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Sommerfeld; Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart, von Prof. Dr. Goetz Briefs + + +Author: Philipp Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and +Goetz Briefs + +Editor: D. Philipp Witkop + +Release Date: July 11, 2005 [eBook #16264] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + + +***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART*** + + +E-text prepared by Martin C. Doege <mdoege@compuserve.com> + + + +DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART + +Herausgegeben Von Prof. D. Philipp Witkop + +Mit 8 Abbildungen + +PROF. DR. PHILIPP WITKOP +Deutsche Dichtung der Gegenwart + +PAUL BEKKER +Deutsche Musik der Gegenwart + +PROF. DR. MAX SCHELER +Deutsche Philosophie der Gegenwart + +PROF. DR. A. SOMMERFELD +Relativitätstheorie + +PROF. DR. GOETZ BRIEFS +Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart + + +Berlin 1922 +Volksverband Der Bücherfreunde +Wegweiser Verlag G. M. B. H. + + + + + + + + Dieses Buch wurde als dritter + Band der dritten Jahresreihe + für die Mitglieder des "Volksverbandes + der Bücherfreunde" hergestellt und wird nur an + diese abgegeben / Den Einband + zeichnete A d o l f P r o p p + + + + +VORWORT + +Deutsches Leben der Gegenwart -- dem feindlichen Blick, der nur seine +Oberfläche streift, möchte scheinen, daß die Gegenwart wenig vom +deutschen Leben, mehr vom deutschen Sterben zu melden hätte. Aber der +nachdenkliche Betrachter weiß, daß die größten geistigen Epochen +Deutschlands über seinen politischen Niederlagen wuchsen, daß gerade +die Zeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dem Zusammenbruch von +Jena zu den schöpferischen des deutschen Lebens gehören. Und so wird +seinem geschärften Auge nicht entgehen, wie auch heute hinter der +zerstörten und zersetzten deutschen Außenwelt seelische und geistige +Kräfte keimen -- in heiligem Trotz dem Elend und Leid der Gegenwart +entkeimen -- die eine Verjüngung und Vertiefung, eine Erneuerung +Deutschlands verheißen. + +Von solchen Kräften will dies Buch uns Kunde geben, auf daß wir der +inneren deutschen Welt gewiß und froh werden, wenn auch die äußere noch +darniederliegt. + +Und es ist bedeutsam, zu sehen, daß diese Mächte durch den Krieg zwar +erst ganz befreit und gefördert, aber nicht erst durch den Krieg +geweckt sind. Schon seit der Jahrhundertwende regen sich Kräfte in +Deutschland, die es aus der europäischen Epoche des Materialismus und +Rationalismus, des Technizismus und Kapitalismus hinausführen wollen zu +geistigem und seelischem Urgrund. + +In der Dichtung, Musik, Philosophie, der Naturwissenschaft und +Wirtschaft drängen junge, schicksalstiefere Kräfte vor. Und so wenig +die Autoren dieses Buches einem bestimmten anderen Punkte sieht und +schafft, so leben und schaffen doch alle nicht im Gefühl eines Ausgangs +und Untergangs, sondern eines Anfangs und Übergangs, einer Zeitenwende, +in der dem deutschen Volke vielleicht gerade um seiner größeren Leiden +willen die größere, schwerere Aufgabe zugewiesen ist. + + F r e i b u r g i. B., Neujahr 1922. + + Prof. Dr. Philipp Witkop. + + + + +DIE DEUTSCHE DICHTUNG DER GEGENWART +(IN IHREN GRUNDLINIEN) +VON PHILIPP WITKOP + + +DER ROMAN + +Alle epische Dichtung, das Versepos wie der Roman, setzt sich als +höchstes Ziel, ihr ganzes Volk in ihrer Zeit darzustellen, in seinen +religiösen, sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Grundformen. +Aber die Urzeit der Völker, da diese Formen in ungeschiedener Einheit +das ganze Volk umfassen, hat selten ein Volk zum Bewußtsein und zur +epischen Gestaltung seiner selbst gelangen lassen. Erst nachdem sich +aus der Einheit und Einfachheit des ganzen Volkes einzelne Stände +herausgehoben und gesondert ihre Anlagen und Lebensformen entwickelt +haben, sind die großen Epen entstanden. Die Ilias wie die Nibelungen +stellen die Lebensformen einer ritterlichen Gesellschaft dar. Und wenn +de ständischen Volksgruppen sich kulturell und dichterisch entwickelt +haben, meist nacheinander, so bleiben sie in der epischen Dichtung +ihres Landes nebeneinander bestehen: fast alle großen neueren Romane +gestalten die Lebensformen eines bedeutenden Standes; so zerfällt der +Volksroman in den Ritter- oder Adelsroman, den Bürgerroman, den +Bauernroman, den Arbeiterroman. Die jeweilige schöpferische Bedeutung +dieser Stände entscheidet zumeist auch über die Bedeutung ihrer Romane. +Sind ihre Lebensformen, ihre religiösen, sittlichen, geistigen, +wirtschaftlichen Grundkräfte gesund, klar, einig und schöpferisch, so +drängen sie auch nach ihrem schöpferischen Ausdruck, so geben sie einem +wesensverbundenen Epiker die innere Form zu einem epischen +Gesellschafts- und Volksbild, das sich in breitem Nach- und +Nebeneinander, in plastischer Gestaltenfülle, in farbiger Sinnlichkeit +und Sichtbarkeit, in liebevoller Bejahung des Lebens entfaltet. + +In Deutschland ist dies Wesen und Werden der epischen Dichtung von +fremden Kräften durchkreuzt. Seine ritterliche Kultur hat zwar in +Gottfried von Straßburgs "Tristan" und in Wolfram von Eschenbachs +"Parzival" vollen epischen Ausdruck gefunden. Aber schon im "Parzival", +dem eigentlich deutschen der beiden Gedichte, bricht jene deutsche +Eigenheit durch, die dem epischen Lebensgefühl widerspricht: die +deutsche Art schlägt das Auge eher nach innen denn nach außen auf, ist +mehr metaphysisch als physisch, mehr musikalisch als plastisch, sie +weiß mehr von der inneren Einsamkeit der Persönlichkeit als von der +Gemeinsamkeit des Standes, Volkes und Staates, mehr von Kampf und +Tragik als von Frieden und Daseinsfreude. Schon die Nibelungen sind im +Grunde eine Tragödie, der grauenvolle Untergang eines ganzen Volkes. +Ein unendliches Wehklagen ist ihr Schluß und die düstere Erkenntnis, +"daß alle Freude immer zuletzt in Leid sich kehrt". Und der erste der +großen deutschen Prosaromane, Grimmelshausens "Simplizissimus", +schildert die irrende deutsche Seele, die aus Mord und Getümmel des +Dreißigjährigen Krieges auf eine einsame Insel, an das Herz ihres +Gottes flüchtet. Die Entwicklung und Vollendung der Seele wird zum +Inhalt des deutschen Romans, nicht die Darstellung des äußeren Lebens, +der Gesellschaft, des Volkes, der Kriege und Siege. Die großen +deutschen Epen und Romane sind Entwicklungsromane: "Parzival", +"Simplizissimus", "Wilhelm Meister", "Der grüne Heinrich". + +Diese deutsche Wesensart ist durch die Geschichte Deutschlands +bedeutsam verstärkt worden -- wobei vielleicht auch hier "Schicksal und +Gemüt Namen e i n e s Begriffes sind" (Novalis). Während die romanische +und angelsächsische Welt mit der Renaissance sich der Bewunderung, +Erforschung und Eroberung der Natur zuwandte, verlor sich Deutschland +in die metaphysischen Tiefen und Konflikte der Reformation, bis daß es +in einem dreißigjährigen Religionskriege fast zugrunde ging. Aber +während es politisch und wirtschaftlich so auf lange daniederlag, hob +es sich philosophisch und künstlerisch zu seiner größten Bedeutung. Zum +epischen Ausdruck dieser inneren Welt und Wesenheit wird der Roman der +deutschen Romantik (Hölderlin, Novalis, Jean Paul. Eichendorf, E. T. A. +Hoffmann), der durchaus musikalisch-metaphysisch bestimmt ist, aus der +Welt der Gestalten in die "unendliche Melodie" hinüberdrängt. + +Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt Deutschland aus dem Reich der +Dichtung, Philosophie und Religion in das Reich der Industrie, Technik +und Politik hinaus. Aber die künstlerisch bedeutenden realistischen +Romane, die um diese Zeit entstehen (Immermanns "Münchhausen", 1838, +Ludwigs "Heiteretei", 1853, Freytags "Soll und Haben", 1855, Reuters +"Ut mine Stromtid", 1862-64, Raabes "Der Hungerpastor", 1864), +begleiten diese Entwicklung kaum. Ihre Welt ist die des alten +Deutschlands, des Bauerntums, der Gutsbesitzer, des Kleinbürgertums +geblieben. Die deutsche Kultur vermag die neuen, industriellen und +politischen Kräfte nicht schöpferisch zu durchdringen und zu formen. + +Es war das Verhängnis der deutschen Kultur, daß die neue Entwicklung +die klassische Zeit des deutschen Idealismus nicht auf ihrer Höhe, +sondern im Niedergang antraf, daß das philosophisch-dichterische und +das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter sich nicht durchdrangen, +sondern einseitig ablösten. Als die idealistische deutsche +Weltanschauung schon in sich zersetzt, Hegels Philosophie bei Feuerbach +in ihr Gegenteil umgeschlagen war, da drangen Naturwissenschaften, +Technik und Industrie ein. Eine abgestorbene innere Welt stand einer +jungen äußeren gegenüber, die sich in unerhörter Jähe und Stärke +entwickelte. Und die politischen Geschehnisse -- die wieder nicht aus +innerem Wachstum reiften, sondern von außen, durch Bismarcks Genius +heraufgeführt wurden -- steigerten diese Entwicklung ins Hemmungslose. +So vermochten die alten bürgerlichen Lebensformen sich nicht mehr +organisch fortzubilden; sie wurden gesprengt. Mit dem Aufstieg des +deutschen Bürgertums zur äußeren Macht beginnt seine innere Zersetzung. +Der Biedermeierstil ist der letzte Ausdruck einer bürgerlichen +Lebensform in Deutschland. + +Am Ende dieser bürgerlichen Kultur steht Thomas Mann (geb. 1875). Seine +Vaterstadt Lübeck, die alte Hansastadt, vermochte ihre Lebensformen am +längsten zu behaupten. Die "Buddenbrooks" (1901) sind der größte und +letzte bürgerliche Roman in Deutschland. + +Thomas Mann war -- wie sein Bruder Heinrich Mann -- der Sohn eines +Lübecker Senators. Über ein Jahrhundert hinweg sah er sein Geschlecht +in der sicheren Tradition, den festen bürgerlichen Lebensformen der +Freien Hansastadt wurzeln und wirken. Und am Ende dieser Reihe standen +er und sein Bruder, unwillig, unfähig, diese Tradition fortzuleiten. +Der Dreiundzwanzigjährige suchte nach einer Erklärung, einer +Rechtfertigung seines Andersseins. Und als Sohn eines naturalistischen +Zeitalters, das eben Darwin aufgenommen hatte, das Entwicklung und +Verfall der Arten, die geheimnisvolle Unübersehbarkeit der Erbgesetze +zu durchschauen meinte, sah er -- nicht ohne Einfluß Zolas und seiner +Rougon-Macquart-Reihe -- sich als den Ausgang eines alten, immer mehr +verfeinerten Geschlechtes, das schließlich, durch Beimischung des +mütterlichen, romanischen Blutes dem tätigen Leben entfremdet, im +bloßen Zuschauer, Kritiker und Gestalter des Lebens, im Künstler, +endete. Ein Entartungs-, ein Dekadenzproblem! Auf mehr denn tausend +Seiten schrieb der Jüngling die Chronik des Niederganges: +"Buddenbrooks. Verfall einer Familie." Aber er war viel zu seelenhaft, +zu metaphysisch, zu musikalisch, als daß er im naturalistischen Roman +steckengeblieben wäre. Stärker als Zola bestimmte ihn Richard Wagner, +dessen überwiegend epische Elemente ihm deutlich und nah waren, stärker +als die Rougon-Macquart-Reihe der "Ring der Nibelungen". So wurde ihm +die Entartung zur Verinnerlichung: Vier Generationen schreiten den Weg +aus klarer, derber Lebenstüchtigkeit in die allauflösende, +geheimnisdunkle, "unendliche Melodie". Durch die naturalistische +Darstellung bricht das Lebensgefühl der deutschen Romantik: "Sympathie +mit dem Tode". + +Die vier Generationen schreiten den Weg nicht nur kraft einer +naturgesetzlich berechenbaren Zersetzung ihres Blutes und ihrer Nerven, +nicht nur Kern einer metaphysisch unbedingten Wesensgegebenheit, sie +schreiten ihn auch, weil die alten bürgerlichen Lebensformen ihrer +Umwelt sie nicht mehr zu halten und binden vermögen. Auch hier sind, im +weiten epischen Sinne, "Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffes" +(Novalis). Im "Verfall einer Familie" schildert der Epiker den Verfall +einer Welt, der Welt des alten deutschen Bürgertums. Subjektiv +"flüchtig und ohne daß ich an diesem Gegentyp sonderlich teilgenommen +hätte", objektiv aber notwendig und bedeutsam geht dem Abstieg der +Buddenbrooks der Aufstieg der Hagenströms parallel, um in der Übernahme +des Buddenbrookschen Hauses durch Hagenströms zu gipfeln: Der Bürger +wird abgelöst durch den Bourgeois, patriarchalische, sittliche, +geheiligte Lebensformen, die über den Personen und Generationen +standen, weichen der egoistischen, skrupellosen Willkür des +Individuums, das "frei von der hemmenden Fessel der Tradition und der +Pietät auf seinen eigenen Füßen stand" dem "alles Altmodische fremd" +war. + +In vier Generationen umfaßt der Roman die Zeit von 1768, dem +Gründungsjahr der Firma (unmittelbar von 1835, dem Jahr des +Wohnungswechsels) bis nach 1880: die eigentliche Zeit des neuen +deutschen Bürgertums, in Aufstieg, Glanz und Niedergang. Schon diese +äußere Spannweite greift über jeden deutschen Roman hinaus, nicht +minder die innere: der Beginn: rationalistische Behaglichkeit, +sinnlich-geruhige Lebensfreude und Lebensbejahung, das runde, rosig +überhauchte, wohlmeinende Gesicht, das schneeweiß gepuderte Haar, das +leise angedeutete Zöpflein des alten Monsieur Johann Buddenbrook, ein +Diner von traditioneller Feinheit und Fülle und epischer Dauer, +Schinken von sagenhaftem Umfang, Puddings von mythischer Schichtung und +Mischung, Weine von staubumsponnenem Alter, anakreontisch tändelnde +Verse: "Venus Anadyoméne -- Und Vulcani fleiß'ge Hand", heiter-graziöse +Flötentöne und ein wenig schlüpfrige Verslein im Billardsaal. Und das +Ende: der fünfzehnjährige, lebensunwillige, leidverlorene Hanno +Buddenbrook mit den Augen des Wissenden, Einsamen, Heimatlosen, der so +müde des Daseins ist, der schlafen möchte und nichts mehr wissen: "man +sollte mich nur aufgeben; ich wäre so dankbar dafür", der aus der +Sphäre epischer Bejahung und Gegenständlichkeit in verzweifeltem +Aufbruch sich hinüberflüchtet in das weltflüchtige, weltverneinende, +jenseitige Reich einer an Wagner geschulten Musik: Hanno Buddenbrook +vor dem Flügel. + +Zwischen diesen äußersten Spannungsweiten dehnt sich die Handlung. In +einer epischen Gegenständlichkeit, die keine Reflexion, keinen blassen +Bericht zuläßt, die ganz sichtbare, farbige Gegenwart ist, folgen sich +die Gestalten und Generationen als feste Glieder in der Kette des +Geschlechts, der Firma, der bürgerlichen Tradition. Dieser Zusammenhang +umfaßt ihre Weltanschauung. Ihr Unsterblichkeitsglaube ist der epische +des Geschlechts: "daß er (Thomas Buddenbrook) in seinen Vorfahren +gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht +allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein, +seiner geschichtlichem Pietät übereingestimmt; es hatte ihn auch in +seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung +unterstützt und bekräftigt." Die Bibel dieses Glaubens ist die +Familienchronik: die feierliche Darstellung des Werdens, Ringens und +Wachsens dieser Folge, der Menschen, der Generation und des Ideals, dem +sie unterstellt sind: der Firma. + +Wie es die Lebensaufgabe der Fürsten- und Königshäuser ist, ihren +überkommenen Machtbezirk taten- und ehrenvoll zu behaupten und zu +erweitern, so ist es die verantwortungsvolle Aufgabe des Bürgerhauses, +die ererbte Firma zu immer weiterer Wirkung, immer reicherer Würde zu +führen. Eine überpersönliche, sittliche Aufgabe! Ihr opfert man seine +Ruhe, seine Liebe, sein Glück. "Wir sind nicht dafür geboren, was wir +mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück +halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende +Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie +wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen +und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und, ohne +nach rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen +Überlieferung folgten." + +Die ersten beiden Generationen des Romans sind von diesem Lebensgefühl +noch bluthaft durchdrungen; in den beiden letzten zersetzt es sich. Nur +Toni Buddenbrook bleibt sein gläubiger Träger. Ihm opfert sie ihre +Jugendliebe, um seinetwillen heiratet sie den erst widerwärtigen +Grünlich, um seinetwillen trennt sie sich von ihm, um seinetwillen geht +sie die neue We mit Permaneder ein. Und als alle männlichen Glieder der +Familie gestorben, die Firma aufgelöst ist, da bleibt ihr Lebenstrost, +einmal in der Woche die weiblichen Verwandten zu sich zu laden: "Und +dann lesen wir in den Familienpapieren." Ihr Gegensatz ist ihr Bruder +Christian. Ihn vermögen die alten Lebensformen nicht mehr zu halten, +sie lassen ihn gehen, er läßt sich gehen: "Wie satt ich das alles habe, +dies Taktgefühl und Feingefühl und Gleichgewicht, diese Haltung und +Würde, wie sterbenssatt!" Die Firma, das überpersönliche Ideal der +Familie bedingt ihn nicht. Er zergeht in "ängstlicher, eitler und +neugieriger Beschäftigung mit sich selbst". Sein Interesse für Theater, +Varieté und Zirkus ist das Interesse des formlos gewordenen Bürgers für +"die Fahrenden" die dem mittelalterlichen Bürger als unehrlich galten. + +Schließlich heiratet er seine Kurtisane; den alten, bürgerlichen Formen +entglitten, unfähig, sich neue zu bilden, fällt er seelisch und +körperlich auseinander. Zwischen Toni und Christian steht Thomas +Buddenbrook. Die Gefahren Christians, der Hang zur Formlosigkeit und +Subjektivität, ist ihm nicht fremd. Er bekämpft und überwindet sie. Er +wird zum Helden des sinkenden bürgerlichen Ideals. Aber die alten +Lebensformen halten weniger ihn, als daß er sie hält. Der Held wird zum +Schauspieler des Ideals; er repräsentiert es, er verkörpert es nicht. +"Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in +Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Innern, +verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen +Enschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine +Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Dehors zu wahren, +hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewußt, +gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung, jede +geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden +Schauspielerei geworden war." + +Diesem Schauspieler des Ideals wird als Sohn Hanno Buddenbrook, der +viel zu müde ist, um zu schauspielern, viel zu vornehm, um gleich +seinem Onkel Christian zum "Fahrenden" zu werden. Wenn er zur Kunst +flüchtet, so sucht er nicht das Formlose im Leben, sondern das Formlose +jenseits des Lebens: die Musik, die vor und über aller Erscheinung ist, +das Meer der unendlichen Melodie, das sein Tropfendasein erlösend +zurücknimmt. Von den alten bürgerlichen Lebensformen verlassen, nach +neuen nicht begierig, ein Bürger des Metaphysischen, das sich seinem +Vater nur in der Lesung Schopenhauers einmal blendend enthüllt hat, +gibt er leidvoll und heimwehmüde vor der Zeit das Leben preis. + +Wie diese -- erst in Hanno ungehemmte -- "Sympathie mit dem Tode" +heimlich aus der bürgerlichen Diesseitigkeit der Generationen +emporwächst, ist in weitgespannter, erschütternder Symbolik +dargestellt. Die ersten, eigentlich epischen, lebensbejahenden +Generationen verstehen den Tod nicht: "Kurios! Kurios!" murmelt der +alte Monsieur Buddenbrook am Sterbebett seiner Frau mit leisem, +erstauntem Kopfschütteln; mit einem letzten "Kurios" kehrt er selber +sich sterbend zur Wand. "Mit Furcht und einem offenkundigen, naiven +Haß" beobachtet die Konsulin Buddenbrook, "die ehemalige Weltdame, mit +ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und zum +Leben überhaupt" die Fortschritte ihrer Krankheit; sie kämpft mit dem +Tod in langer, verzweifelter Kraft. Thomas Buddenbrook aber, der Held +und Schauspieler des bürgerlichen Ideals, ist längst so vom Tode +unterhöhlt, daß ein Zahngeschwür genügt, um seine krampfhafte +Lebensbehauptung niederzureißen. Mitten auf der Straße wirft es ihn um; +der so lang und gewissenhaft Würde, Haltung, Form verteidigt, liegt im +Kot und Schneewasser des Fahrdamms. "Seine Hände, in den weißen +Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze." Hanno aber +kämpft nicht mehr gegen den Tod; hemmungslos ersehnt und ruft er ihn +als den Freund und Erlöser. + +Mit ähnlicher, weitgespannter Symbolik, mit gleicher Fülle und Dauer +der inneren Beziehungen baut sich alles auf in diesem Roman. Von den +alten Epen ist das Leitmotiv übernommen und über Richard Wagner her +musikalisch verinnerlicht, symbolisch vertieft. Gegenüber der lockeren +Form des "Wilhelm Meister" und des "Grünen Heinrich" ist hier an +Geschlossenheit des epischen Aufbaus in Deutschland ein Höchstes +erreicht. + +Die "Buddenbrooks" schreibt Thomas Mann, dreiundzwanzig bis +sechsundzwanzig Jahre alt, in Italien und München, so wie Gottfried +Keller seinen "Grünen Heinrich" in Berlin niederschrieb. Nicht er +allein schuf diesen Roman; durch ihn schuf und gestaltete sich sein +Geschlecht, sein Heimatstaat Lübeck, wie der Berner Stadt-Staat durch +Jeremias Gotthelf, Zürich durch Gottfried Keller, das alte Berlin durch +Theodor Fontane sich Gestalt erdrang. Aber Gottfried Keller kehrte aus +Berlin nach Zürich heim, wurde Staatsschreiber und Führer, nahm in +Anteil und Liebe neue Lebensbilder und -schicksale seines Volkes auf, +Grund und Gehalt zu neuen Schöpfungen. Was blieb Thomas Mann, dem +Epiker, der seine eigene Welt zu Grabe getragen, der ihr das letzte +Zeichen seiner Liebe im Riesendenkmal seiner Dichtung geschaffen hatte? +Ein Lyriker hat die Natur, ein Dramatiker. die Idee, die seiner Kunst +Boden und Wachstum geben. Ein Epiker ist undenkbar ohne Volks- und +Heimatzusammenhang. Im Weh verfrühter Hellsicht stand der Einsame, +Zurückgebliebene, ein König ohne Land, ein Bildner ohne Stoff. Sollte +er zum bloßen Zuschauer, Beobachter, Kritiker, zum weiteren Zersetzer +des Lebens werden? Sollte er das Leben verachten, das ihm nicht gemäß +war, und hochmütig sich in das Reich einer rein formalen Kunst, einer +l'art pour l'art, zurückziehen? Das Europäisch-Intellektuelle seine +Wesens, das Romanische seines Blutes drängte zu diesem Entscheid. Der +Zwiespalt wurde zur Dichtung: In den "Buddenbrooks" hatte Thomas Mann +sich Rechenschaft über das Problem seines Lebens gegeben, im "Tonio +Kröger" gab er sich Rechenschaft über seine Kunst. + +Und er blieb dem Leben treu, obwohl es ihn allein gelassen hatte. Über +die Qual der Einsamkeit, den Hochmut der Form und Erkenntnis hinweg +bekannte, ja predigte er "die Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen +und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt aus ihr, und +fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von der +geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen reden könne +und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sei." +Er verspottete und geißelte die Gefahren des Literaten- und +Ästhetentums -- seine Gefahren! -- im Schriftsteller Spinell. In +Leidverwandtschaft kehrte er sich den Enterbten des Lebens zu, sprach +er sein Leid in ihrem Leid, im Weltleid aus. Wie in den "Lamentationen" +Heines, den das Leben verwiesen und in die Matratzengruft geworfen +hatte, so ziehen die Verfolgten und Verratenen des Lebens -- Tobias +Mindernickel, der kleine Herr Friedemann, der Bajazzo, Rechtsanwalt +Jacoby, Friedrich Schiller, Baronin Anna, Lobgott Piepsam, Van der +Qualen, Hieronymus -- mit friedlosen, sehenden Augen an uns vorüber. + +Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein +Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und +Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine junge +Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden, nicht in +Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "Königliche Hoheit" zeichnet die +Erlösung durch die Liebe von einem formalen, repräsentativen Dasein zur +Tat und Gemeinschaft, zum "strengen Glück". Ein Kunst- und Märchenspiel +von romanischer Klarheit, Bewußtheit, Überlegenheit der Form, von +deutscher Innerlichkeit, Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des +Gehalts. Der "Gesang vom Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines +Töchterchens, Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast +ohne ästhetische Form, nur als Ausdruck der formgewordenes, +harmonischen Persönlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht +in Bauschan, dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des +Lebens und der Liebe ein. + +Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen +Zugehörigkeit und Entschlossenheit, dieser Wärme, Liebe und Güte formt +er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die +zersetzenden Kräfte in sich und der Umwelt: an die auflösende +Erkenntnis, die Relativierung der Werte und -- tiefer und tragischer im +Konflikt seines Helden -- an die leere Schönheit, die bloße Form: "Der +tiefe Entschluß des Meister gewordenen Manns, das Wissen zu leugnen, es +abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den +Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im geringsten +zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist, liegt hinter dem +Dichter Aschenbach, dem Helden der Meisternovelle 'Der Tod in Venedig'." +Im Kampfe zwischen Geist und Kunst hat er leidenschaftlich für die +Kunst gefochten. Um der Kunst willen hat er dem Leben entsagt, an der +Einsamkeit seines Schreibtisches hat er gegen seinen schwächlichen +Körper in zähem, unermüdlichem Ringen die reine Form seiner Werke +erkämpft, die ihm ebenso ethische wie ästhetische Aufgabe war. Aber +hinter dieser Form, die den Spannungen seines Willens und Bewußtseins +abgerungen, die nicht organischen Lebens- und Liebestiefen entwachsen +ist, droht ständig die Gefahr der Abspannung und Entfesselung, der +Zügellosigkeit und Vernichtung. Auf der Höhe seines Ruhmes verführt und +überwältigt sie ihn. Sie lockt ihn nach den Gestaden Venedigs, wo das +das Leben Schein und die Kunst Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm +die Liebe zu Tadzio, dem schönen Polenknaben, eine zuchtlose +Ausschweifung seiner künstlerischen und sinnlichen Phantasie, sie sich +nicht an der Wirklichkeit beruhigen, berichtigen, gestalten kann noch +will, eine weglose Liebe zur reinen Form, die zur Unfruchtbarkeit +verdammt ist, die nicht zeugen kann im Geliebten, die widernatürlich +und tödlich ist. In tragischer Steigerung, in unentwirrbarer Mischung +des Heiligen und Verworfenen, jagt sie "den Meister, den würdig +gewordenen Künstler", durch alle Leiden und Leidenschaften, alle +Verzückung und Erniedrigung zur "Unzucht und Raserei des Untergangs". +Nie sind die eingeborenen Gefahren der Kunst würdiger und +erschütternder gestaltet, die Gefahren der Schönheit, die dem Geist wie +den Sinnen verknüpft ist, die in jedem von ihnen zur Ausschweifung +neigt, sofern nicht beide in der höheren Einheit der Seele sich +organisch finden und binden. + +Dann kam der Krieg. Und über alle militärischen und politischen Kämpfe +erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche Auseinandersetzung zweier +Weltanschauungen, jener Gegensätze, die er in sich selber erlitten und +entschieden hatte: das Germanische und das Romanische, das +Deutsch-Dichterische und das Europäisch-Intellektuelle, Kunst und +Erkenntnis, Gehalt und Form, Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen +Bruder war der Teil seines Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt +hatte, Wille und Angriff geworden. Gegen seinen Bruder mußte er diesen +Kampf noch einmal aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden. +Alle großen Epiker waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im +ästhetischen, auch im ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher: +Wolfram von Eschenbach im "Parzival", Grimmelshausen im +"Simplizissimus", Goethe im "Wilhelm Meister" Gottfried Keller im +"Grünen Heinrich" und "Martin Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem +seiner schollentreuen Romane. Es brauchte des französischen Vorbildes, +Emil Zolas, nicht, das Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das +Bild, das sie formen wollten und mußten aus dem Rohstoff ihres Volker: +das entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein +soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, französischen, +rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Thomas +Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er gestaltete und +verkündete den metaphysischen, deutschen und russischen, religiösen, ja +mystischen, pessimistischen Menschen des 19. Jahrhunderts. Dem +Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs des Großen +entgegengestellt, den geschwätzigen, optimistischen, rationalistischen +"Vier Evangelien" des Romanciers die Dämonie und herrische Pflichttreue +des gottgeschlagenen und gotterwählten Königs, der sich verzehrte in +Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, daß von ihm nichts übrigblieb +wie ein abgemergelter, verschrumpfter Kinderleib, den ein Diener mit +einem seiner Hemden bekleiden mußte, da "man kein heiles, sauberes Hemd +in seinen Schubladen fand". + +Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung ersehnt +und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kräfte, die imstande sind, +"die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und +seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und +Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt" zu +überwinden, "dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem +Wiederaufbau seelischer Form zu dienen" und so dem heimatlosen Epiker, +seinem Leben wie seiner Kunst, eine neue Welt zu schaffen. + +Heinrich Mann aber, Thomas Manns Gefahr und Gegensatz, ist nicht nur in +und durch Thomas Mann überwunden, ist politisch an der Entwicklung der +Zeit, künstlerisch an seiner zersetzenden Subjektivität und +Lieblosigkeit zergangen. Thomas Mann