit auseinander. Abgesehen von den
+Weltanschauungsgegensätzen unter den Phänomenologen, der zum Teil in
+verschiedenen religiösen Auffassungen gegründet ist, treffen wir z. B.
+eine mehr systematisch gerichtete und eine mehr auf
+Einzeluntersuchungen gerichtete Tendenz in der Phänomenologie. So
+wertvoll viele dieser Einzeluntersuchungen sind (besonders diejenigen
+Alexander Pfänders), so muß sich die Phänomenologie doch hüten, zu dem
+zu werden, was ich andernorts "Bilderbuchphänomenologie" genannt habe;
+ferner bestehen Gegensätze in der Auffassung jener, die, wie einst
+Husserl selbst, die Phänomenologie der beschreibenden Psychologie zu
+nahe rücken (z. B. Jaspers, Katz und Andere) oder hier doch nur ihre
+Fruchtbarkeit sehen wollen und jenen, die sie vor allem als a p r i o r
+i s c h e W e s e n s e r k e n n t n i s irgendwelcher &mdash; auch
+nicht bewußtseinimmanenter &mdash; Gegenstände auffassen. Am tiefsten
+aber ist der Gegensatz unter den Phänomenologen in den
+erkenntnistheoretischen Fragen. Er ist dadurch besonders gesteigert
+worden, daß E. Husserl in seinem letzten Werk über "Ideen" usw. sich
+dem erkenntnistheoretischen Idealismus Berkeleys und Kants, sowie der
+Ichlehre Natorps wieder bedeutend genähert hat und die Phänomenologie
+nur als Wesenslehre von den B e w u ß t s e i n s s t r u k t u r e n
+(die durch zufällige Erfahrungen unwandelbar sind) auffaßt;
+gleichzeitig aber, ähnlich wie Kant, diese Bewußtseinsstrukturen zu
+Voraussetzungen auch der Gegenstände der Erfahrung selber macht. Auch
+ihm werden so die Gesetze der Erfahrung der Gegenstände zugleich
+Gesetze der Gegenstände aller möglichen Erfahrung ("kopernikanische
+Wendung" Kants). Diese eigenartige Wendung Husserls, nach der auch bei
+Aufhebung aller Dinge ein "a b s o l u t e s B e w u ß t s e i n"
+erhalten bliebe, ist fast von allen den von ihm angeregten Forschern a
+b g e l e h n t worden und sie ist zugleich ein Haupthindernis für den
+Aufbau einer Metaphysik auf wesenstheoretischer Basis. Die Einwirkung
+der Phänomenologie auf die Philosophie der Gegenwart erstreckt sich auf
+alle philosophischen Disziplinen. Auf Ethik, Wertlehre,
+Religionsphilosophie und verstehende Psychologie hat die
+phänomenologische Einstellung in seinen Forschungen auch der Verfasser
+angewandt (siehe "Der Formalismus in der Ethik", "Phänomenologie der
+Sympathiegefühle", "Abhandlungen und Aufsätze", "Vom Ewigen im
+Menschen"); nach der Seite der Philosophie der Mathematik und der
+Grundlegung der Ästhetik Moritz Geiger (siehe Jahrbucharbeiten); nach
+der psychologischen und logischen Seite Alexander Pfänder (siehe
+gleichfalls Jahrbuch); nach der erkenntnistheoretischen und
+rechtsphilosophischen Adolf Reinach, ein überaus tiefgründiger und
+zukunftsreicher Forscher, der zum Schaden für die deutsche Wissenschaft
+im Kriege gefallen ist. (s. seine eben jetzt bei Niemeyer in Halle
+erschienenen, in einem Band zusammengefaßten Abhandlungen). Aber weit
+über diesen älteren und engeren Forscherkreis hinaus hat die
+Phänomenologie nicht nur eine Anzahl höchst zukunftsreicher jüngerer
+Forscher in ihren Reihen (hier seien nur D. von Hildebrand, Heidegger,
+Frau Connad-Martius, A. Koyré, W. Schapp, Leyendecker, E. Stein
+genannt), sondern hat weit darüber hinaus auch auf die gesamte
+Wissenschaft unserer Zeit stark eingewirkt. Aus der Südwestdeutschen
+Schule hatte sich ihr E. Lask, von Marburg her hat sich ihr N. Hartmann
+genähert. Brunswigg hat, von ihr ausgehend, ein wertvolles Buch über
+Psychologie der Relationen und eine für die Kantkritik wertvolle
+Schrift geschrieben. P. F. Linke hat die Phänomenologie für die
+Expenmcntalpsychologie fruchtbar zu machen gewußt (siehe "Grundfragen
+der Wahrnehmungslehre", 1918). Der theoretische Physiker und
+Mathematiker Weyl hat sein ausgezeichnetes Buch über die
+Relativitätstheorie Einsteins gleichfalls auf phänomenologischer Basis
+aufgebaut. Auch die Diltheyschule hat sich ihr, wie übrigens Dilthey
+kurz vor seinem Tode selbst, in mannigfacher Hinsicht genähert. Driesch
+ist in seiner "Ordnungslehre" weitgehend von ihr beeinflußt worden;
+auch auf de scholastische Philosophie blieb sie, wie Geysers "Alte und
+neue Wege der Philosophie" zeigen, nicht ohne Einfluß. Obgleich viele
+fundamentale Fragen der Philosophie in ihr noch ungeklärt sind, darf
+doch erhofft werden, daß von der Phänomenologie aus sich allmählich ein
+E i n h e i t s b o d e n d e r B e t r a c h t u n g f ü r d i
+e g a n z e P h i l o s o p h i e entwickelt, von dem aus eine neue
+universale Sachphilosophie, wie wir sie anfangs forderten, sich
+entfalten kann.</p>
+
+<p>In Oesterreich kommt die Brentanoschule (Marty, Höfler, Meinong) aus
+eigenen Antrieben einigen der phänomenologischen Tendenzen weitgehend
+entgegen. Marty, der Brentano am nächsten steht, ist vor wenigen Jahren
+gestorben; sein höchst wertvoller Nachlaß, besonders seine ausgedehnten
+Untersuchungen zur Sprachphilosophie und eine die Probleme von Raum und
+Zeit betreffende Arbeit ist vor kurzem bei Niemeyer (Halle) erschienen.
+Meinong, dessen geistige Entwicklung und Leistung am besten durch sein
+im Buch "die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen"
+gegebene, sehr schön geratene und jetzt nach seinem Tode besonders
+wertvolle Selbstdarstellung kund wird, hat in seiner neubegründeten
+"Gegenstandstheorie" gleichfalls das Ideal einer daseinsfreien
+aprioristischen Gegenstandserkenntnis entworfen, die seine Schüler,
+besonders Mally, weiter ausgebaut haben. Der Unterschied der
+Gegenstandstheorie von der Phänomenologie bleibt gleichwohl tiefgehend.
+Der Gegenstandstheorie fehlt vor allem der i n t u i t i v e C h a r
+a k t e r der Phänomenologie. In seinem letzterschienenen Buche über
+"Emotionale Präsentation" hat sich Meinong in der in diesem Buche neu
+behandelten Theorie der Werte und Wertungen dem Standpunkt erheblich
+genähert, den der Verfasser in seiner Ethik vertreten hat.</p>
+
+<p>Große Verwandtschaft, besonders mit der erkenntnistheoretischen
+realistisch gerichteten Phänomenologie weist ferner das Werk eines
+Mannes auf, der, viel zu wenig beachtet, einer der gründlichsten und
+originellsten Denker unter den gegenwärtigen Philosophen darstellt. Ich
+meine Johannes Rehmke, der in seiner "Grundwissenschaft" in seiner
+"Logik" und in seiner "Psychologie" gleichfalls von dem als "gegeben
+Gehabten" ausgeht und eine Ontologie des Gegebenen und seiner
+Grundformen zur Basis aller theoretischen Philosophie macht (siehe auch
+seine Selbstdarstellung in dem obengenannten Werke). Freilich blieb
+Rehmkes Einfluß bisher auf kleine Kreise beschränkt, so daß sie die
+Würdigung, die sie verdient, noch lange nicht gefunden hat.</p>
+
+<p>Unter den selbständigen Einzelpersönlichkeiten, die in der
+gegenwärtigen Philosophie hervorragen, sind besonders als W i e d e r e
+r w e c k e r d e r M e t a p h y s i k vier Namen zu nennen: W.
+Stern, H. Driesch, H. Schwarz und E. Becher.</p>
+
+<p>Alle Wiedererwecker der Metaphysik sind erkenntnistheoretische
+Realisten; alle wollen sie keine Metaphysik "aus reinen Begriffen"
+(Kant), sondern eine Metaphysik, die auf dem Boden der
+Erfahrungswissenschaft ruht, aber gleichzeitig in einer apriorischen
+Bedeutungslehre ein Sprungbrett besitzt, um mit Hilfe der Methode der
+Analogie über das direkt und indirekt Erfahrbare der positiven
+Wissenschaften noch hinauszugehen. Die Richtung der modernen
+metaphysischen Versuche geht im allgemeinen auf eine Neubegründung des
+T h e i s m u s hinaus. Ohne bewußte historische Anknüpfung nähert
+sich die Metaphysik so der deutschen Theistenschule der 50er und 60er
+Jahre (Weiße, Ulrici, H. Fichte, Lotze). So gehören Külpe, H. Schwarz,
+Brentano, Ehrenfels, Scheler, Driesch, Oesterreich, Becher, Jellinek,
+Stern unter den Vertretern der modernen Metaphysik der theistischen
+Gedankenrichtung an, wie verschieden sie auch je ihren Theismus und
+Personalismus begründen. Es ist also ein besonderes Merkmal der
+gegenwärtigen Metaphysik, daß sie im scharfen Gegensatz zur Metaphysik
+der klassischen Epoche (noch mit Einschluß E. von Hartmanns) auffällig
+u n p a n t h e i s t i s c h und stark p e r s o n a l i s t i s c h
+ist. Ich habe a.a.O. (siehe "Vom Ewigen im Menschen", Band 1) gezeigt,
+wie der moderne Pantheismus sich einmal durch die Entwicklung vom
+akosmistischen zum naturalistischen Pantheismus (Hegel bis zum modernen
+Modernismus), sodann durch Aufnahme immer neuer i r r a t i o n a l e r
+Faktoren in den Weltgrund (Schelling, Schopenhauer, von Hartmann,
+Bergson) in immer größerem Maße selbst zersetzt hat. Auch ist es wohl
+begreiflich, daß in einer so chaotischen und leidenden Zeit wie der
+unsrigen der Pantheismus (im Grunde eine Denkweise harmonisierend
+gerichteter synthetischer und abschließender Kulturzeitalter) keinerlei
+s e e l i s c h e A t m o s p h ä r e besitzt. Eine dritte Tendenz
+der modernen Metaphysik ist die Aufnahme der biologischen Grundfragen
+in das Zentrum der metaphysischen Probleme und eine gewisse, nach
+meiner Meinung zu starke Neigung, die metaphysischen Fragen besonders
+von dieser Seite her zu lösen (Bergson, Driesch, Stern).</p>
+
+<p>Neben dem Gottesproblem ist von der modernen Metaphysik auch die
+Seelenfrage und das Problem der Willensfreiheit eingehender behandelt
+worden. Auch in der Seelenfrage hat die theistische und
+antipantheistische Auffassung der Seele als selbständiger, tätiger
+Substanz wieder größeren Anhang erhalten (Stern, Driesch, Oesterreich,
+Külpe, Scheler, Becher). Vor allem aber ist die tiefgehende Wandlung
+des modernen metaphysischen Denkens an der Stellungnahme führender
+Forscher zum Problem der Willensfreiheit kenntlich. Während vor etwa
+zehn Jahren die mannigfachen Formen des "Determinismus" in fast
+ausschließlicher Herrschaft standen, treten gegenwärtig eine große
+Reihe bedeutender Forscher für die Lehre von der F r e i h e i t d e
+s m e n s c h l i c h e n Willens ein. Es seien hier genannt James,
+Bergson, K. Joël, dem wir ein besonders tiefgehendes Buch über die
+Frage verdanken, Driesch, H. Münsterberg, Scheler, N. Ach, der in
+seinem Buche "Der Wille und das Temperament" mit am meisten getan hat,
+um die Willenstatsachen experimentell-psychologisch zu erklären, steht
+gleichfalls der Lehre vom freien Willen nahe.</p>
+
+<p>Unter den genannten Metaphysikern, die diese allgemeine Richtung
+einhalten, dürfte Stern, Becher und Driesch die größte Bedeutung
+zukommen. William Stern, dessen Hauptwerk "Person und Sache" noch
+unvollendet ist, versucht den Begriff der "Person" als ein
+psychophysisch indifferentes, zieltätiges Aktionszentrum zur Grundlage
+der Metaphysik zu machen &mdash; eine Auffassung, die manches mit der
+Personlehre des Verfassers, wie er sie in seinem Buche über Ethik
+entwickelt hat, gemeinsam hat, in anderer Richtung aber an Driesch und
+von Hartmanns konkreten Monismus erinnert. Das wertvolle Buch Sterns
+enthält auch eine sehr beachtenswerte Auseinandersetzung mit der
+passivistischen und mechanistischen Biologie und der gleichsinnigen
+Assoziationspsychologie, die einer scharfsinnigen und weittragenden
+Kritik unterworfen werden. Sterns "teleomechanischer Parallelismus" der
+alle formalmechanischen Beziehungen im Universum nur als M i t t e l s
+y s t e m e für zwecktätige unbewußte Akte und Kräfte faßt, in denen
+sich eine Hierarchie zwecktätiger "Personen" verschiedener Seins- und
+Wertstufen immanent auswirken, ist ein sehr beachtenswerter Gedanke.
+Freilich erscheint uns Sterns Vorgehen bislang noch zu dogmatisch, auch
+ist bei Stern übersehen der Wesensunterschied von "Geist" und "Leben",
+der hier in einen bloß graduellen Unterschied aufgelöst wird. Erich
+Becher, der von der Naturphilosophie herkommt, ragt hervor durch seine
+wertvollen naturwissenschaftlich-synthetischen Arbeiten (siehe seine
+"Naturphilosophie" in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart"), die
+allerdings eines selbständigen philosophischen Ausgangspunktes
+ermangeln und noch zu sehr der Methode des Positivismus huldigen,
+naturwissenschaftliche Resultate bloß nachträglich in eine Synthese zu
+bringen. In seinem Werk über "Gehirn und Seele" und vor allem in seinem
+Buche über "Die fremddienliche Zweckdienlichkeit in der Natur" (die er
+an den Gallenbildungen erläutert) hat er die Anfänge einer Metaphysik
+entwickelt. Sie gewinnt ihren Abschluß in der Annahme eines
+"überindividuellen Psychischen", das die Erfahrungen und funktionellen
+Anpassungen des Organismus während seines Lebens verwertet und alle
+jene Erscheinungen verständlich machen soll, die auf eine E i n h e i t
+des organischen Lebens in allen Arten und Gattungen hinweisen (neben
+der fremddienlichen Zweckdienlichkeit, Ähnlichkeit von Organbildungen
+bei stammesgeschichtlicher weitgehender Verschiedenheit, Tatsachen der
+Sympathie, Erklärung all derjenigen Entwicklungserscheinungen, die
+weder lamarckianistisch, n o c h darwinistisch erklärbar sind,
+Erblichkeit funktionell erworbener Eigenschaften, die gleichwohl vom I
+n d i v i d u u m als solchem nicht erworben sein können usw.). Zu
+einem noch selbständigeren, einheitlicheren und geschlosseneren Aufbau
+einer Metaphysik, die gegenwärtig großen Einfluß gewinnt, ist Hans
+Driesch gelangt, Er hat jüngst seine Gedanken im Aufsatz "Mein System
+und sein Werdegang" (siehe "Philosophie der Gegenwart in
+Selbstdarstellungen", Band 1) kurz zusammengefaßt. Driesch kam von der
+Naturforschung aus (Entwicklungsmechanik) in die Philosophie; seine
+Hauptleistung stellt auch heute noch dar seine "Philosophie des
+Organischen" (die eben in zweiter Auflage erschienen ist, bedeutend
+vermehrt und erweitert), ein Werk, das zweifellos die bedeutendste
+naturphilosophische Leistung darstellt, welche die deutsche
+gegenwärtige Philosophie besitzt. Driesch versucht hier aus einer an
+der Hand der modernen Entwicklungsmechanik, die er selbst stark
+förderte, gewonnenen Analyse der Formbildung des Organismus und einer
+Analyse der Handlung des Organismus s t r e n g e B e w e i s e für
+seinen neuartigen "Vitalismus" zu erbringen. Bei aller Formbildung und
+allen überreflexmäßigen "Handlungen" des Organismus müsse ein Agens
+tätig sein, dem ganz bestimmte Merkmale und eine ganz bestimmte
+gesetzmäßige Wirksamkeit zugeschrieben werden. Es heißt als
+hypothetischer Wirkfaktor der Handlungen "Psychoid", als dynamischer
+Wirkfaktor der Formbildungen "Entelechie" (was indes keine strenge
+Identität mit dem aristotelischen Entelechiebegriff bedeutet). In
+seiner eigentlichen Metaphysik sucht nun aber Driesch zu zeigen, daß
+nicht nur das "Psychoid" mit der "Entelechie" in der metaphysischen
+Wirklichkeitssphäre identisch seien, sondern daß auch die unserem
+kontinuierlichen "Selbst" zugrunde zu legende, aus den passiven
+Bewußtseinserscheinungen erschlossene reale Seele mit dem durch rein
+objektive Naturbetrachtung gewonnenen entelechialen und psychoidealen
+Faktor identisch sei. Diesen Gedanken hat Driesch besonders in seinem
+Werk "Leib und Seele", in dem er den psychomechanischen Parallelismus
+(besonders durch eine Mannigfaltigkeitsbetrachtung) widerlegt,
+ausgeführt. Eine erkenntnistheoretische und logische Basis für diese
+Metaphysik hat Driesch entwickelt in seiner "Ordnungslehre" und in
+seinem Buch "Erkennen und Denken"; die Gesamtheit seiner metaphysischen
+Gedanken hat er zusammengefaßt in seinem Buche über
+"Wirklichkeitslehre". Ausgehend von einem "methodischen Solipsismus",
+entwickelt er in einer besonderen "Selbstbesinnungslehre" zuerst ein
+apriorisches System von Bedeutungen und d e n k m ö g l i c h e n
+Beziehungsformen. In der Art, wie dies geschieht, ist er durch Husserl
+und Meinong stark beeinflußt. Sein Gegenstandsbegriff ist von Meinong
+übernommen. Die Schwäche der Driesch'schen Metaphysik (von ihren
+Mängeln, dem fast vollständigen Übergehen sowohl der sittlichen als der
+geistig historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit als Daten auch für
+die Metaphysik abgesehen) scheint mir weniger in seinen höchst
+wertvollen biologischen Positionen als in seiner Naturphilosophie des
+Anorganischen zu liegen, in der er einem Mechanismus, der einem
+veralteten Stande der theoretischen Physik entspricht, huldigt. Ferner
+kommt auch bei ihm, ähnlich wie bei Stern, der Unterschied der
+spezifisch g e i s t i g e n Akte und ihrer autonomen Gesetzlichkeit
+gegenüber dem biopsychischen Tatsachenbereich n i c h t zu seinem
+Rechte. Dadurch entsteht die Gefahr eines pantheistisch gefärbten
+Allvitalismus, der durch seine neuesten Ausführungen in der
+"Philosophie des Organischen" über "Einheit und Pluralität" der
+Entelechien, in denen er stark der Einheitslehre zuneigt, noch größer
+geworden ist. Jedoch kann bei diesem entwicklungsreichen und
+großzügigen Denker über die endgültige Gestaltung seiner Philosophie in
+diesen Punkten noch nichts Sicheres ausgesagt werden.</p>
+
+<p>Die unmittelbarste Einwirkung vielleicht, welche die großen
+Weltereignisse auf den Gang der deutschen Philosophie ausgeübt haben,
+haben ohne Zweifel an erster Stelle die R e l i g i o n s p h i l o s o
+p h i e und die P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n
+d G e s e l l s c h a f t erfaßt. Sowohl die gewaltige r e l i g i ö
+s e Bewegung unserer Tage wie der Hiatus der europäischen Geschichte
+(und die Gesamtheit von Bestrebungen zu sozialer Neuformung) mußten
+auch die Philosophie stark in ihren Bereich ziehen. Religiöse Bewegung
+und religionsphilosophisches Denken stehen heute in stärkster
+Wechselwirkung. Auf die religiösen oder gar kirchlichen Bewegungen
+selbst können wir hier nicht eingehen (siehe hierzu meinen Aufsatz über
+"Friede unter den Konfessionen" im "Hochland" und mein Buch "Vom Ewigen
+im Menschen", Band 1). Will man der gegenwärtigen religiösen Bewegung
+ein allgemeines Merkmal zuerteilen, so wird man vor allem von einer
+Hypertrophie m y s t i s c h e r Tendenzen in allen Sonderarten der
+religiösen Bewegung und auf allen Gebieten (Philosophie, Kunst,
+Dichtung) reden können. Diese Bewegung umfaßt sowohl den katholischen
+und den protestantischen Kulturkreis als jene Kreise, die eine "neue
+Religion" wollen. Die gesamte mystische Bewegung steht stark unter dem
+Einfluß des Ostens, so der großen russischen religiösen Denker
+(Tolstoi, Dostojewski, Mereschkowski, Solowjew), aber auch der
+indischen und chinesischen alten Weisheitslehren (siehe z. B. die
+Wirksamkeit R. Tagores), Die immer stärker anwachsende
+anthroposophische Bewegung R. Steiners, deren Ideen auch die
+philosophisch von Driesch stark beeinflußten, in vieler Hinsicht sehr
+wertvollen Gedanken des physikalischen Chemikers K. Jellinek in seinem
+lesenswerten Buche "Das Weltengeheimnis" eigentümlich färben, steht
+gleichfalls unter östlichem Einfluß (z. B. Wiederverkörperungslehre,
+der auch H. Driesch nahesteht). Die expressionistische Kunst der
+Gegenwart, die im "Weißen Reiter" auch einen vorwiegend katholischen
+Ausdruck gefunden hat, steht gleichfalls stark unter diesen östlichen
+Einflüssen. Am befremdlichsten wirkt hierbei die mystische Bewegung
+innerhalb des protestantischen Kulturkreises, um so mehr, als die
+vorwiegende protestantische Theologie, besonders die Schule A.
+Ritschls, vor den Kriege aller Mystik äußerst abhold war und in ihr
+überall "katholisierende Tendenzen" witterte. Der Ausspruch Harnacks:
+"Ein Mystiker, der nicht katholisch würde, sei ein Dilettant" ist für
+die ältere Stellung der protestantischen Theologie in schärfstem
+Gegensatz zur Gegenwart charakteristisch. Sehr häufig verbindet sich
+die östlich gefärbte Mystik unserer Tage, die man mit Recht in eine
+geschichtliche Parallele einerseits mit dem unseren Zeitalter so
+ähnlichen Hellenismus der Spätantike, andererseits mit den
+Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Auftreten des
+Pietismus) gesetzt hat, auch mit einer östlichen Orientierung in der
+Politik (siehe z. B. die Schriften des Heidelberger Philosophen H.
+Ehrenberg und die Arbeiten E. Rosenstocks). Es ist noch fraglich, wie
+weit die Gesamtheit dieser Erscheinungen als bloße Flucht der Seele aus
+den Wirren der Zeit und wie weit sie als p o s i t i v e
+Ausgangspunkte einer neuen lebendigen Religiosität zu werten sind.
+Bisher hat das Ganze noch einen stark chaotischen Charakter. Innerhalb
+des katholischen Kulturkreises, in dem gegenwärtig eine große geistige
+Regsamkeit wahrzunehmen ist, stellen sich die mystischen Tendenzen noch
+am geformtesten dar und werden außerdem durch eine ihnen in gewissem
+Sinne entgegengesetzte Bewegung, die von den Benediktinern inaugurierte
+"liturgische Bewegung" in Schranken gehalten. Hier bemüht man sich vor
+allem, "wahre und falsche Mystik" zu unterscheiden (siehe besonders die
+Aufsätze von A. Mager in der "Benediktinischen Monatschrift" und im
+katholischen Sonderheft der "Tat"; für die liturgische Bewegung siehe
+vor allem die vom Abt J. Herwegen herausgegebene Schriftenreihe
+"Ecclesia orans", besonders R. Guardini: "Vom Geist der Liturgie").
+Trotz des tiefen inneren Gegensatzes der mystischen, mehr an das
+Mittelalter und die Gotik anknüpfenden Bewegungen und der liturgischen
+a l t k i r c h l i c h e n Bewegung gewinnen beide Tendenzen eine Art
+Einigung wieder dadurch, daß manche katholischen Denker auch in der
+Philosophie und Theologie stärker an die mystischer gefärbte
+platonisch-augustinische Auffassung anknüpfen, die mit den liturgischen
+Bestrebungen ja auch den alt- und frühkirchlichen historischen
+Grundcharakter teilen. In der Philosophie ist auf
+religionsphilosophischem Boden dieser sich allenthalben wieder stärker
+regende A u g u s t i n i s m u s (freilich stark modifiziert) auch mit
+der Phänomenologie (die, wie bemerkt, ja selber stark platonisch
+orientiert ist) in Verbindung getreten durch das Werk des Verfassers
+"Vom Ewigen im Menschen", Band 1, in dem versucht wurde, sowohl der
+Metaphysik als der Religionsphilosophie (das letztere durch
+Aufrechterhaltung eines selbständig religiösen und unmittelbaren
+Faktors in der religiösen Gotteserkenntnis) eine neue Selbständigkeit
+zu geben ("Konformitätssystem von Glauben und Wissen"). Auf ganz
+anderem philosophischen Boden (mit Anknüpfung an die modernen
+Kantschulen) hat J. Hessen den "augustinischen Gottesbeweis" wieder zu
+Ehren zu bringen versucht, und auch Switalsky hat ihm in seinen
+Arbeiten wieder ein größeres Recht eingeräumt, als die vorwiegend
+thomistische Richtung ihm bisher gewährte. Auch diese Tendenz ist wohl
+verständlich sowohl aus dem a l l g e m e i n e n Streben wieder
+stärker an frühkirchliche geistige Erscheinungen anzuknüpfen, als vor
+allem auch daraus, daß es sich heute nicht darum handeln kann, so wie
+zu Zeiten des Thomas von Aquin das relative R e c h t von Natur und
+Vernunft gegenüber einer stark im Übernatürlichen versunkenen mächtigen
+und einheitlichen christlich erfüllten Welt sicherzustellen, sondern u
+m g e k e h r t darum, eine ganz und gar in das Weltliche und
+Materielle versunkene weltanschaulich tiefpartikularisierte
+Gesellschaft Gott und die göttlichen Dinge wieder geistig
+nahezubringen. An Stelle der bloßen "ars demonstrandi", die
+erfahrungsgemäß nur dort überzeugt, wo traditioneller Glaube den
+Menschen bereits beherrscht, tritt hier eine "ars investigandi et
+inveniendi" und gleichzeitig die alte anselmische Lehre, daß das
+religiöse Bewußtsein und das Haben seines Gegenstandes (Gottesidee) dem
+philosophisch-wissenschaftlichen Bewußtsein und der ihr entsprechenden
+Weltgegebenheit gesetzlich (wenn auch geschichtlich mit ganz variablem
+Inhalt) vorhergeht (im Sinne des anselmischen "Credo, ut intelligam").
+Auch mit H. Newman, dessen "Grammatik der Zustimmung" eben von Th.
+Haecker neu übersetzt wurde, und dessen Schriften gegenwärtig auch in
+katholischen Bildungskreisen stark gelesen werden, steht diese Bewegung
+in mannigfacher Verbindung (vgl. auch die Zeitschrift "Brenner", in der
+sich religiöse Gedanken verschiedener Konfessionen begegnen). Auch die
+bemerkenswerten Reden des Tübinger Dogmatikers Adam über "Glauben und
+Wissen", "Religion und Gegenwart" verraten die geschilderten
+Gedankenmomente. Ihr praktisches Gewicht und ihre soziale Parallele
+erhält diese neuere katholische Denkrichtung durch die sich in den
+katholischen Bildungskreisen immer stärker durchsetzende Überzeugung,
+daß die Religion sich in einer Zeit, in der die gewaltigen Stützen der
+Kirche durch den Staat zusammengebrochen sind, und in der sich der
+Glaube zu r e i n i g e n hat von allen ständischen und klassenmäßigen
+Amalgamierungen, in die ihn die verflossene Geschichte gebracht hatte,
+vor allem innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den
+Interessenstrukturen der Politik und Wirtschaft gewinnen müsse, um
+wieder eine praktisch lebendige Kraft auf das Leben zu gewinnen. Aus
+demselben Grunde sucht man in bezug auf geschichtliche Vorbilder
+innerhalb des katholischen Kulturkreises an solche Zeiten und
+Persönlichkeiten anzuknüpfen, in denen die Religion aus ihrer eigenen
+inneren Kraft heraus (ohne Stütze von irgendeiner anderen Macht) neue
+soziale Bewegungen e i n g e l e i t e t oder doch mit ihrem Geiste
+durchhaucht hat. Das von D. von Hildebrand herausgegebene Buch "Der
+Geist des heiligen Franziskus" will in diesem Sinne die franziskanische
+Bewegung nach allen in Betracht kommenden Richtungen
+charakterisieren.</p>
+
+<p>Innerhalb des p r o t e s t a n t i s c h e n Kulturkreises deuten
+mehrere Erscheinungen gleichfalls auf den neuen religiösen Geist der
+Zeit hin. Der weitgehenden soziologischen Umformung der Behälter und
+Wirkungsweisen des protestantischen Geistes (die keineswegs, wie man so
+oft irrig meint, ein Nachlassen auch seiner K r a f t und seiner
+Wirksamkeit zu bedeuten braucht) &mdash; man kann sie kurz als Tendenz
+zu Sekten, Kreis-Ordensbi1dungen um irgendeine charismatisch
+erscheinende Persönlichkeit herum charakterisieren &mdash; entspricht
+eine Reihe religionsphilosophischer und theologischer Neuerscheinungen,
+welche starke Beachtung verdienen. Hier sind vor allem die
+tiefgreifenden und wirksamen Arbeiten von R. Otto (siehe "Das Heilige",
+2. Auflage), ferner von H. Scholz "Religionsphilosophie" (1921), die
+Arbeiten des Hallenser Dogmatikers Heim, die mannigfachen Schriften Fr.