hatte sein Geschlecht und Volk +noch im Verfall umfaßt, hatte am Ende der Reihe, ein Zugehöriger und +doch Außenstehender, in Liebe und Ironie zugleich ihm Gestalt gegeben. +In Sehnsucht hatte jedes seiner Werke vom Wiederaufbau, der neuen +Lebensform und Lebensgemeinschaft gehandelt. Im tiefsten Sinn war ihm, +dem wahren Epiker, Richard Dehmels Spruch Lebensgefühl gewesen: "Alles +Leid ist Einsamkeit -- alles Glück Gemeinsamkeit." Heinrich Mann hatte +sich stets wichtiger genommen als sein Geschlecht und sein Volk. Früh +und fremd hatte er Vaterstadt und Vaterland den Rücken gekehrt. Der +romanische Tropfen in seinem Blute trieb ihn nach Italien, das Thomas +erst sein tiefes Deutschtum deutlich machte. Eine Zeitlang glaubte +Heinrich Mann, dort "zu Hause zu sein. Aber ich war es auch dort nicht; +und seit ich dies spürte, begann ich etwas zu können. Das Alleinstehen +zwischen zwei Rassen stärkt den Schwachen; es macht ihn rücksichtslos, +schwer beeinflußbar, versessen darauf, sich selbst eine kleine Welt und +auch die Heimat hinzubauen, die er sonst nicht fände. Da nirgends +Volksverwandte sind, entzieht man sich achselzuckend der üblichen +Kontrolle. Da man nirgends eine Öffentlichkeit weiß mit völlig gleichen +Instinkten, gelangt man dahin, sein Wirkungsbedürfnis einzuengen, es an +einem einzigen auszulassen, wodurch es gewinnt an Heftigkeit. Man geht +grelle Wege, legt das Viehische neben das Verträumte, Enthusiasmen +neben Satiren, koppelt Zärtlichkeit an Menschenfeindschaft. Nicht der +Kitzel der andern ist das Ziel: wo wären denn andere! Sondern man +schafft Sensationen für einen einzigen. Man ist darauf aus, das eigene +Erleben reicher zu fühlen, die eigene Einsamkeit gewürzter zu +schmecken." Welch treffendes Selbstbildnis! Welch Zerrbild eines +Epikers! Ohne Wurzelboden, ohne Zusammenhang, ohne Liebe, im +Selbstgenuß hochmütiger, überreizter Sensationen, zersetzender +Erkenntnisse, ehrgeiziger Spannungen. Ihm wird die Kunst zur +"widernatürlichen Ausschweifung". "Pippo Spano", das Gegenbild zum +"Tonio Kröger", bekennt in leidender zuchtloser Lässigkeit: "Sie (die +Kunst) höhlt ihr Opfer so aus, daß es unfähig bleibt auf immer zu einem +echten Gefühl, zu einer redlichen Hingabe. Bedenke, daß mir die Welt +nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen. Alles, was du siehst und +genießt: mir wäre nicht an ihrem Genuß gelegen, nur an der Phrase, die +ihn spiegelt. Jeder goldene Abend, jeder weinende Freund, alle meine +Gefühle und noch der Schmerz darüber, daß sie so verderbt sind -- es +ist Stoff zu Worten." Das ganze Leben und Schaffen Heinrich Manns ist +ästhetischer Selbstgenuß statt ethischer Selbstvollendung oder +-überwindung. + +Welche epischen Werke können aus solcher Willkür wachsen? Das Hauptwerk +"Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy" (1902-03) +weiß der Wurzel- und Heimatlosigkeit seines Dichters keine andere +Heldin als die Balkanprinzessin der Operetten. Macht, Kunst und Liebe +werden -- in reinlichem Nacheinander! -- ihr Lebensinhalt. Der Balkan, +Venedig, Neapel sind die billigen Kulissen dieser Stationen. Da +Heinrich Mann nicht seine Literatur aus dem Leben, sondern sein Leben +aus der Literatur empfängt, sind alle Figuren und Leidenschaften aus +zweiter Hand, ästhetische, durchsichtige, monumentalisierte Schemen, +nicht unergründliche, blut- und seelenvolle Gestalten, nur der +papiernen Phantasie von Literaten und Großstädtern überzeugend. Was +ihnen an organischem Leben fehlt, ersetzen sie durch die Überreiztheit +ihrer Gefühle und Gebärden, durch Rausch und Hysterie -- eine krampfige +Nachfolge d'Annunzios. + +Neben solchen Orgien einer überreizten Literatenphantasie stehen die +satirischen Romane: "Im Schlaraffenland", "Professor Unrat", "Der +Untertan" usw. Sie sind Emil Zola näher, zumal ihr bester, "Im +Schlaraffenland" -- eine Schilderung des zersetzten Berlin W -- aber +ohne Zolas soziales Pathos. Auch die Satire bedarf der Liebe, um zeugen +und gebären zu können, der Liebe zur armen, irregehenden Menschheit +oder zum neuen, reineren Ideal. "Ich glaube nicht" -- sagt Thomas Mann +in den "Betrachtungen" -- "daß ohne Sympathie überhaupt Gestalt werden +könne; die bloße Negation gibt flächige Karikatur." Auch hier scheint +die Literatur, nicht das Leben -- die Witzblätter scheinen Heinrich +Mann die Gestalten und Vorgänge zum "Professor Unrat" und "Untertan" +gegeben zu haben: so flächig und billig sind sie gezeichnet. Jede +lebendige Gestalt muß Monate unter dem Herzen getragen, muß mit Blut +genährt sein. + +Nur e i n Roman ist Heinrich Mann gelungen, dem Wurzelboden und +Atmosphäre eigen: "Die kleine Stadt". Es ist bedeutsam, daß er in +Italien spielt: "Eine Zeitlang glaubte ich (dort) zu Hause zu sein." +Einmal hat Heinrich Mann einen erlebten Gehalt und mit ihm eigene Form +gefunden: dem immer bewegten Völkchen des Südens, den flackernden +Leidenschaften entspricht ein bewegter, farbiger, flirrender +Impressionismus des Stils. Diese italienischen Kleinbürger, die sich +heißblütig und beweglich an ihren Worten und Gebärden berauschen, alle +ein wenig Künstler, ein wenig Schauspieler, ein wenig d'Annunzio, sind +in ihrer Menschlichkeit und Kindlichkeit so liebenswürdig erlebt und +gestaltet, daß sie und ihr Schicksal zu menschlich-symbolischer +Bedeutung wachsen. Ihre Instinkte glimmen unter der Asche der täglichen +Eintönigkeit. Da zieht eine Schauspielertruppe in die Stadt und weht +sie nach allen Seiten zu Flammen auf. Sinnlichkeit und Liebe, +Eifersucht und Ehrgeiz, vergessene und noch schlummernde Leidenschaften +wirbeln knisternd hoch. Der Kampf zwischen Priester und Advokat, +Reaktion und Fortschritt teilt und erregt die Massen. Die Glocken der +Kirche und die Melodien der Oper streiten miteinander. Doch aus dem +Feuer der Leiden und Leidenschaften glüht die Blume der Versöhnung, +der Verbrüderung, der Liebe zu Volk und Menschheit auf: "Was sind +wir!" -- fragt der Advokat beim Abzug der Schauspieler. -- "Eine kleine +Stadt. Was haben uns jene gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch -- wir +haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein Stück +vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit." Für kurze Stunden, +für eilende Seiten durchzuckt Heinrich Mann, den heimatlosen Literaten, +das Wesen und Glück des epischen Dichters: "Was macht diese Dinge +groß?" "Daß ein Volk sie mitfühlt, ein Volk! das wir lieben!" "Ich habe +ein Volk gesehen! Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre +uns! Wir wecken seine Seele, wir... Und es gibt sie uns!" + +Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums -- eines +patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums -- in der Grundstimmung +verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf von Keyserling +(1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen, so hat Kurland, +Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am längsten und reinsten +behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen Kriegsschicksal der +baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am Ende einer +Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München erlebt der +Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet, vom +Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend +wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische, +gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die +Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen, +erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken, +keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen +Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser", +"Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu +einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer +Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden, +melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes verdankt. + +Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die +naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das +Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den +Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze +hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun +vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und +Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und +-gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht +geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ", +sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren +kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl +dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner +Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht +nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht +um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst +die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt +zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser +Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen +kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter +zurück: "...Unsere Gesetze hier --" "Glauben Sie an diese Gesetze?" +"Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie Thomas +Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten Ideale. + +Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer unterstellen +sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und äußeren Leben die +Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in jede Tagesstunde +bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein Drama zu passen." + +Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die +Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den +Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der +Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine +berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und +wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen +Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die +Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt +durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum +Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte, +um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle +Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um +sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir +sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt." + +Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der bäuerlichen +Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam gestaltet +durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter Roseggers +"Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist durch die +wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren Zersetzung, die da +und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie "Die Fahnenweihe", +1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit der Natur, der +Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene Formenkräfte, die +das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus aufbauen und erneuern, +wie sie Knut Hamsun im größten modernen Bauernroman, einem wahrhaft +altepischen Werke, dargestellt hat, im "Segen der Erde". Unseren +Bauerndichtern ist die Strenge und Größe dieses Zusammenhanges kaum +deutlich geworden. Ganghofer ist oberflächlich und sentimental, auch +Rosegger ist in aller Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu +unproblematisch im tieferen Sinne -- nur die "Schriften des +Waldschulmeisters" und "Des Gottsucher" ragen hervor --, Gustav +Frenssens einst so berühmte Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll +landschaftlicher Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des +liberalen protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in +der Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der +Gesamtdarstellung lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne +Einheit der inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas +Bauernromane "Andreas Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber +naturalistisch gebunden. Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur +grübelnden Mystik seiner Bauern die natürliche Fülle und plastische +Kraft; er ist -- wie alle Romane dieses Ringenden -- mehr reflektiert +als gewachsen. + +Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die +Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen +Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben +wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads +Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers +Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist +in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums +zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal" +ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff +und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung +des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen. + +Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman +entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen +Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der +Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch +hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern. +Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen +von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung +stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu +können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie +"Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die +reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus +der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer +"Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit +ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll +tragischer Schönheit ist. + +Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen +Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas. +Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen +sind ihr Feld. Die Eiffellandschaft mit ihren wortkargen, düsteren +Menschen, die -- einmal geweckt in ihren Leidenschaften -- furchtbar +ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das Weiberdorf", "Vom +Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer Beobachtung und +sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme von außen, mehr +eine geschickte Schriftstellerin als formende Künstlerin. + +Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus führen +die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches +Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und +durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche, +sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und +Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl +alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen +Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem +bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt +es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des +Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!" +singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche +Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist +die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben," +singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied. + +Eine romantische Natur -- so steht Ricarda Huch in Reflexion und +Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik hätte +sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter Nietzsches, +Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in metaphysischer Glut +zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück. Das Leben wird ihr +zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind Kinder der +Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und Gegenbild: +Kinder des Lebens. + +Metaphysisch klingt -- nach den noch knospenhaften "Erinnerungen von +Ludolf Ursleu dem Jüngeren" -- die Musik von der Schönheit und +Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der Triumphgasse", +kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone". Über diese +metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die historischen Romane +zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren, Festbeharrenden. "Die +Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier Italiens zur +herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol des Lebens, +das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt. Wie "ein +tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der Garibaldi-Romane +klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri", des dem Tode +verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In jenen hatte +noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil gewechselt, hier +durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen. + +Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch aus +dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der drei +Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman, +sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste +Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen +Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches, +Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches, +Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in +gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen +auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel, +der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber +scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die +lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er +erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so +fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?" + +Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der +Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen. -- + +In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die +zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker +geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im +"Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die +Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen, +Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts +dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater +und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg +erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat, +das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer +Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft +dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen +Künftigen. + +-- -- -- Gegenüber dem industrialisierten, von Großstädten zersetzten +Norden Deutschlands ist der Süden reicher an Unmittelbarkeit, +Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und Hermann Hesse +wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866) hat sich +Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und Farmer +vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und Tatkraft hat +er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid und Krankheit +niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit, Liebe und Güte +blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die Wirklichkeit in festen, +sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem überirdischen Schimmer +seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen Schwaben, der das +Schicksal überlisten will, der -- da ihm die eigene Frau keinen Erben +schenkt -- sich in schlauer Ausflucht an die Magd heranmacht. Statt des +Buben kommt aber ein Mädel, und Spott und Lächerlichkeit umschwirren +ihn. Gekränkt in seiner Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit +der Magd und dem Kind heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler +genarrt, geprellt, geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er +kleinlaut und zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne +Staunen, ohne Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt, +ihm das Kind abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm +widmet: eine reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll +Freiheit und Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung +dreier junger Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und +Verhältnisse sich in tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und +Wesensform selber schaffen und sich im Wirkungskreis der Menschheit +einen Platz erobern. Im "Nackten Mann" geht er in die Vergangenheit +seiner Heimat zurück, ohne die Bedenken gegen den historischen Roman zu +überwinden. In "Freund Hein" und im "Spiegel" aber kommt hinter der +herben Gegenständlichkeit seiner Welt die tiefe Musik seiner Seele zum +klingenden Ausdruck. In "Freund Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in +der Welt seiner musikalischen Berufung lebt, an den unnachsichtigen +Forderungen einer wesensfremden Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie +eine zarte Kammermusik Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf, +eine Lebensmusik von ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit. + +Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto +weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation +zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen +Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp, +der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der +Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen +Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts +geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts +als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und +in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen +"paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung" +in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück. +In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den +Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige +stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie +lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen +teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, +daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und +Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind." + +So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und Mensch +als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und +Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen +Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und +"Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner +Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden +Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die +Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen, +daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln +leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der +sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie +sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es." +Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges +keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas +wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher +von ihnen starb an meiner Seite -- denen war gefühlhaft die Einsicht +geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die +Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele waren +ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem +Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich +zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben +wollte, um neu geboren werden zu können." + + + + +DAS DRAMA + +Das Wort Drama bedeutet Handlung, insonderheit Kulthandlung. Denn das +Drama entwickelte sich im alten Griechenland wie in den christlichen +Staaten Europas aus den Tiefen der religiösen Weltanschauung und des +Gottesdienstes. Sein letzter Grund ist die leid- und geheimnisvolle +Zweiheit, in die alles Leben zerspalten ist, in der es fremd, kämpfend +und doch sehnsüchtig sich gegenübersteht: der Gegensatz von Gott und +Welt, Geist und Natur, Idee und Sinnlichkeit, All und Ich. Nur ein +Gott, der vom Himmel herniedersteigt, der die Qual und Zerrissenheit +des Endlichen selber auf sich nimmt, Dionysos, Christus, vermag in +seinem Gottmenschentum diese Gegensätze zu einen und zu lösen. Sein +Leiden und sein Triumph wird zum Inhalt der ersten Dramen: aus den +dionysischen Dithyramben wächst die griechische Tragödie, aus der +Liturgie der katholischen Kirche das Weihnachts-, Passions- und +Osterspiel des Mittelalters. Mit der Renaissance wird an Stelle der +kirchlichen die philosophische Weltanschauung Unter- und Hintergrund +des europäischen Dramas. Wie die geheimnisvolle Zweiheit und +Gegensätzlichkeit des Lebens in den großen Systemen der Philosophen +sich darstellt und deutet, wie bald dieser, bald jener der beiden +Lebensgegensätze entwertet, dem anderen untergeordnet, so die Einheit +erzwungen wird, dann aber wieder beide zur vollen Macht erstarken und +in unausweichlichem, unerbittlichem Kampf sich gegenüberstehen: das +begleitet in unbewußter und bewußter Verbundenheit die +ideelle Entwicklung des deutschen Dramas. Lessings Dramen wachsen aus +Lebensgefühl und -deutung des Rationalismus, Schillers Dramen aus Kant, +Kleist teilt den Gegensatz der deutschen Gefühlsphilosophie gegen Kant, +um Hebbel braut die Atmosphäre Hegels, Richard Wagner findet sich in +Schopenhauer. Dann folgt der Zusammenbruch der großen philosophischen +Systeme, der Vormarsch der naturwissenschaftlichen, materialistischen +Weltanschauung in Deutschland. Über die Nachfahren Schillers, über die +Nachahmer des französischen Gesellschaftsstückes hebt sich seit 1888 +Gerhart Hauptmann (geb. 1862) mit einem Drama neuen, eignen Stils. Aus +welchen weltanschaulichen Zusammenhängen, welchem Lebensgefühl war es +gewachsen? + +Als 1885 die süßlich-leere Epigonenzeit unserer Dichtung durch die +literarische Revolution der Jungen abgelöst wurde, glaubten diese im +"Naturalismus" eine neue Lebens- und Kunstanschauung gefunden zu haben. +Wilhelm Scherer verkündete: "Die Weltanschauungen sind in Mißkredit +gekommen. ...Wir fragen: wo sind die Tatsachen? ...Wir verlangen +Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die +wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen +Maßstab haben wir von den Naturwissenschaften gelernt... Dieselbe +Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe +Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf; +sie gestaltet die Wissenschaften um; sie drückt der Poesie ihren +Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem +Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind." Arno Holz und +Johannes Schlaf glaubten dieser Weltanschauung, im "konsequenten +Naturalismus" die entsprechende Kunstanschauung erobert zu haben: "Die +Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach +Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren +Handhabung." In den drei Skizzen des "Papa Hamlet", dem Drama "Die +Familie Selicke" schufen sie ihrer Lehre die Leistung. "Papa Hamlet" +erschien unter dem Decknamen "Bjarne P. Holmsen". Ihm hat Gerhart +Hauptmann sein erstes Drama "Vor Sonnenaufgang" (1889) zugeeignet, als +"dem konsequentesten Naturalisten, in freudiger Anerkennung der durch +sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung". + +In Wirklichkeit war diese Anregung, war der ganze konsequente +Naturalismus weder für Gerhart Hauptmann, noch für irgendeinen Dichter +von "entscheidender" Bedeutung; seine Lebens- wie seine Kunstanschauung +war unhaltbar. Von einer rein beschreibenden Wissenschaft, wie der +Naturwissenschaft, kann man niemals zu einer Weltanschauung, zur Sinn- +und Wertsetzung, vom Sein niemals zum Sollen vordringen. Und +ebensowenig ist ein bloßes Abkonterfeien des Lebens durch eine +naturalistische Kunst möglich; schon der Erkenntnisprozeß ist -- hat +Kant dargetan -- kein passives Abbilden, sondern ein Formen der +Wirklichkeit; alle Kunst ist die Umsetzung der natürlichen in eine von +Geist und Gefühl des Künstlers stilisierte Welt. + +Mehr als die Formenwelt des Naturalismus, als seine unhaltbare +Kunstanschauung haben Ansätze zu einer Lebensanschauung aus der +Stoffwelt des Naturalismus Gerhart Hauptmann den Weg zu sich selber +frei gemacht. Dem Naturalismus der Form hatte sich fast überall der +Sozialismus des Stoffs verbunden und in ihm die Keime eines neuen +Gehalts: des sozialen Mitgefühls. Zu den ästhetischen waren ethische +Tendenzen getreten. Die Entwicklung der Industrie und der Großstadt, +die Einflüsse Zolas, Ibsens, Tolstois hatte sie geweckt. Von der +erstarrten und zersetzten Ideen- und Formenwelt des dritten Standes, +des Bürgertums, hatten sich die jungen Dichter in sozialem Mitleid zu +der ringenden formbedürftigen des vierten Standes, den Arbeitern, +gewandt. Und hier war der Weg, der Hauptmann in seine Tiefen führte. + +Schon seine erste veröffentlichte Dichtung, das Epos "Promethidenlos" +(1885), hatte sein soziales Verantwortungs- und Mitgefühl bekundet. +Ergriffen rief sie den Armen und Elenden zu: "So laßt in eurem Schmutz +mich hocken -- Laßt mich mit euch, mit euch im Elend sein." Und ein +Gedicht von 1888 sprach die heilige Leidverbundenheit des Künstlers und +Menschen aus: + + Ich bin ein Sänger jenes düstren Tales, + Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet. -- -- -- + Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen, + Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden! + Auf mich zuerst trifft jeder eurer Pfeile. + +Daß diese Leidverbundenheit nicht nur sozialen, daß sie größeren: +metaphysischen Tiefen entwuchs, wurde der Urgrund des Dramatikers. +Obersalzbrunn, Hauptmanns Geburtsort, lag unweit