+Heilers (siehe "Das Gebet" und "Buddistische Versenkungsstufen", "Das
+Wesen des Katholizismus"), die mystische Wert- und Religionsphilosophie
+von H. Schwarz "Das Ungegebene", Tübingen 1921, zu nennen. Auch die
+Arbeiten von K. Oesterreich über "Religionspsychologie" und die neue
+große Arbeit über denselben Gegenstand von J. K. Girgensohn, ferner als
+überkonfessionelle Sammelstelle religionspsychologischer Bestrebungen
+die "Zeitschrift für Religionspsychologie" mögen hier aufgeführt sein,
+obzwar diese Erscheinungen weniger religiös als rein wissenschaftlich
+bedeutsamen Charakter besitzen. Den größten Einfluß von diesen Arbeiten
+hatten ohne Zweifel die Schriften von Otto und Heiler. Otto betrachtet
+die Werte des Heiligen und Göttlichen, die er in der ersten Hälfte
+seines Buches rein phänomenologisch untersucht, auf ihre
+Wesensbestandteile und scheidet sie in rationale (z. B. Güte, Wissen
+usw.) und irrationale. Als irrationale Grundwerte, die sich nicht so,
+wie die Kantschulen meinen, in "allgemeingültige Vernunftwerte" oder
+deren Steigerung ins "Unendliche" oder "Vollkommene" auflösen lassen,
+nennt Otto das "Numinose". Er zerlegt das ihm entsprechende Gefühl in
+das "Kreaturgefühl" in das "mysterium tremendum" das dem Heiligen den
+Charakter des Schauervollen, Übermächtigen und Energischen verleiht, in
+das Moment des geheimnisvollen "ganz anderen" und in das Moment des
+magisch anziehenden "fascinosum". Er verfolgt alle diese dem Göttlichen
+konstitutiv eigenen "irrationalen" Elemente durch das Alte und Neue
+Testament und durch Luthers Schriften hindurch und gibt am Schlusse
+eine Art religiöser Erkenntnistheorie, die an die von Fries
+modifizierte Kategorienlehre Kants anknüpft. Eine Kritik seiner
+Aufstellungen habe ich auch in meinem Buche "Vom Ewigen im Menschen"
+gegeben (siehe auch E. Troeltsch in den "Kantstudien"). Die
+Bestrebungen nach einer freien religiösen Mystik sind innerhalb des
+Protestantismus durch dieses Buch stark gesteigert worden. Heiler gab
+in seinem Buche über "Das Gebet" eine überaus großzügige, gelehrte und
+auch phänomenologisch und psychologisch überaus anregende Studie, die
+nur den Fehler hat, daß sie mit Hilfe gewisser von der Ritschlschen
+Theologie entlehnter Kategorien, besonders der Kategorie des
+"prophetischen" und "mystischen Gebets" viele Erscheinungen des
+religiösen Lebens vergewaltigt. Das beste Buch Heilers ist das Buch
+über "Buddhistische Versenkungsstufen", in dem er diese Stufen
+feinsinnig phänomenologisch erörtert und nur ihre T e c h n i k noch zu
+wenig beschreibt. Sei prinzipienlos und historisch nach rein
+individuellen und subjektiven Eindrücken geschriebenes Buch über das
+"Wesen des Katholizismus", das zugleich eine erstaunliche
+Verherrlichung der im "Gebet" gerade als "unevangelisch" verurteilten
+katholischen Mystik und gleichzeitig eine herbe Anklage gegen die
+gegenwärtige Kirche darstellt, sucht nach Harnacks Vorgang das Ganze
+des Katholizismus als "Synkretismus" aus fünf Bestandteilen zu
+erweisen; sie sollen bestehen im Evangelium, dem römischen Reichs- und
+Rechtsgedanken, dem jüdischen Legalismus und seiner Kasuistik, den
+paganisch-magischen Faktoren (Messe) und der nach Heiler auf den Orient
+zurückgehenden hellenischen Philosophie und Mystik. Die Methode der
+Betrachtung ist hier im wesentlichen diejenige Harnacks. Das religiöse,
+bei Heiler vorherrschende, aber von seinen Stimmungen stark abhängige
+"Ideal" soll gegeben sein in dem, was er in seiner Anlehnung an den
+schwedischen Bischof Soederbloem die "Evangelische Katholizität" nennt.
+&mdash; Die "Religionsphilosophie" von H. Scholz, die besonders in
+ihren kritischen Partien ausgezeichnet geraten ist, will ähnlich wie R.
+Otto und in mancher Hinsicht auch ähnlich wie der Verfasser in seinem
+Werke "Vom Ewigen im Menschen" die Religion auf eine besondere F o r m
+ d e r r e l i g i ö s e n E r f a h r u n g gründen, die aber
+nicht allen Menschen zukommen soll. Auch dieses Werk nimmt seinen
+Ausgangspunkt vor allem in dem Wesen der m y s t i s c h e n
+Gotteserfahrung und sucht von hier aus die Religion mit dem Ganzen des
+menschlichen Geisteslebens in innere Beziehung zu setzen. Auch K.
+Oesterreich hat in seiner Schrift "Über die religiöse Erfahrung"
+dieselbe Methode und denselben Ausgangspunkt wie die genannten
+phänomenologischen vorgehenden Forscher. Überblickt man diese und
+andere hier aus Raummangel nicht genannten Erscheinungen der
+protestantischen Religionsphilosophie und Theologie und vergleicht sie
+mit den augustinisch gefärbten Arbeiten innerhalb des katholischen
+Kulturkreises, so eröffnet sich eine A u s s i c h t, die nach meiner
+Meinung von größter Tragweite ist. Es ist die Aussicht auf eine mählich
+fortschreitende Einigung der Forscher verschiedener Konfessionen über
+die Grundfragen wenigstens der natürlichen Theologie und der
+Religionsphilosophie. Solange auf der einen Seite einseitigster
+Kantianismus, auf der anderen Seite ein ausschließlicher Thomismus
+traditionalistisch herrschten, war auch der bloße V e r s u c h einer
+solchen Einigung völlig ausgeschlossen (siehe dazu auch R. Eucken:
+"Kant und Thomas, der Kampf zweier Welten"). Den W e r t einer solchen
+Einigung aber wird man nicht gering anschlagen dürfen, denn es würde
+dadurch der widersinnige Zustand, den ich a. a. O. als einen "Skandal
+der Philosophie und Theologie zugleich" bezeichnet habe, aufgehoben,
+daß in der nicht auf positiver Offenbarung und Tradition beruhenden
+sogenannten "natürlichen Gotteserkenntnis" (die jedem Menschen spontan
+zugänglich sein soll) gerade am m e i s t e n der bloße historische
+Traditionalismus herrscht, und daß die konfessionell verschiedenartigen
+religiösen Bildungskreise in der natürlichen Theologie und
+Religionsbeurteilung eher n o c h w e i t e r auseinandergehen als in
+den Fragen der positiven Theologie und der Glaubensbekenntnisse.</p>
+
+<p>Auch innerhalb der theoretischen und praktischen Führerschaft der
+deutschen Sozialdemokratie sind gegenwärtig Versuche bemerkenswert, das
+religiöse Problem einer neuen Durchforschung zu unterziehen, die von
+der marxistischen überkommenen Lehre, der gemäß die göttlichen Dinge
+nur ein phantastisches "Aroma" sein sollen, das als
+"Begleiterscheinungen" ökonomischer Herrschaftsverhältnisse aus der
+"bürgerlichen Gesellschaft" aufsteigt (Marx), prinzipiell abweichen.
+Noch sehr fadenscheinig ist die Religion in Paul Göhres "Der unbekannte
+Gott" gefaßt, dagegen haben Radbruch, Maurenbrecher, mehrere Freunde
+der "Sozialistischen Monatshefte", die theoretischen Vertreter des
+Bundes sogenannter "religiöser Sozialisten" Ansichten geäußert, die,
+wie immer man sie beurteilen mag, eine neue Stellung auch der
+sozialdemokratischen Arbeiterklasse zu den Problemen der Religion
+ankündigen. Da nach unserer Meinung jeder religiös nicht an das höchste
+Gut und Gott glaubende Mensch, und jede Klasse solcher Menschen ein
+nachweisbares S u r r o g a t des höchsten Gutes in Form eines zu einem
+"Götzen" gestempelten endlichen Wertes (heiße er Geld, Nation,
+Zukunftsstaat oder sonstwie) besitzen, wird der vermutlich bald
+vollständig einsetzende, schon heute (siehe das neue
+sozialdemokratische Parteiprogramm) sehr weitgehende Verzicht auf die
+Verwirklichung der Ideale des Kommunismus und des "Zukunftsstaates" (an
+die ein gewaltiges Maß eschatologischer Religiosität gleichsam
+festgebunden war) einen l e e r e n Raum in der Seele der
+Arbeiterklasse schaffen, der ihre Disposition für die Aufnahme echt
+religiöser Güter bedeutend steigern dürfte. In diesem Sinne hat sich
+auch Otto Baumgarten in seinem Buche "Der Aufbau der Volkskirche", das
+die Möglichkeit des Aufbaus einer protestantischen Volkskirche an
+Stelle einer bloßen "Pastorenkirche" eingehend und feinsinnig erwägt,
+ausgesprochen.</p>
+
+<p>Nicht minder tief greifen, wie gesagt, die Wirkungen der
+Weltereignisse auf die geschichtsphilosophischen und soziologischen
+Neuorientierungsversuche der Gegenwart ein. Alle größeren
+geschichtsphilosophischen Versuche der europäischen Geschichte, die wir
+kennen, die Versuche Augustins und Johanns von Freising, die Versuche
+Vicos, Bossuets, Hegels und Comtes haben ihren Ursprung in Zeitaltern,
+die nach großen, die Verhältnisse tief umformenden Geschichtswendungen,
+gleichsam eine Besinnung der Menschheit über den bisherigen Verlauf
+ihrer Geschichte anregen. Der Französischen Revolution wohnte in diesem
+Sinne die mächtigste Anregungskraft für geschichtsphilosophische
+Besinnung ein, und so ist es kein Wunder, daß gerade gegenwärtig die
+geschichtsphilosophisch m a t e r i a l e B e t r a c h t u n g der
+Dinge eine neue Auferstehung gefeiert hat. Zum Teil knüpfen diese
+Versuche an Gedanken an, die schon vor dem Kriege wieder eine Rolle zu
+spielen begannen. Kaum ein geschichtsphilosophischer Versuch der
+Gegenwart zeigt sich z. B. nicht irgendwie durch Nietzsches starke
+Anregungen bedingt. Ferner fühlt man überall die Ideen Burckhardts, wie
+er sie in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" entwickelt hat,
+die Auffassungen von Dilthey, Troeltsch, Hegel und Hartmann noch
+lebendig. Der grundlegende Gesichtspunkt, welcher der gegenwärtigen
+Geschichtsphilosophie ihr b e s o n d e r e s Gepräge verleiht, ist vor
+allem der Gegensatz zwischen Dekadenz oder Erneuerungsmöglichkeit der
+europäischen Menschheit und dazu die noch mögliche Aufgabe und Rolle
+"Europas" im zukünftigen Weltgetriebe. Schon diese Frage führt wie von
+selbst dazu, die E n g e und B e d i n g t h e i t der spezifisch
+europäischen Maßstäbe und europäischen Denkformen in allen bisherigen
+Geschichtsauffassungen und -beurteilungen immer tiefer zu erkennen.
+Diesen Fragen gegenüber sind heute die mehr formalen Probleme der
+Geschichts e r k e n n t n i s weitgehend zurückgetreten. Oswald
+Spengler hat dem auf alle Fälle starken Wurfe seines "Untergang des
+Abendlandes" in seinem Aufsatz über "Pessimismus?" eine sehr
+eigenartige Interpretation nachfolgenlassen (der zweite Band des
+"Untergangs" wird demnächst erwartet). Seine D e k a d e n z l e h r e
+ist in seinem "Untergang" weniger tiefgehend als sensationell
+vertreten. Die ungeheure Wirkung dieses Buches und der aufregende
+Neuheitseindruck, mit dem es entgegengenommen wurde, ist psychologisch
+nur aus der N i e d e r l a g e Deutschlands im Kriege zu verstehen.
+Aber außerdem ist er nur begreiflich daraus, daß das große Publikum
+offenbar keine Ahnung davon hatte, wie sehr diese Dekadenzlehre bereits
+durch anderweitige Forscher vorbereitet war. Graf Gobineau, J.
+Burckhardt, Fr. Nietzsche, F. Tönnies, E. Hammacher (siehe sein Buch:
+"Grundprobleme der modernen Kultur"), M. Scheler (siehe "Ressentiment
+im Aufbau der Moralen"), W. Sombart &mdash; sie alle hatten ja, wenn
+auch mit weitgehend verschiedener Begründung und Fundierung, im Grunde
+der These gehuldigt, daß sich das Abendland des 19. Jahrhunderts im
+Niedergang befinde. Der Kreis Stefan Georges dachte in derselben
+Richtung. E. von Hartmanns universaler Geschichtspessimismus zielte
+gleichfalls auf eine geschichtsphilosophische Dekadenzlehre hin. Nur
+das satte Behagen der deutschen Oberklassen während des Wilhelminischen
+Zeitalters konnte diese warnenden Stimmen über hören lassen und den
+Schein erzeugen, daß man über Fortschritt und Aufstieg Europas so einig
+sei, wie es etwa Hegel und in anderer Form und Art die Positivisten
+Comte und Spencer gelehrt hatten. Freilich maßten sich alle diese
+genannten Denker n i c h t an, astronomisch voraussagen zu können, was
+in Zukunft sein und geschehen werde, so wie es Spengler auf Grund
+seiner vermeintlichen vagen Phasen- und Gleichzeitigkeitsgesetze getan
+hat, nach denen z. B. Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus innerhalb
+der Phasenabfolge der indischen, römischen und modernen Zivilisation
+"gleichzeitig" sein sollen. Es genügte ihnen so wie es allein möglich
+und sinnvoll ist, von Niedergangstendenzen zu reden, deren Realisierung
+durch die ursprüngliche Freiheit der menschlichen Persönlichkeit oder
+doch durch arationale Geschichtsfaktoren auch prinzipiell umgebogen
+werden könne. Eine solche "Freiheit" kennt Spengler nicht, er
+betrachtet die großen Kulturen, die er an sich mit Recht als eine
+ursprüngliche Vielheit ansieht (siehe hierzu auch des Verfassers
+Abschnitt "Die Einheit Europas" in seinem Buche "Genius des Krieges"),
+wie Pflanzenvegetationen, die aus der "mütterlichen Landschaft"
+herauswachsen, dann einen Prozeß des Aufblühens, Alterns und Sterbens
+durchlaufen. Diese biologischen Analogien sind aber auf die Geschichte
+unanwendbar. Wertvoll dagegen ist der Versuch Spenglers, a l l e
+Sphären der geschichtlichen Güterwelt (Wissenschaft, Künste,
+Staatsformen usw.) auf die Einheit einer "Kulturseele"
+zurückzubeziehen, und ihre Strukturidentität aufzuweisen. Die
+Durchführung des Gedankens, den auch Dilthey, Duhem (siehe "Geschichte
+der physikalischen Theorien"), Scheler und andere längst aufgenommen
+hatten, ist indes oft überaus spielerisch und willkürlich (vergleiche
+dazu das Heft des "Logos" indem sich eine Reihe von Forschern mit
+Spengler beschäftigen). Zur Kritik Spenglers ist schon eine kleine
+Literatur erschienen, aus der ich Th. Haerings "Die Struktur der
+Weltgeschichte" (1921), die Schrift von H. Scholz "Zum Untergang des
+Abendlandes" (1920) und Götz Briefs "Untergang des Abendlandes,
+Christentum und Sozialismus" (1920), Kurt Breysigs "Der Prophet des
+Untergangs" hervorhebe. Ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und
+überdies aus den mannigfaltigsten verschwiegenen Anregungen
+zusammengeflossen sind die philosophischen und erkenntnistheoretischen
+V o r a u s s e t z u n g e n des Buches. Sie enthalten einen
+Relativismus, der sich im tiefsten Gegensätze befindet zu aller
+ernsthaften gegenwärtigen Philosophie, und sind nur ein letzter
+Nachklang des romantischen Historismus der Vorkriegszeit und seiner
+verantwortungslosen, sich in alles und jedes "einfühlenden"
+schauspielerischen Verwandlungskunst &mdash; Haltungen, von der
+heutigen J u g e n d mit Recht scharf zurückgewiesen werden. Wenn wir
+nicht glauben, daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg, stark mitbedingt
+durch die psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen
+gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem
+gewissen "Troste" vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des
+Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung
+befindet so daß man gewissermaßen sagen kann auch jetzt wieder:
+"Deutschland in der Welt voran" &mdash; wenn auch in absteigender
+Richtung &mdash; überdauern wird, so erhoffen wir um so Wertvolleres
+von anderen wichtigen Erscheinungen der gegenwärtigen Soziologie und
+Geschichtsphilosophie.</p>
+
+<p>Das Grundbuch der deutschen Soziologie wird noch auf lange Zeit
+hinaus Ferdinand Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" bleiben, das
+erst langsam seine volle Bedeutung auswirkt. Max Weber, dessen Werke
+jetzt gesammelt erscheinen, hat uns noch kurz vor seinem Tode mit
+seinen großangelegten religionssoziologischen Untersuchungen über die
+Religionsformen Chinas, Indiens und der verschiedenen kirchlichen
+Bildungen des Christentums beschenkt, die sich seiner ungemein
+wirksamen Untersuchung über die Bedeutung der calvinistischen
+Religiosität und systematischen Selbstkontrolle für die Ausbildung des
+"kapitalistischen Geistes" würdig angereiht haben. Die Bedeutung der
+Weltreligionen für die soziale Struktur der Völker und für ihre
+Wirtschaftsgesinnung ist in diesen Untersuchungen überaus großartig
+hervorgetreten. Nimmt man noch hinzu die bekannten "Soziallehren der
+christlichen Kirchen von E. Troeltsch und die Untersuchungen von P.
+Honigsheim Über den Einfluß des Jansenismus auf die französische
+Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" so ist in diesen Arbeiten ein
+bedeutendes, zusammenhängendes Bild entstanden von der soziologischen
+Bedeutung der Religion überhaupt (vgl. auch des Verfassers
+"Abhandlungen und Aufsätze"). In anderer Richtung hat Werner Sombart in
+seinen Kapitalismusbüchern und seinem "Bourgeois", vor allem aber in
+der neuen Auflage seiner "Grundlagen des modernen Kapitalismus" nun
+eine s y s t e m a t i s c h e A n o r d n u n g aller Kausalfaktoren
+für die Entstehung der Phasen des modernen Kapitalismus gegeben, die
+den älteren Einwänden gegen seine Aufstellungen weitgehend standhält.
+Sein zu erwartendes Buch über die geistesgeschichtlichen Bedingungen
+des modernen Sozialismus, zu dem er sein bekanntes "Sozialismus und
+soziale Bewegung" umzuarbeiten im Begriffe ist, wird über die
+Entstehung besonders der marxistischen Theorien neues Licht verbreiten.
+Die neuen, in den Schriften der Kantgesellschaften herausgekommenen
+Untersuchungen von E. Troeltsch über die bisherigen Formen der
+Soziologie seit Comte und über die dialektische Methode Hegels haben
+gleichfalls über die Entstehung des Gegensatzes unserer deutschen
+Geschichtsauffassung von der bei den Westvölkern vorliegenden
+Auffassung uns wichtige Einsichten erschlossen. Erwägt man dazu, daß
+die gesamte marxistische Soziologie (siehe dazu die neueren Arbeiten
+von J. Plenge, Lederer, Cunow, Lensch, Schumpeter, Renner, R. Michels,
+Max Adler und anderer) sich in der tiefgehendsten Krisis befindet, in
+der sie sich seit der Auseinandersetzung von Lassalle und Marx befunden
+hat, so wird man die langsam beginnende geschichtsphilosophische und
+soziologische Auseinandersetzung der sozialistischen und bürgerlichen
+Soziologie und Geschichtsauffassungen nicht gering anschlagen dürfen.
+Was uns gegenwärtig vor allem notwendig ist, das wäre eine neue, auf
+der Gesamtheit der durch diese Literatur erschlossenen empirischen
+Einsichten fußende T h e o r i e d e r h i s t o r i s c h e n K a
+u s a l f a k t o r e n, die insbesondere die O r d n u n g ihrer
+Wirksamkeit genau bestimmt und feststellt, und die zugleich mit allen
+bisherigen Einseitigkeiten, vorwiegend spiritueller und
+naturalistischer Geschichtsauffassungen, endgültig bricht. Der
+Verfasser ist damit beschäftigt, in einem demnächst erscheinenden Buche
+über die Gesellschafts- und Geschichtslehre des "Solidarismus" eine
+solche Theorie zu entwickeln. &mdash;</p>
+
+<p>Wenn man die ungemeine, nur noch mit dem Zeitalter Kants und Hegels
+vergleichbare, g e i s t i g e R e g s a m k e i t auf dem Boden der
+Philosophie im gegenwärtigen Deutschland (von der diese Zeilen ein
+schwaches, durch den Raum engbegrenztes Bild geboten haben) mit dem
+vergleicht, was gegenwärtig in den Ländern der Sieger auf diesem Boden
+geschieht, so ist &mdash; wie alle, die vom Ausland zu dem Verfasser
+nach Köln kommen, bezeugen &mdash; der Abstand ein u n g e h e u e r
+g r o ß e r. Dieser Eindruck ist, wenn man noch hinzunimmt, was trotz
+des neuen Elends des Bibliothekswesens und der geringen Aufwendungen,
+die seitens des Staates für die Wissenschaft und ihre Institute heute
+allein möglich sind, auch auf dem Boden der Naturwissenschaften und der
+Erfindungen geleistet wird, so stark, daß an ihm allein schon das
+tiefgesunkene Selbstgefühl und Selbstwertgefühl der Nation s i c h w
+i e d e r a u f z u r i c h t e n v e r m a g. Ein Volk, das im
+größten Elend seiner politischen und ökonomischen Lage zu einer solchen
+Fülle geistiger Anstrengungen und Leistungen fähig ist, kann nicht
+zugrunde gehen. Einem in gewissem Sinne tragischen Grundgesetze der
+deutschen Geschichte gemäß (das man preisen oder beklagen mag) wird
+auch diesmal die Nation; gerade aus ihren tiefsten Leiden und Nöten
+heraus, mit neuen und frischen Energien, die ihr aus der dunklen Tiefe
+ihrer durch kein Geschick zerbrechlichen Seele zufließen, mit neuem
+Wagemut wieder zu den ewigen Sternen ihrer eigentlichen "Bestimmung"
+greifen. Der Philosophie kommt dabei die nicht zu unterschätzende Rolle
+zu, die einseitige Verfachlichung und Spezialisierung, in die das
+deutsche Volk vor dem Kriege so sehr versunken war, daß ihm die auch zu
+einer gesunden und einheitlichen Politik und zur Führung des Krieges
+notwendige spontane Einigungsbereitschaft und Einigungsbefähigung
+weitgehend gebrach, allmählich aufzulösen und damit beizutragen, eine
+neue, einheitlichere geistige Bildungsgestalt dem deutschen Menschen
+aufzuprägen.</p>
+
+
+
+
+<h2><a name="rel">RELATIVITÄTSTHEORIE<br>VON A. SOMMERFELD</a></h2>
+
+<h3>VORTRAG, GEHALTEN IN EINEM ZYKLUS GEMEINVERSTÄNDLICHER
+EINZELVORTRÄGE, VERANSTALTET VON DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN, SOMMER
+1921</h3>
+
+<p>Konrad Ferdinand Meyer läßt im "Hutten" den alten Pfarrer von Ufenau
+sagen:</p>
+
+<blockquote> Erfahrt, daß unter uns, die wir bemüht</blockquote>
+<blockquote> Um die Natur sind, ein Geheimnis glüht!</blockquote>
+<blockquote> Mit hat's ein fahr'nder Schüler anvertraut.</blockquote>
+<blockquote> Neigt euch zu mir! Man sagt's nicht gerne
+laut.</blockquote>
+<blockquote> Ein Chorherr lebt in Thorn, der hat
+gewacht,</blockquote>
+<blockquote> Bis er die Rätsel deutete der Nacht.</blockquote>
+<blockquote> Herr Köpernick beweist mit bünd'gem Schluß,</blockquote>
+<blockquote> Daß &mdash; staunet &mdash; unsre Erde wandern
+muß!</blockquote>
+
+<p>Dasselbe Staunen, das vor 400 Jahren die Menschheit bei der Kunde
+von der Umwälzung des Kopernikus erfaßte, ist heute lebendig, wo es
+sich um eine neue Umwälzung im Weltbilde handelt, vergleichbar der
+kopernikanischen, ja vielleicht mit ihren erkenntnistheoretischen
+Wurzeln noch tiefer reichend. Dasselbe geheimnisvolle Dunkel wie damals
+&mdash; "man sagt's nicht gerne laut" &mdash; umweht die neue Theorie
+von Raum, Zeit und Schwere. Wird es mir gelingen, das Dunkel in etwas
+zu lichten? Ich weiß nur zu gut, daß dies ohne die sichere Leitschnur
+des mathematischen Gedankens letzten Endes unmöglich ist. Für viele
+meiner Behauptungen werde ich den Beweis schuldig bleiben müssen, da er
+sich nur aus der vollen Kenntnis der physikalischen Tatsachen und zum
+guten Teil nur mit den Hilfsmitteln der mathematischen Rechnung
+erbringen ließe. Ich muß zufrieden sein, wenn ich Ihnen eine
+Vorstellung von den Problemen und von den Gedankengängen, die zu ihrer
+Lösung führen, geben kann. Etwas genauer möchte ich dann darauf
+eingehen, wie es mit der erfahrungsmäßigen Prüfung der neuen Lehre
+steht. Insbesondere werde ich von der Sonnenfinsternis des Jahres 1919
+zu sprechen haben. Während in Fachkreisen das Interesse an der
+Relativitätstheorie seit 15 Jahren lebendig ist, datiert das allgemeine
+Aufsehen und die Popularität der Theorie erst von ihrer Bestätigung
+durch diese Sonnenfinsternis.</p>
+
+<blockquote> "Ihr meint, wie sitzen ruhig hier? Erlaubt,</blockquote>
+<blockquote> Wir schweben, wie von Adlerkraft geraubt"
+&mdash;</blockquote>
+
+<p>so fährt der Pfarrer von Ufenau zu reden fort. "Wir sitzen ruhig
+hier." Und doch drehen wir uns, so belehrt uns Kopernikus, um die
+Erdachse mit einer Geschwindigkeit von einigen hundert Metern in der
+Sekunde; gleichzeitig bewegt sich die Erde und wir mit ihr um die Sonne
+mit einer Geschwindigkeit von 30 km in der Sekunde, also hundertmal
+schneller, als der Schall die Luft durcheilt. Und die Sonne selbst
+bewegt sich gegen die Fixsterne und führt die Erde und uns selbst "wie
+mit Adlerkraft" fort. Von diesem ganzen zusammengesetzten
+Bewegungsvorgang spüren wir nichts, es sei denn, daß wir mit genauen
+Hilfsmitteln ausgerüstet sind, um an den Sternen Beobachtungen zu
+machen. Wir müssen daraus schließen: Bewegung an sich ist nicht
+beobachtbar, sie ist an sich nichts. Nur relative Bewegung können wir
+konstatieren. Und weiter: Der Raum ist an sich nichts, das
+Fortschreiten im Raum betrifft keine wirkliche Tatsache. Es gibt keinen
+absoluten Raum. Der Raum existiert nur durch die in ihm enthaltenen
+Körper und Energien. Ein Fortschreiten im Raum ist nur zu messen am
+Rauminhalt und läßt sich überhaupt nur denken relativ zu den
+raumerfüllenden Körpern und Energien.</p>
+
+<p>Dies ist das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik. Es bildet
+seit 200 Jahren die Grundlage für das Studium der himmlischen und
+irdischen Bewegungen. Der genaue Ausdruck dieses ältesten
+Relativitätsprinzips lautet: Es ist unmöglich, festzustellen, ob sich
+ein System von Körpern als Ganzes in Ruhe oder in gleichförmig
+geradliniger Bewegung befindet, sofern wir nur innerhalb dieses
+Körpersystems Erfahrungen anstellen und keine Merkmale außerhalb
+desselben beobachten können. Wir können also nichts von der
+fortschreitenden Bewegung der Erde bemerken, wenn wir keinen Ausblick
+nach dem Fixsternhimmel haben. Mit der drehenden Bewegung der Erde ist
+es allerdings zunächst anders, sie fällt nicht unter das
+Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik, da bei ihr die Richtung
+der Geschwindigkeit fortgesetzt wechselt. In der Tat können wir sie
+durch Pendelbeobachtungen auf der Erde messen oder an der Abplattung
+der Erde nachweisen. Wir werden hierauf zurückkommen, wenn wir das
+allgemeine, über die klassische Mechanik hinausgehende
+Relativitätsprinzip entwickelt haben werden.</p>
+
+<p>Gehen wir von der Mechanik zur Optik über. Die Erscheinungen des
+Lichtes beruhen, wie wir heutzutage wissen, auf der Ausbreitung
+elektromagnetischer Felder. Die Optik und Elektrodynamik glaubte einen
+L i c h t ä t h e r nötig zu haben, einen feinen materialisierten Raum,
+in dem sich die Lichtwirkungen ausbreiten sollten. Hiernach wäre es
+denkbar, absolute Bewegung im Raum als Bewegung gegen den Lichtäther
+durch Lichtstrahlen nachzuweisen. Ein Lichtstrahl, der sich im Sinne
+der Erdbewegung, diese überholend, fortpflanzt, sollte sich relativ zur
+Erde langsamer fortpflanzen als ein Lichtstrahl, der senkrecht zur
+Erdbewegung fortschreitet. Das Relativitätsprinzip wäre damit
+durchbrochen und die absolute Bewegung der Erde im Raum nachweisbar.