der pietistischen +Urgemeinden Gnadenfrei und Herrnhut. Ihre christliche Innerlichkeit war +ihm daheim und mehr noch im Hause seines Oheims zu Striegau, das den +Sechzehnjährigen aufgenommen, zum Lebensgefühl geworden. In ihr fühlte +er sich dem Rationalismus und Materialismus, der leeren Kultur des +technischen Zeitalters fremd. Aus der Schein- und Außenwelt zog es ihn +zur wahren, inneren Welt: zur Welt der Seele. Die aber offenbarte sich +ihm nicht bei den Satten, Besitzenden, Hochmütig-Klügelnden, sondern +bei den Armen im Geiste, den Ringenden und Leidenden. In ihnen glühte +der ewige Funke, und sie eroberten und behaupteten ihn im Sturm und +Streit ihres Schicksals, nicht mindere Helden in diesem metaphysischen +Kampf als die Heroen der großen Tragödie. Ihnen fühlte sich der +Dramatiker Hauptmann verbunden, nicht sozial nur, wie der Epiker Zola +seinen Gestalten, sondern metaphysisch. In ihrem Leid stellte er das +Weltleid, in ihrem Kampf den Zwiespalt alles Lebens dar. + +Die Dramen, in denen so das Stoffliche des Naturalismus und Sozialismus +überwunden, in denen diese Weltanschauung Gestalt geworden ist, sind +"Die Weber" (1892), "Hanneles Himmelfahrt" (1893), "Fuhrmann Henschel" +(1898), "Rose Bernd" (1903). + +Der Aufstand der Weber im Jahre 1844 war Hauptmann aus Erzählungen des +eigenen Großvaters, der noch Weber gewesen, vertraut. Ein Buch Alfred +Zimmermanns "Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien" (1885) +gab den persönlichen Einzelheiten geschichtlichen Zusammenhang. Den +Antrieb gab die soziale Erregung der Zeit. Aber der Kampf der Weber +wurde Hauptmann zum erschütternden Abbild alles Menschheitskampfes. + +Wie hier die Fabrikanten und die Kreaturen der Fabrikanten bis zum +jüngsten Lehrling den hungernden, verhungernden Webern entgegenstehen, +hartherzig, hohnlachend, während die abgemergelten Kinder ohnmächtig zu +Boden schlagen, während die entkräfteten Greise verwirrt werden und in +Zungen reden, das bedeutet nicht mehr einen sozialen Zwiespalt, der mit +Geld und Brot geschlichtet werden könnte, es bedeutet die metaphysische +Einsamkeit alles Endlichen, das brückenlose Nichtverstehen und +Mißverstehen von Mensch zu Mensch. Und wenn nach not- und arbeitdumpfem +Leben, am Rande des Grabes die alten Weber in weinendem, verzweifeltem +Ingrimm ihre Knochenarme emporrecken: "Das muß anderscher wer'n, mir +leiden's ni mehr!", so ist das nicht der Kampfruf sozialer Rebellion, +so ist das die Anklage Karl Moors: "Menschen haben Menschheit vor mir +verborgen, da ich an Menschheit appellierte," so ist das der tragische +Aufschrei der Rütliszene: + + Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht: + Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann finden, + Wenn unerträglich wird die Last, greift er + Hinauf getrosten Mutes in den Himmel + Und holt herunter seine ewigen Rechte... + Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, + Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht... + Wie stehn für unsre Weiber, unsre Kinder! + +Den Unterdrückten Schillers wird wenigstens das Wort zur Befreiung, der +Gedanke zur Erlösung. Hin ist die Kreatur in der ganzen Dumpfheit und +Gebundenheit des Endlichen. Und wenn sie anmarschieren gegen ihre +Peiniger: "Am liebsten wär ich abgestiegen und hätte glei jed'm a +Pulverle gegeben" -- erzählt Chirurgus Schmidt, der vorüberfuhr -- "Da +trottelt eener hinter'm andern her wie's graue Elend und verfiehren ein +Gesinge, daß een' fermlich a Magen umwend't"; und wenn der greise +Baumert als Rebell erscheint, von den paar Tropfen ungewohnten Alkohols +unsicher, einen geschlachteten Hahn als höchste Siegestrophäe +mitführend, und die Arme breitet: "Brie -- derle -- mir sein alle +Brieder!", so ist der trostlose Aufruhr der Menschheit gegen das +Schicksal, der tragische Sehnsuchts- und Liebesruf aller Einsamen und +Gehetzten niemals erschütternder symbolisiert. + +Zur höchsten dramatisch-metaphysischen Gipfelung aber steigt der letzte +Akt. Da wendet sich der alte, fromme Hilse an seinen Sohn, der den +Aufrührern zueilen will: nein, er wird sich nicht empören, auch am +Rande des Grabes nicht, er weiß, daß keine Hilfe und Erfüllung möglich +ist in der Welt des Irdischen: "Du hast hier deine Parte -- ich drieben +in jener Welt. Und ich lass' mich vierteelen -- ich hab' ne Gewißheet. +Es ist uns verheißen. Gericht wird gehalten, aber nich mir sein +Richter, sondern: mein ist die Rache, spricht der Herr unser Gott." +Gegen diesen Anwalt des Jenseits, der klaglos alle Leiden des Diesseits +auf sich nimmt, der -- wie je ein Schillerscher Held -- "durch eine +freie Aufhebung alles sinnlichen Interesses" die Tragik des Lebens +überwinden will, kehrt sich seine Schwiegertochter, die +unentwurzelbare, schicksalhafte Vertreterin des Diesseits: die Mutter. +Nie hat ein Held Schillers oder Hebbels die tragische Wucht und +Notwendigkeit seines Lebensgefühls gewaltiger dargetan: "Mit Euren +bigotten Räden... dadervon da is mir o noch nich amal a Kind satt +gewor'n. Derwegen ha'n se gelegen alle viere in Unflat und Lumpem. Da +wurde ooch noch nich amal a eenzichtes Winderle trocken. Ich will 'ne +Mutter sein; daß d's weeaß! und deswegen, daß 'd's weeaß, winsch ich a +Fabrikanten de Helle und de Pest in a Rachen 'nein. Ich bin ebens 'ne +Mutter. -- Erhält ma' woll so a Wirml?! Ich hab' mehr geflennt wie Oden +geholt von dem Augenblicke an, wo aso a Hiperle uf de Welt kam, bis d'r +Tod und erbarmte sich drieber. Ihr babt euch an Teiwel geschert. Ihr +habt gebet't und gesungen, und ich hab' mir de Fieße bluttig gelaufen +nach ee'n eenzigten Neegl Puttermilch. Wie viel hundert Nächte hab ich +mir a Kopp zerklaubt, wie ich ok und ich keente so a Kindl ok a eenzicb +Mal um a Kirchhof 'rumpaschen. Was hat so a Kindl verbrochen, hä? und +muß so a elendigliches Ende nehmen -- und drieben bei Dittrichen, da +wer'n se in Wein gebad't und mit Milch gewaschen. Nee, nee: wenn's hie +losgeht -- ni zehn Pferde soll'n mich zuricke halten. Und das sag ich: +stirmen se Dittrichcns Gebäude -- ich bin de erschte -- und Gnade +jeden, der mich will abhalten." + +Schiller hatte des überlieferten Stoffes und der überlieferten +dramatischen Form wegen im "Wilhelm Tell", seinem Drama der +Volkserhebung, drei Handlungen (Tell-, Rütli-, Rudenz-Handlung) +nebeneinander laufen lassen. Hauptmann wagt es, die Masse der Weber zum +dramatischen Helden zu machen und in einer gewaltigen Steigerung zum +Gipfel zu führe. Im üblichen Dramenbau wäre dies die Höhe des dritten +Aktes. Die "Peripetie" fehlt. Aber in der Seele des Zuschauers drängen +sich die zwei letzten, ungeschriebenen Akte: sie sieht und leidet +voraus, wie dieses Häuflein Menschheit umsonst gegen sein Schicksal +aufstand, wie es ein paar Stunden sich frei und erlöst fühlen darf, um +dann nur um so grausamer i de dumpfe, leidvolle Gebundenheit alles +Endlichen zurückgeworfen zu werden. + +Nur wenn Staub und Asche des Irdischen und Körperlichen verwehen, wird +der göttliche Funke der Seele frei: im Tode oder im Traume. Das +vierzehnjährige "Hannele", das vor seinem verkommenen brutalen Vater in +den vereisten Dorfteich flüchtet, das sich nur fürchtet vor dem Leben, +das so gern in den Himmel kommen möchte zur Mutter und zum lieben Herrn +Jesus, das im gespenstig-grotesken Elend des Armenhauses in +Fieberträumen sein Dasein erfüllt, ehe es zu Ende geht, wird zum +erschütternden und erlösenden Bild der Menschenseele. Wenig Dichtungen +sind so innerst musikalisch wie diese Traumdichtung, die zwischen der +Welt der Seele und der Wirklichkeit hin und her geht, unbehindert und +schöpferisch. Aus den gegebenen Elementen der kindlichen, dörflichen +Seele, der Bibel, dem Märchen, dem Vater, der Mutter, dem Lehrer, baut +sie eine Welt und Handlung auf, die alle tieferen Beziehungen, die den +metaphysischen Sinn des Lebens in sich schließt. + +In "Fuhrmann Henschel" geht das Gefühl von der dunklen Macht der Umwelt +bis zur vollen Passivität. Aber es ist nicht die Abhängigkeit vom +Einzelnen, Zufälligen -- wie im Schicksalsdrama alten Stils --, die den +Fuhrmann erdrückt, es ist die unentrinnbare tragische Verstrickung und +Zwiespältigkeit alles Endlichen, die er dumpf erfühlt, gegen die jeder +Widerstand unnütz ist. Ein schlichter, hilfloser Mensch starrt durch +die Fenster seiner Kellerwohnung in den nächtlichen Himmel, grübelt +nach einer Schuld, die ihn zu Boden gerissen, und findet keine, grübelt +nach einem Sinn hinter den Geschehnissen, die ihn fortdrängen, und +findet keinen, und bäumt sich nicht auf und rächt sich nicht und geht +still ins Dunkel: "Ane Schlinge ward mir gelegt, und in die Schlinge da +trat ich halt nein... Meinswegen kann icb auch schuld scin. Wer weeß +'s?! Ich hätt't ja besser kenn'n Obacht geben. Der Teifel ist eben +gewitzter wie ich. Ich bin halt bloß immer grad'aus gegangen." + +Hauptmann hat den "Fuhrmann Henschel" in der ersten Sammlung seiner +Werke unter die "Sozialen Dramen" eingereiht, obwohl dieser Titel +eigentlich nur das erste, noch tendenziöse seiner Dramen "Vor +Sonnenaufgang" trifft Henschel steht weder sozial sonderlich tief -- er +ist Fuhrwerksbesitzer und hat einen Knecht unter sich --, noch ist sein +Schicksal durch seine soziale Stellung bedingt. Auch "Rose Bernd" ist +kein soziales Drama, wenngleich es so eingestellt ist. Man möchte es in +die Reihen der bürgerlichen Tragödien ordnen, zu Schillers "Kabale und +Liebe" und Hebbels "Maria Magdalene", zumal sich die Gestalt des Vaters +in allen verwandt geblieben. Und doch sprengt die tragische Gewalt des +Hauptmannschen Dramas auch die bürgerliche Welt, ihre verhängnisvolle +In-sich-Gebundenheit, und bricht zu den letzten Tiefen des +Metaphysischen durch. Aus naturhafter Frische und Lebenslust wird ein +Bauernmädchen aufgescheucht von den Begierden der Männer, "verfolgt und +gehetzt wie a Hund", in Schuld und Meineid gejagt, bis es das Leben +verneint und verflucht, bis es am Straßenrande sein Kind in der Geburt +mit eigenen Händen erwürgt, nicht aus Furcht vor Schande: "'s sullde ni +laba! Ich wullte 's ni!! 's sullde ni meinc Martern derleida! 's +sulldte duer bleib'n, wo's hiegehert." Die Natur, das Leben selber +verneint sich im tragisch-tödlichen Mitleid dieser Mutter. In +metaphysischer Einsamkeit und Größe ragt die Gefolterte gegen den +tragischen Himmel des Seins: "Das iis ane Welt... da sein Sie +versunka... da konn' Sie mer nischt nimeh antun dahier! O Jees, ei ee +kleen' Kämmerla lebt Ihr mit'nanderl Ihr wißt nischt, was außern der +Kammer geschieht! Ich wiß! ein Krämpfen hab ich's gelernt! Da is... ich +weeß ni.. all's von mir gewichen... als wie Mauer um Mauer immerzu -- +und da stand ich drauß'n, im ganz'n Gewitter -- und nischt mehr war +unter und ieber mir." + +Immer wieder bricht dieser tragische Aufschrei aus Hauptmanns Dramen. +"Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich?" -- fragt Michael +Kramer am Sarge seines Sohnes. "Das kommt, weil sie lieben müssen. Das +drängt sich zur Einheit überall, und über uns liegt doch der Fluch der +Zerstreuung. + +Wir wollen uns nichts entgleiten lassen, und alles entgleitet doch, wie +es kommt!" Aber aus dem tragischen Leid wächst die tragische Liebe. +Über Gräbern und Leichen finden sich schmerzverkrampfte Hände. Der Tod +nimmt die Binde von den Augen, von den Herzen, ein milder Erlöser, "der +ewigen Liebe Meisterstück". + +Im "Glashüttenmärchen", "Und Pippa tanzt" (1906) ist die Sehnsucht des +Endlichen Melodie geworden: ein Schimmer aus der Heimat Tizians, ein +Blütenkelch aus den Glasöfen Venedigs, eine wehende Flamme: Schönheit! +Schönheit, nach der alle verlangend haschen, um die alle tanzen und +werben, die dumpf gebundene Kreatur, der alte Huhn, wie der wissende, +kühl- und hochentrückte, der greise Wann. Dem sie zu eigen wird, Michel +Hellriegel ist der reisende Handwerksbursche des deutschen Märchens, +der treuherzige, unbefangene, der Träumer und Dichter, eigen erst als +Schatten und Traum, ganz eigen erst dem Erblindeten, der die Augen nach +innen aufschlägt, unbeirrt vom Wirrsal der Welt. + +Einmal nur, im "Armen Heinrich" (1902), scheint die Liebe nicht erst im +Tode zu siegen. In Wahrheit ist auch hier mit dem Leben gezahlt: +Ottegebe, sein klein Gemahl, hat es zum Opfer gegeben für den Herrn und +Geliebten, ist zu Salern unter dem Messer des Arztes gelegen. Graf +Heinrich hat sein Leben dagegen gegeben, als er ihr Opfer zurückwies, +als er dem Messer des Arztes Einhalt bot. Da ist der reine, gerade, +ungebrochene Strom der Gottheit durch ihn hindurchgegangen, erlösend +und auflösend, hat im Wunder der Liebe den Aussatz des Lebens geheilt +und ihn aufgenommen "in das urewige Liebeselement". + +Vor der metaphysischen Leidens- und Liebestiefe solcher Werke müssen +alle Versuche Hauptmanns, auch zur Gestaltung sinnlicher, heidnisch +bejahender Lebenskräfte vorzudringen, unzulänglich bleiben, vom +Rautendelein der "Versunkenen Glocke" zu Gerusind, "Kaiser Karls +Geisel", bis zum "Ketzer von Soana". Ein Christusroman "Emanuel Quint. +Der Narr in Christo" (1910) ist die natürliche Frucht dieses +Weltgefühls. Ein Armer im Geiste, eines trunkenen Tischlers Stiefsohn, +in dem Christus mächtig wird und wiederkehrt in die gegenwärtige Welt, +um aufs neue verfolgt, verraten und gemartert zu werden. Alles +leidvolle Wissen, alle heilige Liebeskraft Hauptmanns ist in dessen +Christusroman eingegangen, aber in der Dumpfheit seiner Umwelt entringt +er sich nicht dem Sektierer- und Quäkerhaften, zur Höhe von +Dostojewskis "Idiot". + +Wie aber Kleist von der tragischen Unbedingtheit seines Lebens und +Schaffens ausruht in der sinnlichen Lebens- und Listenfülle des +Dorfrichters Adam, in der humorvollen Gestaltung eines parodistischen +Heldenkampfes, so ruht Hauptmann im freiem lächelnden Anteil an der +amoralischen, ungebundenen, ungebrochenen Natur der Waschfrau Wolff. An +Kraft und Geschlossenheit des Aufbaus steht die Diebskomödie "Der +Biberpelz" (1893) hinter dem "Zerbrochenen Krug" erheblich zurück; an +Kraft und Fülle ihrer Hauptgestalt ist sie ihm nahe verwandt. + +Mit "Pippa tanzt" (1906) beginnt die schöpferische Kraft Hauptmanns zu +versiegen. Alle späteren Dramen muten -- wie auch die Erzählung "Der +Ketzer von Soana" -- nicht mehr ursprünglich, sondern literarisch an. +Es ist bedeutsam, daß "Pippa tanzt" zugleich das letzte Werk ist, das +aus dem Boden der schlesischen Heimat wächst. Nie war ein Dramatiker so +tief, so schicksaltief der seelischen und sinnlichen Atmosphäre seiner +Heimat verbunden. Da er ihr entwächst in die Welt seiner literarischen +Erfolge und Interessen, der allgemeinen deutschen und europäischen +Geistigkeit, sterben seine tiefsten Wünsche ab. Schon auf der Höhe +seiner Kraft war ein großgeplanter Versuch mißlungen, eine Tragödie +statt aus der Natur, der seelisch-sinnlichen Natur seiner Heimat, aus +der Geschichte aufzubauen: "Florian Geyer" (1896), die Tragödie des +Bauernkrieges war trotz gewaltiger Einzelszenen in der Überfülle des +Stoffs und der Studien steckengeblieben. Jetzt sucht Hauptmann in +fränkischen, italienischen, griechischen, peruanischen Sphären seine +verlorene Lebens- und Schaffenskraft wieder -- vergebens: er empfängt +nur Leben aus zweiter Hand. + +Hauptmanns gerader weltanschaulicher Gegensatz ist Frank Wedekind +(1864-1918). Ist Hauptmann der Anwalt der unterdrückten Seele, so ist +Wedekind der Anwalt des unterdrückten Leibes und Fleisches. Er wendet +sich gegen "die Geringschätzung und Entwürdigung" des Fleisches, gegen +jene, denen "der Geist das höhere Element, der absolute Herrscher" ist, +"der jede selbstherrliche, revolutionäre Äußerung des Fleisches aufs +unerbittlichste rächt und straft" ("Über Erotik"). In der +Kindertragödie: "Frühlings Erwachen" (1891) -- neunzehn locker +gereihten, kurzen Szenen im Stile Lenz' und Büchners -- gestaltet er +die dunklen Wirren und Leiden der Pubertät, der aufwachenden sinnlichen +Triebe, die von allen Seiten, von Eltern und Lehren, verleugnet, +verdächtigt und mißleitet werden, Gymnasiasten und vierzehnjährige +Schulmädel, die auf der gefährlichen Grenzscheide zwischen Kindheit und +Reife weglos allein gelassen, aller Unruhe und allem Dunkel der neuen +Lebensmächte preisgegeben und in Verbitterung, Tod und Selbstmord +hinausgedrängt werden, Kämpfer, die an der Eingangspforte des Lebens +fallen. Im "Erdgeist" (1895) formt er dann die volle entfesselte Macht +der Triebe. In Lulu zeichnet er die "Urgestalt des Weibes" die schon in +der Bibel, im Leben der Kirchenväter und Heiligen immer wieder als das +dämonische, verführerische sinnliche Element des Lebens zerstörend +auftaucht, die Schlange, "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". "Sie +ward geschaffen, Unheil anzustiften, -- Zu locken, zu verführen, zu +vergiften, -- Zu morden, ohne daß es einer spürt". Lulu nennt sie der +eine, Nellie, Eva, Mignon der andere; sie hat keinen Namen, wie sie +keinen Vater hat: sie ist das Urelement der Schöpfung. Jeder sieht sie +anders, legt seine Sehnsucht, seine Seele in sie hinein, behängt sie +mit seinen Träumen und Phantasien. Sie aber bleibt "die seelenlose +Kreatur". Gleichgültig schreitet sie über das Leben der Männer hinweg, +die ihr zu Füßen stürzen, immer neue Opfer fordernd, in rastloser Gier +-- bis sie demselben Dämon verfällt, der sie getrieben, und (im 2. Teil +der "Büchse der Pandora") unter dem Messer Jack des Aufschlitzers endet. + +Es war nicht leicht für Wedekind, diesem weiblichen Urbild sinnlicher +Schönheit und Wildheit ein männliches zur Seite zu geben. Mit der +kulturellen Entwicklung ist die geistige Kraft zum eigentlichen Wesen +des Mannes geworden. Aber Wedekind ging in die Welt der Zirkusmenschen +und Hochstapler, der elastischen Abenteurer, die in zäher Lebensgier +durch Strom und Strudel jagen, untertauchen, nie untersinken, immer +wieder in die Höhe kommen. "Der Marquis von Keith" (1900) ist Wedekinds +dramatisch stärkste Gestaltung dieses Typus. + +In all diesen Dramen kann der Trieb, das Fleisch, nie gegen den Geist +kämpfen, da er ihn nicht begreifen, nicht übersehen kann. Vertreter des +Geistes, die gegen das Fleisch auftreten -- wie Lehrer und Pfarrer in +"Frühlings Erwachen" --, sind bloße Karikaturen. Immer kämpfen Triebe +gegen Triebe. So kommt es nie zur Klärung und Lösung, sondern nur zur +Katastrophe. Der Aufstieg und Absturz des Ideendramas zerfällt hier +nach der Zahl der Akte in ebenso viele parallele Krisen und +Katastrophen. Auch die Szenen, die Dialoge entwickeln sich eher in +linearem Nebeneinander als in einem steigenden In- und Miteinander. +Denn diese triebhaften, "unbeseelten Kreaturen" sind ganz in sich +gebunden, in die Einsamkeit alles Sinnlichen. Sie reden nicht +zueinander, sie sprechen aneinander vorbei. Und so dunkelt über dieser +lebensverlangenden, lebensbejahenden Triebwelt die heimliche +Melancholie der unerlösten Kreatur, eine Tragik, die tiefer gründet als +die äußeren Kämpfe ihrer Instinkte. + +Die Bejahung und Verherrlichung des Fleisches, die dem jungen Wedekind +quellende Natur ist, wird dem alternden zur Lehre, die er predig und +verteidigt. All seinen späten Gestalten gibt er sie in den Mund. Das +widerspricht aber dem Wesen dieser triebhaften Gestalten, die nicht +über sich theoretisieren können. So zerfällt die durchaus +unnaturalistische, großumrissene, sinnenbunte Bildwelt Wedekinds in +graue fanatische Deklamationen. + +Zwischen den polar bestimmten Werten und Welten Hauptmanns und +Wedekinds schwankt die ungewisse Welt Arthur Schnitzlers (geb. 1862). +Die Wiener Kultur, schon in Grillparzer voll unsicherer +Selbstreflexion, ist ganz Ausgangskultur geworden: ihre Ideenwelt hat +den zwingenden Gehalt verloren, nur ihre Formen sind geblieben. Mit +ihnen drapiert und maskiert man sich, man spielt mit ihnen. Das Leben +selber wird zum Spiel. In lächelnder Skepsis ist man sich dieses Spiels +bewußt, sucht man es zu vervollkommnen und auszukosten. Aber die +Schwermut lauert über jenen Augenblicken, wo man des Spielens müde ist, +wo man auf festem Ideen- und Lebensgrund ruhen möchte und nur erkennt: + + Es fließen ineinander Traum und Wachen, + Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. + Wir wissen nichts von andern, nichts von uns. + Wie spielen immer; wer es weiß, ist klug. + +In den sieben graziösen Dialogen des "Anatol" (1894) ist diese Skepsis +und Müdigkeit, diese Selbstreflexion und weiche Selbstverhätschelung +zum erstenmal Wort und Gestalt geworden. Anatol, der junge, verwöhnte +Dichter, der "leichtsinnige Melancholiker" der in tändelnden +Abenteuern, in "zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis der Treue" sein +Leben verträumt, der nur in Stimmungen lebt und so viel Mitleid mit +sich selbst hat -- keine moralische Forderung, kein Schicksal dürfte an +diese Welt klopfen: sie würde in Staub verwehen. Aber da sie ganz in +sich verbleibt, nehmen wir lächelnd Anteil an ihrem weichen, morbiden +Stimmungszauber, ihrer Liebenswürdigkeit und Gebrechlichkeit. + +Die Melancholie, die aus dieser Welt steigt, kann sich nie zur wahren +Tragik härten. Auch aus den fröstelnden Schauern des "Einsamen Wegs": +"Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet -- den Weg hinab gehen +wir alle allein", weht weniger Lebenstragik als Lebemannstragik. Aber +wenn in diese Welt ein Vorstadtmädel gerät mit der ganzen frischen +Innigkeit und Unbedingtheit seines Herzens, die Liebe gibt und sucht in +dieser Welt der "Liebelei", dann greift einfache Tragik ans Herz. +Christin', die blasse Violinspielerstochter, die ihre Seele hingibt an +den leichtsinnig-schwermütigen Menschen, der ihr auch in der tiefsten +Stunde wehrt: "Sprich nicht von Ewigkeit. Es gibt vielleicht +Augenblicke, die einen Duft von Ewigkeit um sich sprühen... Das ist die +einzige, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört", wird +zu einem holden Urbild, zu einem unvergeßlichen Klang, daraus die +Innigkeit und Traurigkeit eines Volksliedes weht. + +Die größeren Kompositionen Schnitzlers lehnen sich an fremde Stile, an +Ibsen oder Shakespeare, lösen sich in epische Episoden oder zergehen in +dialektische Konversationszenen, deren geistreich-schwermutvolle +Feinheit die Menschen mehr verschleiert und verwischt als gestaltet. +Nur im "Grünen Kakadu" wird Schnitzler die Ausgangswelt, ja der +Ausgangstag des ancien régime (der Tag des Bastillensturms) zum großen +historischen Spiegel des Wiener Ausgangs. Ein Irrspiel zwischen Sein +und Schein, das den Verfall aller Werte, die Zersetzung aller Seele in +grellen Blitzen gespenstig umleuchtet. In einer Pariser +Vorstadtspelunke improvisieren Schauspieler zur Aufpeitschung der +hochadligen Gäste Verbrecherszenen, die gruselig Spiel und Wahrheit +mischen. Wie verfolgt stürzt einer herein und berichtet von seinem +frische Taschendiebstahl, von einer Brandstiftung ein zweiter, einem +Morde ein dritter, bis Henri, der Genialste Truppe, vorstürmt und +aufschreit, er habe eben in der Garderobe den Herzog von Cadignan, den +Liebhaber seiner ihm gestern angetrauten Frau, niedergestochen. Die +Mitspieler halten es für Wahrheit, die Zuschauer für Komödie, einen +Augenblick glauben beide an Wahrheit -- während es jäh darauf erst +Wahrheit werden soll: der Herzog tritt ein und Henri tötet ihn +wirklich. Und indes der Wirt wie allabendlich eben noch in aufreizendem +Spiel seine hochadligen Gäste als Schurken und Schweine begrüßt hat, +die das Volk hoffentlich nächstens umbringen werde, dringen plötzlich +die Bastillenstürmer ein und lassen an der Leiche des Herzogs die +Freiheit leben. Hier ist das Lebensgefühl des Ausgangs: "Wir spielen +immer; wer es weiß, ist klug", schicksalhaft vertieft, das +Schauspielertum des Lebens und der Bühne gespenstig gemischt. Mit +höchster künstlerischer Bewußtheit sind die Schauer und Wechsel dieses +Irrspiels in die straffe Handlung eines Einakters gebannt. + +Wenn für Schnitzler die Bedeutungslosigkeit der überkommenen Formen +noch Lebensschicksal ist, für Hugo von Hoffmannsthal (geb. 1874) ist +sie nur mehr literarisches Schicksal. Allein in den ersten Dramen "Der +Tor und der Tod", "Der Abenteurer und die Sängerin" schwingt noch ihr +Erlebnis: Schwermut und Sehnsucht. Das erste eine Dichtung des +Neunzehnjährigen: ein junger Mensch, der das Leben zum erstenmal ahnt, +da er es lassen muß: + + Was weiß ich denn vom Menschenleben? + Bin freiliche scheinbar drin gestanden, + Aber ich habe es höchstens verstanden, + Konnte mich nie darein verweben... + Stets schleppt ich den rätselhaften Fluch, + Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt, + Mit kleinem Leid und schaler Lust + Mein Leben zu erleben wie ein Buch. + +Aber, da er dem Tode, der ihn zu rufen kommt, entgegenhält: "Ich habe +nicht gelebt!" zeigt der ihm, was an Leben und Liebe sein gewesen: +unter den Geigenklängen des Todes schweben die Schatten der Mutter, des +jungen Mädchens, des Freundes vorüber, die einst in Sorge und Liebe +sich um ihn mühten, ohne daß er ihrer geachtet. Er war der +"Ewigspielende", "der keinem etwas war und keiner ihm". Erst der Tod +lehrt ihn das Leben sehen -- die süße Schwermut eines Frühlingsabends +webt um diese jungen, goethisierenden Verse; aus weich-verhangener +Ferne träumt Musik. Im "Abenteurer und die Sängerin" schimmern die +Farben und Wunder Venedigs auf. Auch hier eine ausgelebte Welt. Auch +hier ein Ewigspielender: Casanova. Fünfzehn Jahre nach einem seiner +vielen Liebesabenteuer kreuzt dieser flüchtige Faltermensch die +Lagunenstadt und sieht die einst Geliebte, die er zum Leben erweckt, +die ihm glücklichste Stunden geschenkt, als Gattin eines anderen wieder +und neben ihr seinen Sohn. Wenige festliche Stunden, wenige in Traum, +Süße, Wehmut und Erinnerung aufschimmernde Worte. Und darüber die +Schatten des Alters und der Vergänglichkeit. + +Je mehr in den späteren Dramen Hoffmannsthals der Lebensgehalt +versickert, desto üppiger wuchert ihre Form. Die leere Lebensform des +ausgehenden Wien wird zur leeren literarischen Form, einer üppigen +barocken Form, die Leben aus zweiter Hand, aus Sophokles, Otway, +Molière überrankt. Der sittliche Gehalt der Sophokleischen Elektra, das +tragische Rächeramt der Kinder an der eigenen Mutter, des Vaters +Mörderin, wird -- jenseits aller Weltanschauung -- zu einer +dekorativen, schwelgerischen, brandroten Orgie in Haß, Blut und Rache. +Bedeutsam bleiben -- wie bei d'Annunzio, dem er nahekommt -- die +artistischen Werte Hofmannsthals: sein Anteil an der Entwicklung +deutscher Sprachkunst. + +Klingt bei Hofmannsthal Wortmusik, bei Richard Beer-Hofmann (geb. +1866), dem dritten und tiefsten der Wiener, klingt Seelenmusik. In +hinreißendem Adagio entquillt sie seinem ersten Drama, dem "Grafen von +Charolais" (1904), obgleich es einer alten englischen Vorlage +Massingers und Fields unglücklich verbunden ist, obgleich es daher in +zwei Teile zerbricht, obgleich die Requisiten des alten Stücks, +Leichen, Pfändung, Ehebruch, Mord, Selbstmord, sich peinlich häufen. Da +ist nicht mehr die Melancholie des Ästheten, da ist eine wehe Weisheit, +eine milde Güte, eine dunkel-goldene Traurigkeit, aus Tiefen, die seit +Gerhart Hauptmann keiner mehr durchmessen hat. Nur das Vorspiel zu +einem Dramenzyklus, zur "Historie von König David", ist seitdem +erschienen: "Jaákobs Traum" (1918), eine symphonische Dichtung von +einer seelischen und religiösen Gewalt, die sie hoch über die Zeit +emporträgt. Die Würde und Tragik der Berufung ist ihr Thema, Jaákobs +Ringen mit Gott auf dem Berge Beth-El ihr biblischer Stoff. Wenn der +musikalischen und metaphysischen Gewalt dieses Vorspiels die Kraft der +Menschengestaltung in der Trilogie entspricht, so wird Beer-Hofmann in +schöpferischer Erneuerung alttestamentlicher Symbole der deutschen +Dichtung das religiöse Drama erobern helfen. + +Hauptmann und in minderem Grade auch Wedekind, Schnitzler, Beer-Hofmann +erleben die Welt unmittelbar in weltanschaulichen Gegensätzen und in +Gestalten, die sie verkörpern und ausfechten. Fast allen jüngeren +Dramatikern ist dieses überpersönliche, weltgroße Erlebnis fremd; sie +erleben einseitig, subjektiv, nur vom Gefühl oder vom Intellekt aus, +und so kommt es nur zu lyrisch-balladesken oder dialektischen +Spannungen. + +Herbert Eulenberg (geb. 1876) bleibt ganz in dumpfen Gefühl befangen. +Seine Helden sind immer die gleichen Typen und leben nur im Schwellen +und Ausschwingen ihrer Gefühlsdurchbrüche. Er erlebt nur in einer +Richtung und nur in einem Menschen; die anderen Menschen sind ohne +eigene Lebens- und Gegenkraft für Eulenberg wie für seine Helden. +Einsam steht der Eulenbergsche Mensch im All; fremde Mächte werden in +ihm wach und jagen ihn in die dunkle Hölle seines Blutes und seiner +Träume; sie verfolgen und erfüllen ihn, wachsen, rasen und toben in +ihm, bis sie seine Form zersprengen oder in vernichtenden Taten den +Ausweg suchen. Von außen her dringt nichts in diesen Vorgang ein. "Ich +höre nichts außer mir", sagt einer der Helden; "ich brenne in mir ab", +ein anderer. Die Gegenspieler sind keine ursprünglichen Gestalten, sind +nur Blutbilder des eigenen Innern. So wird kein Drama, so kommt es nur +zu monologischen, lyrisch-balladesken Wirkungen, zu Farben und +Stimmungen. + +Der Gegenpol Eulenbergs ist Karl Sternheim (geb. 1881). Er geht ganz +vom Intellekt aus. Er erlebt nicht, er erkennt nur. Sein literarischer +Ehrgeiz will stilisieren, zu Typen vordringen. Aber einen Typus gewinnt +er nicht durch Fülle und Verdichtung des Persönlichen, sondern durch +Konstruktion und Illustration eines Begriffs. Kurze Zeit weiß seine +Beobachtung, seine literarische Erinnerung die Stilisierung +durchzuführen, dann entgleiten und brechen die Linien, die Personen +werden zu Karikaturen. Eine Komödie wie "Der Snob" ist in ihrer inneren +Unwahrheit, ihrer Literaten- und Theaterkunst, gar nicht so weit von +Blumenthal und Kadelburg; sie ist nur geistreicher und boshafter. +Seiner Menschen-wie seiner Weltanschauung fehlt der organische Anteil, +das Ethos, die Liebe. Es genügt nicht, die Welt lächerlich zu machen. +Humor, nicht Witz ist das Zeichen des Schöpfers. Jede Anschauung will +im Zusammenhang einer Weltanschauung, jede Eigenschaft im Zusammenhang +einer Seele, jede Verzerrung im Zusammenhang eines Ideals gedeutet und +gestaltet werden. Auch der Satiriker lacht und spottet nicht aus dem +Gefühl billiger Überlegenheit, sondern aus dem Gefühl der Verantwortung +und der Liebe. + +Über Wedekind und Sternheim führt der Weg Georg Kaisers, (geb. 1878). +Auch er ist ein Intellektueller, ein ehrgeiziger Literat, ein +Formenkünstler. Ohne ein ursprüngliches Wesenszentrum überläßt er sich +den wechselnden Strömungen der Zeit. Von der Verherrlichung des +Fleisches à la Wedekind ("Rektor Kleist", 1905) gelangt er zum ideal +platonisierten Denkdrama "Die Rettung des Alkibiades" (1919). "König +Hahnrei" und die "Jüdische Witwe" stellen die tragischen Konflikte +Tristans oder Judiths in frecher Jongleurkunst auf den Kopf. "Die +Bürger von Calais" wissen klug errechnete tragische Situationen +rhetorisch auszukosten. "Die Koralle" und "Gas" diskutieren die +sozialen Probleme der Gegenwart. An artistischem Können ist Kaiser +Sternheim bald voraus; er ist reicher, beweglicher, energischer. Aber +es ist die Hast der Nerven, die Psychologie des Intellekts, die Technik +des Films. In den sozialen Dramen -- der Sphäre der Massen und +Maschinen -- werden der Bau mathematisch, die Menschen mechanisch, die +Sprache zum Telegramm. Ein Druck auf die Feder -- und das Werk läuft +ab: Rede und Gegenrede, Bewegung und Gegenbewegung. Mit virtuoser +Technik wird die ganze soziale Stoffmasse in diesem Rädertreiben +zermahlen. -- Und schließlich fallen in der "Rettung des Alkibiades" +auch die Schemen dieser Gestalten; in Anlehnung an den platonischen +Dialog wird das Menschenspiel zum Denkspiel, die Dramatik zur Dialektik. + +Über diese Artisten ragt Paul Ernst (geb. 1866) an Ethos der Kunst- und +Weltanschauung, aber ihre intellektuelle Gebundenheit weiß er nur ins +Geistige, nicht ins Künstlerische zu lösen. Er kommt vom naiven +Naturalismus seines Freundes Holz und will mit Wilhelm von Scholz (geb. +1874), der von der Neuromantik und Mystik herkommt, einen +"neuklassischen" Stil im Drama begründen. Über Shakespeares +individuelle Gestalten und Probleme will er zur reinen Typik der +Griechen zurück. Aber er ist ein Kunstdenker, kein Kunstschöpfer; er +gibt geistige Grundrisse statt organischer Gestalten. Tiefer im +Lebensgrunde wurzelt Scholz, zumal in der zweiten Fassung seiner +Tragödie "Der Jude von Konstanz" (1913), die der Hauch Hebbelscher +Tragik durchweht. + +Ein großes Drama wächst nur aus einer großen, ursprünglichen +Weltanschauung. Wie die Lebensformen der Mutterboden der epischen, so +sind die Weltanschauungsformen der Wurzelgrund der dramatischen Kunst. +Mit dem Weltkrieg brachen die Lebens- und Anschauungsformen des +materialistischen und rationalistischen Zeitalters zusammen. Aus seinem +Chaos schrie die gemarterte Seele nach ihrem Recht. Jünglinge ballten +ihren Aufschrei zum "expressionistischen" Drama, Walter Hasenclever im +"Sohn", Richard Goering in der "Seeschlacht", am stärksten Fritz von +Unruh in "Ein Geschlecht". Lyrische Entladungen, Konfessionen, +Predigten und Prophetien gaben sich dramatisch. Des späten Strindbergs +unnachahmliches Traum- und Seelendrama ("Traumspiel", "Nach Damaskus") +wurde unbedenklich zum Vorbild genommen. Über den zerfallenen Formen +recke sich der befreite, von Urgefühlen trunkene Mensch empor, der +Mensch schlechthin, der sich eins weiß mit seinen Brüdern, nach Seele, +nach Gott, nach einer neuen wahren Gemeinschaft des Geistes. Aber +ekstatische Schreie, rauschvolle Aufrufe, die Auflösung aller +Lebensmächte in e i n trunkenes Urgefühl führen höchstens zur lyrischen +Grundform. Dies neue Menschheitsgefühl will erst in der Wirklichkeit +erhärtet, vertieft und geklärt, in Zwieklang seiner Gegenmächte +begrenzt und behauptet und in ursprünglichen Gestalten objektiviert +sein, ehe es zu einem neuen Drama fruchtet. + + + + +DIE LYRIK + +Die epische Dichtung hat bestimmte Lebensformen, die dramatische +bestimmte Weltanschauungsformen zum Unter- und Hintergrund. Der epische +Dichter kann die Lebensformen nicht selber schaffen -- sie sind die +Voraussetzung seiner Kunst --, der dramatische kann die +Weltanschauungsformen höchstens mitschaffen, aus den gesamten ideellen +Mächten seiner Zeit heraus. Die Form der lyrischen Dichtung ist die +Form der Persönlichkeit. Der Lyriker ist unabhängig in seinem +Schöpferwillen, alles wird ihm Stoff zu sich selber, Welt und Leben +kristallisieren in seinem Ich. So kann in einer zersetzten Zeit, im +Kampf der Lebens- und Weltanschauungen der Lyriker zuerst zur reinen +Form gelangen, als der Vorposten der neuen Menschheit. Und dieses +Ringen um den neuen Menschen, um das Bürgerrecht einer neuen Menschheit +stellt die deutsche Lyrik der letzten Jahrzehnte dar. + +1885 erschienen die "Modernen Dichtercharaktere", eingeführt von den +Aufsätzen Hermann Conradis (1862-1890) "Unser Credo" und Karl Henckells +(geb. 1864) "Die neue Lyrik". Die Gedichtsammlung war die Absage an die +Epigonenlyrik Geibels und Heyses, an die "losen, leichtsinnigen +Schelmenlieder und unwahren Spielmannsweisen" Rudolf Baumbachs und +Julius Wolffs. Diese jungen Lyriker wollten "Hüter und Heger, Führer +und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Ärzte und Priester der +Menschen" werden. Hermann Conradi gibt 1887 in den "Liedern eines +Sünders" sein lyrisches Bild. Er war der Innerlichste unter den +Jüngeren, der Gärende, haltlos Ringende. Er fühlte sich berufen, "die +Gegensätze der Zeit in ihrer ganzen tragischen Wucht und Fülle, in +ihren herbsten Äußerungsmitteln zu empfinden" und "voll Inbrunst und +Hingebung die verschiedenen Stufen und Grade des Sichabfindens mit dem +ungeheueren Wirrwarr der Zeit schöpferisch zum Ausdruck zu bringen". +Übergang und Untergang sah er ringsum, sich selbst empfand und +gestaltete er in seinen Romanen "Phrasen" und "Adam Mensch" als den +Typus des Übergangsmenschen, in den eigenen Krämpfen spürte er die +Krämpfe der Zeit, deren Krisis er 1889 in "Wilhelm II. und die junge +Generation" ahnend kündete: "Die Zukunft, vielleicht schon die nächste +Zukunft: sie wird uns mit Kriegen und Revolutionen überschütten. Und +dann? Wir wissen nur: die Intelligenz wird um die Kultur, und die +Armut, das Elend, sie werden um den Besitz ringen. Und dann? Wir wissen +es nicht. Vielleicht brechen dann die Tage herein, wo das alte, +eingeborene germanische Kulturideal sich zu erfüllen beginnt. Vorher +jedoch wird diese Generation der Übergangsmenschen, der Statistiker und +Objektssklaven, der Nüchterlinge und Intelligenzplebejer, der Suchenden +und Ratlosen, der Verirrten und Verkommenen, der Unzufriedenen und +Unglücklichen -- vorher wird sie mit ihrem roten Blute die +Schlachtfelder der Zukunft gedüngt haben -- und unser junger Kaiser hat +sie in den Tod geführt. Eines ist gewiß: sie werden uns zu Häupten +ziehen in die geheimnisvollen Zonen dieser Zukunft hinein: die +Hohenzollern. Ob dann eine neue Zeit ihrer noch bedürfen wird? Das +wissen wir abermals nicht." Conradis Leben und Lyrik ist nie zur +persönlichen Form gedrungen. So tief er darum rang, die gärenden, +brodelnden Elemente seines Wesens zur Einheit zu binden: "Und ob die +Sehnsucht mir die Brust zerbrennt: -- Auf irrer Spur -- Läßt mich die +Stunde nur -- Am einzelnen verbluten." + +Karl Henckell, der zweite Herausgeber der "Modernen Dichtercharaktere", +verlor sich vorläufig in die Stofflichkeiten des Naturalismus und +Sozialismus. Er sang "Das Lied des Steinklopfers", "Das Lied vom +Arbeiter", "Das Lied der Armen", besang "Das Blumenmädchen", "Die +Engelmacherin", "Die Näherin im Erker", "Die Dirne", "Die kranke +Proletarierin". Er zeichnete billige satirische Gegenbilder im +"Korpsbursch" im "Einjährig-Freiwilligen Bopf", im "Leutnant Pump von +Pumpsack" im "Polizeikommissar Fürchtegott Heinerich Unerbittlich". Er +feierte "das ideale Proletariat": "Heil dir Retterheld der Erde -- +Siegfried Proletariat -- leuchtend in der Kraft des Schönen." Er +empfand sich als die "Nachtigall am Zukunftsmeer". Durch die +jugendliche Rhetorik und stoffliche Befangenheit brach die -- +sozialistisch gefärbte -- Überzeugung einer Zeitenwende, eines nahen +Zusammenbruchs, einer neuen Zukunft. + +Ärger noch in diese Stofflichkeit, in die nächsten Bilder und Phrasen +der Zeit verstrickt blieb Arno Holz (geb. 1863) in seinem "Buch der +Zeit", "Lieder eines Modernen" (1885). Er glaubte sich schöpferisch, +wenn er die Großstadt, das Großstadtelend, den Großstadtmorgen, den +Großstadtfrühling in wässerig strömende Reime und Strophen zwang. Der +"geheime Leierkasten", den er später aus jeder Strophe zu hören +glaubte, klingt überlaut aus diesen jugendlichen Versifizierungen. Und +es ist persönlich begreiflich, daß er 1899 schließlich in seiner +"Revolution der Lyrik" Reim, Strophe und festen Rhythmus grundsätzlich +verwarf und eine Lyrik proklamierte, "die auf jede Musik durch Worte +als Selbstzweck verzichtet, und die, rein formal, lediglich durch einen +Rhythmus getragen wird, der nur durch d a s lebt, was durch ihn zum +Ausbruch ringt". Im "Phantasmus" schuf er dementsprechende, +eindringliche, duft- und farbenreiche Stimmungsbilder und -bildchen. + +In Julius Hart, Bruno Wille, John Henri Mackay, dem Schüler Stirners, +und Ludwig Scharf ergänzte und steigerte sich die soziale Lyrik. +Richard Dehmel (1863-1920) vertiefte und beseelte sie. Er war der +Freund Detlev von Liliencrons (1844-1909), des "Blutlebendigen, +Lebensbeglückten", Erdursprünglichen, der zwar durch den "Naturalismus" +erst ganz zu sich selbst befreit wurde, aber stets reine, sinnenhafte +Natur war und blieb, dem Kampf der neuen Ideen fremd, ein voller +Ausklang der alten lyrischen Linie, der Droste, Kellers, Storms. +Liliencron kam der Entwicklung von Dehmels sinnlicher Anschauung zur +Hilfe, wie Uhland einst dem jungen Hebbel. Dehmel zerbrach die +Kunstanschauung des "Naturalismus": Nie ahmt der Künstler die Natur +nach. "Weder die sogenannte äußere Natur, die Welt der Dinge, noch auch +die innere, die Welt der Gefühle, will oder kann er zum zweitenmal, zum +immer wieder zweitenmal, in die bestehende Welt setzen, in diese Welt +der Wirklichkeiten. Er will überhaupt nicht nachahmen; er will +schaffen, immer wieder zum erstenmal. Er will einen Zuwachs an +Vorstellungen schaffen, Verknüpfungen von Gefühlen und Dingen, die +vorher auseinander lagen, in der werdenden Welt unserer Einbildungen." +Aus "chaotischen Lebenseindrücken" will er einen "planvollen Kosmos" +schaffen, "nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder +menschlichen Daseins und Wirkens," "überschauende Zeit-, Welt- und +Lebenssinnbilder". So wird in Richard Dehmel zuerst der moderne Lyriker +sich seiner Aufgabe bewußt, der sinkenden, zersetzenden Zeit neue +Formen zu erobern, in der Form seiner Persönlichkeit und in heiliger +Wirkung und Wechselwirkung, in immer weiteren Ringen über sie hinaus: +"Alle Kunstwirkung läuft schließlich auf das Wunder der Liebe hinaus, +das sich begrifflich nur umschreiben läßt als Ausgleichung des +Widerspruchs zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und +Selbstvergessenheit." Den Weg vom Ichgefühl, einem neuen, starken +Ichgefühl, zu neu bewußten und vertieften Allgefühl sucht Dehmels Leben +und Lyrik. Vom sozialen Gefühl der Zeit geht er aus. "Wie kann der +geistige Mensch zur Herrschaft kommen, wenn er umgeben bleibt von +Menschen, die nicht einmal der Pflege des Körpers freie Zeit genug +widmen können! Kann denn das geistige Dasein sich steigern, wenn +jedermanns Sinne voll geistiger Unlust sind? Und kann der Geist des +einzelnen wachsen, wenn kein geneinsamer Boden sich bildet, der seine +Seele zum Wachstum anreizt?" Aus dieser leidenden Bruderliebe, aus +diesem Wissen um das Verbundensein alles Volkslebens wachsen seine +sozialen Gedichte "Zu eng", "Vierter Klasse", "Der Märtyrer", "Jesus +der Künstler", "Bergpsalm": + + Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz! + Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen + Nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz! + Nicht sickert einsam mehr von Brust zu Brüsten + Wie einst die Sehnsucht, nur als stiller Quell; + Hier stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und grell, + Und du schwelgst noch in Wehmutslüsten? + +Die beiden klassischen sozialen Lieder formen sich: "Erntefeld" ("Es +steht ein goldnes Garbenfeld") und "Der Arbeitsmann" ("Wir haben ein +Bett, wir haben ein Kind"). Über die Lebens- und Liebeseinheit des +eigenen Volkes, durch die es "dem hunderttausendfachen Bann" der +Lebensnot und -niedrigkeit entwächst, drängt Dehmels Traum und +Leidenschaft zur Menschheitsstunde: "Bis auch die Völker sich befrei'n +-- Zum Volk! -- m e i n Volk, wann wirst du sein?" Und über die +Menschheit hinaus stürmt sein Lebenswille ins Weltall: "Wir Welt!" Das +ist das letzte Ziel, die Durchdringung von Eins und All. Den Weg führt +uns die Liebe: "Wer so ruht an einem Menschenherzen -- Ruht am Herzen +dieser ganzen Welt." + +Dieses Mysterium kündet der "Roman in Romanzen: Zwei Menschen" dreimal +36 Gedichte und drei Vorsprüche zu je zwölf Zeilen, die zusammen wieder +36 Zeilen ergeben. Alle Gedichte haben den gleichen Aufbau: eine +Naturschilderung als Einleitung, die Worte des Mannes, die Worte der +Frau, ein paar Schlußzeiten, die in neuer Einheit die Seelenstimmung +zusammenfassen. Diese Strenge der Gliederung schafft architektonische +Schönheit, aber hemmt und verbaut auch. Es kommt weder zur reinen +epischen Erzählung noch zum reinen lyrischen Ausströmen. Überhaupt +bleiben die epischen Elemente, die eigentliche Handlung, die Fülle der +Schauplätze, bedenklich stofflich. Hinreißend ist der ekstatische +Überschwung der Grundstimmung, der zwei Menschen aus ihrer Einzelhaft, +durch die Liebe, zur Verbundenheit mit der Natur, der Menschheit, dem +Weltall, zum "Weltglück" führt, bis selbst der Tod sie nicht mehr +schreckt: + + Wir sind so innig eins mit aller Welt, + Daß wir im Tod nur neues Leben finden. + +So wächst Dehmels Ich-Bewußtsein in immer weiteren Kreisen zum +Weltbewußtsein, nicht nur im Gefühlsrausch des Lyrikers, sondern im +menschheitlichen Vorkampf. Die Harmonien zwischen Mann und Weib +offenbaren sich ihm nur darum so machtvoll, weil er abgründige +Disharmonien durchlitten und durchschritten hat. Seelische Helle wächst +aus sinnlichem Dunkel. "Die Verwandlungen der Venus" zeichnen -- +stofflich überlastet -- diesen Weg der Läuterung: "Aus dumpfer Sucht +zur lichten Glut." + +Alle Menschheitsbeziehungen werden in ihrem Doppelspiel von Haß und +Liebe, von Selbstbehauptung und Hingabe neu zur Frage gestellt. Wie +Mann und Weib sich gegenüberstehen, so Vater und Sohn. Im Kampf der +Generationen, der alten und jungen Weltanschauung ruft er als Vater -- +als erster Vater! -- seinem Sohne zu: + + Sei du! Sei du! + Und wenn dereinst von Sohnespflicht, + Mein Sohn, dein alter Vater spricht, + Gehorch' ihm nicht! Gehorch' ihm nicht! + +Als der Weltkrieg ausbrach, da war es Dehmel, dessen tapferer +Lebensglaube stets gewesen, durch die Zeit hindurch zur neuen Zeit und +Form sich vorzuringen, Pflicht und Bedürfnis, als +einundfünfzigjähriger, ungedienter, gemeiner Soldat in das Heer zu +treten und den Entscheidungskampf der neuen Menschheit mitzufechten: +"Die Begleitumstände sind allerdings scheußlich, aber das Hauptziel des +Kampfes ist herrlich und heilig; denn wir wollen den Frieden auf Erden +schaffen, a l l e n Menschen zum Wohlgefallen... Etwas mehr +Himmelsluft wird sich doch nach diesem reinigenden Sturm ausbreiten, +bei uns selbst wie im ganzen Völkerverkehr. Und was war der Hauptgrund, +warum ich alternder Mann zur Waffe griff, nicht bloß aus +Vaterlandsliebe und Abenteurerlust; da mein Körper noch kräftig genug +dazu ist, muß ich ihn einsetzen für die geistige Zukunft." Als Soldat +der neuen Menschheit ist er gestorben, an einer Venenentzündung, die er +sich im Kriege zugezogen. + +Das Kämpferpathos Dehmels, das anfangs dem jungen Schiller nah ist, +bevorzugt die charakteristische vor der musikalischen Form. Jeder +Glätte in Bild, Rhythmus und Strophe setzt er herbe Eigenheiten +entgegen. Der vierzeiligen Strophe gibt er eine fünfte Zeile mit, ohne +Reim, von besonderem Rhythmus. Bild und Versform wirken oft geschmiedet +und gehämmert. Auch seine "impressionistischen" Naturbilder sind keine +nachgiebige Eindruckskunst, sind Umwandlung üblicher, erstarrter +Anschauungen in charakteristische, von innen bewegte Bilder. + +In der Herbheit der inneren und äußeren Form ist ihm Paul Zech (geb. +1881) verwandt. Soziales Ethos erfüllt und durchbebt sein +bäuerisch-westfälisches Blut. Einige seiner Väter schürften Kohle. Er +selber hat nach Vollendung seiner Studien in tiefster sozialer +Verbundenheit nicht nur als Dichter, sondern zwei Jahre auch als +Mensch, als Arbeiter, am Leben der Bergleute teilgenommen in Bottrop, +Radbod, Mons und Lens. In den Vers- und Novellenbüchern "Das schwarze +Revier", "Die eiserne Brücke", "Der schwarze Baal" zieht sein Ethos die +Machthaber, die Harthörigen und Verblendeten vor Gericht, Güte und +Menschlichkeit für alle zu fordern. Die Stoffwelt des jungen +Naturalismus kehrt wieder: Fabriken, Zechen, Sortiermädchen, Fräser, +aber durchseelt von einem Ethos und Pathos, das aus religiösen Tiefen, +aus Christi Herzen steigt und zur "Neuen Bergpredigt" berufen ist. +Dieser religiösen Menschheitsverbundenheit mußte der Weltkrieg, Welthaß +und -gemetzel, die Zech als ungedienter gemeiner Soldat in den +furchtbaren Kämpfen (Verdun und Somme) miterlebte, zum apokalyptischen +Grauen, zur Sünde wider den Heiligen Geist werden. Von den tausend +Kriegslyrikern hat Zech allein von Anfang an den Krieg in seiner +metaphysischen Bedeutung erlebt und gestaltet. Seine Gedichtbücher +"Golgatha" und "Das Terzett der Sterne" reißen den Krieg aus den +historisch-politischen Verknüpfungen vor das Angesicht Gottes. + + Ewig sind wir Kain. Unser Dasein heißt: vernichten! + Käme tausendmal noch Christi Wiederkehr: + Immer ständen Henker da, ihn hinzurichten. + Fluch der Welt ist, daß uns Abel kindlos starb. + +"Zweitausend Jahre noch nach Golgatha -- Göttliche Jugend blutig auf +der Bahre!" "Und immer neue Mütter stießen ihre Knaben -- In immer +helleren Scharen in das Feld -- Als wär vernarrt die ganze Welt -- Den +Mord hinfort als Hausaltar zu habe? -- ...Daß du, Gekreuzigter, nicht +von dem Holz -- Herabsprangst und mit Geißeln auf die Menge hiebst -- +Und klein zurück auf ihren Ursprung triebst." "Seit jenen Tagen braust +durch das verführte -- Geschlecht ein schriller Ton -- Wie ihn schon +einmal ausstieß der verlorene Sohn." Aber den wilden Lärm der +Schlachten überschwillt die Musik der Sterne, wenn im Dämmern der Nacht +Gott aus den Mauerflanken anderer Erden ein Orgelhaus erbaut; dann +lösen sich die erdengrauen Kämpfer aus Blut und Schlamm der +Schützengräben ins Licht und Lied der Sterne und singen mit dem +Brüderheer der Toten und den brausenden Stimmen der Wälder die große +Schöpferfuge: + + Zuletzt ist Gott nur noch alleine + Zuckender Puls im All... + Weit über Wind und Wassern hämmert seine + Urewigkeit wie Flügel von Metall. + +Ist Zechs Menschenglaube und -liebe von alttestamentlichem, +prophetischem Eifer der Klage, des Zorns, der Forderung, so ist Franz +Werfels (geb. 1890), des Pragers, Liebe zur Welt und Menschheit +weicher, inniger, mystischer. Er stellt des Laotse Wort vor seine +Gedichte: "Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf +Erden" und Dostojewskis Wort: "Was ist die Hölle! Ich glaube, sie ist +der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag." Immer tiefer +und reicher sprechen seine Gedichtsammlungen "Der Weltfreund", "Wir +sind", "Einander" "Der Gerichtstag" die Lebens- und Liebesverbundenheit +aller Kreaturen aus. Nur als Erscheinung sind wir getrennt, im Wesen +sind wir eins, eins in Gott. Noch im ärmlichsten Menschen, im +verachtetsten Tier und Ding ist Gott verborgen, ringt Gott nach +Offenbarung. Und diesen göttlichen Funken, diese göttliche Einheit +hinter aller getrennten Erscheinung, hinter Armut, Eiter und +Niedrigkeit zu suchen und zu lieben, ist unsere religiöse Aufgabe, ist +der Sinn unseres Lebens: "Wer sich noch nicht zerbrach -- Sich öffnend +jeder Schmach -- Ist Gottes noch nicht wach. -- Erst wenn der Mensch +zerging -- In jedem Tier und Ding -- Zu lieben er anfing." + +So fleht der Dichter aus der Dumpfheit und Einsamkeit irdischer +Gebundenheit: "O Herr, zerreiße mich!" so braust der Bittgesang der +neuen Menschheitsgemeinde: + + Komm, Heiliger Geist, du schöpferisch! + Den Marmor unserer Form zerbrich! + Daß nicht mehr Mauer krank und hart + Den Brunnen dieser Welt umstarrt, + Daß wir gemeinsam und nach oben + Wie Flammen ineinander toben! + -- -- -- -- Daß nicht mehr fern und unerreicht + Ein Wesen um das andere schleicht, + Daß jauchzend wir in Blick, Hand, Mund und Haaren + Und in uns selbst dein Attribut erfahren. + +Im Dichter wird dieses Gebet zuerst und zutiefst erfüllt: "In dieser +Welt der Gesandte, der Mittler, der Verschmähte zu sein, ist dein +Schicksal," kündet ihm der Erzengel -- "Daß dein Reich von dieser Welt +nicht von dieser Welt ist," diese Erkenntnis, "ist, o Dichter, dein +Geburtstag". Und so offenbart und erlöst der Dichter hinter der Welt +der Erscheinung die wahre Welt. Von der Welt der Armen, der +Dienstboten, der Sträflinge, der Droschkengäule, der Nattern, Kröten +und des Aases zieht er den täuschenden Schleier der Erscheinung und +offenbart das Geheimnis Gottes. Er will nichts sein als "Flug und +Botengang" des Ewigen, "eine streichelnde Hand", die allen +einsam-ängstenden Kreaturen von der göttlichen Wärme und Liebe +mitteilt. Nicht die "Eitelkeit des Worts" nur die Reinheit und Güte der +Seele gibt ihm die Macht zur Offenbarung und Erlösung: "Der gute +Mensch" ist der Befreier der Welt: + + Und wo er ist und sein Hände breitet... + Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung, + Und alle Dinge werden Gott und eins. + +Nicht die Erscheinung zu fliehen und vor der Zeit abzustreifen, sondern +die Erscheinung zu durchseelen, zu vergöttlichen, ist der Sinn der +Schöpfung, nachdem sie einmal im Sündenfall der Vereinzelung von Gott +abgefallen ist. In der Welt will Gott offenbart und erlöst werden. +Ergreifend spricht sich das im "Zwiegespräch an der Mauer des +Paradieses" aus, wo Adam, müde des Erscheinungswandels, zur alten +paradiesischen Einheit in Gott zurückverlangt und ihn anfleht: "Höre +auf, mich zu beginnen!", Gott aber weist ihn zurück in die Welt: + + Kind, wie ich dich mit meinem Blut erlöste, + So wart' ich weinend, daß du mich erlöst. + +Werfel ist ursprünglich, innig, oft franziskanisch-kindlich in seiner +Religiosität; gerade, sicher und sehnend wächst seine Dichtung zum +Himmel auf, wie ein gotischer Turm (erst im "Gerichtstag" gewinnt die +Reflexion zersetzend Macht). Rainer Maria Rilkes, des älteren Pragers +(geb. 1875), religiöse Lyrik ist mehr die Zierart am Turm, die Fülle +und Unruhe der gotischen Skulpturen, der Heiligen, Tiere und Ornamente. +Sie hat keine ursprüngliche, eigenmächtige Strebe- und Baukraft. Rilke +ist der Ausgang eines alten Kärntner Adelsgeschlechtes, verfeinert, +müde, heimatlos. In steten Reisen wechselte er zwischen Wien, München, +Berlin, Rußland, Paris, Italien. Er lebt wie seine Gestalten "am Leben +hin" nicht ins Leben hinein, durchs Leben hindurch. Die tiefsten +Offenbarungen gibt ihm nicht das unmittelbare Leben, sondern das +mittelbare: die Kunst. Erst in den Worpsweder Malern und ihrer +Atmosphäre wird ihm die seelische Bedeutung der Landschaft, erst in der +Kunst und dem Künstler Rodin die religiöse Bedeutung des Menschen +Erlebnis. Rodin, bekennt er, habe ihn "alles gelehrt, was ich vorher +noch nicht wußte, geöffnet durch sein stilles, in unendlicher Tiefe vor +sich gehendes Dasein, durch seine sichere, durch nichts erschütterte +Einsamkeit, durch sein großes Versammeltsein um sich selbst". Sein Buch +über Rodin ist wohl sein tiefstes und reichstes Werk. Wie Rodin, der +Gotiker unter dem Bildnern, den menschlichen Körper auflöst in Seele, +so löst Rilkes "Stundenbuch" mit den drei Büchern "Vom mönchischen +Leben", "Von der Pilgerschaft" "Von der Armut und vom Tode" die Körper +und Dinge in Gott. "Es gab eine Zeit, wo die Menschen Gott im Himmel +begruben... Aber ein neuer Glaube begann... Der Gott, der uns aus den +Himmeln entfloh, aus der Erde wird er uns wiederkommen." So offenbart +Rilke Gott in den Kindern, den Mädchen, dem Volk, den Armen, den +Bauern, der Landschaft, und mehr als in den Menschen in den Dingen: +"Weil sie, die Gott am Herzen hingen -- Nicht von ihm fortgegangen +sind." Aber diese Offenbarung wächst nicht wie bei Werfel aus +unmittelbarem Lebensanteil und -zwiespalt und heiliger Gewißheit, sie +wächst aus der Sehnsucht des heimatlosen Zuschauers und Künstlers und +aus dem Wissen um viele religiöse Vorstellungen und Symbole. Ein +russischer Mönch ist der Träger und Schreiber des Stundenbuches, und +der ganze Stimmungsreichtum russischer Klöster, Kuppeln, Ikone, +Gossudars wird genutzt. Anderen religiösen Gedichtzyklen, wie den +"Engelliedern" und den "Liedern der Mädchen an Maria" werden +präraffaelitische Erinnerungen zu Stimmungsträgern. Und die "Neuen +Gedichte", die in der Fülle ihrer Bilder die Beziehungen der +individuellen Erscheinungen zu den letzten Prozessen und Formen des +Daseins gestalten wollen, tun dies nicht aus der drängenden Einheit und +Tiefe eines ursprünglichen Weltgefühls, sondern im seelischen oder +gedanklichen Umkreisen eines Themas. Oft gestaltete, künstlerisch schon +reizvoll umspielte Themen locken Rilke besonders: Abisag, David vor +Saul, Pieta, Sankt Sebastian, Orpheus und Eurydike, Alkestis, Geburt +der Venus, Eranna an Sappho usw. In diesen Lebensbildern sucht und +schafft die Seele sich Heimat, der das Leben selber sich verschließt. +Und sie bringt ihnen all ihre menschliche und künstlerische +Feinfühligkeit und Bewußtheit als Gastgeschenk. Frühzeitig hat Rilke +sich seinen Sprachstil geschaffen von solcher Eigenheit, daß er die +Grenze der Manier streift. Unscheinbare Worte weiß er neu zu beseelen, +verbrauchte Bilder auf ihren Ursinn zurückzuführen, Gleichnisse preziös +auszubauen. Durch Assonanz, Binnenreim und Häufung des Endreims weiß er +der Sprache eine slawische Weichheit und Klangfülle zu geben. Im +letzten Gedichtbuch, der "Neuen Gedichte zweiter Teil", gewinnt jedoch +das Artistische bedenklich Raum. + +Die Neigung zur Mystik ist Gefahr und Flucht für eine Zeit, die die +Form der Persönlichkeit wiedergewinnen, nicht aufgeben soll. Nicht +ichflüchtig, sondern im tiefsten ichsüchtig mußte der Lyriker werden, +der zur Form der neuen Lyrik: zur Form des neuen Menschen vordringen +wollte. Und wenn niemand durch die Zeit hindurch zu ihr drang, wenn +selbst Richard Dehmel, dem stärksten Bildner, deren zersetzte Elemente +bröckelnd in den Händen blieben, so konnte nur der die reine Form der +Persönlichkeit, des neuen Menschen bilden, der es von Anfang an außer +der Zeit und gegen de Zeit unternahm. So ist die Persönlichkeit und +Dichtung Stefan Georges (geb. 1866) Form geworden. + +Der Wille zur Form war das Wesengesetz Georges von früh auf. Er selbst +weist darauf hin, daß ihm die Formkräfte des römischen Imperiums, des +Katholizismus, der rheinischen Landschaft im Blute mitgegeben seien. +Zuerst wurde dieser Formwille ästhetisch seiner bewußt. Die "Blätter +für die Kunst" die er 1892 gegründet, förderten -- beeinflußt von den +Präraffaeliten und von französischen Lyrikern, wie Baudelaire, +Verlaine, Mallarmé, Villiers -- eine "Kunst für die Kunst", sahen "in +jedem Ereignis, jedem Zeitalter nur ein Mittel künstlerischer +Erregung". Aber hinter diesem Willen zur ästhetischen Form rang und +schuf bei George -- nicht bei seinen Mitläufern -- der Wille zu Lebens- +und Wesensformen. Und weil er diese in der eigenen Zeit nicht fand, +weil aus deren zersetzten Elementen auch keine reinen Formen zu bilden +waren, floh seine Seele "vorübergehend in andere Zeiten und +Örtlichkeiten", um dort die Urformen des Menschentums in ihrer Reinheit +wieder zu suchen und bildhaft zu erneuern. In Algabal, dem römischen +Priesterkaiser, fand er sein antikes Gegenbild: den Jüngling, den es +verlangte, unabhängig von einer zergehenden Um- und Außenwelt ein Leben +und Reich reiner Schönheit, reiner Formen zu schaffen: + + Schöpfung, wo nur er geweckt und verwaltet, + Wo außer dem seinen keine Wille schaltet, + Und so er dem Wind und dem Wetter gebeut. + +Der Schatten Ludwigs II. weht durch diese Strophen. Aber an der +Vermessenheit des Einsam-Überheblichen zerbricht diese Welt. Aus dem +Abseits und der Vereinzelung spätrömischen Herrschertums fliehen die +"Hirtengedichte" in die mythisch geläuterten Urformen naturhaft schönen +und reinen Menschentums, wie sie die Griechen zuerst gewahrt und +gebildet haben. Hier beginnt die tiefe Wesensverwandtschaft