+Der Versuch ist mit außerordentlicher Schärfe von M i c h e l s o n
+angestellt worden und lieferte kein Anzeichen der Erdbewegung. Es hätte
+keinen Zweck, wenn ich Ihnen den Michelsonschen Versuch näher schildern
+wollte. Die Überzeugung von seiner bindenden Kraft könnte ich Ihnen
+doch nicht beibringen, ohne mich in experimentelle Einzelheiten zu
+verlieren. Der Versuch ist so schwierig und verlangt so
+außerordentliche Hilfsmittel, daß er nur zweimal durchgeführt worden
+ist. Hier, wie in vielen anderen Punkten, muß ich auf Ihren guten
+Glauben an die Zuverlässigkeit der physikalischen und astronomischen
+Messungen rechnen können. Der Michelsonsche Versuch und andere weniger
+genaue Erfahrungen zeigen also, daß das Relativitätsprinzip zu Recht
+besteht, daß absolute Bewegung auch nicht optisch als Bewegung gegen
+den Lichtäther nachgewiesen werden kann. Daraus folgt weiter, wie
+Einstein hervorhob, daß der Lichtäther keine reale, beobachtbare
+Existenz besitzt. Er ist nicht physikalisch, sondern metaphysisch, ein
+verkappter absoluter Raum und als solcher irreführend.</p>
+
+<p>Aber noch weiter: Die Lichtfortpflanzung findet statt in Raum und
+Zeit. Sie hat, von der im Sonnensystem fortschreitenden Erde aus
+gemessen, dieselbe Geschwindigkeit, wie sie von der Sonne aus gesehen
+werden würde, die doch an der Erdbewegung nicht teilnimmt. Wir nennen
+allgemein B e z u g s s y s t e m ein physikalisches Laboratorium,
+welches mit Maßstäben und Uhren zu Raum- und Zeitmessung ausgerüstet
+ist. Dieser Hörsaal ist ein Bezugssystem, da ich in ihm die jeweilige
+Lage eines bewegten Körpers durch seine Abstände von dreien seiner
+Begrenzungsebenen und durch die Angaben einer Uhr bestimmen kann. Drei
+solche Abstände nennt man die R a u m k o r d i n a t e n des
+betrachteten Punktes, die zugehörige Zeitangabe kann man seine
+Zeitkoordinate nennen. Wir haben es hier mit einem irdischen
+Bezugssystem zu tun. Wir können uns aber auch ein entsprechendes
+Bezugssystem auf der Sonne oder auf einem gegen die Erde bewegten
+Eisenbahnzuge denken. Die allgemeinen Tatsachen der Lichtfortpflanzung
+zeigen nun, daß sich das Licht in jedem Bezugssystem in gleicher Weise
+ausbreitet, nämlich in Kugelwellen mit der gleichen
+Lichtgeschwindigkeit, unabhängig von dem Bewegungszustande der
+Lichtquelle gegen den Beobachter. Das scheint widerspruchsvoll zu sein.
+Denn wenn wir eine Kugelwelle, die sich im irdischen Bezugssystem
+ausbreitet, von der Sonne aus betrachten, so würde auf der Vorderseite
+(das sei diejenige Seite, nach der die augenblickliche Geschwindigkeit
+des Erdkörpers gerichtet ist) zur Lichtgeschwindigkeit noch die
+Erdgeschwindigkeit hinzukommen; auf der Rückseite der Welle würde sich
+die Erdgeschwindigkeit von der Lichtgeschwindigkeit abziehen. Die
+Vorderseite der Welle würde also, von der Sonne aus gesehen, schneller
+fortschreiten als die Rückseite. Das widerspricht dem
+Relativitätsprinzip und den optischen Erfahrungen. Die Lichtwelle weiß
+nichts davon, ob sie zum Bezugssystem der Erde oder der Sonne gehört.
+Jedem Beobachter erscheint sie als Lichtwelle von der gleichen
+Fortpflanzungsgeschwindigkeit.</p>
+
+<p>Der Widerspruch löst sich dadurch, daß wir auch die Zeit ihres
+absoluten Charakters entkleiden. Jedes Bezugssystem hat seine eigene
+Zeitskala. Es gibt keine absolute universale Zeit. Die Mechanik
+leugnete den absoluten Raum, ließ aber die absolute Zeit bestehen; sie
+konnte es tun, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, weil sie nicht über
+so exorbitante Geschwindigkeiten wie die Lichtgeschwindigkeit verfügt.
+Die Optik und Elektrodynamik verlangen auch die Relativierung der Zeit.
+Auch die Zeit ist an sich nichts. Sie besteht nur vermöge der sich in
+ihr abspielenden Ereignisse. Diese Ereignisse, z. B. eine Lichtwelle,
+sind real und objektiv; die Beurteilung des zeitlichen Ablaufs aber
+hängt vom Standpunkt des Beobachters, vom Bezugssystem ab. Daraus folgt
+weiter: Es gibt keine absolute Gleichzeitigkeit. Zwei Ereignisse, die
+in meinem Bezugssystem gleichzeitig sind, sind vom Standpunkte eines
+relativ gegen mich bewegten Bezugssystems aus nicht gleichzeitig. Wenn
+ich mir einmal erlaube (in Fig. 1), Zeit und Raum durch zwei Richtungen
+in der Zeichenebene darzustellen,</p>
+
+<p><img src="images/figure1.png" alt="Fig. 1"></p>
+
+<p>so sind die beiden Ereignisse A und B gleichzeitig im Bezugssystem
+(Raum &mdash; Zeit); A ist aber früher als B im Bezugssystem (Raum &mdash;
+Zeit), welches durch die punktierten Achsen dargestellt wird. Diese
+bildliche Darstellung, die hier nur als Gleichnis aufgefaßt werden
+möge, gibt sogar den wirklichen Sachverhalt zahlenmäßig wieder, wenn
+wir auf der Zeitachse mit einem im Verhältnis der Lichtgeschwindigkeit
+vergrößerten Maßstab messen, wobei dann die in der Figur durch die
+Strecke a b dargestellte Ungleichzeitigkeit nur als winzig kleine
+Zeitdifferenz erscheint.</p>
+
+<p>Ein anderes Beispiel: Von der Erde löst sich in einem bestimmten
+Augenblick ein ihr gleiches Abbild los und entfernt sich von ihr mit
+einer gewissen Geschwindigkeit. Zwei Zwillinge, A und B, werden in
+diesem Augenblick geboren, A bleibt auf der Erde, B wird auf ihr Abbild
+ausgesetzt. Sie entwickeln sich auf den beiden identischen Sternen bei
+identischen Lebensverhältnissen in genau identischer Weise, aber in
+verschiedenem Zeitmaß. Wenn A irgendwie Kunde von B erhält, findet er,
+daß B langsamer lebt, daß er in seinem Lebensalter und in seinen
+Lebensschicksale immer etwas hinter A zurückbleibt. Dasselbe
+konstatiert B von A; A ist jünger als B vom Standpunkte des B, B ist
+jünger als A vom Standpunkte des A.</p>
+
+<p>Es wurde kürzlich vorgeschlagen, das Wort Relativitätstheorie zu
+ersetzen durch Standpunktslehre. Das Wort ist gut; es verdeutscht und
+verdeutlicht den wesentlichen Inhalt der neuen Auffassung. Wenn wir den
+Standpunkt wechseln, indem wir ihn von der Erde auf ihr Abbild verlegen
+oder auf einen über die Erde fahrenden Eisenbahnzug, sehen wir, was an
+unserem Weltbilde vom Standpunkt abhängt, also gewissermaßen subjektive
+Zutat ist, und was vom Standpunkte unabhängig ist, also in den Dingen
+liegt. Raum und Zeit sind vom Standpunkte abhängig oder relativ; auch
+die Auffassung zweier Ereignisse als gleichzeitig ist es. Aber die
+Ereignisse selbst sind wirklich, ebenso wie die Tatsache einer sich
+ausbreitenden Lichtwelle oder wie ein Menschenleben. Dabei ist jeder
+Standpunkt zulässig und gleichberechtigt mit jedem anderen. Es gibt
+keinen bevorzugten Ätherstandpunkt oder Erdstandpunkt oder
+Sonnenstandpunkt: daß die Erscheinungen von jedem Standpunkte gesehen
+miteinander harmonieren, trotz mancher Paradoxien, und niemals in
+wirkliche Widersprüche geraten können, zeigt die mathematische
+Ausführung der ganzen Lehre.</p>
+
+<p>Man wolle den Sinn des Wortes Relativität ja nicht so deuten, als ob
+alles Geschehen vom Standpunkte des Beobachters abhinge, als ob alles
+subjektiv wäre. Gerade der Wechsel des Standpunktes läßt erst das
+Naturgesetz in seinem unveränderlichen Kern hervortreten. Die
+Relativitätstheorie hat nicht nur eine negative, wegräumende, sie hat
+vor allem eine positive, aufbauende Seite. Als positive Aufgabe der
+Standpunktslehre wollen wir ausdrücklich statuieren: Die
+Gesetzmäßigkeit in der Natur als einen "Felsen aus Erz" aufzurichten,
+der hinüberragt über die wechselnden Erscheinungsformen von Raum und
+Zeit, der von allen Standpunkten aus zu sichten ist für denjenigen,
+dessen Auge mit dem Fernblick des mathematischen Organs ausgerüstet
+ist. Die Aufräumung alles metaphysischen, unbeobachtbaren Absoluten war
+ein großes Verdienst der neuen Theorie. Aber die Aufrichtung des für
+alle Standpunkte und Bezugssysteme Gültigen, Bleibenden und
+Unabhängigen war ihr größeres Verdienst. Mathematisch erreicht die
+Theorie dieses, indem sie die Unveränderlichkeit (Invarianz) der die
+Naturgeschehnisse beschreibenden Gleichungen gegenüber beliebigen
+Transformationen derjenigen Hilfsgrößen (Koordinaten von Raum und Zeit,
+Feldstärken, Energien) nachweist, durch die wir die Naturgeschehnisse
+beschreiben.</p>
+
+<p>Das ist gerade der Unterschied zwischen Mach und Einstein, dem
+Vorarbeiter und dem Vollender des Relativitätsgedankens. Bei Mach war
+der Blick auf das Negative gerichtet. Er wollte das Gestrüpp entfernen,
+das den Ausblick auf die Wirklichkeit versperrt, das Vorurteil eines
+absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Aber ihm entschwand bei
+dieser nützlichen Rodearbeit unter den Händen der Glaube an die
+Festigkeit der Naturgesetze. Er sagt einmal: "Die absolute Exaktheit,
+die vollkommen genaue eindeutige Bestimmung der Folgen einer
+Voraussetzung besteht nicht in der sinnlichen Wirklichkeit, sondern nur
+in der Theorie." Die Naturgesetze werden ihm zu ökonomischen Maßnahmen,
+zu Ordnungsschematen, in die sich die Mannigfaltigkeit der
+Erscheinungen bequem unterbringen läßt. Aber das ist es nicht, was wir
+brauchen. Naturgesetze von so unbestimmter und formalistischer Art
+wären kaum der Mühsal und Aufregung des Forschens wert. Der tastende
+Naturforscher, der auf dunklen Wegen nach einem geahnten Ziel strebt,
+braucht einen helleren Leitstern als die Machsche Lehre. Positivismus
+heißt diese Lehre bei seinen Nachfolgern, trotzdem ihr Verdienst
+wesentlich in der Negation des Unbeobachtbaren liegt. Einstein denkt
+anders. Das Negieren des Metaphysischen ist ihm nur das Mittel, um den
+Weg frei zu bekommen zur höchsten Bejahung der Naturgesetze, zu ihrer
+invarianten Gültigkeit, unabhängig von jedem Standpunkte. Es ist
+charakteristisch, daß die Positivisten den halben Einstein, den
+abbauenden, begeistert loben, den anderen Einstein, den aufbauenden,
+aber nicht anerkennen wollen. Ich hatte kürzlich einen ausgiebigen
+Briefwechsel mit einem geistvollen Vertreter des Positivismus, einen
+Briefwechsel, der natürlich zu keiner Einigung führte. Zum Schluß
+schrieb ich dem Kollegen: "Wenn Sie uns nicht die Exaktheit der
+Naturgesetze lassen, kann es zwischen uns keinen wirklichen Frieden,
+sondern nur eine achtungsvolle gegenseitige Duldung geben."</p>
+
+<p>Wir sind mit unseren letzten Äußerungen schon hinübergeglitten von
+dem Gedankenkreis der ursprünglichen, speziellen Relativitätstheorie zu
+der allgemeinen, voraussichtlich endgültigen Theorie; jene datierend
+von 1905, diese von 1915. Jene ließ nur die gleichförmig und geradlinig
+bewegten Bezugssysteme als berechtigt zu, diese erkennt jeden
+Standpunkt an und verwendet grundsätzlich alle möglichen Bezugssysteme
+zur Beschreibung der physikalischen Erscheinungen, also beliebig
+gedrehte und beschleunigte Bezugssysteme, veränderliche Maßstäbe und
+beliebig laufende Uhren. Sie behauptet, daß die Naturgesetze ihre Form
+beibehalten auch bei so allgemeiner Beschreibung, wenn wir nur von
+Anfang an den richtigen, hinreichend verallgemeinerten mathematischen
+Ausdruck der Naturgesetze wählen. Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu
+dieser allgemeinsten Auswirkung des Relativitätsgedankens war M i n k o
+w s k i s vierdimensionale Zusammenfassung von Raum und Zeit.</p>
+
+<p>Die Zeit hat eine Ausdehnung, der Raum drei; beide zusammen haben
+vier Dimensionen, das heißt: zur Fixierung eines Raumzeitpunktes, zur
+Beschreibung eines Ereignisses in Raum und Zeit sind vier unabhängige
+Zahlen erforderlich, von denen drei die räumliche, eine die zeitliche
+Lage angeben. Minkowski spricht von der v i e r d i m e n s i o n a l e
+n W e l t als der Zusammenfassung von Raum und Zeit. Es lassen sich auf
+diese vierdimensionale Welt die Gesetze der gewöhnlichen
+dreidimensionalen Geometrie übertragen, teils in zeichnerischer, teils
+und besonders erfolgreich in rechnerischer Verallgemeinerung. Ich kann
+von Ihnen nicht verlangen, daß Sie sich eine vierdimensionale Welt
+vorstellen sollen. Denn ich kann es selbst nicht. Aber wir können uns
+leicht eine zweidimensionale Welt vorstellen. Nehmen Sie einmal an, daß
+Sie als denkendes Wesen mit all Ihren Erfahrungen und Sinnen in eine
+Ebene gebannt wären. Dann gäbe es für Sie kein Oben und Unten, sondern
+nur ein Nebeneinander. In dieser ebenen Welt können sich
+Lichterregungen als Kreise, wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche,
+fortpflanzen. Sie können in der Ebene Erfahrungen sammeln und sich eine
+Geometrie aufbauen, die E u k l i d i s c h e G e o m e t r i e der
+Ebene, wie wir sie in der Schule gelernt haben. Aber Sie können niemals
+zu der Vorstellung z. B. eines Würfels gelangen. Sie können auf einer
+Geraden Ihrer Ebene ein Lot innerhalb der Ebene errichten, aber Sie
+können sich nicht anschauungsgemäß ein Lot auf der Ebene vorstellen,
+weil es für Sie nichts außerhalb Ihrer Ebene gibt. Wenn Sie aber als
+Flächenwesen hinreichende mathematische Phantasie haben, so können Sie
+doch begrifflich von Ihren zwei zu drei Dimensionen fortschreiten. Sie
+brauchen nur statt Ihrer zwei Koordinaten in der Ebene drei Koordinaten
+als Rechnungsgrößen einzuführen und können das Lot auf der Ebene durch
+Gleichungen in diesen drei Koordinaten beschreiben, von denen Sie sich
+allerdings nur zwei richtig vorstellen können. In demselben Verhältnis
+wie diese Flächenwesen zur dreidimensionalen Euklidischen
+Raumgeometrie, stehen wir zur vierdimensionalen Weltgeometrie. Wenn wir
+sie uns auch nicht vorstellen können, so können wir doch in ihr denken
+und rechnen. Insbesondere können wir uns ebene und räumliche
+Ausschnitte aus dieser Welt konstruieren, die dann wieder unserer
+Anschauung zugänglich sind.</p>
+
+<p>Im dreidimensionalen Raum ist uns die Erscheinung der
+perspektivischen Verkürzung geläufig. Diese Tischplatte erscheint mir
+von der Seite gesehen schmäler, als von oben gesehen. (Der Positivist,
+dem die Empfindungen selbst das letzte und einzige sind, würde sogar
+sagen: sie ist von der Seite gesehen schmäler als von oben gesehen.)
+Unter dasselbe Bild der perspektivischen Verkürzung, wenn wir es auf
+die vierdimensionale Welt übertragen, lassen sich alle die seltsamen
+Folgerungen bringen, die die Relativitätstheorie gezogen hat. Ein gegen
+den Beobachter bewegter Körper erscheint in der Bewegungsrichtung
+verkürzt (Lorentz-Kontraktion als einfachste Erklärung des
+Michelson-Versuches). Der Zeitablauf in einem gegen den Beobachter
+bewegten Bezugssystem erscheint diesem Beobachter verlangsamt
+(Aufhebung der Gleichzeitigkeit, Verjüngung eines unserer beiden
+Zwillinge vom Standpunkte des anderen). Die Masse eines Körpers, z. B.
+eines Elektrons, das sich gegen den Beobachter bewegt, erscheint diesem
+vergrößert, nämlich größer als einem Beobachter, der auf dem bewegten
+Körper selbst seine Beobachtungsgeräte aufstellt und die Masse des für
+ihn ruhenden Körpers mißt. Dieses Gesetz von der Massenveränderlichkeit
+des Elektrons wurde zum Prüfstein der ursprünglichen speziellen
+Relativitätstheorie. Zuerst bestritten, hat es sich im Laufe der Jahre
+mit immer größerer Genauigkeit als wahr herausgestellt, am schärfsten
+in den Feinsten Äußerungen bewegter Elektronen, in den Spektren der
+einfachsten Atome. Seitdem darf der Vorstellungskreis der speziellen
+Relativitätstheorie als experimentell gesichert gelten; seitdem haben
+wir uns in der vierdimensionalen Minkowskischen Welt wohnlich
+eingerichtet und wissen uns in ihren zum Teil paradox verzerrten
+Anblicken zurechtzufinden.</p>
+
+<p>Aber ich muß leider noch höhere Anforderungen an Ihre Abstraktion
+stellen. Denn nun muß ich Ihnen zeigen, wie Einstein die alte
+Rätselkraft der Gravitation in sein System eingearbeitet hat. Die
+Gravitation war seit Newton in der Formel des Newtonschen Gesetzes:
+"proportional den wirkenden Maßen, umgekehrt proportional dem Quadrat
+ihrer Entfernungen" erstarrt. Darüber hinaus hatte sich aus unseren
+täglichen Erfahrungen über die Erdschwere oder aus den Beobachtungen
+der Astronomen über die Gravitationswirkungen zwischen den Gestirnen
+nichts über ihre Wirkungsweise ergeben. Unter allen Kräften hatte sich
+die Gravitation allein als momentane Fernwirkung behauptet. Erst
+Einstein konnte ihr neue beobachtbare Seiten abgewinnen. Ich will Ihnen
+nicht den Weg schildern, wie Einstein nach manchen Kreuz- und
+Quergängen zum Ziel gekommen ist, sondern nur das Ziel selbst
+schildern, zu dem er gelangt ist.</p>
+
+<p>Stellen wir uns wieder auf den Standpunkt unseres Flächenwesens,
+aber versetzen wir uns diesmal nicht in eine Ebene, sondern in eine
+gekrümmte Fläche, z. B. auf eine Kugel. Wir können uns nicht aus der
+Kugeloberfläche entfernen, wir können nichts außerhalb der
+Kugeloberfläche wahrnehmen, weder dringt irgendeine Kunde vom Äußern
+noch vom Innern der Kugel zu uns. Es gibt auch jetzt für uns kein Oben
+und Unten, sondern nur ein Nebeneinander. Unsere Welt ist wie vorher
+nur zweifach ausgedehnt. Sie ist in diesem Falle übrigens nicht
+unendlich groß, sondern sie schließt sich im Endlichen. Es gibt keine
+Geraden in unserer Welt, sondern nur gewisse geradeste Linien. Das sind
+im Falle der Kugel die größten Kreise, z. B. die Meridiane von
+irgendeinem Pol aus, aber nicht die Parallelkreise. Stoßen wir einen
+Massenpunkt in der Ebene an, so läuft er in einer geraden Linie. Stoßen
+wir ihn in gleicher Weise auf der Kugel an, so läuft er, sich selbst
+überlassen und von keinen äußeren Kräften beeinflußt, in einer
+geradesten Linie, in einem größten Kreise um die Kugel herum. Die
+natürlichen kräftefreien Bahnen sind in der gekrümmten Fläche die
+geradesten Linien, wie sie in der nicht gekrümmten Ebene die geraden
+Linien sind. Konstruieren wir uns in der Kugelfläche eine Geometrie, so
+wird sie von der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie verschieden. Auf
+der Kugeloberfläche haben wir den einfachsten Fall der sogenannten
+Nicht-Euklidischen Geometrie. Während es in der Euklidischen Geometrie
+bekanntlich heißt: Die Winkelsumme im Dreieck ist gleich zwei Rechten,
+heißt es in der Nicht-Euklidischen Kugelgeometrie: Die Winkelsumme im
+Dreieck ist größer als zwei Rechte. Konstruieren wir z. B. ein Dreieck
+aus lauter geradesten Linien auf folgende Weise: Wir gehen vom Nordpol
+N auf einem Meridian bis zum Äquator, diesen entlang um ein Viertel
+seines Umfanges und abermals auf</p>
+
+<p><img src="images/figure2.png" alt="Fig. 2"></p>
+
+<p>einem Meridian zum Pol zurück, das letzte Stück im entgegengesetzten
+Sinne zu den eingezeichneten Pfeilen, auf deren Bedeutung wir später
+zurückkommen. Jeder Winkel dieses Dreiecks ist ein Rechter (in der
+Figur mit R bezeichnet), die Winkelsumme gleicht drei Rechten, also
+größer als zwei Rechte, wie es unser Satz von der Winkelsumme in der
+Nicht-Euklidischen Geometrie verlangt.</p>
+
+<p>Alle diese Behauptungen sind bequem durch die Anschauung zu
+kontrollieren. Aber nun kommt ein Schritt, zu dem eine gewisse
+intellektuelle Unerschrockenheit gehört. Unser Flächenwesen soll sich
+im Anschluß an seine Kugelfläche begrifflich einen dreifach
+ausgedehnten Raum konstruieren, der dieselben Eigenschaften hat wie
+seine Kugelfläche, in dem z. B. der Nicht-Euklidische Satz von der
+Winkelsumme allgemein gilt, und in dem alle geradesten Linien in sich
+zurücklaufen, also keine geraden Linien sind. Einen solchen "gekrümmten
+Raum" können wir uns nicht vorstellen; und doch müssen wir uns
+begrifflich und rechnerisch in ihm orientieren. Und mehr noch, wir
+müssen zu einer gekrümmten v i e r d i m e n s i o n a l e n W e l t
+fortschreiten und nicht nur zu einer gleichmäßig, nach Art der Kugel
+gekrümmten Welt, sondern zu einer Welt von w e c h s e l n d e n K r
+ü m m u n g s v e r h ä l t n i s s e n.</p>
+
+<p>Was hat nun dieser seltsame geometrische Vorstellungskreis mit der
+Gravitationstheorie zu tun? Gehen wir zunächst nochmals der besseren
+Übersicht wegen in unsere flache, nur zweifach ausgedehnte Welt zurück.
+Die Fläche sei zwar im allgemeinen und ungefähren eben, also nicht
+gekrümmt; sie habe aber Buckel, gekrümmte Auswölbungen an solchen
+Stellen, wo sich Massen befinden. Jede Materie ist Sitz mannigfacher
+Energieformen, chemischer und physikalischer Energien, welche in der
+Bindung der Atome untereinander und in dem Aufbau der Atome stecken.
+Statt Materie können wir daher auch allgemeine Energie im weitesten
+Sinne des Wortes sagen. Überall, wo sich physikalische Ereignisse
+abspielen und daher Energie lokalisiert ist, insbesondere in den
+Stellen stärkster Energiekonzentration, der greifbaren Materie, soll
+unsere flache Welt ausgewölbt sein, mehr oder minder, je nachdem wir es
+mit größerer oder geringerer Energiekonzentration zu tun haben.
+Betrachten wir insbesondere zwei solcher Buckel: einen von
+überwiegender Wölbung, den wir Sonne nennen, und einen kleinen Buckel,
+den wir Planet nennen. Wir geben letzterem einen Anstoß und lassen ihn
+durch unsere Welt laufen. Wäre der Sonnenbuckel nicht da und alles
+eben, so würde sich unser Planet auf gerader Bahn bewegen. Das
+Vorhandensein des Sonnenbuckels hat zur Folge, daß er sich statt dessen
+auf einer geradesten Bahn bewegt. Diese weicht von der Geraden um so
+mehr ab, je näher der Planet an die Sonne herankommt.</p>
+
+<p>Sie sehen hiernach bereits, wie sich dieses zweidimensionale
+Gleichnis zur Gravitationstheorie verhält. An den Stellen großer
+Energiekonzentration ist die Raumzeitstrukur eine singuläre, gekrümmte.
+die geradesten Bahnen in der Nähe solcher Stellen weichen weit ab von
+den geraden Bahnen; sie verhalten sich annähernd so, wie wir es aus der
+alten Gravitationstheorie her wissen, als Keplerellipsen. Dabei haben
+wir nicht nötig, eine besondere Gravitationskraft einzuführen. Bahnen,
+die lediglich unter dem Einfluß der Gravitation durchlaufen werden,
+sind kräftefreie, geradeste Bahnen; ihre Krümmung spiegelt nur die
+durch die Energieanhäufung bewirkte Weltkrümmung wider. Der
+Ausgangspunkt der Relativitätstheorie bleibt dabei durchaus erhalten.