Georges mit +der Antike deutlich zu wurden. Das Christentum hatte in seiner +Weltflüchtigkeit, seiner metaphysischen Sehnsucht und Wertung +formsprengende Elemente in sich aufgenommen; nur im südlichen und +rheinischen Katholizismus waren Himmel und Erde in Lebensfreude und +Bildhaftigkeit eins geblieben. Georges reinem Formenwillen konnte nur +eine antikische Weltanschauung genugtun, in der Gott und Welt, Seele +und Leib sich restlos durchdrangen, und in der Schönheit der Gestalt +zur vollkommenen Form gelangen. "Den Leib vergotten und den Gott +verleiben", das war ihm der Sinn alles Weltgeschehens, darin Natur und +Kunst sich trafen. Für diese religiöse Aufgabe bedurfte die Dichtung +einer vollen Erneuerung ihrer Formsubstanz: der Sprache. Und von Anfang +an hatte George sich darum gemüht, die epigonenhaft verbrauchten +Elemente der deutschen Sprache neu zu schaffen. Er war in den Geist und +Klang von sieben fremden Sprachen eingedrungen. In unermüdlichen +Übersetzungen hatte er die deutsche Sprache bereichert, durchglüht und +gehämmert. Im "Algabal" war ihm die Sprache ganz zu eigen geworden; es +waren keine übernommenen und verbrauchten Elemente mehr in ihr, sie war +wieder ursprünglich, war imstande, seinen neuen reinen. Wesens- und +Lebensformen in reiner Sprachform Gehalt zu geben. + +Nun war George stark genug, von seiner Flucht in die Welt der +Geschichte zurückzukehren, nicht mehr Urbilder vergangener Zeiten zu +erneuern, sondern Urkräfte zu bannen. Im "Jahr der Seele" (1897) +offenbart er Urformen der Natur. + +Die Natur ist ihm kein Gegensatz zum Geist oder zur Seele, ist ihm die +Lebenseinheit beider, ursprünglich und ewig wie die Antike, die keine +entgötterte und entseelte Natur kannte. So erschienen im "Jahr der +Seele" die Urformen der Natur, die Jahreszeiten, in Bildern von +räumlicher Gegenständlichkeit und Farbigkeit und zugleich tiefster +Seelenhaftigkeit. Die Seele sucht hier nicht -- wie bei Goethe -- die +Natur, um an ihr sich zu finden und auszusprechen; beide sprechen sich +in ursprünglicher, kosmischer Einheit aus. Urformen der Natur +offenbaren sich als Urformen der Seele, Urformen der Seele als Urformen +der Landschaft. So sind es keine Stimmungs-, sondern Schicksalsbilder, +die diese Gedichte schaffen. Die Fülle des Herbsttags hebt an, die +reife Ernteruhe und -klarheit, der Friede der Erfüllung, den doch der +Vers Hebbels schon ahnend durchschauert: "So weit im Leben ist zu nah +am Tod." Wie sind Seele und Landschaft eins in solchem Gedicht: + + Wir schreiten auf und ab im reichen Flitter + Des Buchenganges beinah bis zum Tore + Und sehen außen in dem Feld von Gitter + Den Mandelbaum zum zweitenmal im Flore. + + Wir suchen nach den schattenfreien Bänken, + Dort, wo uns niemals fremde Stimmen scheuchten, + In Träumen unsre Arme sich verschränken, + Wir laben uns am langen, milden Leuchten. + + Wir fühlen dankbar, wie zu leisem Brausen + Von Wipfeln Strahlenspuren aus uns tropfen, + Und blicken nur und horchen, wenn in Pausen + Die reifen Früchte an den Boden klopfen. + +Erst nachdem George die Urformen der Geschichte und der Natur erlebt, +erneuert und gebannt, ist er geläutert und gestählt zur Weihe der +Berufung. Jetzt erscheint ihm der Engel des "Vorspiels": "Das schöne +Leben sendet mich an Dich -- Als Boten." Der Geist des Lebens erscheint +ihm jetzt, des "schönen Lebens", dem alles Dasein reine Einheit ist und +klare Form. Der hebt ihn zu sich auf die heilige Höhe der Sendung. Die +reinen Formen, die er bisher nur erfahren und erneuert -- jetzt darf er +sie am Urquell mit schauen und -schaffen; ein Leben der Weihe wartet +seiner, in dem jede Stunde sich sinnvoll einordnen, schöpferisch +rechtfertigen will. Aber die Gnade der Berufung fordert das Opfer, die +Hingabe, den ausschließlichen Dienst des Berufenen. Aus irdischem Glück +und menschlicher Wärme schreitet er zur Gipfelhöhe, Gipfeleinsamkeit, +Gipfeleisigkeit. + +"Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten +Geheiß, das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens +zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und +keinen, sondern aus dem einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich, +dann gilt es dadurch den anderen; und was ihn ruft, weckt auf die +Ohren, die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte +und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. S i c h +gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und +das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eigenen +Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des +Lebens... und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form +fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er, was an der Zeit +war. Dantes Gesetz hieß: Schaue i Gott... Goethes: Werde Welt... +Georges: Gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten +dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis +zur Vollendung." (Gundolf.) + +Erst der also Geweihte vermag aus dem Geist des Lebens den "Teppich des +Lebens" (1900) zu zeichnen: die geistigen Urbilder des Menschentums in +Natur und Geschichte, "das Kräftereich europäisch-deutscher +Menschenbildung in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen +Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genius". (Gundolf.) Wie +"ein Epos des Erdgeistes" beginnt die Reihe mit dem mütterlichen Grunde +alles Menschentums, der "Urlandschaft", in der Mensch, Tier und Erde +noch unbewußt und einig sind: "Erzvater grub, Erzmutter molk, -- Das +Schicksal nährend für ein ganzes Volk." + +Zum erstenmal in dieser epischen Bilderfolge taucht in Georges Werk das +Volk als Urform des Menschentums auf und als Urform seines Menschentums +das deutsche Volk. Im Vorspiel hatte der Geist des Lebens ihn aus den +magischen Landschaften des Südens zu "den einfachen Gefilden", der +"strengen Linienkunst" der heimischen, rheinischen Landschaft geführt: + + Schon lockt nicht mehr das Wunder der Lagunen, + Das allumworbene, trümmergroße Rom, + Wie herber Eichen Duft und Rebenblüten, + Wie sie, die deines Volkes Hort behüten -- + Wie deine Wogen -- lebensgrüner Strom! + +Jetzt ist ihm das Volk als Urform deutlich geworden, die ihn selber +umfaßt, die Wesens- und Geschichtskräfte des deutschen Volkes. Seine +Sendung ist zur deutschen Sendung geworden: Indem er die reinen Kräfte +des deutschen Volkes in sich zur Gestalt bildet, wird er auch der +Bildner seines Volkes sein. -- -- + +"Den Leib vergotten und den Gott verleiben": die Einheit von Welt und +Gott, Natur und Geist, Leib und Seele war Georges Weltanschauung und +-aufgabe. Sie sollte und mußte er erleben, erschauen, erschaffen. Das +höchste Symbol dieser Einheit ist der Gott-Mensch. Und wenn je die +Menschheit dieses Symbols bedurfte zu ihrer Vollendung -- George konnte +sich nicht begnügen, seine Weltanschauung in zerstreuten Bildern zu +schauen und zu schaffen; sie mußte sich ihm in einer Gestalt +verdichten. Das war die höchste Möglichkeit seiner Weltanschauung. Und +seinem Formsehnen und -willen war die höchste Möglichkeit auch die +höchste Notwendigkeit. So schaute und schuf er in Maximin, der +geliebten Gestalt eines schönen, früh gestorbenen Jünglings und +Jüngers, das Bild des Gott-Menschen, darin die Welt vollkommen ward. + +"Wir gingen", heißt es in Georges Maximin-Rede, "einer entstellten und +erkalteten Menschheit entgegen, die sich mit ihren vielspältigen +Eingenschaften und verästelten Empfindungen brüstete, indessen die +große Tat und die große Liebe am Entschwinden war. Massen schufen Gebot +und Regel und erstickten mit dem Lug flacher Auslegung die Zungen der +Rufer, die ehemals der Mord gelinder beseitigte: unreine Hände wühlten +in eincm Haufen von Flitterstücken, worein die wahren Edelsteine +wahllos geworten wurden. Zerlegender Dünkel verdeckte ratlose Ohnmacht, +und dreistes Lachen verkündete den Untergang des Heiligtums." Da +erschien in Maximin der göttlich einfsch schöne Mensch, "Einer, der von +den einfachen Geschehnissen ergriffen wurde und uns die Dinge zeigte, +wie die Augen der Götter sie sehen." In ihm ward der erstarrten Zeit +der Erlöser: + + Die starre Erde pocht, + Neu durch ein heilig Herz. + +Die Gedichte auf das Leben und den Tod Maximins, seine Feier, +Verklärung und Wirkung bilden die Gipfelhöhe des "Siebenten Rings" +(1907). Von ihr aus sind die "Gestalten" geschaut, der zweite Zyklus +des Werkes, "der Aufruf der letzten gotteshaltigen oder +gottesmörderischen Urwesen zur Wende der Gesamtmenschheit". (Gundolf.) +Im Vor- und Aufblick zu ihr ist in den "Zeitgedichten" die Gegenwart zu +Gericht gerufen, verworfen in ihrer Fäulnis und Finsternis, gesegnet in +den einsam ragenden Lichtgestalten, den Vorbildern: Nietzsche, Böcklin, +Leo XIII., denen Dante, Goethe, Karl August, die alten deutschen Kaiser +sich in ewiger Lebendigkeit zugesellen: Urformen höheren Menschentums, +wie Held und Herrscher, Priester, Seher und Dichter usw. Hier wird +George Gewissen und Stimme der Zeit. + +Im "Stern des Bundes" (1914) wird die Zeitschau, die in den +"Zeitgedichten" nur aus der Ahnung des Göttlichen geschah, aus seinem +Schauen und Wissen gegeben. Hier wächst George zum gewaltigen Richter +und Propheten der Zeit empor. Ein paar Monate vor Beginn des +Weltkrieges hat er hier aus heiligen Höhen den chaotischen Untergang +der zersetzten Zeit gesichtet und gerichtet: + + Aus Purpurgluten sprach des Himmels Zorn: + Mein Blick ist abgewandt von diesem Volk. + Siech ist der Geist! Tot ist die Tat! + +In einer ungeheuren Vision sieht und hört er in gewitternden Lüften +schreitende Scharen, klirrende Waffen, jubelnd drohende Rufe: den +"letzten Aufruf der Götter über diesem Land". Er sieht den maß- und +haltlosen Bau der Zeit wanken und zusammenstürzen. Er fühlt die +furchtbare Gewißheit: + + Zehntausend muß der heilige Wahnsinn schlagen, + Zehntausend muß die heilige Sache raffen, + Zehntausende der heilige Krieg. + +Er hört sein Prophetenwort, seinen Schrei zur Umkehr verhallen, als +wäre nichts geschehen. Und im letzten, flammenden Gesicht sieht er den +Herrn des Gerichtes: + + Weltabend lohte...wieder ging der Herr + Hinein zur reichen Stadt mit Tor und Tempel, + Er arm, verlacht, der all dies stürzen wird, + Er wußte: kein gefügter Stein darf stehn, + Wenn nicht der Grund, das Ganze sinken soll. + Die sich bestritten, nach dem Gleichen trachtend: + Unzahl von Händen rührte sich und Unzahl + Gewichtiger Worte fiel und eins war not. + Weltabend lohte...rings war Spiel und Sang, + Sie alle sahen rechts -- nur er sah links. + +Und als die Vision Wahrheit geworden, das Weltverhängnis +niedergebrocben war, als immer noch "In beiden Lagern kein Gedanke -- +Wittrung -- Um was es geht", als aller Augen immer noch nur das +strategische Hin und Her anstarrten, da kündete er in seinem Gedicht +"Der Krieg" (1917): + + Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr. + Erkrankte Welten fiebern sich zu Ende + In dem Getob. + -- -- -- + Zu jubeln ziemt nicht: kein Triumpf wird sein. + Nur viele Untergänge ohne Würde. + -- -- -- + Keiner, der heute ruft und meint zu führen, + Merkt, wie er tastet im Verhängnis, keiner + Erspäht ein blasses Glüh'n vom Morgenrot. + Weit minder wundert es, daß so viel sterben, + Als daß so viel zu leben wagt. + -- -- -- + Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot sind. + +Aber eben weil George von heiligen Höhen über die Zeit hinwegsah, sah +er auch weiter, über den Zerfall und Untergang hinaus, mündete sein +Kassandraruf in die heilig-liebende deutsche Verheißung: + + Doch endet nicht mit Fluch der Sang. Manch Ohr + Verstand schon meinen Preis auf Stoff und Stamm, + Auf Kern und Keim...schon seh' ich manche Hände + Entgegen mit gestreckt, sag' ich: O Land, + Zu schön, als daß ich dich fremder Tritt verheere: + Wo Flöte aus dem Weidicht töne, aus Halmen + Windharfen rauschen, wo der Traum noch webt + Untilgbar durch die jeweils trünnigen Erben... + Wo die allbühende Mutter der verwildert + Zerfallnen weißen Art zuerst enthüllte + Ihr echtes Antlitz...Land, dem viel Verheißung + Noch innewohnt -- das drum nicht untergeht, -- -- -- + Die ruft die Götter auf. + +Der "Geist der heiligen Jugend unseres Volkes", der -- in Maximin +göttliche Gestalt geworden -- schon im "Stern des Bundes" verkündet und +in Lehre und Liebe dort unterwiesen war, wird in Frommheit und Würde, +Zucht und Opfer, Größe und Schöne die zerfallene Welt erneuern. + +Als einziger einer zersetzten Zeit hat Stefan George seine Wesenheit in +Leben und Lyrik zur reinen Form geläutert, urbildlich erhöht und +vollkommen gestaltet. Mag das Gesetz seines Wesens wenigen gemäß sein +-- er ragt in die Zeit als Standbild des in sich Vollendeten, ein +Vorbild jedem, das Gesetz seines eigenen Wesens zu ergründen, zu leben, +zu formen und im eigenen göttlichen Keim die Kraft Gottes im +entgötterten Europa zu befreien. + + + + +DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART +VON PAUL BEKKER + +Was ist das: deutsche Musik? Fragt man einen Franzosen nach +französischer, einen Italiener nach italienischer, selbst den Engländer +nach englischer, den Amerikaner nach amerikanischer Musik, so wird die +Antwort ohne jegliches Zaudern und Besinnen folgen. Der Russe wird +vielleicht einige Unterscheidungen machen zwischen rein nationaler und +aus westeuropäischen Quellen befruchteter Kunst, aber auch er wird +nicht zögern, etwa Tschaikowski trotz dessen Abhängigkeit von +außernationalen Anregungen als Vertreter russischer Musik anzusprechen. +Und nun stelle man vielleicht in einer deutschen Musikzeitschrift die +Frage: Was ist deutsche Musik, welches sind ihre Vertreter! Man wird +ebensoviel einander widersprechende Antworten erhalten, wie die Erde +Nationalitäten zählt. Unter den Lebenden zum mindesten ist kaum einer, +dessen Musik von allen Seiten als einwandfrei "deutsch" anerkannt +würde. Strauß, der den deutschen Namen am stärksten nach außen getragen +hat, wird von den Bayreuther Siegelbewahrern in einem beträchtlichen +Teil seines Schaffens als "undeutsch" abgelehnt, Pfitzners Musik wurde +während des Krieges von Berlin aus als "undeutsch, weil zukunftsarm" +gekennzeichnet, Reger gilt als verworren, Mahler und Schönberg sind +Juden, also nicht diskussionsfähig, von Schreker in solchem +Zusammenhange auch nur zu sprechen, wäre Lästerung. Jeder dieser +Komponisten hat seine eigene Anhängergruppe, ihre Hauptaufgabe ist, die +Minderwertigkeit der anderen ihrem Idol gegenüber festzustellen, und +die Worte "deutsch" und "undeutsch" spielen dabei die ausschlaggebende +Rolle. + +Man könnte sagen, daß eine Nation, die nicht vermag, verschiedenartige +individuelle Eigenschaften ihrer eigenen Schöpferpersönlichkeiten in +ihren Kulturbezirk einzuordnen, sehr enggefaßte Begriffe von ihren +eigenen Fähigkeiten haben muß. Man sieht schließlich, daß auf diesem +Wege eine Erkenntnis überhaupt nicht möglich ist, daß es sich vielmehr +bei solchen Streitereien um einen schmählichen Mißbrauch des Wortes und +Begriffes "deutsch" handelt. Eine Zusammenfassung, eine Einigung aller +verschiedenartigen, aus einem Stamme erwachsenen Erscheinungen sollte +es sein, ein trennendes Kampfmittel subjektiv kritischer Wertung ist es +gegenwärtig geworden. Gegen solche Mißdeutung eines kulturellen +Sammelbegriffes zu einseitig parteiischer Nutzanwendung ist von +vornherein Einspruch zu erheben, wenn ernsthaft und sachlich von +deutscher Musik gesprochen werden soll. Als deutsch gilt uns nicht +diese oder jene subjektive Eigenheit des Künstlers, diese oder jene +stilkritische Beschaffenheit des Werkes, auch nicht Gesinnung oder gar +Tendenz des Schaffens. Als deutsch gilt uns alles, was dem Kreise der +deutschen Kultur entwachsen ist, in ihm seinen geistigen Nährboden +gefunden, ihm eigene Früchte zugetragen hat und so seiner Erscheinung +in der Welt neue Geltung, neue Form gewinnt. Dieser Begriff des +Deutschtums ist nichts unveränderlich Feststehendes, kein gegebenes +Maß, dem alles unterworfen wird. Es ist ein stetig Wechselndes. Eben an +dieser Fähigkeit des Wechselns der Erscheinung offenbart sich die +innere Produktionskraft der nationalen Kultur. Wie das Deutschtum +Luthers ein anderes war als das Goethes und dieses wieder ein anderes +als das Wagners oder Bismarcks, und jede dieser großen Kundgebungen +deutschen Geistes verzerrt würde, wollte man sie mit dem Maß der +anderen messen, so gilt auch für unsere Zeit keine Norm, sondern +zunächst nur der Wert der Erscheinungen. Erst aus aufmerksamer +Betrachtung ihrer Vielfältigkeit und vorurteilsfreier Zusammenfassung +aller Strömungen vermögen wir das Deutschtum der Gegenwart zu erkennen, +über sein Wollen und Können Klarheit zu gewinnen. + +Der Franzose, der Italiener, der Engländer weiß dies, der Deutsche muß +es noch lernen. Daß wir gegenwärtig gerade in der Musik im Kampfe +miteinander stehen um diese Grundkenntnis, ist ein bedeutsamer Zug +unseres kulturellen Lebens. Es mag hier unerörtert bleiben, wie weit +politische Erbitterung zu solcher Trennung der Geister beigetragen hat, +obschon die Tatsache, daß politische Momente überhaupt auf +künstlerische Fragen Einfluß gewinnen konnten, als Symptom bedeutsam +erscheint. In Wirklichkeit ist die politische Abirrung nur +Begleiterscheinung eines Kunstlebens, das nach irgendwelchen geistigen +Richtpunkten sucht, weil es sich von seinen natürlichen Nährquellen +abgeschnitten fühlt, weil es den tiefen ethischen Antrieb des +Kunstwillens verloren hat. Dieser Antrieb kommt aus dem Volk, aus dem +Verlangen nach Formung der schöpferischen Kräfte des Volkes im Symbol +des Kunstwerkes. Solche Formung geschah, als Bach die Matthäuspassion, +als Mozart die Zauberflöte, als Beethoven seine Sinfonien schrieb. Aus +dem Wunsch nach solchem Einklang von Volk und Künstler träumte sich der +Romantiker Wagner in den Mythos der Vorzeit zurück, baute er Bayreuth, +um dort sein "Volk" zu sammeln. Dieses Bayreuth an sich war schon ein +Zeichen, daß die Gesamtheit des Volkes nicht so auf den Künstler hörte, +wie er es wünschte, daß es ihn in wesentlichem mißverstand und er, um +sich nach seinem Willen vernehmbar zu machen, eine Auslese aufrufen +mußte. Rastlose Sehnsucht und gewaltige Tatkraft ermöglichten das +Gelingen, das Kunstwerk wurde noch einmal zur Darstellung stärksten +geistigen Gemeinschaftslebens, nicht mehr aus naiver Unbewußtheit, aber +doch in imposanter Willensspannung und ohne Inanspruchnahme +außerkünstlerischer Mittel. Seit dieser letzten zusammenfassenden Tat +aber ist der Riß zwischen Volksgemeinschaft und Künstler scheinbar +unüberbrückbar geworden. Die heutige Verwirrung der Geister, der Streit +um deutsche und undeutsche Musik, der Versuch, die Teilnahme an der +Kunst durch Entfachung politischer Leidenschaften zu steigern, ist +nichts als Bekenntnis der Ohnmacht, durch die Kunst selbst unmittelbar +an die Seele des Volkes zu gelangen. Statt des Volkes, statt der +Gemeinschaft bietet sich dem Musiker die Öffentlichkeit. Sie ist nicht +imstande, aus sich heraus Impulse zu geben, sie ist nichts als eine +Verbrauchsgenossenschaft. Sie verlangt interessiert zu werden, die +Wertung besorgt eine eigens dafür bestellte Fachkritik in den +Sprechorganen der Öffentlichkeit: den Zeitungen. So ist die Musik aus +einer Gemeinschafts-eine Fachangelegenheit geworden, für die nur der +fachlich Interessierte verpflichtende Teilnahme hegt. So wird die +Basis, auf der das Werk des Künstlers ruht, verhängnisvoll eingeengt +und gleichzeitig das von seinen Musikern verlassene Volk zur +Befriedigung seines Musikverlangens dem Gassenhauer zugedrängt. + +Man muß, um einen Blickpunkt für das Gesamtbild der heutigen deutschen +Musik zu gewinnen, sich dieser Lage bewußt werden. Es kommt zunächst +nicht darauf an, zu untersuchen, welche Ursachen dieses Ergebnis +herbeiführten. Es kommt darauf an, den Sachverhalt selbst deutlich zu +erkennen. Erst von dieser Erkenntnis aus ist es möglich, die heut +tätigen Kräfte richtig zu sehen und zu werten, ohne dabei dem +persönlichen Geschmacksurteil die Entscheidung zu überlassen. Dieses +ist hier Nebensache. Eine Bestandaufnahme der gegenwärtigen +schöpferischen Kräfte, eine Aussage über "deutsche Musik der Gegenwart" +kann nicht die Aufzählung einer Reihe subjektiver Meinungsäußerungen +über einzelne namhafte Komponisten erstreben. Sie muß fragen: Wie steht +die heutige Musik zu unserem Volkstum, welchen Beitrag bietet sie zum +Kulturleben der Nation und damit der Menschheit? Wo und wie lebt in der +Musikerschaft der Drang, über die spezialisierte Fachkunst hinaus zur +prophetischen Erfassung und Deutung seelischer Grundkräfte, über die +Wirkung auf die Öffentlichkeit hinweg wieder zum Organ des Volkes, zur +Künderin von Gemeinschaftsideen emporzuwachsen? + +Wie aber ist das Kriterium hierfür zu finden? Wollte man sämtliche +deutsche Komponisten und Musikästhetiker der Gegenwart befragen, ob +ihnen nicht ein solches Ziel als erstrebenswert gilt und vorschwebt, so +würde die Antwort zweifellos von allen Seiten bedingungslos bejahend +lauten. Und dies trotz der tiefgreifenden Wesensverschiedenheiten von +Menschen, die einander hassen, verfolgen, verächtlich machen. So +verheerend wirkt im Deutschen das Subjektivistische der romantischen +Lebens- und Weltidee, daß kein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, +keine Erkenntnis des Gemeinschaftszieles die Begrenztheit des +Individuellen zu überwinden, die Notwendigkeit verschieden gerichteter +Willenskräfte achten zu lehren vermag. In dieser Unfähigkeit, die +Möglichkeit mehrerer gleichzeitiger und doch gegensätzlicher Lösungen +einzusehen, liegt eine verhängnisvolle Erschwerung der Annäherung von +Künstler und Volk. Sie treibt den Schaffenden naturgemäß zu immer +stärkerer Betonung persönlicher Einseitigkeit, sie verengt seinen +Blick, sie läßt ihn den Begriff des Volkes nicht in der vollen +Erfassung aller Kräfte, aller Lebensenergien, sondern in bewußt +einseitiger Betonung individueller Wünsche, in gewollt ausschließlicher +Hervorhebung besonderer Absichten suchen. Diese fanatische Übertreibung +des Subjektivistischen, diese Verkennung der natürlichen Bedingtheiten +des Persönlichen ist die Hauptursache nicht nur der gegenwärtigen +Zersplitterung der Kräfte, auch der Entfremdung der Kunst gegenüber dem +Volke, ihrer allmählichen Entwurzelung. Die Masse hat im Grunde kein +Verständnis, sie hat -- mit Recht -- auch keine Teilnahme für die +Kämpfe, die ausgefochten werden um Spezialfragen und über die nur die +Studierten mitreden können. Das Volk fragt ebensowenig nach den +Prinzipien der Kunstauffassungen, wie es nach dogmatischen Einzelheiten +der Religionen fragt. Es hängt der Religion an, die ihm Botschaft +bringt vom Übersinnlichen, es verlangt nach der Musik, die an seine +Seele greift und seinem Geiste Aufschwung gibt. Das Theologengezänk +aber der "Richtungen" ist ihm gleichgültig, und wenn solches übergreift +auf die Produktion, macht es ihm diese verächtlich. Was nützt +demgegenüber der gute Wille, die wohlmeinende Absicht der Künstler, die +bekehren und demonstrieren wollen, statt glauben zu machen! Ihr Eifer +ist nicht rein, denn es steht der Ehrgeiz der Propagandisten dahinter, +ihre Kunst ist nicht überzeugend, denn ihr fehlt die Naivität des +Absichtslosen. + +Diese Naivität, diese Absichtslosigkeit, diese vorbehaltlose +Überzeugungskraft des Naturnotwendigen ist das Kriterium für die +Bedeutung des Kunstwerkes, für die Echtheit des Schöpferwillens. Erst +oberhalb solcher Voraussetzungen kann subjektive Wertung beginnen, die +dann Frage des Geschmackes ist, an die entscheidenden Grundbedingungen +aber nicht rührt. Wenn wir die Kräfte der Gegenwart erforschen wollen +auf ihr Verhältnis zum Volkstum, auf ihre Fähigkeit prophetischer +Deutung seelischer Grundkräfte, auf ihre Berufung zur Kündung von +Gemeinschaftsideen, so werden wir nicht nach ihrem ästhetischen +Programm fragen, nicht nach ihren erzieherischen Tendenzen, auch nicht +nach ihren stilkritischen Kennzeichen. Wir werden fragen, wo und wie +sich über diese persönlichen Merkmale hinaus ein schöpferischer Urtrieb +betätigt, der, alles willensmäßig Bewußte weit hinter sich lassend, aus +tiefstem Zwang des Müssens in absichtsloser Wahrhaftigkeit schafft und +dadurch zum Wecker elementarer Gefühlskräfte wird. Was solcher +Fragestellung standzuhalten vermag aus dem großen Bereich deutschen +Kulturgebiete, das ist deutsch, und das vermag entscheidende Auskunft +zu geben darüber, wie sich deutscher Geist der Gegenwart in der Musik +darstellt. + +Religiöse Grundlagen sind die einfachsten, für die Erfassung +weitreichender Wirkungen sichersten Stützen des Kunstwerkes. Sie +umspannen Ideenkomplexe, die jeder ernsthaften Natur vertraut und +zugänglich sind, mit denen zu beschäftigen immer das Verlangen der +besten Menschen ist, und die zudem allen Graden persönlicher Bildung +zugänglich sind. Zeiten, in denen die Kirche den religiösen Drang zu +befriedigen und in lebendige Kultformen zu fassen wußte, sind daher für +jede Kunst, insbesondere für die Musik, stets Zeiten der Hochblüte +gewesen. Der Gregorianische Choral, das Werk der Niederländer, der +alten Italiener mit Palestrina, in Deutschland der protestantische +Choral, die Zeit der großen Kirchenkomponisten bis Bach sind Denkmäler +dieses Zusammenwirkens von Kirche und Kunst. Die unabmeßbare Kraft der +Musik Bachs beruht zum nicht geringen Teil darauf, daß in ihr kirchlich +religiöse Kultformen Grundriß, Aufbau und innere Führung der +künstlerischen Schöpfung mitbestimmt haben. Gewiß ist es richtig, das +einzig das Genie Bachs eine solche Steigerung der gegebenen Kultformen +ermöglicht hat, denn zahllose andere Musiker, die sich vor, neben und +nach ihm ähnlich betätigten, sind heut vergessen. Gewiß ist es +ebenfalls richtig, daß wir heut auch Bachs kirchliche Musik nicht mehr +aus der Gefühlseinstellung der konfessionell gläubigen Gemeinde +aufnehmen. Aber weder die Erkenntnis der Einzigartigkeit von Bachs +Genie, noch der Hinfälligkeit der für ihn grundlegenden Kultformen +verringert die Bedeutung der Tatsache, daß hier Genie und Kultus in +gegenseitiger Durchdringung zu einem zeitlosen Ganzen emporgewachsen +sind. So unrichtig es wäre, Bach in seinen Passionen, Kantaten, Messen, +Chorälen, Motetten etwa nur als Interpreten kirchlicher Formideen +anzusehen, so falsch wäre es, die lebenspendende Kraft dieser Formen zu +unterschätzen und die Dauer dieser Werke ausschließlich als subjektive +Leistung Bachs anzusehen. Hier hatte ein starkes Gemeinschaftsgefühl +aus der Kultur einer Zeit Voraussetzungen geschaffen, die nun der große +Künstler erst recht erkannte und bis auf ihre höchste Tragkraft zu +überbauen wußte. + +Den Menschen der nachfolgenden Zeit fehlte diese feste Bindung. Wohl +blieb das religiöse Verlangen, aber die vereinheitlichende +Zusammenfassung durch die Kirche, die lebendige kultische Form ging +verloren. An Stelle der kirchlich gläubigen Erfassung religiöser Werte +trat unter dem Doppeldruck der Aufklärung wie der idealistischen +Philosophie und Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts kritisch +gesinnte Ethik. Sie gab der Musik die neue Fähigkeit der Leidenschart, +des Sturmes, des individuellen Erlebens, der Beichte. Sie stellte sie +unter den Zwang der Gefühlskritik, gab ihr zur Aufgabe die +unerbittliche Auseinandersetzung mit menschlichstem Geschehen, setzte +als Ziel die Gewinnung und Erkennung des Menschen. Mozarts Opern zeigen +dieses Ziel in stofflicher Symbolisierung. Darüber hinaus aber ist die +seelische Voraussetzung aller Musik dieser Zeit mit ihrer +Hauptschöpfung: dem Formbau der Sonate Gestaltung kritischer +Gefühlsauseinandersetzung und -erkenntnis. In ihr liegt das religiöse +Grundmotiv des Idealismus. Beethovens Werke in ihrer Gesamtheit sind +musikalische Kulthandlungen. In den verinnerlichten Formen der +Kammermusik, in den über die Kirche hinausstrebenden Messen, selbst in +der Oper, am stärksten zusammenfassend aber in den Sinfonien lebt als +treibende Urkraft der ethische Erkenntnis- und Bekenntnisdrang des +deutschen Idealismus, die Religiosität, die nicht mehr Kirche, nicht +mehr Dogma ist, sondern die Offenbarung des Göttlichen nur aus der +Gefühlskraft der menschlichen Seele empfängt. Diese ethische +Religiosität war ebenso Eigentum aller geistigen Menschen des +ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie Bachs kirchliche Gläubigkeit das +seiner Zeitgenossen. Der Idealismus schuf seine musikalische Kultform +im Konzert mit allen Verschiedenheiten seiner Formgattungen, gab +gleichzeitig der bis dahin auf Luxus- oder niedrig volkstümliche +Wirkungen begrenzten Oper den weiten Horizont allmenschlichen +Geschehens. Aus vorher unbekannten Bezirken des Fühlens und Erlebens +hatten sich neue Gemeinschaften der Menschen geformt, der religiöse +Trieb hatte eine äußerlich dem Kirchlichen schroff abgewandte, der +geistigen Schwungkraft nach aber höchster Glaubensfähigkeit ebenbürtige +Gestaltung gefunden. + +Dieser emporflammende Auftrieb der entdogmatisierten und doch +tiefgläubigen Seele brach zusammen in der Romantik. Es ist das +entscheidende Kennzeichen der den größten Teil des 19. Jahrhunderts +beherrschenden romantischen Bewegung, daß sie sich nicht fähig erwies, +dem religiösen Problem eine neue, eigenkräftige Gestaltung zu geben. +Der religiöse Impuls der Romantik äußerte sich zunächst in einseitiger +Weiterführung des kritischen Elementes, dem gegenüber der seelische +Anschwung des Idealismus mehr und mehr erlahmte. Das Ergebnis war teils +eine sich in