+Raum und Zeit sind an sich nichts. Sie erhalten ihre Eigenschaften,
+ihre Struktur erst durch die in ihnen enthaltenen physikalischen
+Energien aufgeprägt.</p>
+
+<p><img src="images/figure3.png" alt="Fig. 3"></p>
+
+<p>Die Bahnen sind nach dieser Gravitationstheorie angenähert
+Keplerbahnen, aber nicht genau. Das Newtonsche Gesetz ergibt sich nur
+in erster Näherung; bei genauerer Rechnung treten Abweichungen auf. Die
+Ellipse ist keine geschlossene, sondern eine langsam sich drehende,
+eine solche von fortschreitendem Perihel. (Perihel heißt bekanntlich
+der Punkt größter Sonnennähe auf der Planetenbahn.) Die Figur zeigt in
+sehr Übertriebenem Maßstabe diesen Perihelfortschritt. Er ist um so
+stärker zu erwarten, je näher der Planet der Sonne kommt, also beim
+Merkur, dem sonnennächsten der Planeten am stärksten. Nach den
+Beobachtungen und Rechnungen der Astronomen tritt nun in der Tat beim
+Merkur eine Perihelbewegung auf, die sich nach der Newtonschen Theorie
+nicht erklären läßt. Sie beträgt hier 43 Bogensekunden im Jahrhundert;
+das will sagen, daß erst nach 30 000 Jahrhunderten die Merkurbahn in
+ihre Anfangslage zurückgekehrt erscheint. Bei den sonnenferneren
+Planeten, z. B. bei der Erde, ist das Fortschreiten des Perihels
+dagegen unmeßbar klein.</p>
+
+<p>Gerade diesen Wert von 43 Sekunden im Jahrhundert ergab nun die
+Einsteinsche Rechnung auf Grund seiner neuen Auffassung der
+Gravitation. Man beachte wohl: der Einsteinsche Gedankengang nahm
+seinen Ausgang von erkenntnistheoretischen Forderungen, hatte nirgends
+eine Unbestimmtheit oder Lücke, wußte von Hause aus nichts vom
+Merkurperihel und führte doch zwangläufig auf den astronomischen
+Beobachtungswert.</p>
+
+<p>Ich darf nicht verschweigen, daß eine kritische Überprüfung der
+astronomischen Angabe von 43 Sekunden, die Herr Kollege Großmann
+kürzlich durchgeführt hat, diesen Wert unsicherer erscheinen läßt, als
+die Astronomen bisher annahmen. Der wahrscheinlichste Wert liegt nach
+Herrn Großmann etwas tiefer als 43 Sekunden. Bis die Astronomen sich
+hierüber geeinigt haben werden, kann man also nur sagen, daß die neue
+Gravitationstheorie jedenfalls die Größenordnung der
+Merkur-Perihelbewegung richtig wiedergibt.</p>
+
+<p><img src="images/figure4.png" alt="Fig. 4"></p>
+
+<p>Wir kehren zu unserem Bilde des Sonnenbuckels in der
+zweidimensionalen flachen Welt zurück. Statt eines Planeten jagen wir
+jetzt einen Lichtstrahl an der Sonne vorbei. Auch dieser läuft auf
+einer geradesten Bahn; bei fehlender Weltkrümmung würde er eine gerade
+Bahn beschreiben. Auch hier wirkt, wie bei dem Planeten, die Krümmung
+des Raums in der Sonnennähe so, als ob eine Anziehung von der Sonne auf
+den Lichtstrahl ausgeübt würde, als ob der Lichtstrahl nach der Sonne
+hin fiele. Man denke an die analogen, aber im Grunde doch
+wesensverschiedenen Verhältnisse bei der atmosphärischen
+Strahlenbrechung, wo sich der Lichtstrahl in der Erdatmosphäre
+ebenfalls krümmt. Was wir hier zu erwarten haben, zeigt die nächste
+Figur. Der Stern A, der sein Licht hart an der Sonne vorbeischickt,
+erscheint dem Erdbeobachter nicht in A, sondern wegen der gekrümmten
+Form des Lichtweges in der Verlängerung des Strahlenendes, d. h. an der
+Stelle B des Himmelsgewölbes. Sonnennahe Sterne zeigen also eine
+scheinbare Ablenkung vom Sonnenrande fort. Natürlich läßt sich diese
+Ablenkung nur bei einer t o t a l e n S o n n e n f i n s t e r n i s
+beobachten, weil sonst das Sternlicht vom Sonnenlicht überstrahlt
+wird.</p>
+
+<p><img src="images/figure5.png" alt="Fig. 5"></p>
+
+<p>Am 29. Mai 1919 fand eine Sonnenfinsternis statt, die in Brasilien
+total war. Deutschland war von ihrer Beobachtung ausgesperrt, England
+rüstete zwei Expeditionen aus. Die Ergebnisse sind mir zugeschickt
+worden. Die Konstellation war besonders günstig, weil 7 verhältnismäßig
+helle Sterne in Sonnennähe standen. Unser Bild in Figur 5 stellt die
+verdunkelte Sonne mit ihrem leuchtenden Strahlenkranze, der Korona,
+dar. Die 7 Sterne sind durch kleine Kreise markiert.</p>
+
+<p>Von den Sternen aus sind die Ablenkungen als gerade Strecken
+aufgetragen, wie sie theoretisch nach Einstein sich errechnen; sie
+verlaufen in radialer Richtung und sind für die sonnennäheren Sterne
+größer als für die sonnenferneren. Der Maßstab ist dabei viele
+tausendmal übertrieben. Am Sonnenrande ist die theoretische Ablenkung
+nur 1,7 Bogensekunden, d. h. so klein, daß wir sie in unserem Bilde gar
+nicht einzeichnen können; im doppelten Abstande von der Sonnenmitte ist
+die Ablenkung noch halbmal kleiner. In demselben übertriebenen Maßstab
+sind nun auch die beobachteten Ablenkungen als Striche mit einer
+Pfeilspitze eingetragen. Die wirklichen Ablenkungen auf der
+photographischen Platte sind nur unter dem Mikroskop auszumessen und
+überhaupt nur indirekt festzustellen. Außer der
+Sonnenfinsternisaufnahme selbst wurde eine Aufnahme einige Wochen nach
+der Sonnenfinsternis gemacht, zu einer Zeit, wo sich die Sonne aus der
+fraglichen Gegend des Fixsternhimmels entfernt hatte. Überdies wurde
+eine dritte Vergleichsplatte aufgenommen, die in das photographierende
+Fernrohr verkehrt, d. h. mit der Glasseite nach außen, mit der
+Schichtseite nach innen eingelegt war. Diese Vergleichsplatte konnte
+dann mit den beiden Bebachtungsplatten, der bei der Sonnenfinsternis
+und der nach derselben aufgenommenen, Schicht auf Schicht zur Deckung
+gebracht werden. Die Ablenkungen der Sterne sind durch dieses indirekte
+Verfahren unter dem Mikroskop ausgemessen und nach dem
+Ausgleichsverfahren rechnerisch ermittelt worden. Wie unsere Figur
+zeigt, stimmen die so gewonnenen empirischen Ablenkungen aufs
+überraschendste mit den theoretischen überein. Sie zeigen nicht nur,
+wie diese annähernd die radiale Richtung vom Sonnenmittelpunkte nach
+außen hin (was zum Teil durch das angewandte Ausgleichsverfahren
+bewirkt wird, also noch nicht ohne weiteres beweisend wäre), sondern
+sie zeigen auch durchweg fast dieselbe Größe und die von der Theorie
+geforderte Größenabnahme bei zunehmender Entfernung des Sterns von der
+Sonne.</p>
+
+<p><img src="images/figure6.png" alt="Fig. 6"></p>
+
+<p>Dies wird besonders überzeugend im nächsten Bilde dargetan, welches
+dem englischen Originalbericht entnommen ist. Nach oben hin sind die
+Sternablenkungen, nach rechts hin die reziproken Abstände vom
+Sonnenmittelpunkte aufgetragen, mit denen die theoretischen Ablenkungen
+proportional gehen. Die Abnahme der Ablenkung mit zunehmender
+Entfernung von der Sonne wird theoretisch durch die stark ausgezogene
+Gerade dargestellt. Die wirklichen Beobachtungspunkte (durch starke
+Punkte wiedergegeben) liegen dieser Geraden äußerst nahe, viel näher
+als der punktierten Geraden, welche nach einer älteren, nicht
+konsequenten Theorie Einsteins die Sternablenkung darstellen würde. Man
+wende nicht ein, daß die Ablenkung des Sternortes durch die
+Sonnenatmosphäre bewirkt sein könnte. In so großen Entfernungen, wie
+sie hier in Frage kommen, ist die Sonnenatmosphäre einfach belanglos.
+Die astronomischen Sachkundigen sind sich darüber einig, daß die
+Beweiskraft der englischen Sonnenfinsternisaufnahmen bündig ist.</p>
+
+<p>Das Ziel jeder Wissenschaft ist, nach einem schönen Worte des
+Mathematikers Jacobi, die Ehre des menschlichen Geistes. Der 29. Mai
+1919 wird für alle Zeiten ein Ehrentag des menschlichen Geistes
+bleiben.</p>
+
+<p>Neben dem Merkurperihel und den Sonnenfinsternisbeobachtungen gibt
+es noch ein drittes Kriterium für die Einsteinsche Gravitationstheorie:
+die Rotverschiebung von Spektrallinien, die auf der Sonne entstehen,
+gegenüber den Spektrallinien des gleichen Stoffes, wenn sie unter
+irdischen Verhältnissen hervorgerufen werden. Man kennt, seitdem es
+eine Astrophysik gibt, die Erscheinung des sogenannten Dopplereffektes.
+Sie besteht in der Verschiebung eines Spektrums nach der roten Seite
+hin bei Sternen, die sich von der Erde entfernen, in einer Verschiebung
+nach der violetten Seite bei Sternen, die auf die Erde zukommen. Die
+Größe dieser Verschiebung entspricht der Geschwindigkeit, mit der sich
+der betreffende Stern von uns fort oder auf uns zu bewegt. Man pflegt
+daher auch die von Einstein vorhergesagte Rotverschiebung im
+Sonnenspektrum durch eine Geschwindigkeit zu charakterisieren, die im
+Dopplereffekt dieselbe Rotverschiebung bewirken würde, und zwar beträgt
+diese Geschwindigkeit 0,6 Kilometer in der Sekunde.</p>
+
+<p>Über den physikalischen Grund dieser Rotverschiebung sei hier nur
+soviel gesagt, daß er natürlich nicht wie der gewöhnliche Dopplereffekt
+in einer relativen Bewegung der Sonne gegen die Erde, sondern in dem
+Gravitationsfelde der Sonne liegt. Dieses ist außerordentlich viel
+stärker als das Schwerefeld der Erde. Die Rotverschiebung entspricht
+direkt dem Unterschied der Schwere an der Sonnenoberfläche und
+Erdoberfläche.</p>
+
+<p><img src="images/figure7.png" alt="Fig. 7"></p>
+
+<p>Das geeignetste Versuchsobjekt zur Prüfung dieses Effektes bilden
+Linien der sogenannten Zyanbanden. Merkwürdigerweise konnten die mit
+den besten Hilfsmitteln ausgestatteten amerikanischen Sternwarten keine
+systematische Verschiebung dieser Linien nach der roten Seite
+nachweisen. Die Bonner Physiker Grebe und Bachem haben aber erst
+gezeigt, mit welcher Vorsicht man beim Vergleich der Sonnenlinien und
+der Linien aus irdischen Lichtquellen vorgehen muß, um sichere
+Resultate zu erhalten. Beide Spektren enthalten nicht nur die in Rede
+stehenden Zyanlinien, sondern daneben ein Gewirr von Linien anderen
+Ursprungs, die sich jenen überlagern. Photometriert man ein solches
+Spektrum, d. h. stellt man die Lichtintensität in ihrer Abhängigkeit
+von der Wellenlänge durch ein Schaubild dar, so entsteht eine
+Zackenkurve nach Art eines Gebirgskammes. Nur solche Linien sind
+einwandfrei, die im Schaubild durch eine isolierte Zacke dargestellt
+werden; wenn eine Erhebung fremden Ursprungs in der Nähe liegt, fälscht
+sie die Lage der Hauptzacke und macht sie zur Untersuchung der
+Rotverschiebung ungeeignet. Bei diesem kritischen Vorgehen erwiesen
+sich von 36 gemessenen Zyanlinien nur 9 als unverdächtig und brauchbar.
+Nach R. T. Birge ist die Auswahl sogar noch weiter zu beschränken auf
+zwei von diesen Linien. Und siehe da: Wenn alle verdächtigen Linien
+ausgeschaltet und nur die 9 bzw. 2 tadellosen benutzt werden, so ergibt
+sich der richtige Betrag der Rotverschiebung, wie er von Einstein
+vorhergesagt wurde, nämlich rund 0,6 Kilometer in der Sekunde.</p>
+
+<p><img src="images/figure8.png" alt="Fig. 8"></p>
+
+<p>Ich möchte noch ein letztes Beispiel zur Sprache bringen, welches
+zwar nicht als Prüfstein der Einsteinschen Gravitationstheorie, wohl
+aber als Mittel zu ihrer Veranschaulichung wertvoll ist. Wir wissen,
+daß ein Kreisel, der aufgezogen ist und keinen äußeren Kräften
+unterliegt, bestrebt ist, seine Richtung im Raume beizubehalten. Unsere
+Erde ist ein solcher Kreisel von gewaltigen Ausmessungen. Freischwebend
+im Raum würde er die Richtung seiner Drehachse nicht ändern. In
+Wirklichkeit beschreibt die Erdachse in langsamstem Tempo einen Kegel
+um die Normale zur Erdbahnebene (Ekliptik). Figur 8 zeigt die Erde mit
+eingezeichneter Erdachse in ihrem Umlauf um die Sonne und deutet in
+ihrer Stellung am weitesten rechts den Kegel an, den die Erdachse im
+Verlauf vieler Umläufe beschreibt. Der Kegel wird erst in 26 000 Jahren
+vollständig durchlaufen, in jedem Jahr beträgt die Winkelverlagerung 50
+Sekunden (Präzession der Äquinoktien). Nach der gewöhnlichen Auffassung
+rührt diese Verlagerung der Erdachse von der Anziehung der Sonne auf
+den am Äquator wulstförmig aufgetriebenen Erdkörper her, also daher,
+daß die Erde kein kräftefreier, sondern ein von der Sonnengravitation
+beeinflußter Kreisel ist. In der Einsteinschen Theorie aber ist die
+Gravitation keine äußere Kraft; die Gravitationsbahnen der
+fortschreitenden sowohl wie der drehenen Erdbewegung verlaufen
+kräftefrei als geradeste Bahnen im gekrümmten Raume; die Erdachse
+sollte also im Schwerfelde sich selbst parallel bleiben. Was aber
+heißt: sich selbst parallel bleiben im Nicht-Euklidischen Sinne, bei
+gekrümmter Raumstruktur?</p>
+
+<p>Wir ziehen nochmals unsere Figur 2 zu Rate. Wir gehen jetzt vom
+Nordpol aus zunächst auf unserem ersten Meridian äquatorwärts und
+halten dabei stets einen geraden Stab vor uns hin. Zweifellos bleibt er
+bei dieser Wanderung sich selbst parallel, da er dabei ja dauernd in
+die Richtung einer geradesten Bahn, in den Meridian, weist. Im Äquator
+angelangt, steht er senkrecht zu diesem. Soll er sich selbst parallel
+bleiben, so muß er dauernd senkrecht zum Äquator gehalten werden,
+solange wir den Äquator abschreiten. Gehen wir auf dem zweiten Meridian
+zum Pole zurück, so bleibt unser Stab wieder sich selbst parallel, wenn
+er dauernd die Richtung dieses Meridians einhält. Kommen wir in den Pol
+zurück, so hat sich, wie unsere Figur zeigt, unser Stab um einen
+rechten Winkel gedreht, trotzdem er dauernd mit sich parallel war!
+Nehmen wir statt des Stabes einen Kreisel zur Hand, so stellt sich
+dessen Drehachse selbst so ein, wie wir soeben die Stabachse richteten;
+es gilt also für den Kreisel das gleiche wie für unseren Stab: Trotzdem
+er mit sich parallel bleibt, schließt er nach beendetem Umgang einen
+Winkel gegen seine Anfangslage ein. Der Grund liegt in der Krümmung der
+Kugelfläche. Bei einem Umgang in der Ebene, das heißt: wenn wir ein
+ebenes Dreieck mit einem Kreisel in der Hand umschreiten, würde von
+einer Winkelverlagerung des Kreisels keine Rede sein.</p>
+
+<p>Die Anwendung auf das Problem der Erdachse ist unmittelbar
+einleuchtend. Dem Umgang um das Kugeldreieck entspricht bei der Erde
+ihr jährlicher Umgang um die Sonne, der Kugelkrümmung die von der Sonne
+bewirkte gekrümmte Raum-Zeit-Struktur. Indem die Erdachse nach einem
+Umgang um die Sonne in den Frühlings-Tagundnachtgleichenpunkt
+zurückkehrt, schließt sie einen Winkel mit sich ein. Dieser beträgt
+zwar nicht, wie in unserem Beispiel, einen Rechten, sondern nur 50
+Sekunden, hat aber dieselbe Bedeutung wie jener, er zeigt uns nämlich
+an, daß der umlaufene Flächeninhalt der Erdbahn nicht eben, sondern
+gekrümmt war. Man sieht, wie schön und einfach sich die ältere
+Auffassung, nach der die Gravitation als äußere Kraft wirkt, in die
+neuere Auffassung umsetzt, nach der sie sich nur auf dem Wege über die
+Verkrümmung der Welt äußert. Beide Auffassungen sind im Ergebnis
+gleich; nur insofern, als die neue Auffassung eine Korrektion am
+Newtonschen Anziehungsgesetz mit sich bringt, eine Korrektion, die sich
+z. B. in der Perihelbewegung des Merkur äußerte, wird auch die nach
+Einstein berechnete Winkelverlagerung der Erdachse bei ihrem jährlichen
+Umgang um die Sonne ein wenig verschieden von der nach Newton
+berechneten ausfallen. Doch betrifft diese Verschiedenheit nur die
+höheren Dezimalen der angegebenen Zahl von 50 Sekunden. Als Kriterium
+für oder wider Einsteins Gravitationstheorie wird also diese
+Erscheinung nicht dienen können, insbesondere deshalb nicht, weil zu
+ihrer praktischen Verwertung eine anderweitige Kenntnis der Mondmasse
+erforderlich wäre.</p>
+
+<p>Hiernach kehren wir von Sonne, Mond und Sternen zu unserem
+Standpunkt auf der rotierenden Erde zurück. Nach unserem
+Relativitätsglauben ist jeder Standpunkt berechtigt, auch derjenige auf
+einem rotierenden Bewegungssystem. Die Naturgesetze gelten für diesen
+Standpunkt ebenso wie für jeden anderen, wenn wir sie nur hinreichend
+allgemeingültig gefaßt haben. Ja, es entsteht die Frage: Was heißt
+überhaupt rotieren? Hat es einen Sinn, von der rotierenden Erde zu
+reden, wenn Sonne und Fixsterne nicht da Wären, an denen wir die
+Rotation der Erde doch erst wahrnehmen können? Würde es nicht wieder
+einen absoluten Raum oder einen Äther voraussetzen, gegen den die
+Drehung gedacht wird, wenn wir von der Erddrehung schlechtweg, ohne
+Beziehung zum Sternhimmel, sprechen wollten? Wie aber steht es dann mit
+den Folgen der Erddrehung, den Fliehkräften, die wir bei der Drehung
+des Foucaultschen Pendels oder die wir in der Abplattung der Erde
+beobachten? Wenn die Erddrehung nur relativ zu den Gestirnen gedacht
+werden kann, nur durch Vorhandensein äußerer Massen ermöglicht wird, so
+können auch die Fliehkräfte der Erddrehung ihre Existenz nur dem
+Vorhandensein der Gestirne verdanken, sie müssen als Wechselwirkungen
+zwischen diesen und den Massen der Erde aufgefaßt werden.</p>
+
+<p>Bis zu diesem fundamentalen Schluß war Mach gekommen. Durch ihn hat
+er Einstein den Weg bereitet. Mach stellte eine Frage und Einstein
+beantwortete sie. Er beantwortete sie zugleich mit seiner Antwort auf
+die Rätselfrage der Gravitation. Die Gravitation erwies sich als eine
+Scheinkraft, de ihren Grund in der Raumstruktur hat. Auch die
+Fliehkräfte sind Scheinkräfte oder Trägheitskräfte, die nach Newton
+ihren Grund in dem absoluten Charakter der Rotation haben würden. D i e
+s e n Grund können wir nicht gelten lassen. Aber stellen wir uns auf
+den Standpunkt des gedrehten Bezugssystems. Wenn äußere Massen und
+Geschehnisse vorhanden sind, die an der Drehung nicht teilnehmen, so
+wandern diese gegen das Bezugssystem. Da sie ihrerseits eine Verzerrung
+der Raumstruktur bedingen, de mit ihnen umläuft, erscheint die
+Raumkrümmung vom gedrehten System aus anders als ohne Drehung. Diese
+vom Standpunkt abhängige Änderung der Raumkrümmung bedingt
+Scheinkräfte, die wir mit der Gravitation auf eine Stufe stellen
+können. Diese Scheinkräfte sind die Fliehkräfte der Erdumdrehung. Wären
+aber Massen und Geschehnisse außerhalb der Erde nicht vorhanden, so
+könnten Fliehkräfte nicht auftreten; die im Raum isolierte Erde könnte
+sich, physikalisch gesprochen, nicht drehen, das heißt: sie könnte
+keine beobachtbaren Anzeichen ihrer Umdrehung verraten.</p>
+
+<p>Die Wesensgleichheit von Schwerkräften und Trägheitskräften, auf die
+wir so geführt worden sind, findet ihre überzeugende Bestätigung in der
+Gleichheit von schwerer und träger Masse. Vor hundert Jahren durch
+Bessels Pendelbeobachtungen bewiesen, hat diese Identität zweier
+scheinbar verschieden definierter Größen viel zu wenig Beachtung
+gefunden. Erst jetzt sind uns die Augen geöffnet, sie richtig zu sehen
+und sie in Zusammenhang zu bringen mit der Erneuerung unserer
+Zeit-Raum-Auffassung und mit der Vertiefung aller Naturgesetze.
+&mdash;</p>
+
+<p>Was würde nun unser Pfarrer von Ufenau zu dieser Wendung der Dinge
+sagen, wenn sie ihm ein fahrender Schüler des zwanzigsten Jahrhunderts
+anvertrauen würde? Würde er glauben, daß Herr Köpernick umsonst gewacht
+hat? Sicherlich nicht. Der Wechsel des Standpunktes, den Kopernikus
+vornahm, war der erste Schritt zur Wahrheit. Der Erdstandpunkt des
+Ptolemäischen Systems mußte zuerst einmal aufgegeben und durch den
+Sonnenstandpunkt des Kopernikanischen ersetzt werden. Indem Kopernikus
+Sonne und Fixsterne stillstehen und die Erde wandern hieß, erhielt er
+ein vereinfachtes Weltbild. Die Raumkrümmung wird von diesem Standpunkt
+aus so gering wie möglich, der Raum erscheint so euklidisch, als es
+nach Lage der Sache sein kann. Deshalb wird der Kopernikanische
+Standpunkt für alle Zeiten dem rechnenden Astronomen und dem
+beobachtenden Erdbewohner die besten Dienste leisten. Aber dieser
+Standpunkt ist nicht mehr der einzig mögliche. Es ist zwar sehr
+unpraktisch, aber nicht mehr falsch zu sagen: Die Erde ruht und die
+Sonne wandert. &mdash; Darüber hinaus sehen wir mit E i n st e i n den
+wahren und endgültigen Standpunkt darin: alle Standpunkte souverän zu
+umfassen, je nach der besonderen Aufgabe den Standpunkt besonders zu
+wählen und zu der Überzeugung vorzudtingen: Die Natur ist, unabhängig
+von dem wechselnden menschlichen Standpunkte, immer gleich groß und
+gleich gesetzmäßig.</p>
+
+
+
+
+<h2><a name="eco">GEGENWARTSFRAGEN DES DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSLEBENS<br>VON
+UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. GOETZ BRIEFS (WÜRZBURG)</a></h2>
+
+<blockquote> Anmerkung: Der Aufsatz wurde Ende August 1921
+abgeschlossen. G.B.</blockquote>
+
+<p>Wer dieses Thema liest, möchte leicht geneigt sein, es umzuändern
+in: die Fraglichkeit des deutschen Wirtschaftslebens. Und wer sich mit
+dem vollen Ernst dieser Fraglichkeit erfüllt hat und sieht, welche
+Zusammenhänge heute von der Wirtschaft in alle anderen deutschen Lebens
+gebiete bis in die Kultur, in die politische Freiheit und das
+Volksleben ausstrahlen, möchte wohl von der Fraglichkeit des deutschen
+Lebens im ganzen sprechen und die düstersten Zukunftsbefürchtungen
+daran anschließen.</p>
+
+<p>Zu jäh ist für uns alle dieser Titanensturz, den Volk und Reich seit
+jenen tragischen Juli- und Augusttagen 1914 erlebt haben. Wir sind wie
+betäubt vom Sturz. Wir wissen nur eines: Nicht am Boden liegen bleiben!
+Sonst ist Ehre, Reich und Volk auf immer verloren. Wo standen wir? Wo
+stehen wir? Das sind die festen Punkte, an denen wir Richtung nehmen,
+um uns zunächst einmal mit der vollen Schwere dessen zu erfüllen, was
+geschehen ist, und um an ihnen zu ermessen, was nun geschehen soll.</p>
+
+<p>Wo standen wir? Wir jüngere Generation kennen aus eigenem Erlebnis
+der Vorkriegszeit nur das starke, stolze Reich, das im Inneren Einigung
+und Blüte, nach außen schimmernde Wehr und hohe Geltung besaß. Die
+Reibungen unseres innerpolitischen und wirtschaftlich-sozialen Lebens
+schienen uns Wachstumsschmerzen, die keinen verschonen, aber mit denen
+man fertig wird. Unsere Weltgeltung stand auf der Stärke einer
+gewaltigen Kriegsmacht und einer Wirtschaftsmaschine von unerhörter
+Leistungsfähigkeit, aber auch auf sozialen Kulturtaten und geistigen
+Leistungen, die vorbildlich waren. Mit diesen Eindrücken von Macht,
+Größe und Reichtum erfüllte sich unsere Seele. Wer von uns draußen war,
+sah auf allen Meeren, in allen Ländern die Zeichen eines aufstrebenden,
+gewerbefleißigen, "in allen Künsten und Hantierungen geschickten"
+Volkes, das im Herzen Europas saß und von dort aus das Reich seines
+wirtschaftlichen und technischen Unternehmungsgeistes aufbaute. Das war
+das Deutschland der jüngsten Vorkriegsgeneration. Ihre Väter und
+Großväter noch hatten das andere alte Deutschland gekannt, jenes
+Deutschland, das weltpolitisch und weltwirtschaftlich nicht viel mehr
+als ein geographischer Begriff, "Provinz" war; jenes Deutschland,
+dessen Getreideausfuhr der Londoner Produktenbörse den Namen "Baltic"
+gab, jenes bäuerlich-handwerkerliche Deutschland, das oft genug
+auslaufende fremde Schiffe mit Sand als Ballast befrachten mußte, weil
+ihm Waren zur Ausfuhr fehlten, jenes Deutschland, dessen Vorstellung
+für Gladstone noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts verbunden war
+mit Ärmlichkeit, Spießbürgertum, viel Militär und einem Bündel von
+Kleinstaaten. Und greift man nun zurück auf die ersten Jahrzehnte des
+19. Jahrhunderts, dann taucht man in die schwere Luft eines
+kontinentalen bäuerlich-handwerkerlichen Volkstums ein, das politisch
+nicht zu eigener Form kam, dessen Ohnmacht im Konzert der Völker mit
+seiner Zersplitterung wetteiferte, und das im ganzen mehr Objekt als
+Subjekt der hohen Politik war. Wenn in jenen Zeiten der deutsche Name
+in fremden Landen respektvoll genannt wurde, dann war es um der Werte
+des G e i s t e s willen. Wer von den großen Geistern unserer
+klassischen Zeit war Prophet und Seher genug, vorauszuschauen, was aus
+diesem Volke im Laufe zweier oder dreier knapper Generationen werden
+sollte! Wer von ihnen h o f f t e auch nur auf jene Wendungen in
+unserem Geschick, die wir als Volk bald nahmen? Dem Briten die See, dem
+Franzosen das Land, dem Deutschen das Reich des Geistes: das war jene
+nicht etwa schmerzvoll den Tatsachen entnommene, sondern aus innerstem
+Bewußtsein gewertete Teilung der Erde, die Schiller in einem seiner
+Gedichte vor Augen hat. Freilich: das konnte der Dichter wohl nicht
+ahnen, daß das "Luftreich der Gedanken" der Boden sein werde, auf dem
+der beispiellose deutsche Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19.