Einzelheiten materialistischer Art zerfasernde +wissenschaftliche Empirie der Beobachtung, teils eine dieser +Nüchternheit abgewandte, auf religiöse Symbole der Vergangenheit +zurückgreifende Mystik. Naturalismus und Mystizismus sind +dementsprechend die geistigen und seelischen Grundlagen auch der +romantischen Musik. Zu organischer Einheit zusammengefaßt erscheinen +sie im Gesamtwerk Richard Wagners, in dieser Kunst der Synthese, die +einer religionssuchenden, doch innerlich glaubensunfähigen Zeit statt +des Gemeinschaftserlebnisses den Gemeinschaftsrausch gibt und sich +dafür der Kultform des religiösen Dramas in ästhetischer Verkleidung +bedient. Der Romantik mit ihrem Mangel eigener Kraft des Schauens und +Bauens geht die Naivität ursprünglichen Schöpfertums verloren. In die +Vergangenheit zurücktaumelnd, greift sie deren absichtslos geformte +Symbole auf und verwendet sie in bewußter Reizsteigerung zu Mitteln +absichtsvoller, durch reflektive Kunst planmäßig gestalteter Wirkungen. +Was Nietzsche zuerst als das Dionysische, später als das +Schauspielerische an Wagners Kunst empfand, war in Wahrheit ihr +Rauschhaftes, das ihn anfangs hinriß, dann abstieß. Aus der +instinktiven Abwehr gegen diesen Rauschtrank entsprang alle Opposition +gegen Wagner. Und doch war dieser Rausch der Wagnerschen Kunst nichts +von der älteren und gleichzeitigen Romantik grundsätzlich +Verschiedenes, nur ihre äußerste Steigerung. Alle romantische Kunst, +"Freischütz" nicht minder als "Tristan" ruht auf der Grundwirkung der +Hypnose, der Suggestion, auf der Idee des Traumes. Sie setzt die +Unwirklichkeit als Grundlage des Geschehens voraus, bedient sich aber +in der äußeren Gestaltung mit nachdrücklicher Betonung einer +naturalistischen Logik des Geschehens. In solcher Auffassung der +künstlerischen Welt als einer Welt bewußten Scheines, absichtlicher +Sinnestäuschung lag ein tiefer Widerspruch zur Kunst des Idealismus. +Für diesen war die Kunst Steigerung, schwunghafte Erhöhung des realen +Seins, kein Gegensatz, sondern durch geistige Hochspannung gewonnene +Sphäre vervielfachter Lebensenergie. Die idealistische Kunstauffassung +war Ergebnis einer im tiefsten Grunde bejahenden, den Mächten des +Lebens innerlich überlegenen Weltanschauung. Der Romantik fehlt diese +Überlegenheit. Sie ist pessimistisch, weil sie sich dem Leben nicht +gewachsen fühlt, sie bedarf des Traumes, um der Wirklichkeit zu +entfliehen. Die Kunst ist ihr das Narkotikum, das den Traum +heraufzaubert, und weil diese Kunst als Surrogat des Lebens dient, so +muß sie mit allen Mitteln der Sinnestäuschung illusionistischen Zwecken +dienstbar gemacht werden. Illusionistisch ist die Bühne der Romantik, +ist die Faktur ihrer Technik. Die Psychologie wird in den Dienst des +Kunstwerks gestellt, das Prinzip des Leitmotives ist das stärkste +Kunstmittel einer illusionistisch gerichteten Phantasie. Der +bestimmende Einfluß poetisch programmatischer Vorstellungen auf das +sinfonische und instrumentale Schaffen beruht gleichfalls auf dem +Streben nach Übertragung real glaubhafter Vorgänge in künstlerische +Wirkungen. Das Leben sinkt für den Romantiker immer mehr zur Unterlage +der Kunst herab, diese selbst wird ihm zum Inbegriff eigentlichen +Lebens und damit auch zur Religion. Unvermögend, das reale Sein zu +zwingen, flüchtet der romantische Künstler in die Traumwelt des +künstlerischen Scheins, gestaltet sie mit allen Mitteln der Kunst zum +Abbild einer gewünschten Wirklichkeit und gewinnt aus der Anbetung +dieses selbstgeschaffenen Idols Befriedigung seiner weltlichen und +überweltlichen Sehnsucht. + +Damit hatte die Musik, namentlich die dramatische Musik, scheinbar über +alles Frühere hinaus eine noch nie erreichte Steigerung religiöser +Bedeutsamkeit erreicht. Sie war nicht nur, wie bei Bach, künstlerische +Verklärung gegebener Kultformen, sie stellte nicht nur, wie in der Zeit +des Idealismus, die Übertragung ethischer Erkenntniskritik in +unkirchliche Formen beseelter Geistigkeit dar. Sie war jetzt selbst +Erkenntnis, selbst Religion geworden. Diese Steigerung war indessen nur +scheinbar. Was die Kunst an Selbstherrlichkeit gewann, büßte sie an +umfassender Kraft und seelischer Wahrhaftigkeit ein. Diese zur bewußten +künstlerischen Wirkung sterilisierte Religiosität trug in sich weder +die überzeugende Ursprünglichkeit des menschlichen Glaubenserlebnisses +noch den emporreißenden seelischen Aufschwung des entkirchlichten und +doch gottesahnenden Idealismus. Die romantische Religiosität war zu +einer Angelegenheit der Ästhetik geworden, ihre Abwendung vom Leben +entzog ihr die fließenden Kräfte dieses Lebens. Wagner glaubte, das +Volk zu suchen, er fand den Bayreuther Patronatsverein. Er fand das +gebildete Publikum, daß sich am Rausch seiner Ekstasen religiös zu +erbauen meinte und nicht fähig war, zu erkennen, daß hier Symbole einer +entseelten Religiosität zu dekorativer Schaustellung arrangiert waren. + +Auf der deutschen Gegenwart lastet das Erbe der Romantik. Der +Rauschtrank der romantischen Kunst hat die Geister verwirrt und +seelisch niedergebrochen. Einige meinen, er müsse immer wieder erneuert +werden, sie glauben in der Fortführung der Hypnose, in der +Aufrechterhaltung der Kunst als des Narkotikums den einzigen Weg zu +sehen. Sie teilen mit der Vergangenheit die Scheu vor dem Leben, die +Realität erscheint ihnen sinnlos und schlecht. Es ist die Gruppe jener +Künstler, die neuerdings in Hans Pfitzner ihren Wortführer gefunden +hat. Man darf, will man die symptomatische Bedeutung solcher +Erscheinungen nicht verkennen und unterschätzen, ihren Worten nicht +unmittelbare Widerrede, ihren Taten keine absolute Kritik +entgegensetzen. Sie sind Opfer einer Vergangenheit, deren Blendkraft +Generationen getäuscht und zermürbt hat. Ihre Hysterie ist ein Teil +unserer eigenen Schwäche, weit entfernt, uns zu unfruchtbarem +Widerspruch aufzureizen, zeigt sie uns die zersetzende Nachwirkung der +romantischen Lüge an dem erschütternden Beispiel entnervter Talente. +Ein heißer Drang zum Glauben, ein bedingungsloser Fanatismus sucht +Erfüllung von der Kraft einer Theatersonne, unfähig zu erkennen, daß +dieses künstliche Licht nur geschaffen ist, um zu täuschen, eine Welt +des Scheines zu erhellen, eine Gemeinschaft der Lebensflüchtlinge +anzulocken. Aber diese hingebungsvolle Bewunderung, diese +selbstvergessene Anbetung des großen Scheines, dieser Traum von der +Herrlichkeit des Vergangenen ist ein tiefer Wesenszug des deutschen +Charakters. Je ärmer und reizloser die Kunst dieser Männer wird, je +mehr sie sich in schemenhafte Phantasterei und mystischen Dunst +verliert, um so mehr erkennen wir hier ein ursprünglich werthaltiges +Gut deutscher Art: die Verehrung des erdhaft Heimischen, des +geschichtlichen Werdens. Es liegt ein religiöser Zug verborgen in der +bedingunglosen Anbetung des Blutes, der Art, der Gesinnung, und so +wenig solche Verherrlichung des Gewesenen geeignet ist, Erkenntnis zu +schaffen, dem Blick die Kraft wahrhaften Durchdringens zu geben, so +wenig kann man sie aus dem Charakter des Deutschtums streichen. Als +Kunstbekenntnis ist sie der leichtesten Eingänglichkeit sicher, sie +erspart selbständiges Denken, bietet nichts Eigenes, verlangt nur +Anerkennung des historisch Gegebenen. Diese Religion der Haus- und +Nationalgötter, deren Heiligkeit bedingt wird durch ihre Herkunft, +gehört zu den populärsten Bekenntnissen im heutigen Deutschland und +zählt eine große Gemeinde. Es ist eine an sich durchaus unreligiös +Religion, aber sie gibt den suchenden Menschen ein Etwas, an das sie +glauben können, sei dieses Etwas auch nur ein Fetisch. + +Dieses Suchen, dieses Glaubenwollen, dieses starke Durchbrechen des +religiösen Bedürfnisses ist das auffallendste Kennzeichen der Gegenwart +im Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit. Es zeigt sich nicht +nur an dem Versuch, dem künstlerischen Nationalismus religiöse +Bedeutung zu geben, es zeigt sich auch an der Entwicklung anderer +Geistesrichtungen innerhalb der gegenwärtigen Musik. Aus der +illusionistischen Tendenz der romantischen Musikauffassung hatte sich +allmählich ein intellektuell hochstehender Naturalismus entwickelt, +sein talentmäßig stärkster Repräsentant ist Richard Strauß, die +lebendigste und bewegungskräftigste deutsche Musikbegabung seit Wagner. +Bei Strauß ist bis zu den Werken seiner besten Manneszeit, +"Heldenleben" "Domestika" und "Rosenkavalier", der Sinn nur auf +intellektuelle Gemeinschaft, auf die Überzeugungskraft der richtigen +Beobachtung, auf die Freude an der Selbstsicherheit der +naturalistischen Darstellung gerichtet. Aus der Kraft des Wurfes, mit +der hier die materialistische Wirkung der Kunst erfaßt wurde, ergab +sich die Unmittelbarkeit des Eindruckes. Der Rausch kam nicht mehr, wie +bei der älteren Romantik Wagners, aus der Ekstase eines +Scheinerlebnisses. Er war lediglich Freude an der hinreißenden +Beherrschung der illusionistischen Darstellungskunst, deren Objekt im +Hinblick auf seine Anregungskraft für das Talent des Künstlers gewählt +wurde. + +Dieser Naturalismus, der mehr und mehr zur deskriptiven Virtuosität +herabsank, hat neuerdings versucht, sich durch Anlehnung an die +Symbolik des Idealismus einen ethischen Anschwung zu geben. Vom +"Rosenkavalier" an über "Ariadne" und "Josefslegende" bis zur "Frau +ohne Schatten" tritt in Stoffwahl und künstlerischer Behandlung bei +Strauß eine unverkennbare Bezugnahme auf Mozart zutage, eine +Bezugnahme, die freilich nirgends über die Bedeutung der +archaisierenden Stilanlehnung hinausgelangt, weil die Straußsche Kunst +ihrer An der Gefühlserfassung nach unlösbar verwurzelt ist in den Boden +der Romantik. Auch diese Lebensäußerung deutschen Geistes in der +gegenwärtigen Musik ist nicht zu unterschätzen. Sie zeigt die +Beweglichkeit, den spekulativen Unternehmungssinn, die technische +Phantasie eines expansiv gerichteten, auf äußere Aktivität gestellten +Willens. Ihrer bekenntnismäßigen Bedeutung nach erscheint sie freilich +vorwiegend Ausdruck eines Materialismus, der seine religiös ethische +Schwäche unter dem Reichtum äußerlich reizvoller Bilder zu verbergen +sucht und dabei doch mehr und mehr der Skepsis des Ästhetentumes +verfällt. + +Der Traum als Mittel der Vergangenheitserinnerung war das Ziel auch +jener Kunst, die im Anschluß an die ältere Romantik durch Vertiefung +des gemütvoll Innigen, durch strengen Ernst und beschauliche Sammlung +der Gefühlskräfte das Rauschharte der theatralischen Gebärde Wagners zu +vermeiden suchte. Brahms ist die eigenkräftigste, durch Festigkeit und +herbe Geschlossenheit des Willens imposanteste Erscheinung dieser Art, +Reger ihr unruhvollst bewegter problematischer Ausklang. Es ergab sich +aus der inneren Willensrichtung dieser Kunst, daß sie sich +ausschließlich konzertmäßigen Formen zuwenden und diese unter bewußter +Betonung ihres formalistischen Charakters einer gesteigerten Intimität +des Gefühlslebens, damit zugleich einer Verengung ihres äußeren +Wirkungskreises zuführen mußte. Der Wesenscharakter dieser Kunst dräng +zur Hausmusik. Er enthüllt sich am freiesten in der Kammermusik und der +auf intern begrenzte Wirkungen berechneten Vokallyrik. Wo er dem +Monumentalen zustrebte, näherte er sich dem akademischen Formalismus, +der schematisch konstruierten, nicht frei gewachsenen Form. Das +Positive lag in der inneren Bezugnahme auf die wertvollen Kräfte eines +konservativ beschaulichen Gefühlslebens, das sich nicht zu erweitern, +nur zu bewahren strebt. Die Schwäche war bedingt durch bewußt +rückschauende Tendenz, durch stille, aber hartnäckige Abwehr gegenüber +allen Versuchen, neue Grundlagen, neue Ausgangspunkte seelischen +Gemeinschaftslebens zu finden. + +Solche neuen Grundlagen und neuen Ausgangspunkte des Seelischen treten +dagegen mit überraschender Bestimmtheit zutage in der Musik Anton +Bruckners. Ähnlich wie Brahms steht auch Bruckner in naher innerer +Beziehung zum Volkstum. Nur ruht diese Beziehung nicht auf bewußter +Archaisierung, traumhafter Zurückführung der Gefühlsart auf eine +innerlich als altertümlich empfundene Art der Ausdrucksgestaltung. Sie +ergibt sich aus natürlich freier, menschlich spontaner Unmittelbarkeit, +ist reines Erlebnis ohne irgendwelche stilistische Bewußtheit. Als +individuelle Erscheinung ist Bruckner in seiner Weltfremdheit, seiner +Mischung von Bauer und Mönch eine fast mittelalterliche Natur, als +Künstler stellt er unter allen anderen Typen seiner Zeit die erste im +wahrhaften Sinne modern gerichtete Persönlichkeit dar. Er steht der +Wagner-Nachfolge sowohl in ihrem krampfhaften Verlangen nach +weltfeindlicher Hypnose wie in ihrer ästhetenhaften Symbolspielerei +ebenso fern wie der versonnen rückblickenden Vergangenheitsträumerei +der formalistisch akademischen Romantik. Er ist ein gläubiger Mensch, +dessen unkomplizierte Religiosität sich an dem weihevollen Glanz und +der Autorität eines unkritisch empfangenen Katholizismus zur +Erhabenheit aufrichtet. Gläubigkeit ist für ihn kein Rausch, keine +Sehnsucht, kein Spiel, sie ist eine unerschütterliche, jenseits aller +Zweifel stehende Tatsache. Sie gibt ihm Naivität und Kraft der großen +Form, gibt ihm die Fähigkeit der Gemeinschaftsbildung, die hier wieder +aus der Wucht des wahrhaftigen Erlebnisses erwächst. In Bruckners Musik +tritt zum erstenmal seit dem Verblassen des Idealismus der wirkliche +Mensch mit seinem Drang zur nicht künstlich vorgetäuschten lebendigen +Wirklichkeit hervor. Der Traum als Ziel der Kunst wird überwunden, ein +starkes Gefühl ist wieder erwacht, das den Erscheinungen der Realität +gewachsen und fähig ist, sie formend zu gestalten. Die Quellen dieses +Gefühles weisen wieder zurück auf die Kirche: Orgelklang, +Hochamtsfeier, liturgisches Zeremoniell sind die Grundlagen für +Bruckners Phantasieleben. Man könnte an eine gewaltig hervorbrechende +Nachblüte spezifisch katholischer Kunst denken. Aber hier tritt +gleichzeitig ein so kerniges, bei aller Gebundenheit persönlich +gerichtetes Menschentum zutage, daß die kirchliche Bezugnahme nur +Fundament und innere Richtlinie bleibt für eine kühn und frei in die +Welt des Erdhaften hinausgebaute Kunst. + +Was Bruckner von der Basis einer strenggläubigen, durch inbrünstige +seelische Erfassung und urwüchsige Einfalt bezwingenden volkstümlichen +Kirchlichkeit aus begann, das vollendete Mahler. Bruckner wie Mahler +entstammten dem Traumlande der Romantik, in ihnen vollzog sich das +Erwachen der Seele zu einer neuen Lebensgestaltung aus der Kraft eines +neuen Lebenswillens, eines positiv gerichteten Aktivitätsdranges. +Empfing Bruckner noch die innere Anregung und Beschwingung seiner +Phantasie aus der frommen Erfassung katholischer Glaubenssymbole, so +drang Mahler aus der konfessionell umschriebenen Gedankenwelt vor in +die Sphäre der reinen Naturanbetung. Das Blühen und Werden, das Keimen +und Vergehen alles Seienden, das Wunder der zeugenden und schaffenden +Liebe, das Geheimnis des Lebens und Sterbens der Natur, alles, was +gleichnishaft in den Symbolen der kirchlichen Lehre dargestellt war, +erschien jetzt wieder in unmittelbarer Anschauung gespiegelt, nur in +das Symbol des Kunstwerkes übersetzt. Eine Welt glaubenstiefer und doch +unkirchlicher Religiosität tat sich auf, ähnlich wie einst bei den +Künstlern der idealistischen Zeit und doch ganz anders erschaut. +Nicht mehr Erkenntnis ist das Ziel, nicht mehr Kritik weist den Weg. +Der individualistische Hang, der Trieb zur Befreiung der Persönlichkeit +und ihrer Werte, der die individualistische Bewegung getragen und im +subjektivistischen Traumbild geendet hatte, ist erloschen. Jetzt +wechselt er in das Streben nach Überwindung der individuellen +Begrenztheit, nach Eingliederung des einzelnen in das Ganze. Die Natur +in der unbemessenen Vielheit ihrer Erscheinungen wird zum höchsten +Sinnbild der Totalerfassung schöpferischer Kräfte. Der Mensch, nicht +mehr kritisches Geistwesen, sondern vegetabilisches Naturwesen, steht +inmitten dieses Ganzen, nur ein Teilchen davon, pflanzenhaft +erdgebunden und doch wieder Unsterbliches in sich tragend, höchste +Inkarnation göttlicher Urkraft, soweit er sich kosmisch zu empfinden +und zu erkennen vermag. Die Gemeinschaft wird auch künstlerisch wieder +zur Quelle einer neuen Formidee: die Gemeinschaft nicht der Gläubigen, +nicht der Erkennenden, nicht der vom romantischen Zaubertraum +Berauschten, auch nicht der nationalistisch Gesinnten, ästhetenhaft +Interessierten oder der Vergangenheitsträumer. Es ist eine höhere +Gemeinschaft, die alle: Gläubige, Idealisten und Romantiker umfaßt, von +allen ein Teil in sich trägt und es mit den übrigen zu neuer Gesamtheit +einigt. Es ist die Gemeinschaft der Menschen als Geschöpfe einer +Gottheit der Liebe, aus deren ahnender Erfassung alles Problematische +sich löst, alles Individuelle verschwindet, alles Schicksalhafte +überwunden wird. In dieser Verkündung der Liebe als der höchsten +schaffenden Macht, in dieser Anschauung des Menschen nur als Teiles +eines sozial bedingten Ganzen lag die neue religiöse Botschaft, lag die +neue aktive Gestaltung tief drängenden Menschheitsverlangens, lag die +befreiende Tat, die aus der Traumsphäre der Romantik hinausführte in +die Wirklichkeit lebendigen Lebens, sie bejahend und in der Kunst zu +formbewußter Gestaltung zwingend. + +Es war ein deutscher Musiker, der diese Tat vollbrachte und damit der +deutschen Musik wieder ein hohes Ziel stellte, ihr einen neuen +Gefühlsgehalt gab. Neu freilich nur im Hinblick auf die innerer +Begründung. Dem Ergebnis nach deckte sich diese kosmische Religiosität +mit der christlichen Gemeinschaftsidee wie mit der Menschheitsliebe der +idealistischen Humanitätszeit. Alle drei sind Auseinandersetzungen mit +dem Gemeinschaftsproblem, verschiedenartig in der Begründung, +übereinstimmend aber im Resultat der Bejahung des Lebens in der +Gemeinschaft, der Überwindung des Individuellen, der tätigen +Zusammenfassung aller Kräfte. Mit dem erneuten Durchbruch zu diesem +Ziel hatte die deutsche Musik wiederum ihre Berufung und Fähigkeit zur +Weltmacht erwiesen, ihre Stellung als Künderin höchster +Menschheitsideen bestätigt. + + * * + * + +Zum zweitenmal wurde die sinfonische Form Gefäß der gestaltenden Idee, +jetzt nicht wie bei Beethoven vorwiegend auf die abstrakt instrumentale +Sprache beschränkt, sondern stark durchsetzt, zum Teil beherrscht vom +vokalen Ausdruck. Die Sphäre des Geschehens war dem sinnlich faßbaren +Erlebnis nähergerückt, die Vorstellungswelt dieser Kunst lag mehr im +Bereich des irdisch Erkennbaren, Gleichnishaften. Dagegen war sie +ferngerückt dem Naturalismus und Illusionismus der Romantik, und darin +lag der tiefe Wesensunterschied sowohl gegenüber der gleichzeitigen +Programmusik als auch der Oper. Die Oper war ihrem Ursprung nach dem +unbefangensten, kindlich buntesten Sinnenspiel zugewandt. Im Gegensatz +zu den auf andächtig religiöse Vereinigung gerichteten musikeigenen +Formen war sie der Verherrlichung der Freude gewidmet, das Fest des +Dionysos und des Eros. Künstliches Erzeugnis bewußten Luxustriebes, als +Formerscheinung abhängig von den Bedingtheiten verschiedenartigster, +organisch unverbundener Wirkungsmittel, unterworfen dem +gesellschaftlichen Einfluß der Verbraucher, war sie die unrealste, +durch willkürliche Mischung der Gestaltungselemente zwitterhafteste +musikalische Kunstgattung. Sie hat in den verschiedenen Ländern +verschiedenartige Ausprägung erfahren, hat in Italien eine Entwicklung +nach der musikhaft sinnlichen, in Frankreich nach der schauspielhaft +bühnenmäßigen, in Deutschland nach der gedanklich dramatischen Seite +hin genommen. Aber sie ist stets Erzeugnis und Spiegelung des +Luxuswillens, der Laune, der phantastischen Willkür geblieben. Das +bedeutet keineswegs Verkennung oder Unterschätzung ihres Kunstwertes. +Man kann die Oper gewiß nicht streichen aus der Geistesgeschichte der +letzten Jahrhunderte, sie ist die bezeichnendste Auswirkung des +Spieltriebes. Aber nur als solche kann sie erfaßt werden, im Gegensatz +zum gesprochenen Drama, dessen äußere Form sie spielend nachahmt, wie +sie jede andere der an ihr beteiligten Künste: Gesang, +Instrumentalmusik, szenische und figürliche Darstellung gewissermaßen +in eine absolut unlogische Sphäre überträgt. Je reiner sie diesen +Charakter des phantastisch parodistischen Spieles wahrt, um so +vollkommener wird sie als Kunstwerk wirken. Der unvergängliche Zauber +der Oper Mozarts ruht in der tiefen Übereinstimmung, aus der hier +Sinnenfreude, Spieltrieb, jeglicher Realität abgewandte Phantastik zur +tiefsten Erfassung menschlicher Lebenstriebe und Willenskräfte +gelangen. Die irrationale Form wird zur Spiegelung eines irrationalen +Seins außerhalb aller Bedingtheiten der Wirklichkeit. Nicht nur die +stofflichen Erscheinungen der Oper Mozarts: Handlung, Charaktere, +äußere Aneinanderreihung der Begebenheiten sind dem illusionistisch +gerichteten Verstande unfaßbar. Die musikalische Formung vor allem: das +Ausströmen des Gefühles durch die monodramatische Gesangsarie, das +gleichzeitige Ineinanderweben der Stimmen im Ensemble, die +vielgliedrigen, lediglich aus Kontrast- und Steigerungswirkung des +musikalischen Ausdruckes entwickelten Finalebauten -- dies alles +zusammen ergab eine Kunst, der gegenüber jede rationalistische +Forderung zum Spott werden mußte. Hier war denkbar höchste Freiheit des +gestaltenden Geistes, restlose Überwindung der stofflichen Materie, +reine Anschauung des Spieles freier Phantasiekräfte, eine vollkommene +idealistische Welt als verklärtes Symbol der realen. So konnten hier +die großen bewegenden Ideen der damaligen Menschheit: die Probleme der +Befreiung der Persönlichkeit dargestellt werden an menschlichen +Elementartypen der Figaro-, Don-Juan-, Cosi fan tutte-Sphäre. So konnte +in der Zauberflöte im Rahmen eines Kinderspieles das Ziel aller +humanitären Kultur: die Menschheitsvereinigung durch Freundschaft, +Liebe und Weisheit zu herrlichster Erfüllung in der Kunst gebracht +werden. + +Die nachfolgende Zeit hat niemals die einzigartige Musikernatur Mozarts +verkannt. Niemand hat für den Genius Mozart tieferes Gefühl und +Verehrung gehabt als Wagner. Aber die Form der Mozartschen Oper, diese +freieste Gestaltung des Unwirklichen, Unwahrscheinlichen, erschien ihm +unvollkommen, mußte ihm unvollkommen erscheinen -- gerade der +Eigenschaften wegen, die über die Würdigung von Mozarts bloßem +Musikertum hinaus die kulturelle Größe seiner Künstlerschaft bestimmen. +Die Romantik glaubt sich über die Urbestimmung der Oper, über die +artbestimmenden Grundlagen der Gattung hinwegsetzen zu können. Sie +versuchte der Oper das zu nehmen, worin ihr Wesen wurzelte: den +Charakter des Spieles. Sie versuchte, dieser auf heiterster +Sinnenspannung, auf lebhaftestem Reiz der Bilder, auf schmeichelnder +Phantastik der Gefühlserregung beruhenden Kunstform das zu geben, was +ihr niemals innerhalb ihres unmittelbaren Wirkungsbezirkes eigen +gewesen war: die religiöse Weihe des großen Dramas. Das Wesen der Oper +als dramatischer Erscheinung beruht auf bewußter Unwahrscheinlichkeit, +auf parodistischer Einstellung gegenüber allen Realitäten. Selbst die +Reformen Glucks, zu Unrecht als Vorarbeiten für Wagner angesehen, +ließen den Grundcharakter der Oper als Gattung unberührt. Sie bezogen +sich lediglich auf die stärkere Hervorhebung der lyrisch musikalischen +Wirkungen gegenüber gesanglich virtuosen Effekten. Ob ernste oder +heitere, ob tragische oder komische Oper, dies war gleichgültig für die +Auffassung des Typs, aus dem die Oper Mozarts als ideale +Zusammenfassung aller Kräfte hervorwuchs. Dieses lyrisch phantastische +Erosspiel war in allen Bedingtheiten seines Wesens Erzeugnis der +Renaissance, weitergebildet von Menschen, deren sinnlich empfindsame +und erfindungsreiche Natur hier ein neues Feld für ihren +sensualistischen Spieltrieb fand. Der Versuch, von dieser Spielgattung +aus den Weg zu bahnen zum kultischen Drama der Antike, bedeutete nicht +nur eine neue Mißdeutung der Antike, entstellender noch als der +klassisch geglättete Antikenbegriff des Idealismus. Er bedeutete die +unwahrhaftige Theatralisierung kultischer Dinge, ihre Herabsetzung zu +Requisiten opernhafter Wirkungen und, damit verbunden, die falsche +Überhöhung einer in sich organisch geschlossenen Kunstgattung durch das +steigernde Pathos des dramatischen Affektes. + +Die romantische Form des musikalischen Dramas, wie es sich in der +Theorie darstellt, ist im Hinblick auf das Wesen der Gattung, das +vollendet in der Oper Mozarts erscheint, eine Abirrung der Oper auf +Gebiete, die außerhalb des Charakters der Gattung liegen, und auf denen +sie nie Wurzel fassen konnte. Soweit Werke solcher Art in die Breite +wirken wie bei Wagner, beruht die Wirkung in Wahrheit doch auf dem +Spielcharakter der Oper. Er ist auch im musikalischen Drama nur +scheinbar überwunden und lebt da weiter, wo es die lebendige Wirkung +zeugt. Aber er lebt unter falschem Namen und falscher Einschätzung +seines Wesens. In dieser Vortäuschung unwahrer Werte liegt die Gefahr +des Erbes der romantischen Oper für die Gegenwart. Es gilt zunächst, +die Unmöglichkeit der Oper als Form bewußt kultischer Dramatik klar zu +erkennen. Es gilt gleichzeitig, die falsche Geringschätzung des +Spieltriebes als eines gleichsam im höheren Sinne nicht vollwertigen +Schaffensimpulses abzutun, zu erkennen, daß dieser Spieltrieb, sofern +er vermeidet, sich aus falschem Ehrgeiz dramatisch zu maskieren, aus +sich selbst heraus zur Erreichung wahrhaftigerer Ziele befähigt ist, +als das höchstgeschraubte dramatische Pathos sie zugänglich macht. Es +gilt, formelhaft gesprochen, in der Oper Mozarts nicht nur die geniale +Musiker-, sondern gerade die geniale Künstlernatur zu erkennen. Nicht +nur in der Oper Mozarts, sondern in der Oper überhaupt die Idealgattung +des Phantasiespieles, das, frei von allen dogmatisch ethisierenden +Nebenabsichten, aus lebendigstem Widerschein buntester Lebensfarben und +Sinnesreize den ins Märchenhafte überspiegelten Abglanz des Realen, +Bewußten, Gewollten gibt. + +Es ist lehrreich, zu beobachten, wie sich andere Völker mit diesem +Problem der Oper abgefunden haben. Der romantischen Rauschsuggestion, +der dramatisch zugespitzten Illusionsoper zunächst ebenso unterworfen +wie die Deutschen, haben Italiener und Franzosen die Gefahr einer +bewußten Überbetonung der dramatischen Zweckhaftigkeit der Oper zu +vermeiden gewußt. Bei beiden Nationen ist in der äußeren Anlage, +namentlich des Textes, ein auffallend realistisch naturalistischer Zug +bemerkbar. Er beeinflußt auch die Art der musikalischen +Gefühlseinstellung und normalen Faktur. Bizets "Carmen" ist das Muster +der psychologischen Oper, Verdis derbe Sinnlichkeit saugt sich fest an +der Unmittelbarkeit elementar erfaßter Bühnenvorgänge und überträgt +diese Emotionen mit naiver Drastik in seine Musik. Bei beiden größten +Opernkomponisten ihrer Nationen aber bleibt die dramatische Einkleidung +stets Mittel zum Zwecke des Musizierens. Das Drama gewinnt weder in der +Theorie noch in der Praxis die Vorherrschaft. Der Musiktrieb als der +eigentliche und wahrhafte Spieltrieb dominiert, und selbst den +Nachfolgern Verdis ist die veristische Fassung des Dramas nur ein +Mittel, ihre kurzatmige Musikbegabung schnell und durchgreifend zur +Geltung zu bringen. Bei Gounod, Massenet, Saint Saëns ist der normale +Sinn von vornherein in viel zu hohem Maße konventionell beeinflußt, um +die Wahl zwischen Oper und musikalischem Drama je ernsthaft zweifelhaft +zu machen, und auch der ins bewußt Ästhetenhafte abschweifenden +jungfranzösischen Schule ist trotz der literarischen +Geschmacksverfeinerung die Oper stets die primär musikalische Kunstform. + +Nur in Deutschland hat sich unter der gewaltigen Nachwirkung von +Wagners Theorien eine seltsame moralästhetische Auffassung vom Wesen +des musikalischen Dramas herangebildet. Auf ihre tieferliegenden, +innerorganischen Ursachen betrachtet, ist sie das Zeichen nachlassenden +Produktionsvermögens. Als Lehre aber hat sie schweren Schaden gestiftet +durch Verkennung und Herabsetzung kunsteigener Grundwerte der Oper +zugunsten eingebildeter religiös ethischer Qualitäten des musikalischen +Dramas. Das eigentlich Belastende und Schädigende dieser Geistes- und +Urteilswendung lag nicht in der Tatsache, daß eine große Anzahl +schwacher oder mittlerer Talente sich getrieben fühlte, Musikdramen zu +schreiben. Es lag auch nicht nur in der ästhetischen +Begriffsverwirrung, die den Blick für wesentliche Vorzüge der +Kunstgattung und damit für die Schöpfungen ganzer Epochen trübte, dafür +künstlerischen Belanglosigkeiten hohe sittliche Wertung angedeihen +ließ. Dies wären zunächst Schädigungen gewesen, die nur die Kunst als +solche betrafen. Der verhängnisvollste, in die allgemeine Volkskultur +übergreifende Nachteil war, daß hier die auf Täuschung, Spiel, Schein, +im sittlichen Sinne auf bewußter Unwahrhaftigkeit beruhende Welt des +Theaters als wahr, echt, lebendig, als Trägerin und Künderin der +höchsten ethischen Norm ausgegeben wurde. Das Gefühlsleben der Menschen +orientierte sich innerlich an diesen Erscheinungen einer +vorgespiegelten Lebenswahrheit. Es mußte unecht, unwahrhaftig werden, +weil es sich zum Sklaven seines eigenen Phantasieerzeugnisses machte +und von diesem Gesetze empfing, statt, wie es der ursprüngliche +Spielcharakter der Gattung forderte, sie ihm zu erteilen. Das +theatralisch Komödiantische, das so vielfach in der deutschen +Öffentlichkeit der letzten fünfzig Jahre sich bemerkbar