+Jahrhunderts reifen würde. Man möge in dem trefflichen Buche: "Die
+deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert" selbst nachlesen, was
+Sombart mit großer Meisterschaft der Darstellung zu erzählen weiß von
+dem Leben der dritten Generation vor uns, von ihrem Schaffen und Mühen,
+von der Kleinheit &mdash; und so schien uns wenigstens in den reichen
+Tagen der Vorkriegszeit &mdash; Ärmlichkeit dieses Lebens! "Eine an
+Dürftigkeit grenzende Einfachheit" allerorten, in Wirtschaft und Staat,
+im privaten Leben und in der Gesellschaft!</p>
+
+<p>Beengt, klein, dürftig blieb im ganzen genommen das Dasein unseres
+Volkes bis in hohe Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Gewiß, es kamen
+schon stärkere Impulse; im Westen und Süden regte sich industrielles
+Leben, das in Friedrich List den genialen Anwalt seiner Bedeutung für
+das ganze Volkstum fand. Aber der eigentliche Aufmarsch der deutschen
+Wirtschaft zu jener Stärke und Geltung, in deren Bewußtsein wir
+aufgewachsen sind, liegt sehr erheblich später. Noch in den sechziger
+Jahren hatten wir eine stärkere Getreideausfuhr als Einfuhr; erst 1873
+verschwand der letzte Getreideausfuhrüberschuß, der Weizenüberschuß. Es
+war damals noch nicht die Konkurrenzunfähigkeit der deutschen
+Landwirtschaft die Ursache der Einfuhrüberschüsse bei Getreide, sondern
+die verstärkte Hinwendung der Landwirtschaft zum Kartoffel-,
+Futtermittel- und Rübenbau. Aber diese Wendung leitete eine
+wirtschaftliche Umwälzung ein: an der Zuckerrübe wurde eine der ersten
+und blühendsten deutschen Industrien wach, auf den Kartoffelböden des
+Ostens entstand eine landwirtschaftliche Nebenindustrie (Brennereien
+und Stärkefabriken) von großer Bedeutung. Im Westen und Süden
+entwickelte sich im Anschluß an eine alte Tradition des Gewerbefleißes
+eine Industrie der Textilien, des Eisens und der Kohle; sie hatte
+jahrzehntelang einen schweren Stand gegenüber der hochentwickelten
+englischen Industrie wie auch gegenüber dem französischen und
+belgischen Wettbewerb, der teilweise mit Ausfuhrprämien arbeitete.
+Aufschwungsimpulse von größter Bedeutung waren die Reichseinigung, die
+Kriegsentschädigung von 1870 und das gehobene Nationalgefühl, das nach
+dem glorreichen Kriege durch das deutsche Volk ging. Die Bevölkerung
+wuchs von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in starken Rhythmen, das industrielle
+Leben entfaltete sich, wenn auch über Wellentäler von Depressionen weg,
+so doch im ganzen stark und nachhaltig; die Schutzzollgesetzgebung von
+1879 kräftigte jenes Doppelfundament der deutschen Wirtschaft,
+Industrie und Landwirtschaft gegen die vom Weltmarkt her drohenden
+Erschütterungen. Wenn schon in den letzten Jahrzehnten des 19.
+Jahrhunderts die deutsche Industrie- und Reichtumsentfaltung den
+ausländischen Beobachtern so überraschend &mdash; und gestehen wir auch
+das, in mancher Hinsicht überstürzt und gewaltsam &mdash; vorkam, so
+waren das nur Auftakte zu jener ungeheuren, fast möchte man sagen:
+elementaren Expansion, die mit dem neuen Jahrhundert einsetzte.</p>
+
+<p>Drei Züge kennzeichnen diesen neuen Abschnitt der deutschen
+Wirtschaftsentfaltung: das Aufschießen von Riesenbetrieben, zumal in
+der Kohlen- und Eisenindustrie, in der chemischen und
+Elektrizitätsindustrie; weiterhin der Organisationsprozeß der deutschen
+Wirtschaft in Gestalt von Betriebskombinationen, Kartellen, Syndikaten,
+Interessengemeinschaften usw.; und drittens das Vordringen der
+wissenschaftlich fundierten Industriewirtschaft, mit anderen Worten:
+der wirtschaftlichen Auswertung naturwissenschaftlicher Forschungen
+einerseits, andererseits des Aufbaues von Betrieben und Unternehmungen
+nach Methoden, die wissenschaftlich auf ihre höchste Zweckmäßigkeit
+ausgeklügelt sind. Während Großbetriebe, Kartelle und Truste Ergebnisse
+von Tendenzen sind, die alle moderne Wirtschaft in fast allen Ländern
+kennzeichnen, ist der Weg zur Wirtschaft über die Wissenschaft ein
+spezifisch deutscher Weg gewesen; seine geistigen und sittlichen
+Voraussetzungen lagen nur hier in der Stärke und Reinheit vor, die
+nötig waren, ihn zu beschreiten und zu erobern. Jedenfalls ist das
+Schrittmaß der deutschen Wirtschaftsentwicklung unter dem Antrieb jener
+neuen Organisationsformen und Produktionsmethoden so schnell, daß in
+seinem Gefolge schwerwiegende Erscheinungen im Inneren des deutschen
+Volkskörpers auftauchten. Noch schwerer wiegende nach außen!</p>
+
+<p>Ein wachsendes Volk auf schmaler Rohstoffbasis! Was das wachsende
+Volk an Nahrung und Kleidung brauchte, konnte der deutsche Boden allein
+nicht hergeben; die Einfuhr mußte über eine Million Tonnen Brotgetreide
+und für eine Milliarde Mark (Goldmark!) Futtermittel zuschießen; dazu
+Milliardenbeiträge für Wolle, Baumwolle, Erze usw. Wir könnten diese
+wenigen Angaben noch vermehren um den Hinweis auf den stark
+anwachsenden Tonnengehalt unserer Handelsflotte, die Ausweise unserer
+Banken, die deutsche Kapitalanlage im Auslande, unsere Steuerkraft und
+vieles andere mehr. Doch genug der Zahlen! Sie sind heute schmerzvolle
+Erinnerungen. Wer sich sinnfällig den Unterschied des damaligen und des
+heutigen Deutschlands vergegenwärtigen will, überlege nur einen
+Augenblick den Wert der Mark von heute gegenüber dem der alten
+Goldmark. Der Unterschied redet eine Sprache, die auch der Einfältige
+versteht.</p>
+
+<p>Und doch müssen wir noch einmal vom alten Deutschland reden, ehe wir
+uns dem armen Deutschland unserer Tage zuwenden, und zwar nach einer
+doppelten Hinsicht. Ein Volk, das keine Hoffnung mehr sieht und auf
+Generationen hinaus Wüstenwanderung vor sich hat, gibt sich auf. Haben
+wir dazu Anlaß? Wir hätten Anlaß dazu, wenn alle Wurzeln unserer
+Vorkriegsblüte verdorrt wären. Stellen wir fest, welches diese Wurzeln
+waren. 1. La n d als Grundlage von Ackerbau und Viehzucht, Land als
+Fundstätte von Rohstoffen und Kraftquellen, Land als räumliche
+Grundlage von Leben und Wohnen. Nach allen drei Richtungen haben wir
+schmerzvollste Verluste erlitten, aber keine, die nicht mehr oder
+minder zu mildern wären. 2. Die natürliche Lebenskraft der N a t i o n:
+Arbeitskraft, Geschlechtsverteilung, Altersaufbau, Gesundheit. Auch
+hier sind schwere Einbußen zu verbuchen, aber wiederum keine, die nicht
+auszugleichen oder zu ertragen wären. 3. K a p i t a l k r a f t,
+Vermögensmacht, Reichtum, "Wohlstand": hier liegt die gewaltigste
+Einbuße vor, diejenige auch, die am wenigsten von heute auf morgen
+ausgeglichen werden kann. Hier ist Anlaß, in der Tat von einer
+hochgradigen Verarmung zu reden. Teils ist sie eine Folge der
+Erschöpfung unserer Reichtumsquellen durch den Krieg, teils der
+Ausplünderung und Ausraubung durch den Frieden. Wenn es heute ein
+"Proletariervolk" im Sinne eines Volkes, das in Dürftigkeit von der
+Hand in den Mund lebt, gibt, dann sind w i r e s. Wir sind das
+Proletariervolk, auf das für Jahrzehnte hinaus ungeheuerliche
+Verpflichtungen gelegt sind. Wir sind ein verarmtes, ausgeraubtes Volk,
+das noch von seiner Hände Arbeit und von seiner Armut Fabelsummen in
+Gold ausgepreßt bekommt. Hier liegt der Punkt, wo die Wirtschaftslage
+in das allgemeine Leben des ganzen Volkes auf Jahrzehnte hinaus
+empfindlich einzuschneiden droht. Alle Kultur, alle Zivilisation, alle
+Bildung des Geistes und des Herzens, alle soziale Fürsorge, alle gute
+Verwaltung, alle Schaffung von Recht und Sicherheit hängt mit tausend
+Fäden an der Wirtschaftsblüte; sie entscheidet über das Leben
+ungeborener Geschlechter, und vor allem darüber, ob der junge Aufwuchs
+der Nation an Leib und Seele verkrüppelt und verwildert aufwächst oder
+nicht; sie entscheidet darüber, ob Mitteleuropa zurücksinkt in die
+stumpfe Dumpfheit und Stickigkeit einer geistig und physisch elenden
+Volksmasse, und weiterhin darüber, ob sich damit die Nachtschatten über
+ganz Europa senken. Denn man kann nicht das Mittelstück eines Kultur-
+und Zivilisationszusammenhanges mit frevlen Händen herausbrechen und
+sich dabei einbilden, das könnte den Anschlußstücken in Ost und West
+von Vorteil sein. Die wirtschaftliche Erschöpfung bei gleichzeitiger
+Überbürdung mit Verpflichtungen ist der Boden der schlimmsten
+Gegenwartsbefürchtungen; an diesem Punkte kann a l l e s fraglich
+werden. Ob die Befürchtungen sich verwirklichen, hängt ab von der
+Freiheit, die man unserer Arbeitskraft, unserer Unternehmungslust und
+unserem Erfindergeist im fremden Lande gewähren wird, und hängt nicht
+zuletzt ab von der tätigen Hilfe in Gestalt von Krediten,
+Rohstoffvorschüssen und vor allem Verpflichtungserleichterungen, die
+uns das Ausland gewährt 4. S i t t l i c h e E i g e n s c h a f t e
+n: Arbeitswilligkeit, Arbeitsfreude, Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit,
+Genügsamkeit, Wille zum Vorwärtsstreben, Mut zum Leben. Wer will
+behaupten, daß diese Eigenschaften, die gewiß zeitweise getrübt und in
+manchen Einzelgruppen heute noch geschwächt sind, im ganzen
+unerträglich gelitten hätten? Nur interessierte Böswilligkeit oder
+Unverstand kann derartiges behaupten. Festzustellen ist wohl, daß das
+Maß der Leistungen nicht so stürmisch und ungezügelt ist wie früher.
+Aber das hat seine besonderen Gründe in schlechter Lebenshaltung,
+wirtschaftlichen Beengungen durch den Friedensvertrag und seine Folgen
+und ist übrigens zu einem Teil eine verständliche Reaktionserscheinung
+auf de ungeheueren Anforderungen der letztem sieben Jahre. 5. D e r d
+e u t s c h e S t a a t. Sicher war das alte Staatsgefüge mit seiner
+inneren Ordnung, seiner Stärke und Macht nach außen ein gewichtiger
+Hebel wirtschaftlichen Aufstiegs. Zweifellos hat die allgemeine
+Heerespflicht Eigenschaften geweckt und gefördert, Sachverhalte
+geschaffen, die der Wirtschaft zugute kamen. Was ein starker, politisch
+unabhängiger Kultur- und Machtstaat der Wirtschaft zu bieten vermag,
+weiß kein Volk besser als das deutsche. Wir müssen uns mit dem Gedanken
+vertraut machen, daß unser Staat von heute so schwer nach außen und
+innen zu tragen hat, so überbürdet ist mit Aufgaben und toten Lasten,
+daß ihm die Wirtschaft eher helfen muß, als er der Wirtschaft helfen
+kann. Das sind Folgen des Krieges und des Friedens, Folgen aber auch
+der gerade in Deutschland so weit verbreiteten Neigung, in allen Nöten
+des Lebens nach dem Staate zu rufen. Und doch ist es nicht so, wie
+mancher wohl gelegentlich denken möchte, als ob der Staat von heute nur
+eine tote Last unserer Wirtschaft sei. Auch heute lebt die Wirtschaft
+auf dem Boden des staatlich gesicherten Rechtes und der staatlich
+gewährleisteten Ordnung. Und vor jedem vorschnellen Urteil sollte man
+bedenken: Das Staatsgefüge in Deutschland hat eine ungeheuere
+Anspannung und Probe ausgehalten, ohne unterzugehen! Gewiß, es hat sich
+neue Formen geschaffen; es ringt in manchen Hinsichten noch mit sich
+selbst und den neuen Verhältnissen &mdash; aber das Wesentliche ist
+gesichert: im neuen Staate sind die Unterlagen des Wirtschaftslebens
+und die Voraussetzungen eines wirtschaftlichen Aufbaues gegeben. Es ist
+Aufgabe des Staates, auf seinem Gebiete der Wirtschaft aufzuhelfen; es
+ist Aufgabe der Wirtschaft, mit ihren Mitteln den Staat zu stützen. Die
+Vorstellung, es könne eines von beiden o h ne e das andere gedeihen,
+ist eine gefährliche Illusion.</p>
+
+<p>Das ist der e i n e Blick auf das alte Reich, ein Blick, der uns
+vergegenwärtigen sollte, wieviel noch von den Pfeilern der alten Macht
+und Größe steht und Tragkraft besitzt für den Neubau. Und nun der
+andere Blick auf das alte Reich: wieviel von den Nöten, Sorgen und
+Schwierigkeiten unserer Gegenwart lagen in ihm schon mit zugrunde! Aus
+der Tiefe seiner Armut könnte es einem kommenden Geschlecht einmal
+scheinen, als ob in den glanzvollen Jahrzehnten des Kaiserreiches eitel
+Friede und Wohlfahrt in Deutschland geherrscht habe. Und ein
+Geschlecht, das in seinen Tagen die Fehden blutdürstiger Matabelestämme
+auf europäischem, politisch zerkleinertem Boden zu erleben glauben
+wird, könnte vielleicht einmal denken, der europäische Friede vor dem
+Kriege sei eitel Völkerfreundschaft gewesen. Solche Auffassungen haben
+mit der Wahrheit sehr wenig gemein. Das von jeher an Gegensätzen und
+Spannungen so reiche deutsche Leben hat auch unter dem zweiten
+Kaiserreiche den inneren Frieden nicht gefunden. Gewiß trat der alte
+Bruch zwischen Nord und Süd für das Bewußtsein der jungen Generationen
+als eine praktisch erledigte Angelegenheit, deren gefühlsmäßige
+Restbestände allmählich ganz erlöschen werden, zurück; auch war nach
+dem Einschwenken in der Kulturkampfpolitik der konfessionelle Gegensatz
+kein auseinanderreißendes Element mehr, soviel Kraft er im übrigen noch
+verschlingen mochte. Aber dafür ging der Riß der w i r t s c h a f t l
+i c h - s o z i a l e n G e g e n s ä t z e in Gestalt des
+Klassenkampfes durch unser Volk. Wie die moderne Wirtschaftsverfassung,
+zumal in ihrer hochgesteigerten deutschen Gestalt, Besitz und Verfügung
+über die Produktionsmittel von der Arbeit an ihnen trennt, so
+schichteten sich auch politisch und sozial die Gruppen. Hier Besitz und
+wirtschaftliche Machtverfügung, dort Nichtbesitz und ausführende
+Arbeit; hier stärkste soziale Geltung mit erhöhten politischen Rechten
+und Ansprüchen, dort tatsächliche soziale Mindergeltung und politische
+Minderberechtigung; hier die relativ dünnen Schichten, die mit Stolz
+Besitz und Bildung berufen konnten, dort die ungeheueren Massenheere
+der Arbeiterschaft, besitzlos, hungrig nach Bildung und Wissen. Das war
+der Sachverhalt, der den Ausgangspunkt gefährlicher innerer Spannungen
+abgab, der den Trennungsstrich zog durch das Volk, und der, so schien
+es manchmal, zwei feindliche Völker auf einem Boden und in einem
+Staatsverbande zusammenhielt. Wenn schon festzustellen ist, daß der
+schärfste Radikalismus von beiden Seiten sich allmählich abstumpfte,
+und wenn schon zugegeben werden muß, daß die staatliche Sozialpolitik
+sehr viel zur Milderung der Konflikte tat, so traf doch noch der
+plötzliche Kriegsausbruch in eine Spannung der Gegensätze, die nicht
+unbedingte Sicherheit gab, daß die Zusammenfassung aller Kräfte nach
+außen restlos gewährleistet, der Burgfriede nach innen gewahrt sei.
+&mdash; Und noch eine Frage der Vorkriegszeit ragt in unsere Gegenwart
+hinein, doppelt und dreifach verschärft. Es ist Tatsache, daß unser
+Volkswachstum, getragen von dem gigantischen Aufschwung unserer
+Wirtschaft, mit der Folge der Überflügelung aller übrigen europäischen
+Wirtschaften politisch unsere Lage erschwerte. Gegnerschaften, die das
+alte Deutschland von vor 1870 nie herausgefordert hatte, forderte das
+hochindustriell entwickelte Deutschland heraus. Verständliche
+Besorgnis, Machtgier und Racheinstinkte schlugen vor dem Bilde des
+wirtschaftlich so gewaltig sich reckenden Deutschland zur verzehrenden
+Flamme empor und führten Staaten zu feindlichem Bund zusammen, deren
+Lebensinteressen an sich gegeneinanderstanden. Es wird sich zeigen, wie
+die Wirtschaftslage auf die politische Konstellation heute unheilvoll
+nachwirkt, teils infolge des Friedens und des Londoner Ultimatums,
+teils als Folge unserer trotz Kriegsverlust äußerlich scheinbar
+intakten Wirtschaft.</p>
+
+<p>Man hat gesagt, der Versailler Vertrag sei die Urkunde des neuen
+Europas. Unser Volk weiß und fühlt es Tag für Tag, daß er allerdings
+die haß- und infamiegesättigte Urkunde s e i n e s Lebens ist. Seine
+Einzelheiten wollen wir nicht betrachten; aber was er im gröbsten für
+uns bedeutet, bedarf der Skizzierung. Er raubt uns ganze Länder und
+Provinzen. 6,7 Millionen Hektar Fläche schneidet er in Ost und West aus
+dem deutschen Gebietskörper heraus. Er nimmt uns alle Kolonien. Fast 6
+Millionen Menschen, von denen die Mehrzahl Deutsche sind und deutsch
+fühlen, spricht er mit oder ohne Abstimmung fremden Völkern zu.
+Außerdem werden 32 000 Quadratkilometer unseres Staatsgebietes
+langjähriger Besetzung und feindlichen Eingriffen unterworfen, die
+wiederum auf 6,5 Millionen Menschen ihr Zwangsjoch legen. Suchen wir
+uns zu vergegenwärtigen, was nur diese wenigen Bestimmungen des
+Friedensvertrages wirtschaftlich besagen. Eine Regierungsdenkschrift
+hat berechnet, daß ohne Berücksichtigung der Abstimmungsgebiete 14,9%
+unserer Ackerfläche durch die Abtretungen verloren gehen. Naturgemäß
+bedeutet das stärkste Einbuße an landwirtschaftlichen Erträgen, um so
+mehr, als die verlorenen Ostgebiete geradezu die Korn- und
+Kartoffelkammern des Reiches darstellten. Man hat berechnet, daß 19%
+der Roggenernte, je 20% der Gersten- und Kartoffelernte und teilweise
+noch höhere Prozentzahlen bei anderen Produkten mit der Abtretung jener
+Gebiete unserer Volksernährung verloren gegangen sind. Also rund ein
+Fünftel der deutschen Ernährungsgrundlage! Dazu der Verlust an unserem
+stark verminderten Viehstapel. Diese Einbußen verstärken sich dadurch,
+daß in jenen abgetretenen Gebieten nur 13,3% der deutschen Bevölkerung
+wohnten. 3,6 Millionen Menschen durchschnittlich könnten von den Ü b e
+r s c h ü s s e n der verlorenen Provinzen ernährt werden, wenn man
+jene Mehl- und Kartoffelrationen zugrunde legt, die 1920 zugeteilt
+wurden. Mit anderen Worten: Die Schwierigkeit der deutschen
+Volkswirtschaft, ihre Menschen zu ernähren, ist heute, zur Zeit ihrer
+allgemeinen Verarmung und Belastung, weitaus größer als in jenen
+reichen Tagen der Vorkriegszeit! Um so mehr, als durch den Raubbau
+während des Krieges die Erträge der Böden und das Schlachtgewicht
+unserer Viehstapel erschreckend zurückgegangen sind. Problem: bei
+verminderter Fläche und ab gewirtschafteten Böden die Bedarfsversorgung
+einer nicht im gleichen Umfange zurückgegangenen Bevölkerung zu
+gewährleisten. Und wir müssen noch hinzufügen: den Bedarf einer
+Bevölkerung, die teilweise entkräftet ist durch die mangelnde
+Ernährung, die 1,7 Millionen ihrer kräftigsten Männer verloren bat, die
+1,5 Millionen ganz oder teilweise erwerbsunfähiger Kriegsbeschädigter
+zu versorgen hat, und deren Kaufkraft für die Erzeugnisse des Auslandes
+ins Bodenlose zusammengefallen ist. Das ist eine Bergeslast, die der
+Friedensvertrag auf uns wälzte; unsere landwirtschaftliche
+Eigenversorgung ist völlig unzureichend; an ihr und an unserem
+verbliebenen Wohlstand gemessen, sind wir ein übervölkertes Land.</p>
+
+<p>Mancher mag geneigt sein, das nicht so tragisch zu nehmen. Er
+erinnert an die wachsenden Millionen der Vorkriegszeit, für die ja auch
+die Eigenversorgung des deutschen Bodens nicht auslangte, und tröstet
+sich damit, unsere I n d u s t r i e müsse den Überschuß an Menschen
+ernähren. Doch so einfach liegen die Dinge nicht mehr. Zunächst ist die
+Quote der heute auf die Industrie angewiesenen Menschen verhältnismäßig
+größer als damals. Und weiterhin kann die Industrie die Menschen nur
+dann ernähren, wenn sie 1. Ausfuhrmöglichkeiten hat, die auf G e g e n
+l e i s t u n g e n beruhen, und 2. wenn ihre eigene Kraft nicht
+gelähmt ist. Zum ersten Punkt sei in diesem Zusammenhange nur kurz
+bemerken, daß die geschmälerten Ausfuhrmöglichkeiten der deutschen
+Industrie von heute im größten Umfange o h n e Gegenleistung sind. Es
+sind großenteils einseitige Leistungen, die direkt oder indirekt auf
+Konto der Reparation laufen und in diesem Umfange tote Lasten unserer
+Wirtschaft darstellen, für die in Deutschland zwar Millionen fronden,
+von denen aber keiner leben kann. Davon abgesehen aber hat der
+Friedensvertrag auch die Grundlagen unserer Industrie erheblich
+geschmälert. Schätzungsweise ein Viertel unserer deutschen
+Kaliförderung ging mit Elsaß-Lothringen verloren; wichtiger als der
+Förderverlust ist der Verlust der Monopolstellung, die Deutschland auf
+dem Kalimarkte hatte. 79% unserer vor dem Kriege geförderten Eisenerze
+&mdash; das Rückgrat unserer Industrie und jeden industriellen Lebens
+&mdash; sind durch den Verlust Lothringens und den Zollausschluß
+Luxemburgs dahin; ungefähr 9% unserer Kohlenförderung ist, wenigstens
+für 15 Jahre, durch die Abtrennung des Saargebietes uns entzogen;
+ungefähr zwei Fünftel unserer Kohlengesamtförderung wäre verloren, wenn
+Oberschlesien an Polen fällt[1].</p>
+
+<blockquote> [1] Das ist inzwischen geschehen, indem der Völkerbund
+gerade</blockquote>
+<blockquote> die industriereichen Teile Oberschlesiens Polen
+zusprach.</blockquote>
+
+<p>Das Ruhr-, Wurm- und mitteldeutsche Kohlengebiet ist alles, was uns
+verbleibt. Aber auch deren Förderung steht nicht zu unserer freien
+Verfügung. Der Friedensvertrag belastet uns auf in Jahre mit
+Lieferungen an die Entente, die sich auf über 40 Millionen Tonnen
+stellen. Das Spaaer Abkommen hat dann diese Phantasieforderung
+ermäßigt. Da uns auch die freie Verfügung über die oberschlesische
+Kohle seit der Besetzung des Landes genommen ist, ruht die schwere Last
+der Versorgung auf dem Ruhrrevier. Diesem Anfordern war weder die alte
+Belegschaft gewachsen, noch langten die Förder- und
+Verkehrseinrichtungen. Die Wirkung war eine doppelte: Es mußten die
+Belegschaften vermehrt und die Verkehrsmöglichkeiten gesteigert werden
+&mdash; was nur mit ungeheueren Opfern seitens des Reiches zu machen
+war (Wohnungsbauten, Löhne, Lebensmittelzuschüsse) &mdash;, und es
+mußten deutsche Betriebe in ihrem Kohlenverbrauche sich beschränken,
+oft genug gar die Arbeiter entlassen und stillliegen, weil die
+Zwangslieferungskohle vorgeht. Das waren zeitweise geradezu
+katastrophale Zustände, die an das Mark unseres industriellen Lebens
+rührten. Heute ist in der Tat die Rohstoffdecke zu knapp geworden, an
+Kohle, an Zinkerzen, an Blei usw. Heute hat der deutsche Osten noch
+weniger als bisher die Möglichkeit, seine Menschen festzuhalten,
+während das Ruhrrevier schlimmer als je bisher mit Anforderungen für
+die deutsche Wirtschaft aller Provinzen belastet und für deren
+Erfüllung mit Menschen unerwünscht dicht belegt werden muß. Das sind
+Verschiebungen, die unsere industrielle Basis erschüttern, uns
+außerstande setzen, unsere Menschen selbst zu ernähren, und die
+natürlich uns vorher zum Aussetzen unserer Vertragsleistungen an die
+Entente zwingen &mdash; mit der Wirkung umübersehbarer politischer
+Folgen!</p>
+
+<p>Das sind nicht die einzigen Beschneidungen unseres Daseins durch den
+Friedensvertrag. Der Vertrag raubt das deutsche Volk mit einer
+Gründlichkeit und Schamlosigkeit nach allen Richtungen hin aus, in der
+sich Haß, Brutalität und Pharisäertum zu einer widerlichen Fratze
+verbinden. Kein Guthaben im Auslande, kein Schiffspark, kein Kabel,
+keine Ansprüche, Rechte und Privilegien, keine Patente und keine
+Gebrauchsmuster werden übersehen. Und um die ganze Schamlosigkeit
+dieses Raubzuges wird der Pharisäermantel der vergeltenden
+Gerechtigkeit gelegt. Alle gerechte Entrüstung ändert nichts daran, daß
+die wertvollen Posten unserer Wirtschaft in Gestalt von
+wirtschaftlichem, militärischem und maritimem Rüstzeug allesamt
+verloren sind, und daß die Sieger sich auf deutschem Boden und in der
+deutschen Wirtschaft Rechte zwangsmäßig usurpiert haben, die die an
+sich schon schmale Basis des deutschen Bodens und der deutschen
+Hoheitsrechte unerhört verengen. In richtiger Erkenntnis der Sachlage
+schrieb die englische Zeitschrift "Nation" vom 22. März 1919: "Es gibt
+Leute in und außer Europa, die, wenn sie vom Frieden sprechen,
+Diebstahl meinen. Sie möchten Deutschland seine Bergwerke stehlen,
+seine Kabel, Kanäle, Kohlen, Land, Schiffe, Kredit, Industrien,
+Patente, Handelsgeheimnisse; sie möchten seine Grenzsteine verschieben
+und seine offene Brust allen Feinden an allen Ecken und Enden
+preisgeben. Das wäre das Ende von Europas Zivilisation."</p>
+
+<p>Gerade die letzterwähnten Verluste müssen den Versuch, durch
+verstärkte industrielle Tätigkeit wiederum zu Atem und Leben zu kommen,
+aufs stärkste gefährden. Fünf Jahre war uns der Weltmarkt entfremdet.
+In dieser Zeit reifte einerseits der amerikanische und japanische
+Weizen im Welthandel, industrialisierten sich andererseits manche
+Auslandsmärkte, um für jetzt und in Zukunft unabhängig zu sein von
+Versorgungsstörungen auf Grund europäischer Verwicklungen. Typische
+Beispiele: Holland und Dänemark legen sich Eisenhütten zu, Schweden
+baut seine Hütten- und Stahlwerke aus, Amerika entwickelt eine große
+Farbenindustrie, Argentinien und Brasilien bemühen sich um industrielle
+Selbstversorgung auf wichtigen Gebieten. Während des Krieges wurde
+gerade von England eine intensive Zerstörung aller deutschen
+Überseeinteressen vorgenommen, bis zur Vernichtung der Geschäftsbücher,
+der Aufstellung schwarzer Listen, des geistigen Diebstahls an deutschen
+Patenten und Geschäftsmethoden und vor allem bis zur Verzerrung des
+deutschen Antlitzes vor der Welt zur Fratze, mittels einer Lüge und
+Verleumdung zu systematischen Kampfmitteln erhebenden beispiellosen
+Hetzpropaganda. Wer will ermessen, welche Barren gerade der Raub des
+deutschen guten Namens dem deutschen Handel und Gewerbefleiß in der
+ganzen Welt bereiten muß? Wer will auf Milliarden aufzählen, was uns
+die raffinierte Bearbeitung der öffentlichen Meinung in aller Herren
+Länder durch das feindliche Kabelmonopol gekostet hat und noch kostet?
+Dieser Verlust des deutschen guten Namens vor aller Welt gehört sicher
+mit zu den schlimmsten Kriegsverlusten. Es wird unserer zähesten und
+unermüdlichsten Arbeit bedürfen, allmählich durch diese Berge von
+Verleumdung, Haß und Vorurteil zu dringen, die sich schlimmer als eine
+Blockade um uns legen und uns das moralische Recht und das
+wirtschaftliche Leben unerträglich schmälern. Hier hilft uns die doch
+zu offensichtige Brutalität und Ungerechtigkeit des Friedensvertrages,
+hier hilft uns das allmähliche Wachwerden des Anstands- und
+Wahrheitsempfindens in allen edlen Geistern aller Nationen. "Von nun an
+müssen wir uns der Aufgabe widmen, diesen Schandfleck des Versailler
+Vertrages von dem guten Namen Englands auszulöschen." ("Daily Herald",
+10. Mai 1919.)</p>
+
+<p>Bis zum 1. Mai 1921 sollte nach Bestimmung des Friedensvertrages die
+sogenannte Wiederherstellungssumme, die aber in der Art, wie sie
+berechnet wird, tatsächlich eine Kriegsentschädigung darstellt,
+festgelegt werden. Es ist bekannt, daß diese Summe durch das Londoner
+Ultimatum diktiert und die deutsche Unterschrift unter sie erpreßt
+wurde. Gefordert wurde vom deutschen Volke ein Gesamtbetrag von 132
+Milliarden Goldmark, abzahlbar in jährlichen Raten von 2 Milliarden,
+zuzüglich 26% des Wertes unserer Ausfuhr in Gold, dazu Leistungen auf
+Grund von Ausgleichsforderungen und Besatzungskosten, deren Höhe nicht
+festgelegt ist, aber in die Goldmilliarden geht. Die furchtbare Last
+dieser jährlichen Zahlungen erstreckt sich nach den festgesetzten
+Verzinsungs- und Tilgungsgrundsätzen auf weit mehr als ein
+Menschenalter. Diese wenigen Daten umschließen die Schuldknechtschaft
+eines ganzen Volkes und sind von einer Härte, wie sie in aller
+Geschichte unerhört ist.</p>
+
+<p>An der Wiege solcher Friedensbedingungen hat weder die politische
+noch die wirtschaftliche Vernunft gestanden. Das haben die leider so
+wenigen Einsichtigen in allen Ländern deutlich ausgesprochen. Auf den
+inneren Widersinn dieser Entschädigungsforderungen wies vor allem die
+englische Zeitschrift "The Nation" hin, die das Problem ganz richtig
+faßte: entweder zahlt Deutschland jene Unsummen, dann nur, indem es uns
+die Ausfuhrmärkte ruiniert und uns wirtschaftlich aufs äußerste
+bedrängt; oder wir unterbinden ihm unsere Märkte, dann kann es nicht
+zahlen. Durchaus zutreffend! Es wird ja niemand im Ernst glauben, aus
+dem deutschen Boden selbst ließen sich jene Summen herausstampfen, sie
+sind eben nur beschaffbar, wenn die deutsche Arbeit für fremde Völker
+sie erst hereinholt und zur Verfügung stellt. Aber auch das ist
+richtig: Werden de Forderungen nicht erfüllt, dann drohen politische
+Zwangsmittel in Gestalt von Neubesetzungen, Sanktionen, die unserer
+politischen Selbständigkeit den letzten Rest geben, die eine dauernde
+Gefährdung des europäischen Friedens sind, und die mit dem Zerbruch des
+Reiches enden könnten. Der Reichskanzler Wirth hat das zutreffend
+formuliert: "Wir kämpfen mit unserer Arbeit um unsere Freiheit als Volk
+und Staat."</p>
+
+<blockquote><center> *&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;
+*</center></blockquote>
+<blockquote><center> *</center></blockquote>
+
+<p>Das ist der furchtbare äußere Rahmen unseres Daseins. Aus ihm heben
+sich deutlich die Probleme heraus: Wie heilen wir im Lande selbst die
+furchtbaren Wunden des Krieges? Wie bringen wir die Mittel auf zur
+Erfüllung der ungeheueren Verpflichtungen nach außen? Welche
+wirtschaftlichen und sozialen Weiterwirkungen schließen sich an die
+Erfüllung dieser Aufgaben bzw. an den Versuch ihrer Erfüllung an?</p>
+
+<p>Die Not im Lande selbst ist sehr vielgestaltig. Sie äußert sich als
+Gefährdung der physischen Volkskraft und Volksgesundheit und tritt im
+einzelnen in Erscheinung als mangelnde Ernährung weiter Kreise, Mangel
+an Kleidung und Wäsche, fehlende Wohnungen, ungenügende
+Wohnungseinrichtungen. Ein Ausdruck dieser Not sind die
+Sterblichkeitsstatistiken und die Ausweise der Krankenkassen. Die
+Ursachen dieser Not sind die Erschöpfung unseres Wohlstandes durch den
+Krieg, die starke Herunterwirtschaftung unseres Sachkapitals, die
+Aushungerung unserer Böden, die Aufzehrung der privaten Vorräte und
+Ausstattungen, die Leistungen an die Entente auf Grund von
+Waffenstillstand und Friedensvertrag, der Aufkaufshunger für alle
+möglichen, teilweise sehr gut entbehrlichen Auslandsgüter nach dem
+Kriege. Diese Aufzählung wäre ungenau, wenn sie an jenen Schädigungen
+des Volksvermögens vorbeiginge, die mit der Gebietsbesetzung, mit
+Streiks und Aussperrungen, mit böswilliger Wertvernichtung und Revolten
+zusammenhängen. Unleugbar haben auch einige Bestimmungen des neuen
+Arbeitsrechtes Schädigungen mit sich gebracht. Im großen Ganzen hat die
+Volkswirtschaft noch nicht jene Umschichtung der Berufe und
+Rückschichtung der Bevölkerung weg von den Städten erreicht, die der
+neuen Wirtschaftslage entsprechen: das sind weitere Quellen
+vielgestaltiger Not. Im weiteren darf nicht übersehen werden, daß die
+Auflösung des alten Heeres, von Teilen der alten Bürokratie, die
+Rückwanderung Deutscher aus verlorenen Gebieten und die Vernichtung
+vieler Rentner-, Mittelstands- und Kleinexistenzen des bürgerlichen
+Lebens durch Krieg und Kriegsfolgen die Schleusen der Not in weiteren
+Schichten geöffnet haben. Eine Denkschrift der Regierung, die für die
+Londoner Verhandlungen fertiggestellt wurde, beziffert das deutsche
+Volkseinkommen gegenwärtig auf 234 Milliarden Papiermark == ungefähr
+22-23 Milliarden Goldmark. Vor dem Krieg berechnete man das
+Volkseinkommen auf 43 Milliarden Goldmark! Daraus ergibt sich die
+gewaltige Senkung des Realeinkommens des Volkes &mdash; und von diesem
+so geminderten Realeinkommen sollen die Leistungen an die Entente und
+die Steuern für Reich, Länder und Gemeinden aufgebracht werden! Hier
+steht die elementare Bedingung unseres Daseins als Volk und Staat vor
+uns: wir müssen a l l e Produktivkräfte aufs ä u ß e r s t e
+anspannen, um das physische Leben und die politische Freiheit zu
+erhalten. Unsere Existenz steht auf der Schneide der äußersten
+Wirtschaftsergiebigkeit. Daraus die Forderung, alle sachlichen und
+geistigen Voraussetzungen gesteigerter Produktivität anzuspannen, allen
+überflüssigen Verbrauch zu meiden.</p>
+
+<p>Was brauchen wir zur Steigerung der Produktion? Zunächst natürlich
+Rohstoffe. Als deren Quelle kommen in Betracht die natürlichen
+Rohstofflagerstätten und die Landwirtschaft. Erstere sind die Kohlen-
+und Erzadern, die Gesteine und sonstige industriell verwertbaren Güter,
+die das Bodeninnere birgt. Ihnen gegenüber &mdash; als den durch Abbau
+erschöpfbaren Gütern &mdash; stehen die landwirtschaftlich in
+regelmäßiger Wiederkehr erzeugten Güter. Nach beiden Richtungen hin
+haben wir beträchtliche Einbußen erlitten durch Gebietsverluste,
+Raubbau und Belastung mit Abgaben.</p>
+
+<p>Mit dem Rest muß umso schonender umgegangen werden; denn die
+Bodenschätze sind entweder überhaupt nicht künstlich vermehrbar, oder
+nur durch Mehraufwand von Arbeit und Kapital. Abbau und Anbau stehen
+außerdem auf der Spitze der Rentabilität. Wenn wir schon vor dem Kriege
+eine starke Einfuhr von Erzen, Kohle und Ölen hatten, von
+Nahrungsmitteln, Futtermitteln, Textilien und Rohstoffen aller Art, so
+können wir sie heute noch viel weniger entbehren. Wir brauchen die
+Einfuhr, weil das Ausland vielfach ergiebigere Fundstätten und Böden
+hat und daher billiger liefert. Wir brauchen sie, weil sie Bestandteil
+neuer Ausfuhr werden, nachdem sie durch deutsche Arbeit zu fertigen
+Produkten veredelt sind. Im Grade der Einfuhr verschulden wir uns; aber
+diese Verschuldung ist so lange unbedenklich, als ihr deutsche
+Gegenleistungen in Gestalt rentabler Ausfuhr gegenüberstehen.
+Unvermeidlich ist, daß große Einfuhrposten für de Deckung des
+notwendigen, seit dem Kriege so stark vernachlässigten Eigenbedarfs des
+deutschen Volkes hereinkommen. Das bedeutet zunächst eine Belastung der
+Zahlungsbilanz oder eine Verschuldung durch Kredite; in jedem Falle
+müssen auch diese Beträge durch Ausfuhr oder durch andere geldwerte
+Gegenleistungen gedeckt werden, entweder aus laufenden
+Wirtschaftserträgen oder aus der Substanz des Volksvermögens. Wenn
+einsichtige Wirtschaftspolitiker schon vor dem Kriege den starken
+Materialverbrauch beklagten, die Zerstörung lebendiger menschlicher
+Arbeit durch ein unwirtschaftliches Vergeuden von Rohstoffen, so gilt
+das heute natürlich zehnfach. Rohstoffe sind kristallisierte
+Arbeitsstunden, Arbeit ist unser wertvollstes Kapital. Fahrlässigkeit,
+Böswilligkeit und Unverstand zerstören nach einem Worte Friedrich
+Naumanns mehr als Feuersbrunst und Überschwemmung. Dieses Gebot
+wirtschaftlichster Rohstoffverwertung hat zwei Seiten: das Haushalten
+mit dem Material der M e n g e und der G ü t e nach. Wer verwaltet
+unsere Rohstoffe? Drei große Stoffverbraucher kennen wir: die Betriebe
+in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, die Haushaltungen und die
+öffentlichen Verbände. Bezüglich der Haushaltungen ist ohne weiteres
+klar: vom Geschick vorwiegend der deutschen Hausfrau hängt es ab, wie
+mit den Verbrauchsgütern gewirtschaftet wird. Das ist teilweise eine
+Erziehungsfrage. Wie viele Hausfrauen haben sich je über zweckmäßige
+Stoffverwendung Gedanken gemacht? Tausende von Frauen, nicht nur aus
+Arbeiterkreisen, verwirtschaften ohne Ahnung von den Folgen ihres
+Ungeschickes Milliardenwerte. Das ist teilweise auch eine Folge der
+Frauenberufsarbeit. Wer die Verhältnisse in den Arbeiterfamilien der
+Industriereviere kennt, weiß, daß die erwerbstätige Frau die kürzesten
+Methoden der Haushaltsführung vorzieht und vielfach gerade wegen ihrer
+Berufstätigkeit vorziehen muß. Neben den Schäden, die die
+Frauenberufsarbeit für das Familienleben und die Erziehung mit sich
+bringt, liegen in der unwirtschaftlichen Stoffverwendung bedenkliche
+volkswirtschaftliche Seiten der Frauenberufsarbeit. Was die
+Materialverwertung der öffentlichen Verbände anlangt, so hat die
+Kriegszeit dort in erschreckendem Maße gezeigt, wie wenig hier den
+Anforderungen einer vernünftigen Bewirtschaftung Rechnung getragen
+wurde. Die bureaumäßige Verwaltung von öffentlichen Betrieben und
+Verbrauchseinrichtungen hat eben nicht jene Motive zum sparsamen
+Haushalten und jene scharfen Kontrollmöglichkeiten, die die
+Privatunternehmung hat. Dem rein verwaltungsmäßig gerichteten Sinn
+fehlt vielfach die Einsicht in die wirtschaftliche Bedeutung
+sparsamster Materialverwertung. Aber selbst in der privaten
+Unternehmung sind nicht ohne weiteres die Garantien für sparsame und
+zweckmäßige Rohstoffverwendung gegeben. Zwar drängt das Interesse der
+Unternehmung am möglichst hohen Geldertrag auf äußerste Zweckmäßigkeit
+und Ergiebigkeit in der Verwendung aller Produktionselemente; aber hier
+ist es wiederum eine Frage der Erziehung und der Einsicht der
+Arbeitskräfte, ob sie mit den ihnen anvertrauten Wirtschaftsgütern
+möglichst schonend umgehen. Keine Aufsicht kann das eigene
+Mitbesorgtsein der Arbeiter ersetzen. Dieses Mitbesorgtsein zu wecken
+und zu erhalten, ist großenteils eine Sache der Erziehung, des
+Verantwortungs- und Gemeingefühls und der Einsicht. Hier mündet die
+Aufgabe des Rohstoffschutzes unmittelbar in ethische und soziale
+Voraussetzungen. Die zweckmäßige Rohstoffverwendung in der privaten
+Unternehmung ist gleichzeitig eine Frage der Betriebsgröße, der
+Betriebsorganisation und der Produktionsweise. Die objektiv stärkste
+Möglichkeit wirtschaftlicher Produktion hat der kombinierte
+Großbetrieb, der sich in der Produktion einstellt auf normalisierte und
+typisierte Erzeugnisse. Wieviel nach dieser Richtung in Deutschland
+noch fehlt, beweisen die Klagen führender Industrieller und zünftiger
+Volkswirte.</p>
+
+<p>Rohstoffökonomie ist also Haushalten mit den Unterlagen unseres
+Daseins. Neben der Verfügung unserer Sachgüter ist die wichtigste
+dieser Unterlagen die l e b e n d i g e A r b e i t s k r a f t. Das
+volkswirtschaftliche Ziel hat Rathenau in Anbetracht unserer Lage
+einmal dahin zusammengefaßt: "Es ist nötig, ...den Wirkungsgrad
+menschlicher Arbeit so zu steigern, daß eine verdoppelte Produktion die
+Belastung zu tragen vermag und dennoch ihre Hilfskräfte besser entlohnt
+und versorgt werden." Das ist durchaus richtig. Wenn das Kapital, mit
+dem wir neu anfangen, im wesentlichen unsere Arbeit ist, dann muß mit
+dieser Arbeit sparsam umgegangen werden. Sie darf nicht vergeudet
+werden durch Produktion von entbehrlichen Gütern, sie darf nicht durch
+Raubbau abgewirtschaftet werden. Es müssen alle technischen,
+organisatorischen und sozialen Voraussetzungen geschaffen werden, um
+die möglichst große Produktionssteigerung durch möglichst sparsamen
+Arbeitsaufwand zu erreichen. Auch hier wieder die Voraussetzung:
+Bildung und Erziehung der heranwachsenden Geschlechter, Erfüllung mit
+Einsicht in den Ernst der Verantwortung für das Ganze, Abwehr aller
+Neigung zu einem resignierten Versinken in die stumpfe Fron für den
+laufenden Tag.</p>
+
+<p>Diese Aufrechterhaltung unserer Arbeitskultur und Wirtschaftshöhe
+ist wiederum gebunden an stoffliche Unterlagen, nämlich an den
+ausreichenden S u b s i s t e n z f o n d s der Nation. Man spricht
+gewöhnlich davon, es müsse genügend "Kapital" vorhanden sein, um die
+Arbeits- und Wirtschaftskultur wie übrigens die Gesamtkultur des ganzen
+Volkes, die ja immer irgendwie an sachliche Unterlagen gebunden ist, zu
+erhalten. Die Quelle dieses Kapitals aber ist die Differenz zwischen
+Volkseinkommen und Verbrauch, mit anderen Worten: das nichtverbrauchte
+"ersparte" Volkseinkommen. Von zwei Seiten her kann diese
+Kapitalbildung gefördert werden: von der Erhöhung des Volkseinkommens
+durch erhöhte Produktion und von der Minderung des Verbrauches her.
+Unsere Lage zwingt uns, beide Wege zu beschreiten: die Produktion aufs
+äußerste zu steigern, den Verbrauch an allem Entbehrlichen möglichst
+zurückzudrängen. Das wird für Jahrzehnte unser Schicksal sein, ein
+Schicksal, dessen Härte nur dadurch erträglich ist, daß es uns die
+Aussicht gibt, die Einheit des Reiches und des Volkes durch alle
+Fährlichkeiten des verlorenen Krieges und des Friedens hindurch zu
+retten. Die besondere Schwierigkeit unserer Kapitalneubildung liegt
+darin, daß sie mit ungewöhnlichen Belastungen zu rechnen hat. Die
+Belastungen bestehen in den geschilderten Zahlungsverpflichtungen
+gegenüber der Entente, in der gewaltigen Steuerlast, in der ungünstigen
+Entwicklung des Außenhandels (der im vergangenen Jahre mit zweieinhalb
+Goldmilliarden p a s s i v war!), ferner in der Ungunst der
+Einkommensverteilung.</p>
+
+<p>Bei sotanen Dingen ist alles, was unsere Wirtschaftserträge erhöht,
+eine Daseinserleichterung, eine neue Gewähr unseres physischen und
+kulturellen Lebens. Das gilt für alle Seiten unserer Wirtschaft, für
+Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Verkehr. In der Landwirtschaft
+zumal spielt es eine besondere Rolle. Hier sind die Erträge gegenüber
+der Vorkriegszeit sehr stark gesunken, hier ist außerdem die Quelle
+unseres dringendsten Bedarfes, der Ernährung. Das landwirtschaftliche
+Betriebskapital ist während des Krieges scharf heruntergewirtschaftet
+worden, es bedarf jetzt der Erneuerung. Kredite müssen der
+Landwirtschaft zufließen, die sie im Kriege glaubte abstoßen zu können
+oder nicht mehr zu benötigen. Durch Düngemittel aller Art, durch
+Meliorationen, durch Maschinen müssen die Böden wieder in den alten
+hochgepflegten Zustand gebracht werden. Der Viehstapel muß ergänzt
+werden. Das landwirtschaftliche Bildungswesen darf um keinen Preis
+vernachlässigt werden. Was uns diese Forderungen erheben läßt, ist die
+einfache Tatsache, daß der stark abgewirtschaftete Zustand der
+Landwirtschaft im Interesse der Allgemeinheit, des Staates, des Volkes
+in Stadt und Land und nicht zuletzt auch des Fiskus saniert werden muß,
+ehe er wiederum ein tragender Pfeiler unserer Wirtschaftsblüte werden
+kann. Erst bei solcher Intensivierung der landwirtschaftlichen
+Erzeugung besteht die Aussicht, daß der Strom von Menschen, welcher im
+Gefolge des Krieges den Städten zugeflutet ist und dort die Not
+vermehrt, wiederum vom Lande aufgenommen werden kann. Wie bedeutsam
+eine solche Rückwanderung ist, ergibt sich ohne weiteres; sie entlastet
+den Arbeitsmarkt, entlastet den Fiskus von der Erwerbslosenfürsorge,
+sie entlastet die städtische Fürsorge, sie mildert die Schärfe unserer
+sozialen Not und sie beseitigt jenes Übel, das schon vor dem Kriege auf
+dem Lande vielfach anzutreffen war, nämlich die Leutenot.</p>
+
+<p>Wenn die wesentliche Aufgabe der deutschen Landwirtschaft darin
+besteht, in möglichst weitem Umgange den Nahrungsbedarf unseres Volkes
+zu erstellen, so hat die Industrie demgegenüber eine verwickeltere
+Aufgabe. Sie soll einesteils den starken Verbrauch an
+Industrieerzeugnissen decken, den das Inland hat; sie soll aber
+andererseits die Grundbedingung unseres Daseins gewährleisten, nämlich
+die aktive Zahlungsbilanz. Deren Hauptbestandteil war von jeher die
+Handelsbilanz, das heißt das Wertverhältnis der Wareneinfuhr zur
+Warenausfuhr. Heute sind die anderen Bestandteile der deutschen
+Zahlungsbilanz ungefähr auf den Nullpunkt reduziert; wir haben keine
+Gewinne mehr aus Frachten für das Ausland, unsere Erträgnisse aus der
+Kapitalanlage im Auslande sind mitsamt den Kapitalien fast ganz
+verloren, unsere Gewinne aus Vermittlung und Versicherung für fremde
+Völker sind dahin. Nach all diesen Richtungen haben wir nur noch
+Passiva. Und trotzdem besteht unabweisbar das Ziel: Herstellung einer
+aktiven Zahlungsbilanz! Die Handelsbilanz muß die dazu erforderlichen
+Wertüberschüsse der Ausfuhr über die Einfuhr erbringen. Wir müssen, ob
+wir wollen oder nicht, Exportwirtschaft treiben. Unsere
+landwirtschaftlichen Erzeugnisse brauchen wir selbst, also kann der
+Überschuß der Ausfuhr über die Einfuhr im großen ganzen nur industriell
+erwirkt werden. Zwei Gesichtspunkte sind entscheidend: die
+Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie einerseits, die Aufnahmefähigkeit
+und Aufnahmewilligkeit der fremden Märkte andererseits. Was zunächst
+die Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie anlangt, so ist sie teils eine
+Frage des Preiskurants, das heißt: des billigeren deutschen Angebots,
+teils ein Produktionsproblem: Haben wir Güter, die das Ausland
+unbedingt erwerben will? Haben wir Überschüsse, die für die
+ausländische Nachfrage zu Gebote stehen? Bezüglich der ersten Frage ist
+festzustellen, daß manche Tatsachen uns günstige Aussichten im
+Wettbewerb bieten. Der Wert des deutschen Geldes, gemessen am Gelde der
+ausländischen maßgebenden Gläubigerstaaten, steht sehr tief. Niedrige
+Wechselkurse aber bedeuten eine Prämie und einen Anreiz für die
+Ausfuhr. Unsere Lebenshaltung ist relativ weniger reich und kostspielig
+wie die der fremden Konkurrenzwirtschaften. Die Arbeitsfähigkeit und
+Arbeitswilligkeit unserer Bevölkerung hat sich vergleichsweise
+schneller erholt als die der meisten anderen Völker. Außerdem waren
+deutsche Waren im allgemeinen so wohl beleumundet in der ganzen Welt,
+daß Nachfrage nach ihnen ohne weiteres wahrscheinlich ist. Aber
+übersehen wir nicht die Hemmungen unserer Überlegenheit im Preisgebot!
+Wir mußten unsere Industrie viel eingreifender als die anderen
+kriegführenden Nationen auf einen neuen Friedensstand umstellen;
+technisch und organisatorisch ist diese Aufgabe schnell und glänzend
+gelöst worden, aber sie verschlang viele Arbeitskräfte und viele
+Kapitalien. Manche Industrien hatten im Laufe des Krieges Schulden in
+fremder Währung aufgenommen; der rapide Fall des deutschen Geldwertes
+steigerte den Belauf der Schulden ins Phantastische und bewirkte neue
+Kosten der Abdeckung oder Umwandlung. Die rastlose Anstrengung der
+Kriegsarbeit hat in vielen Industrien keine Kräfte und keine Zeit frei
+gelassen zu Reparaturen, Materialergänzungen, Erneuerung des
+Sachkapitals; das mußte alles nachgeholt werden. In den Zeiten der
+Umwälzung nach dem Kriege häufen sich die Streiks, die
+Wertzerstörungen, die Lohnforderungen; das Arbeitstempo ließ nach; all
+das erscheint als Produktionskosten wiederum im Warenpreis. Und nicht
+zuletzt legt die Steuergesetzgebung der Industrie ungeheuere Lasten
+auf, die natürlich Preissteigerungen im Gefolge haben. Der gewaltige
+Anreiz zu großen Gewinnen, der nach dem Kriege im Abverkauf von
+Betriebseinrichtungen und in der Angleichung der Inlandspreise an den
+Weltmarkt lag, wirkte sich auch in den gestiegenen Preisen aus. Nicht
+zuletzt bot der Warenmangel des erschöpften Inlandsverbrauchs die
+Möglichkeit, unter dem Anreiz des Dividendenhungers den Preisstand
+scharf zu erhöhen. Auch die Verteuerung der Produktion durch die
+Einfuhr fremder Rohstoffe und durch das damit verbundene starke
+Valutarisiko wirken in die Richtung steigender Preise. Nach einer
+Periode grenzenloser Schleuderverkäufe ins Ausland, die direkt nach dem
+Kriege einsetzte, kam die Gegenwirkung: die Preishöhe vieler deutscher
+Industrieprodukte lag zeitweise über den entsprechenden
+Auslandspreisen. Die Folge davon war stockende Ausfuhr, das heißt
+Gefährdung des Zieles der aktiven Handelsbilanz. Im ganzen hat der
+Druck auf unsere Wechselkurse dafür gesorgt, daß die Ausfuhrprämie
+nicht verschwand. Aber wie prekär die Sachlage ist, zeigt sich
+regelmäßig bei selbst geringfügigen Steigerungen unserer Wechselkurse:
+es setzt in diesen Fällen eine Stockung der Ausfuhr und eine Steigerung
+der Einfuhr ein, also ein ganz bedenklicher Sachverhalt. Der hin- und
+hergehende Wertstand des deutschen Geldes gefährdet für den deutschen
+Unternehmer alle Grundlagen der Kalkulation, bringt ein spekulatives
+Moment in die ganze Wirtschaft hinein und wirft uns aus einer Periode
+der Schleuderverkäufe und der stockenden Rohstoffeinfuhr in die andere
+stockender Ausfuhr und der Überschwemmung mit Auslandsware. Das
+Verlangen, den Urheber dieser Zustände, nämlich den wilden Wechselkurs,
+zu binden, ist ebensooft erhoben wie als zunächst aussichtslos
+abgelehnt worden. Deutschland ist ohne Unterstützung der
+kapitalsstarken Gläubigerstaaten völlig außerstande, eine solche
+Festlegung des Wechselkurses vorzunehmen. Nur mit Hilfe ganz gewaltiger
+Kredite und einer vorläufig noch sehr unwahrscheinlichen vernünftigen
+Gebahrung der Entente in der Reparationsfrage könnten stabile
+Wechselkurse eingerichtet und durchgehalten werden.</p>
+
+<p>So steht es um die Aussichten der deutschen Industrie im
+internationalen Preiskampf! Eine andere Frage ist die, ob wir Güter
+haben, die das Ausland unbekümmert um den Preis haben muß oder haben
+will. Das gilt gewiß bei einer Anzahl von hochwertigen Erzeugnissen,
+zumal der chemischen, optischen und elektrotechnischen Industrie; es
+gilt auch in einigem Umfang für Kali. Aber auf eine Anzahl solcher
+Erzeugnisse hat der Friedensvertrag die Hand gelegt und sie uns in
+großen Mengen auf "Reparation" abgefordert. Andererseits sind manche
+Erzeugnisse, für die Deutschland vor dem Kriege einen unbestrittenen
+Markt besaß, in der Zwischenzeit von fremden Industrien aufgegriffen
+und hergestellt worden. Immerhin hat auch heute noch ein gewisses
+Marktgebiet starken Druck und starke Neigung zum Verbrauch deutscher
+Produkte. Und nun die weitere Frage, haben wir Überschüsse frei für die
+Ausfuhr? Wir rechnen nicht in diese Überschüsse dasjenige hinein, was
+auf Reparationsrechnung zwangsweise geliefert werden muß. Diese Posten
+tragen zur Aktivierung der Handelsbilanz nichts bei, so beträchtlich
+sie an Wert sein mögen. Im Gegenteil, sie verschlechtern unsere Bilanz,
+denn soweit ausländische Rohstoffe und ausländische Arbeit direkt oder
+indirekt in ihnen kristallisiert sind, müssen sie erst mit teuren
+Kosten angeworben werden. Sehen wir also von dieser Art Ausfuhr ab, so
+fällt zunächst auf, daß bestimmte Industrien ihre Ausfuhrüberschüsse
+verloren oder stark gemindert haben. Das gilt für bedeutsame Industrien
+landwirtschaftlicher Rohstoffverarbeitung, beispielsweise für die
+Zuckerindustrie, deren Ausfuhr früher mehrere hundert Millionen
+Goldmark einbrachte; es gilt ebenso für die Branntweinindustrie. Es
+gilt aber auch für die Kohlenausfuhr. In die gleiche Richtung wirkt das
+zollpolitische "Loch im Westen", das uns den Warenüberdruck der fremden
+Märkte vielfach auf Schleichwegen in unser Land pumpt, deutsche
+Industrien, besonders im besetzten Gebiete, lahmlegt und uns mit einer
+Sorte Einfuhrwaren beglückt, die nach dem Stande unserer Verarmung
+besser draußen blieben. Der Verlust von Industrien im abgetretenen
+Gebiet, die Materiallieferungen an die Entente auf Grund des
+Waffenstillstandes und des Friedens, die starke Beschäftigung für den
+Aufbau der Eigenwirtschaft und der Rückgang der Leistungen an Menge und
+Güte, die Stillegung mancher Betriebe bringen erhebliche Minderungen
+der Überschüsse mit sich. Die Ausfuhrabgaben, die Kontrolle der Ausfuhr
+und die Unübersichtlichkeit der fremden Absatzgebiete infolge des
+Abbruches alter eingefahrener Wirtschaftsbeziehungen wirken in die
+gleiche Richtung.</p>
+
+<p>So weit die Ausfuhrfähigkeit der deutschen Industrie. Und nun die
+andere Seite: die A u f n a h m e f ä h i g k e i t und A u f n a h m e
+w i l l i g k e i t des Auslandes! Hier sind Anreizmomente für den
+Bezug deutscher Produkte vorhanden: ihre Billigkeit, ihre Güte, ihre
+teilweise Monopolstellung. Aber lassen wir die Gegentendenzen nicht aus
+dem Auge. Der Krieg wäre für England verloren, wenn er nicht mit einer
+Zurückwerfung der deutschen Industrieausfuhr endigte. England hat im
+Kriege Zeit gehabt, unsere Auslandsmärkte zu verwüsten, viele Neutrale
+haben sich auf den englischen und amerikanischen Lieferanten
+umgestellt, haben sich auf einzelnen Marktgebieten unabhängig gemacht.
+Die meisten Länder haben ihre Zölle erhöht, manche Länder haben zum
+Schutz ihrer eigenen Produktion zu sehr drastischen Abwehrmitteln gegen
+die fremde Einfuhr gegriffen. In den ehemals feindlichen Ländern sorgt
+der mit Leidenschaft geschürte Nationalismus dafür, daß der deutschen
+Ware die Wege weithin versperrt werden. Manche Rohstoffländer sind
+während des Krieges zur Verarbeitung übergegangen und spüren geringe
+Neigung, ihre mit Opfern großgezogene Verarbeitungsindustrie durch
+Ausfuhr von Rohstoffen der fremden Konkurrenz auszusetzen. Die ganze
+Welt ist beträchtlich ärmer geworden und hat ihren Verbrauch auf einen
+tieferen Durchschnittsstand setzen müssen. Die Erwerbslosenheere sind
+heute eine internationale Erscheinung und erschweren die Rückhehr in
+die Bahnen des offenen, freien Welthandels, selbst wenn die maßgebenden
+Kreise den Willen dazu hätten. Die Neigung, nur solche Erzeugnisse
+auszuführen, in denen hochwertige Arbeit verkörpert ist, hat starke
+Antriebe erhalten mit der Wirkung, daß unsere Waren, deren Güte und Art
+geradezu auf der stark konzentrierten Arbeit aufgebaut war,
+verschärftem Wettbewerb begegnen. So ist es erklärlich, daß in der
+Ausfuhr verhältnismäßig starke Rohstoff- und Halbfabrikatposten
+anzutreffen sind. Die Gefahr lauert im Hintergrunde: ein Sinken unseres
+gewerblichen Könnens, unserer Wirtschaftskraft dem Auslande gegenüber,
+sinkende Lebenshaltung, sinkende Kultur, sinkende politische Bedeutung.
+Das scheint weit ausgeholt, ist aber drohender Ernst. Der Rückfall auf
+vorwiegende Rohstoff- und Halbfabrikatausfuhr könnte uns auf ein enges
+kontinentales Dasein zurückwerfen.</p>
+
+<p>Man muß die großen Linien ins Auge fassen, um diesem Pessimismus
+nicht zu erliegen. Gewiß, wir vertrauen auf die unversiegliche
+Lebenskraft unseres Volkes, auf seinen Unternehmungsmut, auf seine hohe
+Geistigkeit. Aber ein Faktor von ebenso großer Bedeutung ist die
+Herzlage Deutschlands inmitten des Kontinents. Wir sind die
+Durchfahrtsstraße von Ost nach West, von der Atlantis zum Baltischen
+Meer; wir sind das Zwischenglied zwischen Westeuropa und dem Osten, das
+wirtschaftliche Glacis Englands und Amerikas, dessen industrielles
+Leben immer noch im Osten, zur Atlantis staut, und nicht im Westen!
+&mdash; nach Mittel- und Osteuropa. Man hat im Haß des Krieges und im
+Rausch des Sieges geglaubt, uns durch neue Handelswege, deren Linien um
+uns herum zu legen seien, aus dem großcn Zuge des internationalen
+Verkehrs auskapseln zu können, ein Versuch, der keine geringere
+Bedeutung hat, als uns wirtschaftspolitisch aus der Herzlage Europas an
+seinen Rand zu drängen. Aber beim Versuch ist es geblieben. Wenn der
+Osten wieder für ruhige wirtschaftliche Entwicklung Sinn und Zeit hat
+&mdash; und das wird auch einmal wieder der Fall sein &mdash;, dann ist
+Deutschland das Mittelstück Europas; und die vollen Vorteile dieser
+Lage werden ihm zugute kommen u n t e r d e r V o r a u s s e t z u
+n g, daß es sich nicht selbst ausschaltet und daß es politisch
+selbständig bleibt. Der industrielle Bedarf von Ost und Südost stößt
+irgendwie immer zunächst auf uns, und den Valuten jener Länder
+gegenüber sind wir trotz aller Hemmungen anderer Art leistungsfähiger
+als die valutastarken Industrieländer. Hier im Osten und Südosten
+erschließen sich unserer wirtschaftlichen Pioniertätigkeit neue
+Kontinente, reiche Rohstoffgebiete. Wenn sie mit Vernunft und in
+weitherziger Berücksichtigung der Interessen jener Länder und Völker
+selbst ausgebaut werden, so eröffnet sich eine neue Zukunft für die
+deutsche Wirtschaft. Für die Richtigkeit dieser Erwägungen spricht die
+Tatsache, daß fremde Kapitalien in großem Umfange die deutsche
+Industrie befruchten, zeigt das handelspolitische Interesse, das
+allenthalben in der Welt für unsere Wirtschaft besteht. Sorgen wir
+dafür, daß dieses Interesse kein Interesse der "Pleitegeier" an der
+Ausschlachtung eines alten soliden, ehemals blühenden Handelshauses
+wird! Das ist nur dann möglich, wenn wir alle Kräfte anspannen, die
+politische Freiheit und die Einheit des Reiches zu bewahren. Wenn das
+Mittel dazu die angestrengte Arbeit des ganzen Volkes ist, gut! so
+müssen wir sie auf uns nehmen. Vor dem Kriege war es die freie, gesunde
+Kraft eines stark wachsenden Volkes, wagender Kaufleute und
+Unternehmer, die uns den Weg in die Weltwirtschaft gehen hieß; heute
+ist es der Kampf um Freiheit und Einheit!</p>
+
+<p>Dieser Weg hat gewiß seine Gefahren. Die Hoffnung der Entente auf
+bare Zahlungen und Naturalleistungen hat uns wider alle wirtschaftliche
+Vernunft in die Kette der Diktate geschlagen. Heute zeigen sich die
+Folgen: Wenn wir zahlen wollen, müssen wir erst verdienen; wenn wir
+aber verdienen wollen, müssen wir erst die fremden Märkte aufsuchen.
+Unsere Ausfuhr aber und die Devisenaufkäufe zum Zwecke der Zahlung
+beginnen heute schon, unseren Gegnern empfindliche Wirtschaftsstörungen
+zu bereiten. Da taucht die Sphinx der Zukunft auf: Die Entente hat in
+Hinsicht auf das Friedensdiktat ein zweiseitiges Interesse: ein
+Gläubigerinteresse und ein Produzenteninteresse. Diese beiden
+Interessen stehen in Widerspruch. Beispielsweise: Wenn wir die im
+Friedensvertrag auferlegten 200 000 Tonnen Schiffsraum für England
+bauen, dann liegen die englischen Werften still, und die Arbeitskräfte
+müssen entlassen werden. Wenn wir die zwangsweise Kohlenlieferung
+durchführen, dann feiert der englische Bergarbeiter, oder er streikt,
+weil der Rückgang der Kohlenpreise die englischen Bergherren zwingt,
+die Löhne zu senken. Diese Gegensätze sind heute klar herausgearbeitet.
+Man faßt sie nur nicht grundsätzlich an, sondern versucht mit einer
+Politik der kleinen Mittel sich an ihnen vorbeizudrücken. Eines Tages
+aber wird die Härte der Gegensätze ihre Lösung verlangen. Entweder man
+saugt uns aus durch bare Zahlungen, dann müssen wir die Märkte mit
+allen Mitteln erobern und das feindliche Produzenteninteresse
+schädigen; oder man verwehrt uns die Märkte, dann können wir nicht
+zahlen, und das feindliche Gläubigerinteresse ist getroffen. Auf diesem
+Punkte laufen sich die Diktate tot an den wirtschaftlich
+unausweichbaren Zusammenhängen. Was soll dann geschehen? Das stärkere
+Gläubigerinteresse liegt bei Frankreich, das den geringeren
+Industrialismus und den stärksten Anteil an unseren Zwangszahlungen
+(52%) hat; das stärkere Produzenteninteresse liegt bei England, das den
+gesteigerten Industrialismus und den geringeren Anteil (22%) an unseren
+baren Leistungen hat. Welches Interesse wird durchdringen, das
+französische Gläubiger- (Rentner-) Interesse oder das englische
+Produzenten- (Arbeiter-) Interesse? Hier eröffnen sich Entscheidungen,
+die für unser Schicksal unerhört wichtig sind. Zu einem Teil haben wir
+es in der Hand, sie zu beeinflussen. Unser Interesse kann nicht mit
+Frankreich gehen, solange Frankreich in uns ein Beutestück sieht, eine
+politische Masse, deren Liquidation nicht brutal genug betrieben werden
+kann. Wir stehen wieder an dem Kreuzungspunkt &mdash; nur mit viel
+schlechterem Einsatz &mdash;, an dem wir schon einmal standen, den wir
+damals aber in seiner Tragweite nicht genügend begriffen: vor der
+Steuerung des Kurses ins englisch-deutsche Einvernehmen, oder &mdash;
+auf noch weiteren Aspekt gestellt &mdash; vor der Steuerung des Kurses
+in das anglosächsisch-deutsche Einvernehmen. Oder welcher andere Weg
+sollte noch offen sein? Auf die russische Karte jetzt schon zu setzen,
+erscheint verfrüht; außerdem kann bei unserer Kapitalschwäche und der
+starken Interessierung der anglosächsischen Wirtschaftsmacht an Rußland
+diese russische Karte nur im Rahmen einer deutsch-anglosächsischen
+Verständigung geschlagen werden.</p>
+
+<p>Verschiedentlich mußten wir darauf hinweisen, daß unsere politische
+Freiheit in den schmalen Resten, in denen sie überhaupt noch besteht,
+auf der Schneide der Erfüllung von Diktaten steht. Diese Erfüllung aber
+ist ein fiskalisches Problem, eine Frage des Steueraufkommens des
+ganzen Volkes. Die Steuerleistung aber ist letzten Endes eine Frage der
+Wirtschaftskraft. Das Elend der deutschen Wirtschaft aber spiegelt sich
+im Elend der deutschen Finanzen. Das Elend der Finanzen ist nun nicht
+erst eine Erscheinung von heute; seit 1876 hat das Reich so ziemlich
+fortwährend in Finanzverlegenheiten gelebt. Ein Hauptgrund dafür war
+der Aufbau des Reichsfinanzwesens und hier besonders die Verteilung der
+Steuerkompetenzen zwischen Reich und Bundesstaaten. Das Reich hat eine
+Steuerdomäne, die fast ausschließlich aus indirekten Abgaben und aus
+Zöllen bestand. Die direkten Steuern, das Rückgrat jeder gesunden
+Finanzwirtschaft, lagen unter Verschluß der Einzelstaaten und wurden
+von ihnen eifersüchtig gehütet. Die Einkünfte des Reiches aus
+Betriebsverwaltungen waren recht geringfügig im Verhältnis zu dem, was
+die großen Bundesstaaten aus ihrem Staatsbesitz zogen. Das war eine
+verhängnisvolle Fehlkonstruktion der Reichsfinanzen. Im Frieden war sie
+deswegen noch erträglich, weil das Reich doch bekam, was es brauchte,
+nur sehr umständlich, unter großer Erregung der öffentlichen Meinung
+und nicht immer sehr zweckmäßig.</p>
+
+<p>Die v e r h e e r e n d e Wirkung dieser Fehlkonstruktion zeigte
+erst der Krieg. Die Folge der Verteilung der Steuerkompetenzen nach der
+alten Reichsverfassung war die, daß das R e i c h, der Träger der H a u
+p t l a s t des Krieges, die d ü r f t i g s t e n und r ü c k l ä u f
+i g s t e n E i n n a h m e q u e l l e n besaß, während die
+Bundesstaaten, die die Last des Krieges ja gar nicht zu tragen hatten,
+die ertragreichsten und stabilsten Steuerquellen unter Verschluß
+hatten. Die Abneigung, eine entschlossene starke Kriegssteuerpolitik
+nach englischem Muster einzurichten, ließ nur den einen Ausweg: den
+Krieg mit S c h u l d e n zu führen. Was an Kriegssteuern dann seit
+1916 kam, kam zu spät und zu zaghaft. Man rechnete im Grunde immer nur
+mit dem siegreichen Ausgang des Krieges, wollte auch die
+Durchhaltestimmung im Volke nicht gefährden, fürchtete sich vor dem
+Wachwerden alter Parteigegensätze; kurz und gut, man finanzierte den
+Krieg mit Schulden. Das Resultat war: steigende Schulden des Reiches,
+steigende Inflation, sinkende Wechselkurse, steigende Löhne und
+Warenpreise, steigende Kosten der Kriegsführung, steigende
+Reichsverschuldung, neues Sinken der Wechselkurse, neues Steigen der
+Löhne und Warenpreise und so fort. Eine Schraube ohne Ende, oder
+vielmehr eine Schraube mit einem sehr dicken Ende: Reichsüberschuldung,
+Wohlstandsvernichtung breitester Kreise, goldene Zeit für alle
+Schieber, schwerste Not in breitesten Kreisen, Verschärfung der
+sozialen Gegensätze, schleichende Enteignung gerade der Kreise, die vor
+und im Kriege dem Staate Kredit gegeben hatten. Eine beispiellose
+Umschichtung der Vermögen ist vor sich gegangen, und die staatliche
+Finanzpolitik hat ihr ebensowenig wie die Wuchergesetzgebung zu steuern
+vermocht.</p>
+
+<p>Zur Verdeutlichung des Bildes seien einige Zahlen angegeben. Die
+Reichsschuld betrug vor dem Kriege 5,4 Milliarden Mark; sie bezifferte
+sich September 1918 auf 133,4 Milliarden, September 1919 170,9
+Milliarden, September 1920 283,7 Milliarden. Die schwebende Schuld des
+Reiches betrug am 31. Juli 1914 300 Millionen Mark Schatzanweisungen;
+sie stieg bis Dezember 1918 auf 55,1 Milliarden und endete am 30. Juni
+1921 mit 214,2 Milliarden. Der Umlauf an Banknoten gravitierte vor dem
+Kriege um 1,5 Milliarden, dazu kamen vergleichsweise geringe Beträge an
+umlaufenden Reichskassenscheinen. Der Umlauf an Noten betrug nach dem
+Ausweis vom 11. August 1921 77,6547 Milliarden; zu dieser ungeheueren
+Papierzettelschuld kommt noch ein Umlauf an Darlehenskassenscheinen von
+rund 8,22 Milliarden. Daß zur selben Zeit der Wert des deutschen Geldes
+gegenüber dem ausländischen vollvaluten Geld ins Abgrundtiefe gestürzt
+ist, ist nicht verwunderlich. Während vor dem Kriege 100 holländische
+Gulden rund 169 Mark kosteten, kosteten sie am 12. August 1921 rund
+2560 Mark[1]. Diese Zahlen genügen zur Illustration. Sie erhalten erst
+ihr volles Relief, wenn man die Zwangsleistungen an die Entente noch
+hinzurechnet.</p>
+
+<blockquote> [1] Seit Abschluß des Aufsatzes haben sich die
+Verhältnisse</blockquote>
+<blockquote> wesentlich ungünstiger entwickelt. Der Guldenkurs
+steht</blockquote>
+<blockquote> im Dezember 1921 nahe an 7000, der Umlauf an
+Geldzeichen</blockquote>
+<blockquote> hat die hundertste Milliarde längst hinter
+sich</blockquote>
+<blockquote> gelassen!</blockquote>
+
+<p>Das ist die Sachlage, der sich der Fiskus gegenübersah. Sie
+erforderte Finanzreformen allergrößten Stiles. Wir befinden uns seit
+Kriegsende zwar fortwährend in den Reformen, aber deutlich heben sich
+zwei gewaltige Reformperioden heraus: die grundlegende, heute
+abgeschlossene Reform von 1919 bis 1920, und die zweite Reformetappe,
+deren Vorbereitung und Anfänge eben sichtbar werden. Was bedeutet die
+Reform von 1919/20? Sie schafft einen fiskalischen Unitarismus, der in
+seinen politischen Folgen gemildert wird durch Artikel 8 der
+Reichsverfassung; dieser verpflichtet das Reich, auf die
+Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Sie schafft eine
+einheitliche Reichssteuerverwaltung, sie gibt einheitliche Richtlinien
+der Steuerveranlagung und -erhebung, deren Zweck es ist, die
+"Steuerinseln" zu beseitigen und dadurch dem Grundsatz der steuerlichen
+Gerechtigkeit zu dienen. Sie gibt dem Reiche das Gesamtsystem der
+ertragreichen und anpassungsfähigen direkten Steuern. Sie läßt den
+Ländern und Gemeinden einige Ertragssteuern und beteiligt sie im
+übrigen mit bestimmten Anteilen am Ertrag der Reichseinkommensteuer,
+der Reichserbschaftssteuer, der Umsatzsteuer, der Körperschaftssteuer
+und der Grunderwerbssteuer. Entsprechend diesem Eingriff des Reiches in
+alte Steuerrechte von Ländern und Gemeinden entlastete es die Länder
+und Gemeinden durch Übernahme beträchtlicher Schuldverpflichtungen auf
+sich selbst. Es gehört zu den wesentlichen Verdiensten dieser
+Reformperiode, daß das alte Bismarcksche Projekt der Reichseisenbahnen
+nun verwirklicht wurde.</p>
+
+<p>Man mag zu den Einzelheiten dieser Reform stehen wie man will: das
+ganze Reformwerk ist eine ungeheuere Leistung, deren volle Segnung erst
+erkennbar wird, wenn unsere Wirtschaftslage sich einigermaßen
+erleichtert. Dr. Respondek stellt sie in seinem Buche "Die
+Reichsfinanzen auf Grund der Reform von 1920" sogar in Parallele zu der
+Stein-Hardenbergschen Reform. Ob diese Parallele treffend ist, muß die
+Zukunft zeigen.</p>
+
+<p>Versenken wir uns einen Augenblick in die Haushaltsrechnung des
+Jahres 1920! Der "Ist-Etat" des Reiches zeigte beim Abschluß des
+Rechnungsjahres (31. März 1921) folgendes Bild: Die Reichseinnahmen aus
+Steuern, Abgaben, Gebühren, Zöllen bezifferten sich auf 27,7
+Milliarden. Die Ausgaben, betrugen netto 73,7 Milliarden. Dazu treten
+an Schuldzinsen des Reiches 10,4 Milliarden, an Zuschüssen des Reiches
+in den Betriebsverwaltungen (Reichseisenbahn, Reichspost), 18,2
+Milliarden. Mithin Totalausgabe 102,6 Milliarden. Die Differenz
+zwischen Ausgaben und Einnahmen, 74,9 Milliarden, mußte demnach auf
+neue Schulden genommen werden. Die schwebende Schuld wuchs auf 184,127
+Milliarden an. Der Voranschlag für 1921 zeigt folgende Ziffern:
+Einnahmen 46,9 Milliarden, einmalige Ausgaben 1,368 Milliarden,
+fortdauernde Ausgaben 45,579 Milliarden. Dazu kam ein Nachtragsetat von
+1,5 Milliarden. Es balanciert also der ordentliche Etat mit 48,459
+Milliarden auf der Einnahme- und Ausgabeseite. Daneben außerordentliche
+Ausgaben: 59,68 Milliarden; von diesen ungedeckt und auf schwebende
+Schulden zu nehmen: 49,18 Milliarden. In dieser Summe von 59,68
+Milliarden stecken nach Voranschlag rund 18,8 Milliarden Zuschüsse für
+Betriebsverwaltungen (Eisenbahn, Post). In den erwähnten Summen des
+ordentlichen Etats sind noch keine Aufwendungen für Reparationen
+eingeschlossen; ihre Gesamtsumme wurde bei der Beratung in der
+Kommission des Reichstages mit 53 Papiermilliarden jährlich
+veranschlagt. Ein schwankender Posten von hohem Belauf sind die
+Besatzungskosten; sie sind mit 8,5 Milliarden angesetzt. Alles in allem
+ist der heute errechenbare Fehlbetrag 110 Milliarden Mark. Der
+erschreckende Zug ist das Anwachsen der schwebenden Schuld. Das Reich
+kontrahiert sie in Gestalt von Schatzanweisungen, die an die Reichsbank
+begeben werden; diese schießt dem Reiche dafür Noten vor. Mit Noten
+bezahlt das Reich seine Verpflichtungen an Schuldzinsen, an Gehältern,
+Löhnen usw.; diese Noten kommen also als zusätzliche nominelle
+Kaufkraft in den Verkehr, nicht weil der Verkehr sie verlangt, sondern
+weil das Reich zahlen soll und ungenügende Einkünfte hat. So senken sie
+den Geldwert, steigern die Preise und Löhne, drücken die Valuta und
+führen alle die Risiken, Gefahren und Hemmungen des Wirtschaftslebens
+mit herauf, die sich an solche Währungszustände anzuschließen
+pflegen.</p>
+
+<p>Diese Sachverhalte lassen eines ganz deutlich werden: die
+Notwendigkeit n e u e r R e f o r m e n. Das erste und ursprüngliche
+Problem ist dieses: Wie bringen wir laufende Einnahmen und laufende
+Ausgaben zur Deckung? Die weitere Frage ist: Wie bringen wir die
+Reparationssummen auf? Und die dritte Frage lautet: Wie stärken und
+stabilisieren wir unseren Geldwert? Wenn man diese Probleme an den oben
+entwickelten Zahlen mißt, spürt man Neigung, zu glauben, es bandele
+sich um die Quadratur des Zirkels. Breite Strömungen im Volke, und was
+viel mehr besagen will, ernste sachverständige Kreise glauben nicht an
+die Möglichkeit, diesen furchtbaren Anforderungen gerecht zu werden.
+Grundsätzlich ist zu sagen, daß alles v e r s u c h t werden muß,
+unseren Verpflichtungen nach außen und nach innen nachzukommen und die
+Reichsfinanzwirtschaft zu sanieren. Die Gefährlichkeit der Aufgabe
+versteht an folgendem Beispiel auch der Laie. Das Reich könnte hohe
+Milliardenausgaben sparen, wenn es die Lebensmittelzuschüsse
+beseitigte, wenn es die Zuschüsse zu den Betriebsverwaltungen aufhebt,
+wenn es höhere Kohlenpreise durch Erhöhung der Kohlensteuer veranlaßt.
+Aber was ist die Wirkung? In all diesen Fällen gewinnt das Reich auf
+der einen Seite als F i s k u s, was es als B e t r i e b s v e r w a l
+t u n g und als Lohn- und Gehaltszahler wiederum wenigstens zum großen
+Teile drauflegen muß. Das ist der Punkt, an welchem sich zeigt, daß mit
+den üblichen Mitteln der Steuererhöhung schlechterdings nicht mehr
+durchzukommen ist.</p>
+
+<p>Mit dieser Erkenntnis sind die Voraussetzungen der zweiten großen
+Reformetappe gegeben. Ihre maßgebenden Gesichtspunkte sind, soweit sich
+das bisher beurteilen läßt, die folgenden: Zunächst Entlastung des
+Reiches von bestimmten Aufwendungen des außerordentlichen Haushaltes;
+dahin rechnen die Zuschüsse zur Verbilligung der Lebensmittel (8,6
+Milliarden), zu den Betriebsverwaltungen (18,8 Milliarden), für den Bau
+von Bergmannswohnungen (1,5 Milliarden), eventuell für
+Erwerbslosenunterstützung (1,3 Milliarden). Weiterhin eine Reform der
+Einkommensteuer und die Veredelung des Notopfers in eine drei zu drei
+Jahren zu erhebende Vermögenszuwachssteuer; die Erhöhung einer Anzahl
+indirekter Abgaben und Zölle liegt auf der Linie alter steuerlicher
+Methoden. Neu ist der Gedanke, die Unterschiede zwischen Auslands- und
+Inlandspreisen durch ein Erhöhung der Kohlensteuer zu erfassen; neu
+&mdash; wenigstens für die deutsche Finazgeschichte &mdash; der
+Gedanke, das Reich durch eine Art Genußschein an den werbenden
+Sachwerten der Nation mit zu beteiligen.</p>
+
+<p>Dieser Vorschlag einer direkten Wirtschaftsbeteiligung des Reiches
+hat vieles für sich. Die papierene Blüte unserer Wirtschaft hängt eng
+mit der Finanznot des Reiches zusammen. Die Erzeugung lädt in weitem
+Umfange auf die Preise ab, was sie an Lasten zu tragen hat. Das Reich
+wird von diesen Preissteigerungen, deren wichtigste Ursache seine
+Schuldenwirtschaft ist, in größtem Stile mit betroffen. Es half sich
+bisher durch neue Schuldaufnahmen und neue Steuern, aber immer liefen
+die Preise voraus, hinkte der Fiskus nach. Die Schwäche des Fiskus und
+die relative Stärke der Wirtschaft stehen in gefährlicher
+Wechselbeziehung. Ganz zutreffend kennzeichnet die "Frankfurter
+Zeitung" (Nr. 604 vom 16. August 1921) die Lage: Mittelstand und
+Festbesoldete können durch keine nach der Leistungsfähigkeit abgestufte
+Steueraktion so schwer geschädigt werden wie durch eine unzureichende
+Reform. Das gilt in hohem Maße auch für Handel und Industrie. Unsere
+Wirtschaftskreise sollten heute, so paradox es klingt, vor zu hoher
+Steuerbelastung weniger besorgt sein als vor zu geringer. Denn auf die
+Dauer wird die Notenpresse sie immer noch unbarmherziger ausquetschen
+als die Steuerschraube. Das Reich ist eben heute kein außerhalb der
+Wirtschaft stehender "Zweckverband" mehr, an den geringe Summen
+abgeführt werden, damit er seine begrenzten Funktionen erfülle, sondern
+das Reich ist heute mit der Wirtschaft zu einem dichten einheitlichen
+Körper verwachsen. Gibt man ihm nicht, was es braucht, so zerstören
+seine Notauswege langsam aber sicher das Leben der Nation.</p>
+
+<p>So ist es verständlich, daß das Reichswirtschaftsministerium sich
+grundsätzlich zum Steuerprogramm und zu den Reparationslasten äußerte.
+Nach den Angaben in der oben zitierten Nummer der "Frankfurter Zeitung"
+betont eine neue Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vor
+allem die Notwendigkeit eines Gesamtprogramms, das die
+Reparationsleistungen und ihre Aufbringung durch Ausfuhrüberschüsse und
+Devisenkäufe mit dem Ziel der Kräftigung der Wirtschaft durch höchste
+Rationalisierung, mit der inneren Finanzierung der Reparationslasten
+und mit den notwendigen sozialpolitischen Übergangsmaßnahmen in
+organische Verbindung bringt. Das wirtschaftspolitische Ziel sei die
+Aktivierung der Handelsbilanz, die Beschränkung der Einfuhr an allem
+Entbehrlichen, die Hereinholung der vollen Gegenwerte der Ausfuhr durch
+Einstellung der wirklichen volkswirtschaftlichen Selbstkosten, die
+Beseitigung der Reichszuschüsse, der Abbau der Zwangswirtschaft, die
+Tiefhaltung der Preise auf dem Kohlen- und Wohnungsmarkt. Damit würden
+die mühelosen Zwischengewinne verschwinden, die deutsche Wirtschaft
+würde auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig; höchste
+Wirtschaftsleistungen, höchste Erzeugung und höchstwertige Ausfuhr
+würden gesichert. Die Umsatzsteuer, die Erhöhung der Zölle und eine
+Aufwandssteuer würden den entbehrlichen Verbrauch beschränken; die
+Zwischengewinne, die bei der Anpassung an den Weltmarktpreis abfallen,
+könnten für die Zwecke der Reparation erfaßt werden. Die Übergangszeit
+erfordere sozialpolitische Maßnahmen: Planmäßige produktive Verwendung
+der erwerbslosen und freiwerdenden Arbeitskräfte für den Ausbau der
+Verkehrsmittel, der Wasserkräfte und für die Erfordernisse des
+Baumarktes.</p>
+
+<p>Die Denkschrift untersucht im weiteren die Frage, ob das Reich,
+nötigenfalls zum Zwecke der Verpfändung an das Ausland, die Substanz
+der Sachwerte erfassen soll. Der Ausbau des Notopfers könnte den
+Fehlbetrag im Etat nicht decken. Die Erfassung der Substanzwerte in der
+Wirtschaft erscheine deswegen zweckmäßig, weil sie tragkräftig, weniger
+fluchtfähig und derart erfaßbar seien, daß das Betriebskapital nicht
+gefährdet werde. Notwendig sei die dinghafte Sicherung des
+Ertragsanteils und seine Kapitalisierung. Den Verfassern der
+Denkschrift schwebt eine Beteiligung des Reiches mit 20% der
+Substanzwerte der Wirtschaft vor, unter dinglicher Sicherung. Damit
+werde die Deckung der Fehlbeträge im Etat für de ersten Jahre
+erleichtert und eine Grundlage für Auslandskredite erzielt. So lange
+sollten die deutschen Sachwerte bei organisierter Beleihung den
+Fehlbetrag in der Goldbilanz des deutschen Außenhandels decken, bis die
+deutsche Wirtschaft sie planmäßig durch erhöhte Sachleistungen auf dem
+Weltmarkte abdecken könne. Den Gesamtbetrag, den das Reich durch die
+übernommenen Sachwerte für seine Zwecke verfügbar machen könne,
+berechnet die Denkschrift auf 382 Papiermilliarden. Der Erfolg dieser
+Aktion wäre eine Minderung der Inflation infolge der Ablösung der
+Grundschulden mit allen daran anschließenden günstigen Weiterwirkungen
+auf die Wechselkurse, die Preise und die Löhne; auch würde die
+Nachfrage des Reiches auf dem Devisenmarkte (für Reparationszahlungen)
+gemindert werden durch die Möglichkeit, auf der Basis der dem Reiche
+verpfändeten Vermögenssubstanz Auslandskredite zu erlangen.</p>
+
+<p>Ohne uns auf eine Kritik dieser Vorschläge im einzelnen einzulassen,
+sei nur so viel bemerkt: Wenn diese Ideen sich durchsetzen, dann ist
+eine Bahn beschritten, an deren Ende möglicherweise die
+"Staatswirtschaft" steht. Oder um das vielgebrauchte, wenig eindeutige
+Wort zu nennen: die Sozalisierung. "Beim ersten sind wir frei, beim
+zweiten sind wir Knechte", das muß all denen gesagt werden, die den
+vorgeschlagenen Weg der Reichswirtschaftsbeteiligung bejahen, aber
+nicht seine Folgen in den Kauf nehmen wollen. Die Dinge haben ihre
+eigene Logik, und hat man sie einmal zum Ausspielen ihrer Logik
+gebracht, dann haben sie Durchschlagskraft und Beharrung genügend
+gewonnen, ihren Weg selbst weiter zu suchen. Die Anhänger der liberalen
+Wirtschaftsidee der wirtschaftlichen Freiheit der Privatinteressen, die
+diese Entwicklung der Dinge mit höchstem Mißtrauen betrachten,
+übersehen allzuleicht, daß auch in der f r e i e n Entwicklung der
+Wirtschaft Tendenzen sich herausgebildet haben, die auf
+"Wirtschaftsherrschaft" hinauslaufen und teilweise schon eine echte,
+von privaten Wirtschaftsgewalten ausgeübte Wirtschaftsherrschaft
+darstellen. Rathenau sprach ganz zutreffend von der Herausbildung
+"wirtschaftlicher Herzogtümer", deren Leiter die maßgebenden Köpfe der
+Industrie, der hohen Bankwelt und des Handels sind. Die B i n d u n g
+der alten "elementaren" und liberalen Wirtschaftswelt ist aus sozialen
+und weltwirtschaftspolitischen Gründen im Anzug. Der Prozeß verstärkt
+sich mit seinem eigenen Wachstum. Es fragt sich bloß, ob der Staat sich
+in tatenlosem Zusehen vor Tatsachen stellen lassen will, oder ob er
+eine Politik einschlägt, deren grundsätzliches Motiv de Wahrung von
+Allgemeininteressen ist. Bis jetzt steht die Sache so, daß die
+Wirtschaft in der organisierten und ins riesenhafte zusammengeballten
+Form den inneren G e i s t d e r f r e i e n K o n k u r r e n z
+w i r t s c h a f t, nämlich die Abstellung auf private Interessen,
+beibehalten hat. Das Interesse des Staates und des Volkes in seiner
+Allgemeinheit ist meines Wissens noch von keinem der gewaltigen
+Wirtschaftskonzerne öffentlich und grundsätzlich als Richtschnur des
+Handelns anerkannt worden. Wir haben den Glauben verloren, daß das
+freie Schaltenlassen von Privatinteressen durch irgendeinen mystischen
+Zusammenhang "von selbst" zum Besten der Allgemeinheit und des Staates
+tendiere. Wir sehen die Gefahren für das politische und soziale
+Gemeinwesen zu deutlich, als daß wir diese Dinge getrost sich selbst
+überlassen könnten. &mdash;</p>
+
+<p>Aber was sollen wir tun, um die Dinge nicht sich selbst zu
+überlassen, um sie herauszubringen aus dem Getriebe reiner
+Privatinteressen? Da erhebt sich die Stimme, die wir seit drei Jahren
+so ausgiebig gehört haben: man sozialisiere, man tue es bald und
+gründlich!</p>
+
+<p>Wer genau zuhört, wird merken, daß dieser Ruf die innere Sicherheit
+und Überzeugungswärme stark verloren hat, die ihn noch vor zwei-drei
+Jahren auszeichnete. Das hat seine guten Gründe. Was St. Simon
+seinerzeit von England sagte, dieses Land mache zum Nutzen aller Völker
+einen gewaltigen Versuch &mdash; nämlich den Versuch der freien
+industriellen Verkehrswirtschaft &mdash;, das können wir heute von
+Rußland sagen: Dieses Land hat zur Lehre für alle Völker ein gewaltiges
+Experiment angestellt, hat versucht, der marxistisch-soziaistischen
+Idee so, wie seine Wortführer sie verstanden, den Leib der Wirklichkeit
+zu gehen. Der Versuch hat eine alte Wirtschafts- und
+Gesellschaftsverfassung in tausend Scherben geschlagen, hat eine neue
+aufgebaut, aber, wie sich mehr und mehr herausstellt, keine Verfassung
+idealer Erfüllung, sondern der Gewalt, des Schreckens, der Wirtschafts-
+und Kulturvernichtung, der Not und des Hungers. Vieles am Mißerfolg ist
+auf spezifisch r u s s i s c h e Rechnung zu setzen: auf die mangelnde
+Industrialisierung des Landes, auf die schlechte Organisation der
+Verwaltung, auf die Unbildung des Volkes, auf die Weite der Landräume,
+auf die übereilte Gewaltsamkeit des Prozesses, auf die Mißachtung
+geistiger und sittlicher Vorbedingungen, auf die Direktion der
+Handlungen durch den toten Buchstaben des orthodoxen Marxismus unter
+Vergewaltigung aller Wirklichkeit. Vieles geht auf den verlorenen Krieg
+und auf die Absperrung des weiten Reiches vom Auslande zurück. Wenn wir
+das alles in gebührende Rechnung stellen, bleibt ein unbeglichener
+Rest: und er argumentiert g e g e n die Idee der Sozialisierung &mdash;
+das Wort im strengen Sinne einer Überführung aller Produktionsmittel in
+öffentliche Hand unter Zentralisierung der Wirtschaftsverfügung und
+Zuteilung der Wirtschaftserträge verstanden. Sein Argument lautet: Die
+Aufgabe ist zu groß, um bureaukratisch und zentralistisch gelöst zu
+werden; das Wirtschaftsleben ist zu vielgestaltig, um auf den Leisten
+von Verordnungen gespannt zu werden; es gibt zu viel natürliche
+Unberechenbarkeiten in den Grundbedingungen aller Wirtschaft, die sich
+den Paragraphen und noch mehr der Gewalt entziehen; und nicht zuletzt:
+der primäre Wirtschaftsfaktor Mensch ist zu sehr &mdash; Mensch, um
+jenes äußerste an Pflichtgefühl, Verantwortung und Arbeit, das eine
+ertragreiche Wirtschaft verlangt, aufzubringen, w e n n er nicht den
+Erfolg f ü r s i c h s e l b s t unmittelbar sieht. Das eigene
+Interesse ist der stärkste Hebel aller wirtschaftlichen Energien
+&mdash; dieser Satz wurde vor 150 Jahren von Adam Smith ausgesprochen;
+er wird so lange gelten, wie Menschen Menschen sind. Nur die besondere
+Fassung, die Smith ihm gab, ist zu eng: dieses Eigeninteresse ist nicht
+notwendig das unmittelbare Eigeninteresse jedes einzelnen. Es kann auch
+weitergreifen, es kann Stände, Körperschaften,
+Selbstverwaltungsorganisationen erfassen. Es reicht so weit, wie
+gewertete und erlebte Gemeinschaft reicht. Es hört immer da auf, wo das
+Fremde anfängt, dasjenige, was der einzelne nicht als unmittelbar
+&mdash; sei es beruflich, sei es standesmäßig, sei es familienmäßig
+oder freund-nachbarlich &mdash; zu sich gehörig empfindet. Aber schon
+in diesem Bereich finden sich leicht Abschwächungen der
+Verantwortungsfredigkeit und des Pflichtgefühls. Man wendet ein, der Z
+w a n g könne die Gemeinschaftsgesinnung ersetzen und ihre
+wirtschaftlichen Auswirkungen erzielen. Das ist ein Irrtum. Zwang und
+Gewalt sind keine Bindungen von innen, sondern Grenzen von außen. Ihre
+Reichweite ist beschränkt; wir sehen es am russischen Beispiel, wir
+erlebten es am eigenen Leibe in der Kriegswirtschaft. Eine Grenze von
+außen bedeutet immcr gleichzeitig eine Prämie auf Grenzüberschreitung,
+und deren Möglichkeit ist immer gegeben. Sie unterhöhlt das ganze
+Gefüge, während die klappernde Mühle von Verordnungen und
+Strafbestimmungen leeres Stroh drischt. Der radikale Vcrsuch, mit G e w
+a l t die sozialistische Gesellscafts- und Wirtshaftsidee
+durchzusetzen, führt notwendig zur Lähmung der Wirtschaft durch
+Abdrosselung der Wirtschaftsenergien und zur Erstickung aller
+Initiative durch Bureaukratie. Pflichtgefühl und Verantwortung für das
+Ganze hängen nicht an der Koppel du Polizeidieners.</p>
+
+<p>Mit dieser Ablehnung der allgemeinen und zentralistischen
+Sozialisierung ist das Sozialisierungsproblem jedoch nicht erschöpft.
+Wir sahen bis jetzt nur seine Grenzen. Nur auf dem Boden einer
+Gemeinschaftsgesinnung ist Gemeinschaftswirtschaft möglich. Diese
+Gemeinschaftsgesinnung aber kommt nicht von oben, durch Verordnung,
+sondern nur von unten, aus sittlichen Grundvorstellungen bei
+Gemeinsamkeit des Lebens und Erlebens. Wir sahen das andere: Sachliche
+Vorbedingungen sind unerläßlich; sie liegen aber von Gewerbe zu Gewerbe
+verschieden und sind selbst innerhalb der einzelnen Gewerbe mannigfach
+gelagert. Diese Verschiedenheit der sachlichen Vorbedingungen macht die
+Forderung der allgemeinen Sozialisierung zu einer unmöglichen, das
+heißt nach aller vernünftigen Erwägung fehlschlagenden Lösung. Sie
+nötigt uns, über die Herrschaft der Phrase und der wohlmeinenden, aber
+unverständigen Köpfe hinauszukommen, den vernünftigen Kern der
+Sozialisierungsidee zu retten vor ihren eigenen schlecht beratenen
+Freunden. Die ganze Sozialisierungsaktion löst sich auf in eine Fülle
+von schwierigen Einzelproblemen. Die erste und zweite
+Sozialisierungskommission hat dieses Ergebnis gezeitigt und die
+Schwierigkeit der ganzen Frage ins hellste Licht gerückt.
+Sozialisierung ist aus einer marxistischen Verheißung und einem
+sozialistischen Dogma eine Organisationsfrage der Wirtschaft
+geworden.</p>
+
+<p>Heute ist man sich allenthalben darüber klar, daß unsere äußeren und
+inneren Daseinsbedingungen jene Formen und jene Verfassung der
+Wirtschaft fordern, die technisch und wirtschaftlich die
+leistungsfähigsten sind.</p>
+
+<p>Damit taucht das Problem der wirtschaftlichen F o r m b i l d u n g
+auf. Es ist unbegreiflich, daß man drei kostbare Jahre hat verstreichen
+lassen, ohne durch organisatorische Versuche brauchbare Formen der
+Betriebsverfassung herauszufinden. Es macht einen kümmerlichen
+Eindruck, zu sehen, wie festgerannt man auf diese oder jene Form der
+Arbeits- und Betriebsverfassung ist. Man übersieht dabei, daß reiche
+Bauformen nötig und zweckmäßig sind. Eine Wirtschaftsverfassung ist
+kein Militärrock, der auf jeden passen muß. Die Formen der
+kapitalistischen Unternehmung sind sehr vielgestaltig, aber alle auf
+ihre Art zweckmäßig. Warum will man nicht Grundtypen
+gemeinwirtschaftlicher Unternehmungsform herauswachsen lassen? Wer
+nicht die bornierte Auffassung hat, es könne nur diese oder jene
+(natürlich gerade von ihm vertretene!) Form in Betracht kommen, wird
+zugeben, daß eine Vielgestalt der Verfassungen denkbar ist, die den
+gemeinwirtschaftlichen Ansprüchen gerecht wird ohne jene Energien zu
+ersticken, die auf dem Boden der Selbstverantwortung gedeihen.</p>
+
+<p>Das wird zumal derjenige zugeben, der in die inneren psychologischen
+Antriebe des Sozialisierungsverlangens geschaut hat. Woher stammt
+unsere Arbeiterbewegung, woher stammen ihre Wirtschaftsideale und
+Gesellschaftsanschauungen? Unzweifelhaft aus der Abwehr gegen die
+Arbeitsverfassung, die Arbeitsmethoden, die Ertragsverteilung und die
+gesellschaftliche Stellung der Handarbeit in unserer modernen
+Wirtschaft. Wer das nicht im Auge behält, sieht das ganze Problem der
+Sozialisierung und des Sozialismus falsch. Skizzieren wie die Punkte,
+die die Arbeiterschaft veranlassen, die moderne Wirtschafts- und
+Gesellschaftsverfassung mit so ungeheurem Nachdruck abzulehnen. Die
+Arbeit ist im kapitalistischen Betrieb fremdbestimmte Arbeit an fremden
+Arbeitsmitteln, für fremden Ertrag, unter fremdem Kommando, gegen einen
+Lohn, der die Besitzlosigkeit des Arbeiters und damit seine erzwungene
+Einordnung in das kapitalistische Arbeitsverhältnis dauernd und erblich
+macht. Sie ist mechanisierte Teilarbeit, die keine Persönlichkeitswerte
+braucht und verträgt. Sie ist weiterhin Arbeit von Massen, und zwar von
+Betriebsmassen, wie auch Großstadtmassen. Die Arbeiterschaft als Ganzes
+stand gesellschaftlich und staatsbürgerlich nicht in der Geltung und
+Achtung, die sie nach ihrer Bedeutung für Wirtschaft, Staat und
+Gesellschaft beanspruchen zu können glaubte. Zu diesen objektiv
+feststellbaren Quellen der Abneigung gegen die moderne
+Wirtschaftsverfassung kommen als weitere die spezifisch proletarischen,
+vom Marxismus formulierten und genährten Klassen- und Wertgefühle der
+Arbeiterschaft. Aus diesem Gesamtkomplex der Empfindungen und
+Anschauungen floß die Sozialisierungsidee, der Zukunftsstaatgedanke,
+die bewußte und gewollte Gettohaftigkeit des Proletariats in
+weltanschaulichen und sozialen Hinsichten. Der Grundgehalt des
+Widerstandes gegen den Kapitalismus war die Revolte des lebendigen
+Menschen dagegen, bloßes Mittel zu sein für privatwirtschaftliche
+Zwecke und für ein höchstes Produktionsideal.</p>
+
+<p>Wer das bedenkt, sieht de notwendig zweiseitige Lösung des
+Sozialisierungsproblems. Die eine Lösung ist die wirkliche und
+wahrhaftige Überführung dazu geeigneter Betriebe in de öffentliche Hand
+oder in gemischtwirtschaftliche Betriebsform oder in
+Selbstverwaltungskörperschaften &mdash; alle drei unter Anteilnahme und
+Mitbestimmung der Arbeiter; beziehungsweise die Beteiligung der
+Arbeiter an den Erträgen der Unternehmung in der einen oder anderen
+Form &mdash; Kleinaktie, Gewinnbeteiligung, auch
+arbeitergenossenschaftliche Führung und Übernahme von Betrieben. Die
+andere Lösung des Sozialisierungsproblems ist unvermeidlich die: es muß
+die Stellung des Arbeiters im Wirtschaftsprozeß selbst geändert werden.
+Er muß Mitbestimmungsrecht in gewissem Rahmen haben; er muß mit dem
+Betriebe enger verwachsen, als es bisher der Fall war; er muß gegen die
+Konjunkturgefahren, gegen Betriebsunfälle, gegen Alter und Invalidität,
+gegen Ausbeutung geschützt werden. Die soziale und rechtliche Geltung
+der Arbeiterschaft muß auf ihr richtiges Maß gebracht werden. All das,
+damit er selbst lebendige Verantwortung für den Betrieb und
+Pflichtgefühl der Arbeit gegenüber aufbringen könne! Das ist nicht nur
+eine sozialpolitische Notwendigkeit, es ist vor allem ein
+wirtschaftspolitisches Erfordernis. Nur so wecken wir Verantwortung und
+Pflichtgefühl, nur so durchdringen wir die Wirtschaft bis in de
+kleinsten Zellen mit diesen Eigenschaften.</p>
+
+<p>Ein gewichtiger Teil der Gesetzgebung hat sich seit der Revolution
+mit Reformen in dieser Richtung befaßt. Zunächst die Reichsverfassung
+selbst. Sie stellt die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des
+Reiches. Sie gewährleistet das freie Vereinigungsrecht für jedermann,
+für alle Berufe. Sie verspricht ein einheitliches Arbeitsrecht und
+einen entschlossenen Ausbau der Sozialpolitik. Sie nähert sich dem
+Gedanken des Rechtes auf Arbeit durch die Bestimmung, daß es jedem
+Deutschen ermöglicht werden solle, durch wirtschaftliche Arbeit seinen
+Unterhalt zu erwerben, und sichert für die Notfälle der
+Arbeitslosigkeit den Unterhalt zu. Sie bringt allerdings auch zum
+Ausdruck, daß jeder Deutsche die sittliche Pflicht habe, seine
+geistigen und körperlichen Kräfte für das Wohl der Gesamtheit
+einzusetzen. Konkreter werden die Bestimmungen der Verfassung
+hinsichtlich der Anerkennung der Gleichberechtigung von Arbeitern und
+Angestellten bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Ein
+Aufbau von Betriebsräten und Bezirksräten, sowie einige auf
+Gemeinwirtschaft zielende Bestimmungen sind verfassungsrechtlich
+festgelegt.</p>
+
+<p>Diese verfassungsrechtlichen Ankündigungen haben teilweise bereits
+ihre Verwirklichung erlebt. Wir erwähnen in diesem Zusammenhange das
+neue Recht der Tarifverträge und der Schiedsgerichte, und vor allem das
+Betriebsrätegesetz.</p>
+
+<p>Noch ehe die Reichsverfassung die Gedanken der Gemeinwirtschaft und
+die Richtlinien der sozialen Befriedung festlegte, hatten die Verbände
+der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zusammengefunden, um auf einer
+neuen Grundlage die kommenden Schwierigkeiten der Nachkriegszeit durch
+gemeinsame Vereinbarungen zu bewältigen. Schon im November 1918
+erschien die sogenannte "Vereinbarung"; in ihr anerkennen die Vertreter
+der Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften als berufene Vertretung der
+Arbeiterschaft, in ihr wird jede Beschränkung der Koalitionsfreiheit
+untersagt, und der Arbeitsfriede in Gestalt allgemeiner
+tarifvertraglicher Regelung, der Arbeitsausschüsse, der
+Schlichtungs- und Einigungsämter grundgelegt. Auf diese Vereinbarung
+erfolgte im Dezember 1918 die Errichtung der sogenannten
+Arbeitsgemeinschaften. Man hat diese Vereinbarung nicht mit Unrecht die
+Magna Charta der Arbeiterschaft im neuen Deutschland genannt. Sie
+verwirklicht gewerkschaftliche Forderungen, um die jahrzehntelang
+umsonst gekämpft worden ist. Sie führt Arbeitgeber- und
+Arbeitnehmerverbände zusammen zu paritätischer Entscheidung all der
+Fragen, die das Arbeitsverhältnis betreffen. Wenn auch heute schon
+feststellbar ist, das [sic] längst nicht alle Blütenträume gereift
+sind, die an die Vereinbarung, die Arbeitsgemeinschaften und das
+Betriebsrätegesetz anschlossen, so ist doch der eingeschlagene Weg g r
+u n d s ä t z l i c h r i c h t i g und wird sicher nicht mehr
+aufgegeben werden für das zweifelhafte Linsenmus wilder
+Kampfauseinandersetzungen &mdash;, deren Last und Folgen würden auf
+beide Teile vernichtend zurückfallen. So können wir hoffen, nach Zeiten
+stärkster sozialer Konflikte und Spannungen allmählich alte Gegensätze
+abzubauen, den Weg zum sozialen Frieden zu finden. Was der Glanz der
+deutschen Macht, der Stolz auf das nach außen einige Vaterland und der
+Schimmer blendenden Reichtums nicht vermochten, das wird, so hoffen
+wir, als ein Werk der deutschen N o t zustande kommen: die Einigung
+Deutschlands nicht nur nach Verfassungsparagraphen, sondern aus der
+Einheitsgesinnung und aus dem Einheitswillen des ganzen Volkes
+heraus!</p>
+
+<p>Wir brauchen brauchen diesen unbeirrbaren Einheitswillen, um als
+Volk und als Staat durch die trostlose Nacht des nationalen Unglücks
+hindurchzukommen. Wir sind nicht mehr Herren im Lande, weder
+staatsrechtlich &mdash; das einzige Souveränitätsrecht, das der
+Friedensvertrag uns gelassen hat, ist nach den Worten van Calcers das
+Recht, Krieg zu erklären; ein platonisches Recht für ein Volk, das man
+entwaffnet hat, und das nach allen Richtungen unter Kontrolle steht
+&mdash; noch wirtschaftlich. Durch ungeheuere Verpflichtungen sind wir
+zum Lohnarbeitervolk geworden; die Last der Reparationen, die
+Ausgeschöpftheit unseres Wohlstandes nötigen uns, die Betriebsmittel
+unserer Lohnarbeit sogar noch vom valutastarken Ausland uns erstellen
+zu lassen. Wir brauchen Aufbau- und Betriebskapitalien, unsere
+Kapitalbildungskraft ist minimal, und so droht uns die Gefahr, daß
+unsere Industriewerte vom ausländischen Kapital "überfremdet" werden.
+Milliardenbeträge an Mark, aufgenommen vom Ausland, strömen zurück;
+Milliardenbeträge an Schatzanweisungen, Obligationen und Industriewesen
+müssen ins Ausland verzinst werden. Der Dollar, das Pfund Sterling, der
+Gulden und der Frank bemächtigen sich unserer Industriewerte, unserer
+Häuser, unseres Grundbesitzes, unserer Vorräte. Das ist ebenso
+schmerzlich wie unabwendbar; wir brauchen das fremde Kapital. Es kommt
+darauf an, es nicht der Menge nach, sondern seinem Macht- und
+Verwaltungsanspruch nach zu begrenzen oder, wie Professor Schumacher
+das neuerdings ausdrückte, es zu "entgiften", den Strom dieser
+Kapitalien zu regulieren. Gewiß wäre es wünschenswert, wenn diese
+ausländischen Kapitalien die wenigst bedenkliche Anlage in Deutschland
+wählen würden, wenn sie dem G r u n d b e s i t z zuflössen. Aber das
+ist wenig wahrscheinlich. Die Anlage, die sie suchen, und in der die
+meisten Gewinne locken sind eben die Industriewerte; und unsere
+Regulierung dieser Kapitalzuwanderung ist damit beschränkt auf das
+Aushilfsmittel der Vorzugsaktie. Im übrigen stehen wir dem Prozeß so
+lange mit gebundenen Händen gegenüber, als die Reparationslast und die
+Steuern unsere Sparkraft lähmen.</p>
+
+<p>Aufkauf unserer Werte durch das valutastarke Ausland &mdash;
+Abschöpfung unserer Arbeitserträge durch Steuern zu Zwecken der
+Reparation: das heißt wirklich das Licht an zwei Enden anzünden! Die
+Unhaltbarkeit dieser Sachlage anerkennen selbst führende
+Wirtschaftspolitiker aus dem Ententelager. Unter ihnen erwähnen wir Van
+der Lip und Keynes. Der Engländer Keynes, der in seinem
+bedeutungsvollen Buche über den Versailler Vertrag ein großes Maß an
+ruhiger Vernunft bewies, äußert sich in neuerlichen Aufsätzen in der
+"Industrie- und Handelszeitung" über die Fähigkeit Deutschlands, die
+ihm aufgelegten Lasten zu tragen. Er kommt zu einem negativen Ergebnis.
+Er sieht im Londoner Diktat eine provisorische Abmachung, die schon im
+nächsten Jahre ihre Unzulänglichkeit zeigen werde. "An einem bestimmten
+Zeitpunkt, der zwischen Februar und August 1922 liegt, muß Deutschland
+der unvermeidlichen Zahlungsunfähigkeit erliegen. Nur bis dahin reicht
+die Schonzeit, die gewährt wird." Diese Ansicht stützt Keynes auf eine
+Untersuchung der Handelsbilanz, des deutschen Staatshaushalts und des
+deutschen Volkseinkommens.</p>
+
+<p>Diese Darlegungen, deren sachliche Richtigkeit nicht bestritten
+werden kann, die höchstens die eine Frage offen lassen, ob der von
+Keynes genannte Termin gerade der richtige ist, zeigen uns, in welch
+gefährlichem Fahrwasser das lecke Schiff der deutschen Wirtschaft
+schwimmt. Das Echo, das sie in England und Frankreich vielfach gefunden
+haben, beweist, wie machtvoll heute die Idee der Gewaltpolitik unter
+Abweisung aller Vernunftserwägungen und aller sittlichen Begriffe in
+den Köpfen der Sieger herrscht. Man sieht nur Goldmilliarden, die mit
+dem Rechte Shylocks erpreßt werden müssen; aber man sieht nicht die
+Abgründe, die vor ihnen liegen. Die geistige und sittliche Einheit
+Europas ist vor dem nationalen Machtrausch und vor der Habgier der
+heute, zumal in Frankreich, führenden Schichten ein Schrei in die
+Wüste. Gerechtigkeit in der Behandlung großer, wehrloser Völker ein
+leerer Paradespruch für Bankette, das Drapeau, mit dem Gewalttat und
+Eroberungsgier zugedeckt werden. Der Geist Richelieus ist wieder
+lebendig geworden, am Rhein und im Osten; nur ruft er heute keine
+Türken herbei, sondern Schwarze und Braune aus allen Himmelsstrichen
+und mobilisiert die slawische Welt gegen uns. Wir sind heute das
+ungedeckte Glacis des elementar gegen Europa vordringenden Slawentums.
+Dürfen wir hoffen, daß die unwiderlegliche Logik der Geschichte selbst
+die Einsichtslosigkeit beheben, den verbrecherischen Übermut dämpfen
+wird? Müssen die Trostlosigkeiten dauernder politischer Unruhen und
+chronischer wirtschaftlicher Verarmung erst die ganze Welt schütteln
+und erschüttern, ehe der Satz begriffen wird, daß kein Volk auf die
+Dauer davon leben kann, daß es das andere unter die Füße tritt und
+ausraubt! Wahrlich, wir haben unser gutes Gewissen wiederbekommen an
+all den Furchtbarkeiten und Greueln, die man uns seit dem
+Waffenstillstand zugefügt hat. Mit diesem guten Gewissen haben wir die
+neue Pflicht für das gequälte und leidende Europa übernommen, der
+Gerechtigkeit und der Ansicht breite Tore in uns und allen zu öffnen,
+die in Europa und in der Welt noch guten Willens sind. Das sei im
+Dunkel der gegenwärtigen Stunde unser Trost, daß wir nie zu so großer
+Mission geläutert und berufen waren, wie wir heute sind!</p>
+
+<br>
+<br>
+<br>
+<br>
+<hr noshade>
+<p>***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART***</p>
+<p>******* This file should be named 16264-h.txt or 16264-h.zip *******</p>
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+<p>Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.</p>
+
+<p>Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
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+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
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+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.</p>
+
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
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+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
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+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf.
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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