macht, die +Neigung zu falschem Pathos und schlechter Rhetorik sind nicht zum +mindesten Nachwirkungen einer Lebensauffassung, die ihre Gesetze aus +der Oper empfängt. + +Wir stehen heut der Romantik fern genug, um die Größe ihrer +künstlerischen Leistungen unbefangen würdigen zu können. Was uns von +ihr trennt und zur Kritik zwingt, ist nicht diese oder jene Einzelheit +im fachlich entwicklungsmäßigen Sinne, ist auch nicht Widerspruch gegen +individuelle Begabungen. Es ist grundsätzlich die durchaus +entgegengesetzte Auffassung vom ethischen Charakter des Kunstwerkes. +Die Romantik übertrug ihn in den Stoff, in die Form, in das +künstlerische Sujet selbst. Mit allen Mitteln genialer Beharrlichkeit +und Tatkraft materialisierte sie ihn, unterwarf ihn dadurch allen +Hemmungen und Täuschungen der Materie, erhob ihn selbst zum bewußten +Träger der künstlerischen Idee. In diesem Gegensatz von absichtsvoller +Ethik des Stofflichen und zwanglos unbewußtem Ethos des idealistischen +Spieles wurzelt der Kontrast Wagner-Mozart, wurzelt der Widerspruch der +heutigen Generation gegen die tendenziöse Kunstauffassung und -lehre +Wagners, wurzelt die Abwendung vom kultischen Musikdrama, die erneute +Neigung zum Erosspiel der Oper. + +Es gibt gegenwärtig drei deutsche Opernkomponisten, in deren Schaffen +der Widerstreit der Meinungen klar zutage tritt: Hans Pfitzner, Richard +Strauß, Franz Schreker. Pfitzner ist der bedingungslose Anhänger von +Wagners Lehre, deren spekulative Züge er in seinen drei Musikdramen +"Der arme Heinrich", "Die Rose vom Liebesgarten" und "Palestrina" in +fanatischer Einseitigkeit zu den äußersten Konsequenzen geführt hat. +Die Vorherrschaft der stofflichen Ethik, die bei dem großen +Bühnenpraktiker Wagner ungeachtet aller Theorien doch stets im Rahmen +des bühnensinnlich Wirksamen bleibt, greift bei Pfitzner schließlich +auch das organische Leben des Dramas an, das aus vorsätzlicher Askese +immer theaterfremder wirkt. Es ist bezeichnend, daß in "Palestrina" +keine einzige Frauenfigur erscheint. Das Mönchtum dieser Kunst geht bis +zur Verbannung des Eros von der Bühne. Unbemerkt bleibt der grausame +Widerspruch, daß eine scheinbar alle profanen Bedingtheiten +überwindende Kunst sich der Mittel einer Gattung bedient, deren Wesen +der wechselvollsten Sinnlichkeit der Form unlösbar verhaftet ist. +Richard Strauß ist sich der Theaternatur der Oper wohl bewußt. Sein +Schaffen ist auf stilkünstlerischen Ausgleich von Drama und Oper +gerichtet unter allmählich immer stärker betonter Annäherung an den +älteren Formtyp. Soweit ein Problem dieser Art die Lösung auf +experimentellem Wege zuließ, ist sie ihm in mehreren Fällen, nie +einheitlich, wohl aber für beträchtliche Teile innerhalb eines Werkes, +geglückt. Das lebhafte, temperamentbeschwingte Musiziertalent +Straußens, seine hinreißende, aus starkem Augenblicksimpuls schöpfende +Überredungsgabe, die unmittelbare Gegenständlichkeit seiner Tonsprache, +dies alles, verbunden mit außergewöhnlicher, treffsicherer +Formgewandtheit, macht seine großen Erfolge erklärlich und berechtigt. +In einer Zeit allgemeiner Geschmacksunsicherheit und Talentarmut war er +der einzige, der sich mit unbekümmerter Frische und reflexionsloser +Begabungskraft dem musikalischen Naturalismus zuwandte und als echtes +Weltkind dem Geist der Zeit stets zu geben wußte, was dieser bedurfte. +Solche in allem Technischen und Artistischen meisterliche +Anpassungsgabe konnte allerdings immer nur zu Augenblickslösungen, zu +Gegenwartserfolgen gelangen. Sie konnte in ihrer allerseits +verbindlichen Art niemals zu einer im Wesenhaften eigenen und neuen +Erfassung des Opernproblems gelangen. Die stilistischen +Verkleidungs- und Verwandlungskünste auch des stärksten Formtalentes +waren günstigstenfalls nur geeignet, zu erreichen, daß die romantische +Auffassung der Oper als des kultischen Dramas keine Gefolgschaft mehr +fand, keine innere Werbekraft mehr übte, ohne daß es gelungen wäre, ihr +einen selbständigen neuen Operntyp entgegenzustellen. + +Erst mit dem Auftreten Franz Schrekers hat sich hier eine Wandlung +vollzogen. Das Bemerkenswerte der Erscheinung Schrekers liegt nicht in +Einzelzügen seiner Musikerbegabung, so sicher und stark sich diese aus +konventionellen Anfängen zur Erringung individueller Eigenwerte +durchzusetzen vermochte. Es liegt auch keineswegs in auffallenden +Besonderheiten stilistischer Art, an denen Bezugnahme auf die +jungromanische Kunst namentlich in Melodik und Harmonik auffällt, +gesteigert durch üppige koloristische Phantasie und großlinige +architektonische Gestaltungsgabe. Aber mit all diesen Eigenschaften +wäre Schreker nur einer unter mehreren. Seine Ausnahmestellung ergibt +sich aus anderem. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist hier eine Reihe +von Werken geschaffen, die jenseits aller Tendenzmacherei und +spekulativen Theorie, jenseits auch jeglicher Stilkünstelei und +jeglichen Formexperimentes steht. Erwachsen ist sie aus gänzlich +vorbehaltloser, naiver Erfassung der Oper als eines Spielstückes für +eine ungebunden schweifende Phantasie, der als Richtlinie lediglich ein +kühner, naturhaft elementarer Theaterinstinkt dient. Schreker sieht die +Bühne nicht als Kanzel, auch nicht als Ort geistreicher Unterhaltung. +Er sieht sie mit der Unbefangenheit des Kindes, dem sich hier eine Welt +zauberhaftester Unwahrscheinlichkeiten, unbegrenzter Möglichkeiten des +Unmöglichen öffnet, die nur von Künstlers Gnaden ihr Sein empfangen und +um so stärker reizen, je lebensferner sie sind. Schreker sieht die +Opernbühne wieder mit dem Auge des irrational empfindenden +Phantasiemenschen. + +Aus dieser Grundeinstellung ergibt sich der Unterschied nicht nur +gegenüber der doktrinären Ideenoper Pfitzners oder der intellektuell +bedingten Geschmackskunst Straußens. Auch andere zeitgenössische Kunst, +wie die Eugen d'Alberts oder neuerdings die Opernmusik des jungen Erich +Wolfgang Korngold steht im Gegensatz zur Theorie des Wagnerschen Dramas +und zielt auf den Theatereffekt. Aber hier ist dieser mit bewußter +Methodik als Wirkungsfaktor herangezogen. Es werden wieder +periodisierte Melodien und geschlossene Formen geschrieben, weil das +Prinzip des Leitmotives und des deklamatorischen Stiles verbraucht +erscheint. Schreker ist gegenüber diesen auf das Praktische im Sinne +der Lebensklugheit und des Erfolges zielenden Begabungen eine +naturwüchsige Kraft. Seine Beziehung zur Bühne ruht nicht auf +irgendwelchen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sie ist elementaren +Ursprunges. Seine vier Opern "Der ferne Klang", "Das Spielwerk", "Die +Gezeichneten", "Der Schatzgräber" sind Erfolge nicht nur im Sinne des +Kassenberichtes einer Spielzeit, sondern der geistigen Bewegung. Sie +geben der Musik auf der Bühne wieder ihr ursprüngliches, durch +keinerlei Dienstbarkeit gegenüber dramatischen Absichten behindertes +Recht des freien Phantasiespieles. Sie gewinnen ihr damit das im Laufe +des 19. Jahrhunderts verlorene Heimatgebiet zurück und führen so die +Ausdrucksmittel der Oper wieder ihrer natürlichen Bestimmung zu. Es ist +denkbar und nicht unbegreiflich, daß manche Menschen einer vorwiegend +auf kritisch intellektuelle Bildung erzogenen Generation solche Kunst +als für ihre Begriffe von Kultur nicht ausreichend ablehnen. Damit wäre +sachlich nichts bewiesen, nur die Zuverlässigkeit dieses +Kulturbegriffes in Frage gestellt. Vom Standpunkt einer abstinenten +Geschmacksbildung aus wird die Oper wegen der unorganischen Vielheit +ihrer Mittel stets ein nicht ganz vollwertiges Kunstgebilde sein. +Einheitlichkeit gewinnen kann sie nur durch den Musiker, der diese +Buntheit der Mittel als natürliche Quellen seiner Phantasie empfindet +und fruchtbar macht, nicht aber das Ganze durch + +Prinzipien und Theorien regelt oder stilisiert. Solcherart ist +Schrekers Musik. Als dramatische Gebilde bedeuten seine Opern das +Gegenteil dessen, was etwa dem gesprochenen Drama notwendig und +wesenseigentümlich ist. Der Musik aber öffnen sie den Bezirk, auf dem +sie sich als Element der Bühnenwirkung entwickeln kann, ohne von ihrem +ureigenen Wesen etwas aufzugeben, ohne sich selbst zugunsten eines +anderen Zweckes opfern oder begrenzen zu müssen. + +Dieses ureigene Wesen der Musik ist das Beziehungslose, das +verstandesmäßig Unfaßbare, nicht zu Greifende. Will man das Verhältnis +der Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit, zum 19. Jahrhundert kurz +kennzeichnen, so kann man es nennen den Kampf gegen den Rationalismus +der Romantik. Der Rationalismus war bedingt durch das +Illusionsbedürfnis der Romantik und dieses wiederum durch ihre +Resignation gegenüber dem Leben, aus der die Auffassung der Kunst als +des Gegensatzes zum Leben, als des großen Täuschungsmittels, als des +Lebenssurrogates erwuchs. Solche Auffassung mußte notwendig in der +Theorie zur Kunstideologie, in der Praxis zur Wirklichkeits-Imitation +führen. Das Unbeziehbare des klanglichen Erlebnisses wurde in allerlei +Beziehungen gesetzt: die Oper mußte predigen, philosophieren, +moralisieren, zum mindesten psychologischen Anschauungsunterricht +geben. Die Sinfonie wurde der freien Poesie gewidmet, sie stellte dar, +wobei es im Wollen und Ergebnis gleichgültig war, ob das Dargestellte +ein direkt bezeichneter dichterischer Vorwurf war oder eine bewußt +erfaßte formalistische Idee. Wie es aber der Oper und der Sinfonie +erging, so auch den intimeren Gestaltungsformen der Vokal- und +Instrumentalmusik: dem Lied, dem Chorgesang, der Solo- und Kammermusik +verschiedenster Art. Das Lied, durch Schubert aus zopfiger Beengtheit +zur freiesten Spiegelung individuell erfaßten seelischen +Gemütsgeschehens erhoben, wurde durch Schumann, Jensen, Franz zur +Stimmungsschilderung abgeschwächt. Bei Brahms erscheint es unter +Neigung zu volkstümlich vereinfachender Formung, bei Hugo Wolf und +seinen neudeutschen Nachkommen wird es zur psychologischen Kleinstudie +-- ohne daß Komponisten und Hörern die damit verbundene Entseelung des +Lyrischen zum Bewußtsein gekommen wäre. Das Vernunftgemäße, auch in +künstlerischer Fassung stets irgendwie dem rein logischen Begreifen +Zugängliche war unausgesprochene Voraussetzung für die Anerkennung des +Kunstwerkes. Dieses selbst blieb nur Dokument des Talentes, etwas durch +Musik auszudrücken, was dem Inhalt nach ein Andersbegabter ebenso oder +ähnlich auf anderem Wege gesagt hätte. So zerfloß hier, wie in der +Sinfonie und der Oper, das Musikeigene. Das Interesse wurde fachlich +begrenzt, vorwiegend auf das Wie der Darstellung hingelenkt. Die +Kammermusik der Romantik einschließlich ihres gehaltvollsten Teiles: +der Brahmsschen Kammermusik bestätigt dies. Formalistischer Bau, Faktur +des musikalischen Satzes, klanglich koloristische Fassung, Art und +Entwicklung der Gefühlsdarstellung sind gegeben durch die klassischen +Vorbilder, das äußerlich Strukturelle vorwiegend durch Beethoven, das +lyrisch Empfindungsmäßige mehr durch Schubert. Dieses Erbe wird nun in +kleine Individualitätsgebiete aufgeteilt. Die gegebenen Grundmaße +ästhetischer, musikalischer Art bedeuten gewissermaßen ein festes, +geistiges Wirtschaftsgut, das nun aus dem Bereich des Urschöpferischen, +wo jene großen Geister es gefunden, in die kleine, irdisch bewegte Welt +als fertige Tatsache übernommen und verarbeitet wird. + +Entwicklungsmäßig gesehen ist solcher Verlauf natürlich und richtig, +sein Wert und seine Bedeutung liegt in der allmählichen +Zugänglichmachung und Durchdringung der Ideen primär schaffender +Künstler. Wenn wir etwa die gesamte Kammermusik nach Beethoven bis zur +folgenden Jahrhundertwende auffassen als Mittel, durch variierende +Einzelausführung die gewaltige Masse der Hinterlassenschaft Beethovens +zunächst stofflich zu zerlegen und zu konsumieren, um dadurch den +Zugang zu ihrer höheren Geistessphäre allmählich zu gewinnen, so wäre +mit solcher Auffassung etwa die geschichtliche Mission der romantischen +Kammermusik bezeichnet. Damit ist aber zugleich gesagt, daß ihr selbst +die urzeugende Kraft abgeht, ja eigentlich mit Bewußtsein außerhalb +ihres künstlerischen Wollens gehalten wird, und daß sie, unter +Vermeidung eigener Stellungnahme und Auseinandersetzung mit den +Grundproblemen musikalisch schöpferischer Gestaltung, den gegebenen +Darstellungsapparat materialisierte, ihn als Schema im technischen +Sinne behandelte und ausbaute. Auf diese Art konnte bei ausreichendem +Einfühlungs- und Anpassungstalent noch manches an sich recht +beachtliche Musikstück entstehen. Die Gebiete, die Beethoven und +Schubert in ihrem Ideenflug abgesteckt hatten, boten Raum genug für +Sondersiedlungen. Aber das eigentlich Wertschaffende: die Kraft und der +elementare Zwang, aus dem heraus die idealistisch klassische Kunst +überhaupt erst die Regel ihrer Gestaltungsart gefunden hatte, mußte bei +den Nachfolgenden notwendigerweise fehlen. Die Gesetzlichkeit einer +bestimmten Ausdruckstechnik, der der schöpferische Gedanke noch vor +seiner Geburt untergeordnet war, die Einspannung des Gefühlsablaufes in +feste Normen unterstellt auch auf diesem Gebiet Gefühl und Phantasie +den Forderungen des Verstandes und des erklärungfordernden Bewußtseins. +Bezeichnend dafür ist Pfitzners Schaffenstheorie. Nach ihr zerfällt die +Entstehung des Musikstückes in die Empfängnis des thematischen +Einfalles und in dessen handwerklich formale Verarbeitung. Solche +Theorie ist nur möglich bei Auffassung der Form als eines gegebenen +Schemas, bei Verkennung des organischen Eigenlebens der Form aus dem +Zwang selbständigen Gestaltungstriebes, bei freiwilliger Beschränkung +der Schaffenstätigkeit auf individuelle Variierung als unveränderlich +genommener Typen. Das Primäre der musikalischen Konzeption wird auf den +melodisch thematischen Brocken des Einfalles beschränkt, der dann das +Objekt rationalistischer "Durchführung" bildet -- eine Auffassung des +Schaffensvorganges, die nicht nur Erzeugnis spekulativer Phantasie ist, +sondern wahrhaftige Charakteristik einer bis in die Gegenwart hinein +üblichen und anerkannten Praxis. + +Wie nun in der großen sinfonischen Form ein zeiteigenes religiöses +Gemeinschaftsgefühl als neue Grundlage gewonnen wurde, wie in der Oper +an Stelle bewußter ethisch dramatischer Tendenz der irrationale +Spieltrieb wieder hervordrängte, so hat dieser Zug zum +Außervernunftmäßigen, zum ursprünglich Musikhaften der Musik, zur +reinen Gefühlskundgebung auch die Elemente der Tonsprache ergriffen, +aus denen sich Vokal- und Kammermusik formen. Er hat hier, auf dem +geistigsten, intimsten Ausdrucksgebiet die radikalste Umwälzung +hervorgerufen, zeigt am schärfsten oppositionelle Haltung gegenüber der +unmittelbaren Vergangenheit, ist in den Ergebnissen einstweilen +erheblich problematischer als in der Sinfonie und Oper. Er läßt aber +gleichzeitig die entscheidenden Grundfragen der künstlerischen +Wesensrichtung in klarster Eindeutigkeit hervortreten und gibt damit +eigentlich die letzte Auskunft über die Gegensätzlichkeit der +Anschauungen, den Wechsel der Zielsetzung. Sinfonie und Oper sind in +stärkerem Maße stoffgebunden. Wirken auch in ihnen die gleichen +Probleme, so sind sie doch von der begrifflichen Seite her leichter zu +fassen. In der Kammermusik fallen alle Bindungen nach außen fort. Es +bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem zu innerst Wesenhaften der +Musik, wie es hier in Klang, Stil und Form zutage tritt. + +In diesen eigentlichen Elementen der Musik aber ist mehr und anderes +lebendig, als die Fachästhetik gemeinhin gelten läßt. In ihnen wirkt +und aus ihnen spricht die geistige Grundkraft der Zeit überhaupt, der +sie angehören, und aus deren innerstem Gefühlstrieb sie ihre Gesetze +empfangen. + + * * + * + +Wenn wir die in den beiden letztvergangenen Jahrhunderten +zurückgelegten Wege der musikalischen Gestaltungsart überblicken, so +zeigen sich zwei große, deutlich getrennte Entwicklungsgebiete: das des +polyphonen und das des homophonen Ausdruckes. Die Gegensätze sind dem +Prinzip nach nicht neu, sie waren schon im Mittelalter vorhanden, wenn +auch im einzelnen anders geformt. Allgemein gesprochen, ohne damit +bestimmte historische Umgrenzungen festlegen zu wollen, kann man sagen, +daß Zeiten mit vorwiegend religiös gerichtetem Geistesleben in der +Musik der Polyphonie, solche mit verweltlichter Interessenrichtung der +Homophonie zuneigen werden. Die letzte große polyphone Kunst der +Neuzeit war die Musik Bachs. Die Polyphonie -- Vielstimmigkeit -- ist +eine Kunst der linear bewegten Fläche. Das artistische Problem liegt in +der Vereinigung von organischer Selbständigkeit der Einzelstimme mit +strenger Gebundenheit des Ganzen. An dieser zusammenfassenden Kraft, an +dieser Fähigkeit, die reichste Mannigfaltigkeit linearer Sonderbewegung +in einen großen Totalkomplex zu vereinen, bewährt sich die polyphone +Kunst des Meisters. Was er schafft ist entstanden aus der Vorstellung +der Gesamtheitswirkung, ist bestimmt, ohne Verlust seiner Eigenheit +sich zu überindividueller Erscheinung zusammenzuschließen. Der +Unterschied der stimmlichen Einzelwesen ist lediglich Unterschied der +Lage, des Klanges, der Bewegungsschnelligkeit, dem Charakter nach sind +alle gleich, gehören alle der gleichen Gefühlsdimension an, sind sie +Linien, die sich nach dem Gesetz des Bewegungsimpulses +ineinanderschlingen, schneiden, zum Ornament formen, ohne je die reale +Sinnlichkeit der Linie, die Festigkeit des individuellen Seins zu +verlieren. Als Sprachmittel ist die Orgel mit der reichgegliederten und +doch im Charakter gleichartigen Fülle ihrer Klangschichtungen das +typische instrumentale, der vielstimmige Chor mit seinen artverwandten +Stimmindividuen das vokale Ausdruckselement der Polyphonie. + +Die homophone Kunst, die schon zu Bachs Zeit und dann immer mächtiger +empordrängt, hebt die Gebundenheit der Vielheit, hebt die Wirkung durch +Zusammenwachsen der Organismen zur überindividuellen Erscheinung auf. +Alle Kraft, aller Wille, alles Leben konzentriert sich auf eine +Einzelstimme, die Führung nimmt, das Typenhafte abstreift und +subjektive Bestimmtheit erhält. Die Flächenhaftigkeit der +nebeneinandergelagerten Linien verschwindet, da nur noch eine +dominiert. Unter dieser aber bildet sich ein magischer Raum, eine neue +Dimension der Tiefe, gewonnen durch Schichtung geheimnisvoll +beziehungsreicher Tonstufen: die Harmonie. Die mit jedem Ton +gleichzeitig erklingenden Obertöne werden als seine Ergänzung empfunden +und festgehalten, diese vertikale Tonreihe gibt jetzt der gestaltenden +Phantasie entscheidende Anregung. Der Klang gliedert sich in Hauptton +und Nebentöne, jener als Leitpunkt der Melodie, diese als begleitender +harmonischer Untergrund. An Stelle des geometrisch flächigen tritt das +akustisch räumliche Tonsystem, an Stelle der Linienbewegung die durch +Wechsel der Tiefenbewegung wirkende Harmonie. Mit dieser Veränderung +der Tonvorstellung zugleich vollzieht sich eine entsprechende +Umgestaltung des Klangempfindens. Der Unterschied von melodischem +Hauptton und harmonischen Begleittönen bedingt auch ein anderes System +der Klanggruppierung. Der farbige Reiz des Klanges kommt zu +selbständiger Geltung. Gegenüber dem Streben nach Zusammenfassung +möglichst gleichartiger Charaktere in der polyphonen Musik herrscht +jetzt der Drang nach Gleichzeitigkeit heterogener Klangelemente, deren +verschiedenartig abgestufte Lichtwirkungen die Vorstellung des +räumlichen Übereinander steigern. In gleichem Maße und aus gleichem +Bedürfnis erhält die bis dahin vorwiegend auf einfache, primitive +Kontraste gestellte Dynamik lebendig bewegte Durchbildung. Das +Orchester, diese Vielheit des Ungleichartigen, wird das wichtigste +Instrument der melodisch homophonen Kunst, soweit andere Sprachmittel +herangezogen werden, geschieht es stets unter Mischung +verschiedenartiger Klangcharaktere. Im Streichquartett, der reinsten +Klangeinheit der homophonen Kunst, ist zunächst die dominierende +Stellung der Oberstimme, die begleitende, lediglich harmonisch füllende +Funktion der übrigen selbstverständlich und wird erst in den späteren +Quartetten Beethovens zu gesteigerter Subjektivierung und klanglicher +Gegensätzlichkeit der Einzelstimmen umgewandelt. + +Den Anfang dieser großen, mit den tiefsten Regungen der zeitlichen +Geistesgeschichte unmittelbar verbundenen Umwälzung bildet das +Generalbaß-Zeitalter, so genannt nach der Gewohnheit, nur die +melodische Linie und die Baßstimme aufzuzeichnen, während die +erforderlichen harmonischen Füllstimmen durch Ziffern angedeutet und +bei der Aufführung improvisatorisch hinzugesetzt wurden. Man kann diese +Methode, deren naive Praxis deutlich die Unterscheidung zwischen +Wichtigem und minder Wichtigem spiegelt, gewissermaßen als Beginn der +musikalischen Aufklärung bezeichnen. Zeitlich ist sie schon vor Bach +vorhanden, wird auch von ihm selbst verwendet, erlangt aber +vorherrschende Bedeutung erst mit dem endgültigen Durchbruch des +homophonen Stiles, als Vorbereitung und Übergang zur Gewinnung der +harmonischen Vorstellungsart. Diese ist das eigentliche Ausdrucksgebiet +der Zeit des klassischen Idealismus. Hier hat die melodische Oberstimme +unumschränkte Freiheit, reichste Bewegungskraft, vollendeten +Persönlichkeitswert gewonnen. Keine Gebundenheit mehr, keine vorbewußte +Bezugnahme auf ein überindividuelles Ganzes ist vorhanden die +typenhafte Einzelformung hat sich zu schärfster Subjektivierung +gesteigert. Es herrscht die Melodie, als unmittelbare Spiegelung des +Persönlichkeitsbewußtseins, periodisch umgrenzt, physiognomisch von +äußerster Bestimmtheit des Schnittes. Diese Melodie ist empfangen aus +dem Vorgefühl der Harmonie. Die innere Bewegung der Harmonie, ihr +gesetzmäßiger Ablauf gibt die inneren Richtpunkte für die Melodie, +ähnlich und doch ganz anders wie in der Polyphonie die konstruktive +Idee der Gesamtform den Wuchs des thematischen Gedankens beeinflußte. +Dieser thematische Gedanke der polyphonen Musik war bei allem Eigenwert +ein Partialgedanke, die Melodie dagegen, namentlich der frühklassischen +Zeit bis zu Mozart, ist in sich geschlossen, fertig, ein lebendiges, +organisch gegliedertes, selbständiges Wesen. So offenkundig ihre +Gestaltung aus der Einbeziehung des Harmoniegefühles mitbedingt ist, so +zweifellos ist doch der bestimmende Zug des rein melodischen Impulses, +die Unterordnung der Harmonie vorzugsweise zur Stützung und +Bekräftigung der melodischen Erscheinung. + +Melodie im Sinne der großen klassischen Kunst, wie sie am reinsten bei +Mozart, vorbereitend bei Haydn, abschließend bei Beethoven und Schubert +erklingt, ist das musikalische Symbol der freien Persönlichkeit, die +künstlerische Formung höchsten Individualitätsbewußtseins. Man kann die +Gesetze. ihres Baues durchforschen, man kann sie stilistisch kopieren. +Aber keine noch so starke melodische Erfindungsgabe einer späteren Zeit +kann ihre Wirkung annähernd erreichen, weil ihr Geheimnis nicht in +spezifisch musikalischen Gesetzen liegt, sondern in der Gewalt des +Ethos, dem sie entsprungen ist. Dieses Ethos zwang die Harmonie zur +Dienstbarkeit gegenüber der melodischen Individualität. Sie blieb +Trägerin der Kraft, sie durchdrang in der Hochblüte der klassischen +Kunst den harmonischen Unterbau bis in die feinsten Verästelungen, so +daß in den späteren Quartetten Beethovens die harmonische Fügung der +Stimmen durch freieste melodische Auflockerung fast bis zur Polyphonie +gesteigert wird, ja teilweise zu deren Formenbau zurückkehrt: in +Mozarts Jupiter-Sinfonie und "Zauberflöte"-Ouvertüre, in Beethovens +Ouvertüre "Weihe des Hauses" im Finale der Neunten Sinfonie, vor allem +in den drei großen B-Dur-Fugen: der Sonate op. 106, des Credo der +"Missa", des Streichquartetts op. 130. Doch ist diese Übereinstimmung +der melodisch homophonen mit der polyphonen Kunst nur äußerlich +stilistischer Art. Aus einer ins Grandiose gesteigerten melodischen +Phantasiekraft heraus wird die Linienkunst der alten Polyphonie hier +dem harmonischen Bewußtsein dienstbar gemacht, aus der Flächendimension +in die Tiefendimension übertragen, auf solche Art diese mit +konstruktiver Klarheit füllend: Kundgebung höchstgesteigerter +Persönlichkeitskraft, deren melodischer Wille Höhe und Tiefe der +Klangwelt durchdringt und mit tätiger Schaffensenergie nach seinem +Bilde gestaltet. + +Linear sich entfaltende Polyphonie mit dem Ziel flächenhafter +Ausbreitung und Zusammenfassung, melodische Homophonie, gestützt auf +den imaginären Unterbau der harmonisch räumlichen Tiefe waren zwei in +sich grundverschiedene Arten der Klanggestaltung, schöpferische +Kundgebungen zweier in sich selbständiger, mit eigener Kraft des +Schauens und Formens begabter Zeitalter. Der Romantik fehlt diese +Fähigheit eigenschöpferischen Bildens. Wie hinsichtlich der +Stoffbehandlung, wie hinsichtlich der geistigen Problemstellung, ist +sie auch in bezug auf spezifisch klangmusikalische Formung eine +Niederbruchserscheinung im Gefolge des Klassizismus. Die beherrschende +melodische Kunst, dieses Siegelzeichen der festen Persönlichkeit, geht +ihr verloren. Wohl bleibt ihr Musikempfinden melodisch orientiert, aber +die Melodie verliert die feste, in sich ruhende Geschlossenheit der +klassischen Melodik. Der Schwerpunkt sinkt unter die melodische +Oberfläche in die Harmonik, diese trägt jetzt den Bewegungsantrieb in +sich. Bei den Klassikern erscheint das ganze musikalische Gebilde in +unmittelbarer plastischer Gegenständlichkeit, Melodik als +formbestimmender Umriß, Harmonik als füllende Körperhaftigkeit. Nun +wird die Harmonik zur innerlich führenden Kraft, und die Melodie zeigt +in ihrem Verlauf mehr und mehr nur den Wellenschlag der harmonischen +Innenbewegung, Wagners Begriff der "unendlichen Melodie", die "mit +einer einzigen harmonischen Wendung den Ausdruck auf das Ergreifendste +umstimmen kann," ist die natürliche und richtige Kennzeichnung einer +Musikempfindung, deren Zentrum in der Vorstellung und Betonung der +harmonischen Wirkung liegt, deren Melodik daher mehr und mehr zur +Verknüpfung der Harmonien wird. Nicht nur bei Wagner und Liszt, auch +bei Schumann, Spohr, Marschner, Weber, selbst bei dem klassizistisch +eklektischen Mendelssohn ist diese Gestaltung der Melodie aus dem +Willen der Harmonie erkennbar. Sie steigert sich bei Brahms, den +Wagner- und Liszt-Epigonen bis zur völligen Abhängigkeit des mehr und +mehr zur Andeutung verflüchtigten melodischen Gedankens voll der +dominierenden harmonischen Konzeption. Es bedarf kaum des Hinweises, +daß, gerade wie sich bei Bach in Einzelfällen bereits häufig Beispiele +melodischer Homophonie finden, so auch bei den Klassikern, namentlich +bei Beethoven und dem innerlich bereits stark romantisierten Schubert, +die Harmonie gelegentlich führend und ausdrucksbestimmend hervortritt. +Aber abgesehen davon, daß solche Fälle im Hinblick auf das Gesamtwerk +Ausnahmen bedeuten, zeigt sich auch bei genauer Betrachtung, daß selbst +hier der bestimmende Grundimpuls melodischer Natur ist. Die +Klangvorstellung, aus der die Musiker des klassischen Idealismus +schöpfen, läßt sich bezeichnen als harmonisierte Melodik, die der +Romantiker als melodisierte Harmonik. + +In solcher Gegenüberstellung liegt zunächst keine Wertung. Sie ergibt +sich erst, wenn man Sinn und Folge dieser Wendung betrachtet. Der Sinn +war der gleiche wie in der romantischen Bewegung überhaupt: Abkehr von +der Realität, von der Gegenständlichkeit des Fühlens, wie sie sich in +der Formung der selbsteigenen, geschlossenen Melodie aussprach, Flucht +in die Unwirklichkeit, in die magische Phantastik des harmonischen +Raumes, dessen Unbestimmtheit durch die zu ständigem Wechsel, +plötzlicher Umstellung und Überraschung führende Chromatik noch +gesteigert wurde. Die Harmonie, die sich nicht, wie in der polyphonen +Kunst, als sekundäre Folge ergibt, auch nicht, wie in der klassischen +Homophonie, dienender Unterbau der melodischen Gestalt, sondern Herrin +und Führerin ist, bedeutet als ästhetisches Phänomen die Verlegung des +Gefühlszentrums in eine spekulative Sphäre. Belebt wurde sie durch eine +allmählich bis ins kleinste sich erstreckende motivische Gliederung, +aus deren sinnvollem Ineinandergreifen sich ein künstlich organisches +Gegenbild der Wirklichkeit ergab. Wagner macht sich Schopenhauers +romantische Musikästhetik zu eigen: die Musik ist Spiegelung aller +Objektivierungen des Willens, von der niedersten bis zur höchsten +Stufe. Alles ist innerlich aufeinander bezogen durch die Harmonie, und +oben schwebt als letzte Bindung der einigende melodische Faden. +Schopenhauer exemplifiziert zwar nicht auf Wagner, auch nicht auf die +Klassiker, sondern auf Rossini. Seine Betonung der primären Bedeutung +der Melodie zeigt seine Herkunft vom Idealismus, in seiner Auffassung +vom Wesen der Harmonie aber ist er durchaus der an die Vorstellung des +imaginären musikalischen Raumes und seines innerorganischen Lebens +gebundene Romantiker. + +Dies ist der Sinn der romantischen Wendung zur melodisierten Harmonik: +die Gewinnung der musikalischen Raumvorstellung zum Aufbau einer +illusionistisch bewegten Klangwelt als Widerspiel und Korrektiv der +Realität. Die Folge war eine ständig zunehmende Überschätzung des +Wesens und der Bedeutung der Harmonie, die für den Romantiker +schließlich der Inbegriff des Wesens der Musik überhaupt wurde. In +seiner Schrift "Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz" gibt Hans +Pfitzner eine entwicklungsphilosophische musikgeschichtliche Skizze, in +der er eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen der Zeit, wo Musik nur +Wissenschaft gewesen, und der Zeit, wo sie Kunst geworden sei. Als +Kennzeichen des Übergangs von der Wissenschaft zur Kunst wird genannt +der Augenblick, in dem "der Geist der Musik endlich das so lange +vorenthaltene Kleinod" herausgab, "den Teil seines Wesens, in dessen +Besitz die Musik zum erstenmal in der Welt als selbstherrliche Kunst +auftreten konnte: die Welt der Harmonie". Es ist hinzuzusetzen, daß +Pfitzner den Beginn der harmonischen Musikauffassung wesentlich früher +ansetzt, als es hier geschieht, nämlich schon im späten Mittelalter, +daß er also Unterschiede zwischen polyphoner, melodisch homophoner und +harmonischer Musikempfindung nicht annimmt. Indessen handelt es sich +nicht darum, über Notwendigkeit und Berechtigung dieser Abgrenzungen zu +sprechen. Bezeichnend ist lediglich die Tatsache, daß der Epigone der +Romantik in der Harmonie schlechthin das Wesenhafte der Musik erblickt, +daß es ihm "äußerst schwer, wenn nicht unmöglich ist, sich eine +wahrhafte homophone Tongestalt vorzustellen", daß bei ihm eben +jegliches Musikempfinden an die bewußt oder unbewußt mitschwingende +Harmonie gebunden ist. Das ist als subjektives Bekenntnis zweifellos +wahr und richtig und erklärt alle weiteren Folgerungen, die Pfitzner +aus seiner ästhetischen Grundanschauung zieht. Falsch daran ist nichts +als die These selbst von der Harmonie als dem Urwesen der Musik, falsch +in bezug auf die Bezeichnung der frühmittelalterlichen Musik als bloßer +Wissenschaft und das Nichtvorstellbare einer homophonen Tongestalt: +gäbe es kein anderes Denkmal der musikalischen Frühzeit als den +Gregorianischen Choral, so wäre der unwiderlegliche Gegenbeweis +erbracht. Aber auch in der Neuzeit ist die harmonische Musikvorstellung +als richtunggebende Empfindungsart erst zuletzt mit allen Symptomen +einer Nachblüte zur Geltung gekommen. Wer in ihr das Wesenhafte der +Musik überhaupt erkennt, der freilich muß unvermeidlich, selbst wenn es +heute keine andersgerichtete Musik gäbe, wenn also eine Opposition gar +nicht in Frage käme, zur ästhetischen Erkenntnis eines Unterganges +kommen. Denn wirklich: diese Welt der Harmonie, dieses kunstvolle, +praktisch und theoretisch zur vollkommensten Organik entwickelte +Phantom einer musikalischen Raumvorstellung, dieses Illusionsgebilde, +dessen imaginäre Realität Verstand und Spekulation zu denkbar höchster +rationaler Gesetzmäßigkeit ausgebaut haben -- es geht wahrhaft unter, +geradeso, wie die Romantik untergeht, deren merkwürdigste und +eigentümlichste Schöpfung es ist. + +Die Welt der Harmonie geht unter -- aber die Welt der Musik bleibt +bestehen. Beide sind nicht identisch, und die Zeit der harmonischen +Musikempfindung ist im Ablauf des geistigen Werdens nur eine Episode +der Musikgeschichte, nicht einmal eine selbständige, sondern eine +Ableitung, eine Wucherung der melodisch homophonen Musik. Was sie der +Romantik innerlich zugehörend und konform erwies, war der starke +spekulative Anreiz, den ihr Ausbau dem Verstande bot, war der Grundzug +rationeller Vernünftigkeit, der ihr nicht nur äußerlich, sondern rein +gefühlsmäßig aufgeprägt war und ebendarum schematisch formalistische +Bildungen außerordentlich begünstigte, ja ihnen noch den Charakter +besonderer Ehrwürdigkeit und Tugend gab. An und in diesen Bildungen ist +nun die Welt der Harmonie erstarrt. Sie vermag sich nicht mehr aus +ihnen zu lösen, weil sie in Wahrheit gar keine Welt ist oder war, +sondern nur eine Insel in der Welt, deren Umkreis nun erkannt ist und +deren Geheimnisse durchforscht sind. Auf dieser Insel stehen wir heut +und spähen in die Weite, um den Weg zu neuen Küsten und Ländern zu +erforschen. Der Kompaß, der dahin führen soll, ist das Bewußtsein der +irrationalen Natur der Musik. Aus diesem Bewußtsein erwächst die +Abwendung von der Harmonie als Grundlage der Klangempfindung. Diese +Harmonie hatte in ihrer Entwicklung die Verbindung mit dem +gefühlsmäßigen Quell musikalischen Lebens verloren, sie hatte sich zu +einer Massenhäufung von "Systemen" verhärtet -- keine Art der +Klanganschauung hat eine solche, fast unübersehbare Menge von Systemen +hervorgebracht, hat die Denkart der Menschen derart auf dogmatische +Gebiete abgeleitet. Es gilt nun, diese lebendige Dogmatik der +Harmonielehren als Lehren nicht etwa nur des technischen Satzes, +sondern vor allem als Zwangsschienen des Empfindungsvermögens +abzustreifen. Es gilt, darüber hinaus den Weg zu einer neuen, dem +Verlangen nach außervernunftmäßiger Klanganschauung und -gestaltung +entsprechenden Kunst zu finden. + +Hier stehen wir gegenwärtig, und in der gekennzeichneten Aufgabe, der +Gewinnung einer im Wesen neuen Art der Musikanschauung überhaupt liegt +alles beschlossen, was die Musik an Teilproblemen anderer Art bietet. +Gemeinschaftsgefühl, religiöses Bewußtsein, Symbolik des Spieles, alles +dies sind ins Begriffliche gewendete Ausstrahlungen des zutiefst +musikeigenen Problems unserer Gefühlsauffassung der Musik. Die Fragen +des Stiles, der Form, der klanglichen Fassung sind gleichfalls an sich +nicht primärer, entscheidender Art. Auch ihre Lösung ist bedingt durch +die Art, wie wir Musik als Phänomen an sich empfinden, aus welcher +Einstellung des Gefühles wir sie erfassen. + +Wir sind Suchende. In dieser Tatsache des Suchens mag mancher im [sic] +Zeichen zeitlicher Schwäche sehen. "Alles Neue und Originelle gebieret +sich von selbst, ohne daß man danach suchet", hat Beethoven gesagt. Es +war zweifellos richtig -- für Beethoven, und wir dürfen, ohne uns zu +schämen, zugestehen, daß unter uns gegenwärtig kein Beethoven lebt. +Aber wir dürfen auch hinzusetzen, daß Kolumbus Amerika nicht entdeckt +hätte, ohne es zu suchen. Wir dürfen sogar weiter sagen, daß er +eigentlich etwas Ganz anderes suchte als Amerika, daß er von diesem +Erdteil gar nichts wußte, ja daß er ihn in Wirklichkeit auch nicht +entdeckt hat, sondern einer Täuschung verfiel -- und daß er doch die +kühnste Entdeckernatur war, vor deren Namen und Tat die Geschichte +innehält. Was ihn trieb, war der Zwang zur neuen Welt. In der Kraft, +mit der er dieses Muß des Zwanges zur Tat wandelte, lag das +Entscheidende seiner Größe, nicht im unmittelbaren realen Ergebnis. Wir +sind in der Lage der Kolumbuszeit. + +Die Säfte der alten Welt sind vertrocknet, sie stirbt, ihre gläubigen +Einwohner sagen es selbst, und wir müssen einsehen, daß sie recht +haben. Aber wir hängen nicht so an ihr, wir fühlen uns ihr nicht so +verbunden, daß wir mit ihr sterben wollen. Im Gegenteil, wir sind der +Meinung, daß sie wohl tut, zu sterben, weil ihre Zeit um ist und wir +den Glauben haben an die neue Welt, obwohl wir sie noch nicht sehen. In +der Tatsache dieses Glaubens an das Unbekannte liegt etwas, das mehr +ist als lediglich negative Opposition gegen das Bestehende, etwas, das +der bisherigen Zeit fremd war, uns ihr überlegen macht und uns die +Überzeugung gibt, daß die Fahrt sein muß, weil eben der Glaube es +befiehlt. Ob wir nun Indien auf dem andern Wege um die Welt erreichen, +oder vielleicht ein ganz neues Land, das können wir nicht sagen. Wir +wissen nur, daß wir fahren müssen, nicht aus Abenteurerlust, sondern +unter dem Gebot der inneren Verheißung. In der Erfüllung dieses Gebotes +liegt unsere Sendung. + +So verlassen wir die alte romantische Welt der Harmonie. Der Blick +wendet sich zurück auf das, was vor ihr war. Die schöne Idealwelt des +Klassizismus erkennen und verehren wir in all ihrer Hoheit, die +Sinfonien Haydns, die Opern Mozarts, die Quartette Beethovens sind +Bestandteile unsres Menschentums, die wir nicht hergeben könnten, ohne +uns selbst zu vernichten. Aber diese Welt ist fertig. Sie hat die freie +Persönlichkeit, die große Melodie der Menschen gebracht. Was darüber +hinaus lebendig und triebkräftig an ihr war, hat auf eben den Weg +geführt, den wir jetzt verlassen. Der Mensch als Einzelwesen hat als +Objekt der Kunst alles gegeben, wag er zu geben vermochte, von der +reinen Zusammenfassung stärkster Schwungkräfte des Geistes bis zur +leidvollen Selbstzersetzung. Psychische und akustische Vorgänge +entsprechen einander: die Harmonie, diese merkwürdige Auseinanderlegung +des Haupttones in die gleichzeitig klingenden Nebentöne ist als +Klangphänomen eine Zersetzungserscheinung, die die plastische Kraft der +Melodik von innen her zerstört. Dieser Zerstörungskeim lag in der +klassischen Kunst der melodischen Homophonie eingeschlossen, ähnlich +wie die immer höher gesteigerte Individualbelebung schließlich zur +Auflösung der Polyphonie geführt hatte. Nun haben wir den Kreis des +Einzelwesens umschritten und ausgeforscht, das Individuum als solches +ist wieder einmal im Lauf der Menschheitsgeschichte erkannt. Es hat von +sich allein aus nicht mehr viel oder gar nichts mehr zu geben auf lange +Zeit hinaus, wir haben kein Interesse mehr an ihm, seinen Gesetzen, +seinen Intimitäten. Die Gattung, der Typus, die Gesamtheit rückt wieder +vor, das menschlich Gemeinsame tritt an die Stelle des persönlich +Besonderen, die Wage des Gefühles senkt sich wieder nach der anderen +Seite: vom melodisch harmonischen Individualismus zum polyphonen +Kollektivismus. Freilich zielt diese Umschaltung nicht auf +Wiederaufnahme der alten polyphonen Kunst. In diesem Fall wäre sie +nichts anderes als ebenfalls romantische Stilkünstelei, die nur statt +auf Mozart auf Bach Bezug nimmt. Es handelt sich vielmehr um einen +neuen, elementar bedingten Durchbruch der polyphonen Musikauffassung, +die als solche der vorklassischen Zeit nähersteht als der klassischen, +im übrigen ihrer stilgesetzlichen Besonderheit nach von der Polyphonie +Bachs mindestens ebenso weit entfernt ist wie diese etwa von der +polyphonen Kunst des Mittelalters. Die zwischen zwei derartigen +geistesartlich verwandten Epochen liegenden Erlebnisse und Ausblicke +sind Erfahrungen, die nicht vergessen werden können. So sicher der +subjektivistische Auflösungsprozeß der harmonischen Empfindungsart +nicht mehr im Mittelpunkt des musikalischen Fühlens steht, so bedeutsam +wirken doch seine Ergebnisse auf die sich neu heranbildende Art der +Musikauffassung nach. + +Das hier angeschlagene Problem ist keines einer einzelnen Nation, +sondern der Menschheit. Die große Krise, in der wir stehen, die +Erkenntnis der Notwendigkeit einer Änderung unserer Gefühlseinstellung +gegenüber allen Erscheinungen des Seins, der Überwindung des +Individuums, der Erfassung von Leben und Welt aus einem Mittelpunkt +außerhalb unsrer selbst ist eine Aufgabe, die schon ihrer Natur nach +nicht auf nur ein Volk beschränkt bleiben kann. Wir sehen auch überall +gerade in der Musik der Völker alter und neuer Kultur Ansätze zu einer +Entwicklung im angedeuteten Sinn. Wir sehen sie aber in der deutschen +Musik besonders auffallend. Sicherlich nicht nur, weil wir ihr am +nächsten stehen. Kein Volk hat das Erlebnis der Romantik mit so +starker, gläubiger Intensität in sich aufgenommen, keines ist so bis +auf die tiefsten Wurzeln seines Wesens davon ergriffen worden. Keines +hat dieser Entwicklung zum Individualismus und Subjektivismus so +mannigfaltige, reiche Früchte abgewonnen und -- bei keinem hat der +geistige Zersetzungsprozeß, die Krankheitserscheinung der Romantik so +verheerende Folgen gehabt. Es ist begreiflich, daß daher auch gerade aus +der deutschen Musik der erste und stärkste Vorstoß gegen die +romantische Kunst erfolgte, der ihn in gedanklichem Phantasiespiel +vorbereitete, ist der Deutsch-Italiener Busoni, der ihn führte, ist +Arnold Schönberg. Gleich Mahler und Schreker ist auch Schönberg ein +Abkömmling der Romantik, der in seinen Anfangswerken mit vollem +Bewußtsein die vielleicht reichste, phantasievollste Harmoniewelt der +Epigonenzeit aufbaute. Aber eben diese Leichtigkeit der Weiterbildung +überkommener Gesetzmäßigkeiten hat in ihm früh den kritischen Trieb +geweckt, hat die Erkenntnis geschärft für das konventionell Gebundene +dieser Kunst. Was Mahler durch seine vorwiegend ethisch religiöse, +Schreker durch die elementare Triebhaftigkeit seiner sinnlichen +Phantasie fand, das erreichte Schönberg durch die unerbittliche Schärfe +und fanatische Härte seiner kritischen Fragestellung. Der kühnste, +rücksichtsloseste Intellekt der Nachromantik erkannte die +intellektuelle Bedingtheit dieser Kunstart. Auf dem Gebiet +vernunftmäßig geregelten Musizierens floh er in das Bereich der +beziehungslosen, rein phantastisch bewegten Musik, die aus der +Übersteigerung des Subjektivismus diesen überwindet, aus der +spekulativen Zerfaserung der Harmonie diese aufhebt, aus der +atomisierenden Auflösung des Einzelnen, Besonderen wieder zur Erfassung +des Allgemeingültigen, Typischen, Menschlichen gelangt. Es ist das, was +nach Abstreifung des Individuellen übrigbleibt, im Gegensatz zu der +älteren Typenauffassung, vor der das Persönliche als eigenberechtigt +noch gar nicht bestand. Dementsprechend ist Schönbergs Musik im +Vergleich zu der visuell flächenhaft empfundenen, wuchtig klaren +Ornamentik der Bachschen Polyphonie auf Erfassung des seelisch +Essentiellen gerichtet, mehr Gefühlsvibration als -darstellung. Das +Polyphone an ihr ist mehr Mittel als Zweck. Es ergibt sich nicht aus +dem Willen des Zusammenschlusses, sondern des irregulären +Nebeneinander, das die Harmonie nicht mehr kennt und die Stimmen aus +der räumlichen Tiefe wieder in die lineare Parallele zu bringen sucht. +Das Ziel aber, die Idee der Einigung, ist nicht eigentlich +kollektivistischer Art, es ist nicht Vielstimmigkeit im Sinne der +alten, organisch gebauten Polyphonie. Es ist vielmehr eine +Einstimmigkeit im absoluten Sinne, entharmonisierte Melodik freiester +Art, Projizierung aller Bewegungskräfte des Gefühls in eine einzige +Linie, die polyphone Mannigfaltigkeit des Stimmklangs, +individualisierende melodische Geschlossenheit und harmonisches +Raumgefühl in einem vereinigt. + +Die verwirrende, scheinbar mißtönende Polyphonie des Schönbergischen +Satzes ist in Wahrheit nichts anderes als das Suchen nach dieser +Einstimmigkeit höchster Art, als der Versuch, den Klang immer mehr auf +das Urwesenhafte zu beschränken, ihn aller einengenden Subjektivismen +zu entkleiden, ihn lediglich zum Symbol des auch formal im +Verstandessinne Unfaßbaren, des psychologisch nicht Deutbaren, des +Irrationalen zu machen. Damit gelangt die Musik durch das Mittel der +Polyphonie wieder zu einer Homophonie zurück, von der der romantische +Musikästhetiker meint, daß man sie sich in Wahrheit überhaupt nicht +vorstellen könnte. Und doch liegt in der Aufgabe, diese +Vorstellungsgabe zu gewinnen, der Kern der musikalischen Probleme +unserer Zeit. Je mehr wir erkennen, daß die Kurve der musikalischen +Bewegung tatsächlich dauernd in absteigender Linie läuft, daß alles, +was uns das 19. Jahrhundert gebracht hat, Produkt ständig zunehmender +Materialisierung, Steigerung der Mittel unter Vergessen oder +theatralischer Vortäuschung der seelischen Grundkräfte bedeutet, um so +stärker wird der Drang nach Abstreifung all dieser artifiziellen +Auswüchse, nach Vereinfachung, nach Rückgewinnung der ursprünglichen +Naturkraft des musikalischen Klanges. Solche Vereinfachung ist nicht zu +finden durch Reduzierung der üblichen Mittel, nicht durch eigensinniges +Festhalten an einem gegebenen historischen Schema, auch nicht durch +stilistische Verkleidungskünste. Sie setzt voraus völlige Umstellung +der seelischen Grundkräfte, aus denen die Musik erwächst, Wille und +Fähigkeit, Musik überhaupt außerhalb aller Konvention als Formung +elementarer Gefühlskraft, als Naturlaut zu erkennen. Um zu solcher +reinen Homophonie zu gelangen, müssen wir fähig werden, die absolute +Linie nicht als Teilornament eines polyphonen Gewebes, nicht als +Führerin oder abgrenzende Umkleidung der harmonischen Bewegung, sondern +als selbständige Ausdrucksgestaltung höchst potenzierter Kraft zu +empfinden. Dies ist wohl die Richtung, in die Schönbergs Schaffen +deutet. Wenn wir überhaupt an die Möglichkeit des Weiterlebens der +Musik oberhalb der blöden Gewohnheit und des gedankenlosen Betriebes +glauben, so können wir es nur in der Richtung der prophetischen Kunst +Schönbergs für denkbar halten. + + * * + * + +Man pflegt in Deutschland den Deutschen im allgemeinen als musikalisch +hervorragend begabt und das deutsche Volk als auf musikalischem Gebiet +vor allen anderen ausgezeichnet anzusehen. Wie weit solche Ansicht der +Wirklichkeit entspricht, wäre genau wohl nur durch vergleichende +Statistik festzustellen. Zunächst ist die Tatsache unzweifelhaft, daß +Franzosen und Italiener eine sehr hochstehende geschichtliche +Musikkultur, die Russen eine außerordentlich eigentümliche Kirchen- und +Volksmusik aufzuweisen haben, und daß der Durchschnittstyp des +Italieners, Tschechen, Russen an natürlicher Musikalität dem Deutschen +mindestens gleichkommt. Dem Talent und der produktiven Veranlagung nach +dürfte es vielleicht schwerfallen, den Vorrang der Deutschen zu +beweisen. In einer Beziehung aber scheinen sie sich gegenüber anderen, +ähnlich begabten Völkern hervorzutun: in der Art nämlich, wie ihre +Musik zum unmittelbaren Abbild ihrer Geistesgeschichte wird, wie sie +alle Wandlungen der Volksseele in sich aufnimmt, sie widerspiegelt, ja +aus ihnen eigentlich die Impulse ihres Seins empfängt. Die Musik +anderer Völker ist wohl ebenfalls Wandlungen unterworfen, aber dies +sind Wandlungen des Geschmackes, und so mannigfache Verschiedenheiten +es etwa innerhalb der italienischen oder französischen Oper der beiden +letzten Jahrhunderte gibt, so sind dies im Grunde genommen nur +Unterschiede des Zeitstiles, der Einkleidung. Gleich bleibt sich stets +die durch nationales Temperament bedingte Auffassung der Musik als +unmittelbarer Sprache der Sinne, des Blutes, des Formwillens. Für den +Deutschen dagegen ist die Musik angewandte Metaphysik. Dies gilt nicht +nur für den betrachtenden Beobachter, es gilt für den Schaffenden wie +für den Aufnehmenden, es gilt für jeden Deutschen. Diese metaphysische +Einstellung zur Musik ist eine der grundlegenden, logisch nicht zu +erklärenden Eigenschaften des Volkscharakters oder der Volksseele. Sie +wird ebenso offenbar am einfachsten Lied wie an der kompliziertesten +Kunstmusik, und sie ist es, nicht irgendwelche konventionelle Eigenheit +der Faktur, die der deutschen Musik ihr eigentümliches Gepräge, ihre +Sonderstellung innerhalb der Kunst aller Völker gibt. An sinnlicher +Wärme des Blutes wird uns stets der Italiener, an Klarheit und +logischer Beherrschtheit der Gestaltung stets der Franzose überlegen +sein. Das Übersinnlich-Unaussprechbare, der Wille zum Transzendenten, +die Verwebung feinster Probleme des Geisteslebens mit den Gesetzen der +Klangformung, die Empfindung des Klanges überhaupt als metaphysischen +Symboles ist die bezeichnende Eigenheit der deutschen Musik. + +Schon daraus ergibt sich ihr Angewiesensein auf Zuflüsse von außen. Es +ist nie zu befürchten, daß solche Zuflüsse sie schädigen, ihrer +Originalität berauben könnten. Abgesehen davon, daß es eine schwache +Originalität wäre, die sich nur durch gewaltsame Absperrung zu halten +vermag, wird die deutsche Musik niemals ernstlich fähig sein, +fremdländische Muster wirklich zu kopieren. Sie kann gar nicht anders, +als die ihr zugetragenen Gefühls- und Formanregungen aus der ihr +eigentümlichen metaphysischen Grundeinstellung erfassen, sie also in +eine völlig andersgeartete Vorstellungs- und Empfindungssphäre +übertragen. Andererseits macht gerade diese Art der Grundeinstellung +steten Zufluß blut- und formgebender Kräfte von außen her erforderlich. +Wir sind auch als musikalische Kulturträger kein Volk der +Selbsterzeuger, wir sind ein Volk der Verarbeiter. Wo je im Lauf der +gesamten Geschichte die deutsche Musik einen Höhepunkt erreicht hat, da +hatte sie auf fremdvölkischem Material aufgebaut. Wegen dieses +außernationalen Ursprunges und wegen der metaphysischen +Steigerungskraft der deutschen Musik sind solche Höhepunkte zugleich +Höhepunkte der musikalischen Kunst überhaupt geworden. Wo aber die +deutsche Musik durch den Gang der Ereignisse nach außen abgeschlossen +wurde, da ist sie blaß und schwach geworden, ihre Metaphysik hat der +Unterlage einer lebendigen Physis entbehrt. + +So ist die deutsche Musik unmittelbar dem deutschen Geistesleben im +tiefsten Sinne verknüpft und spiegelt dessen Wandlungen ihrer +metaphysischen Natur nach in unerbittlich genauer Schärfe. Zur Führung +berufen, der letzten Abklärung fähig und zugewandt, vermag sie zu +diesen höchsten Eigenschaften ihres Wesens nur im Durchgang durch +andere zu gelangen. National bedingt, ist sie nach Gesinnung und +Auswirkung eine europäische Kunst, in ihr leben und kämpfen die +Probleme des europäischen oder schlechthin des Menschentums überhaupt. +Der große Niederbruch hat sie gepackt und mitgerissen wie kaum eine +andere Zeiterscheinung der Geistesgeschichte. Was im heutigen +musikalischen Leben Deutschlands vor sich geht, ist das getreue, im +einzelnen ins Groteske verzerrte Abbild unseres allgemeinen Lebens. Es +wird gekämpft nicht nur um Überzeugungen und Urteile, es wird gekämpft +um Gesinnung und Macht, es wird gekämpft nicht mit Einsichten und +Gründen, sondern mit Terror und Lüge, es wird gekämpft nicht um +sachliche Werte, sondern um persönliche Interessen, und das Was und Wie +all dieser Kämpfe ist eine grobe Karikatur der Dinge, deren reiner Name +mißbraucht wird. + +Aber in dieser Musik lebt hinter allen Trugmasken, heut noch fern dem +Tage, Erkenntnis der tiefsten Notwendigkeit geistiger Erneuerung. Es +lebt der Glaube an das Kommende, das andere, das mit Namen nicht zu +nennen ist, und dessen Dasein doch innerlichst erspürt wird. Es lebt +die Idee, daß nicht nur Untergang, sondern auch Aufgang bevorsteht, es +lebt die Vorstellung des unbekannten Gottes. Gerade in der deutschen +Musik ist sie lebendig, zieht sie ihre starken Spuren, wirkt sie mit +wachsender prophetischer Kraft. Sie hat uns die Fähigkeit des Glaubens, +de Überzeugung von der Notwendigkeit dieses Glaubens als seelischer +Voraussetzung aller Offenbarung gebracht. Das ist ihre stärkste +Leistung. Der Erfüllung müssen wir noch harren, bis wir selbst ihrer +fähig sind. + + + + +DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART +VON MAX SCHELER + +Vom "Volksverband der Bücherfreunde" und dem Herausgeber aufgefordert, +auf engem Raum ein Bild zu geben von der gegenwärtigen deutschen +Philosophie, ist der Verfasser sich bewußt, daß der Gegenstand mehr wie +je als ein im Werden befindlicher betrachtet werden muß. Die Tendenz +auf Zersprengung vorhandener, lange bewährter Formen, die in den +Sphären des sozialen Lebens, der Kunst (Expressionismus) und der +Wissenschaft (Relativitätslehre) mit seltsamer Gleichzeitigkeit +auftritt, ist auch in der Philosophie der Gegenwart weit größer, als es +der erste Augenschein lehrt. Die besondere Absicht, die der sonst +solchen Zusammenfassungen wenig geneigte Verfasser mit diesen Zeilen +verbindet, ist, einem größeren Bildungskreise die Möglichkeit zu geben, +sich durch eigene Gedankenarbeit in diejenigen Leistungen der +gegenwärtigen Philosophie tiefer einzuarbeiten, die er nach eigenem +philosophischen Urteil für die triebkräftigsten und zukunftsreichsten +hält. Die menschliche und nationale Selbstbesinnung nach dem +tiefgreifenden Zusammenbruch unseres Staates und unserer bisherigen +gesellschaftlichen Ordnungen vollzieht sich in der Philosophie in der +höchsten und durchgeistigtsten Form. Richtungen und Wege zu ihr mögen +daher indirekt auch auf diesen Blättern mitbezeichnet werden. Es wird +dem Verständnis dienlich sein, wenn der Verfasser schon hier am Anfange +in vager Weise die formale Gestalt der Art von Philosophie bezeichnet, +auf die hin das Beste der gegenwärtigen Arbeit zielt. Insofern +behauptet er: Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht +gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren +terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S a c h +philosophie, die auch die metaphysischen Weltanschauungsfragen in den +Grenzen, in denen es Philosophie im Unterschied zur Religion allein +vermag, in kritischer und vorsichtiger Weise wieder einer Lösung +zuzuführen sucht, beginnt sich unter der methodischen Leitung des +Satzes vom Primat des Seins vor dem Erkennen in der Gegenwart von den +verschiedensten Seiten her aufzuarbeiten. Der Subjektivismus, +erkenntnistheoretische Idealismus, Relativismus, Sensualismus, +Empirismus und Naturalismus wird im Aufbau dieser Philosophie langsam ü +b e r w u n d e n, und es wird wie von selbst eine Wiederanknüpfung der +Philosophie stattfinden an die großen Traditionen jenes objektiven +Ideenidealismus, der etwa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts das +europäisch-christliche Denken immer noch notdürftig zusammenhielt -- +eine Wiederanknüpfung, die um so wertvoller sein dürfte, als sie +ungewollt und aus der schlichten Untersuchung der Sachprobleme der +Philosophie selbst sich ergibt: gleichzeitig aber das neue positive +Wissen, das die Einzelwissenschaften erarbeitet haben, in sich +aufnimmt. Diese Philosophie wird nicht sein wollen die D e s p o t i n +der Einzelwissenschaften, wie in der sogenannten "klassischen" Epoche +der deutschen Spekulation (z. B. Hegel), noch bloße D i e n e r i n +der Einzelwissenschaften (als Erkenntnistheorie und Methodologie), +sondern wird in dem daseinsfreien "W e s e n" aller Seinsgebiete der +Welt einen selbständigen, n u r der Philosophie zugänglichen G e g e n +s t a n d besitzen, den sie mit eigenen Methoden zu erkennen +unternimmt. + +Will man die Philosophie der Gegenwart verstehen, so wird man sie auf +den größeren Hintergrund der Philosophie des 19. Jahrhunderts mit ihren +Phasen projizieren müssen. Die Merkmale der G e s a m t g e s t a l t +der Philosophie des 19. Jahrhunderts sind gegenüber der Philosophie des +17. und 18. Jahrhunderts die folgenden: + +Die Philosophie des 19. Jahrhunderts zeigt erstens eine weitgehende n a +t i o n a l e Verengung. Der Denkverkehr der europäischen Nationen, +wie er uns etwa in einer Figur wie Leibniz gegenwärtig ist, wird durch +die steigende Ausbildung des nationalen Selbstbewußtseins und des +nationalen Mythos erheblich geschwächt. Besonders in Deutschland wird +mit Kant, obzwar dieser große Geist sich selbst noch vollständig als +Bürger der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik fühlt, eine Denkrichtung +angebahnt, die die deutsche Philosophie in starkem Maße aus der +christlich-europäischen Tradition herauslöst und ihr einen +national-partikularistischen Charakter auf viele Jahrzehnte hin erteilt. + +Ein zweites Merkmal ist die wachsende V i e l h e i t der +philosophischen Standpunkte, Schulen, Sekten. Indem die Philosophie in +der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen vorwiegend geschlossenen +S y s t e m charakter annimmt und damit weit mehr als früher persönlich +gebundener wird ("Romane der Denker" nannte es Sophie Germaine), in der +zweiten Hälfte aber umgekehrt sich in Einzelwissenschaften aufzulösen +oder als deren bloße Dienerin zu konstituieren suchte, geht beidemal +der Gedanke "einer" s e l b s t ä n d i g e n Philosophie, an der +Generationen und Völker g e m e i n s a m zu bauen haben, verloren. + +Ein drittes Merkmal, das für die d e u t s c h e Philosophie +besonders aufdringlich ist, ist die diskontinuierliche antithetische +Entwicklung. Während sich die Philosophie der Neuzeit bis zum 19. +Jahrhundert im großen Ganzen, um wenige Grundfragen bemüht, +kontinuierlich entfaltete, ist das 19. Jahrhundert von Diskontinuität, +Abbruch, plötzlicher Wiederanknüpfung an ältere Gedankenrichtungen +durchzogen. Der Zusammenbruch der deutschen Spekulation nach Hegels +Tod, die zeitweise Herrschaft des Materialismus in den Jahren von 1840 +bis 1860, die Wiederanknüpfung an Kant (Neukantianismus), an Thomas von +Aquin (Neuthomismus), später an Fichte und Hegel sind dafür nur die +sichtbarsten Beispiele dieser Diskontinuität. Die Reaktions- und +Restaurationsphilosophie der Romantik versuchte mit ganz +subjektivistischen und unmittelalterlichen Methoden mittelalterliche +I n h a l t e und W e r t e wiederzugewinnen, um auf diese Weise +rein antithetisch und reaktiv die gewaltige zusammenhängende Vernunfts- +und Menschheitskultur des 18. Jahrhunderts zu überwinden. Bis zu +Schopenhauer, Nietzsche, E. Rohde, J. Burckhardt, E. von Hartmann, ja +bis zu O. Spengler hat die romantische Bewegung einen tiefgehenden +Z w i e s p a l t in das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts +hineingelegt, der bis heute unüberbrückt ist. Aller gegenwärtige +"Irrationalismus" (Bergson, Theosophie usw.) knüpft wieder an sie an. +Aus der Verbindung von Ausläufern der romantischen Bewegung mit der +durch die Kenntnis des Sanskrit (in Deutschland zuerst verbreitet durch +W. von Humboldt) erschlossenen Weisheit des Ostens (insbesondere +Indiens) ist auch das gegenüber der Philosophie des 17. und 18. +Jahrhunderts gänzlich n e u e Element des metaphysischen, ethischen und +geschichtsphilosophischen P e s s i m i s m u s (Schopenhauer, E. von +Hartmann, Mainländer, Spir, in anderer Richtung Nietzsche in seiner +ersten Phase) hervorgegangen. Auch der zuerst im Pessimismus erfolgende +Eintritt der Philosophie des O s t e n s in die Geschichte des +europäischen Denkens (in Deutschland besonders durch Paul Deußens +"Geschichte der indischen Philosophie" verbreitet), ist ein s p e z i +f i s c h e s Merkmal des 19. Jahrhunderts. Durch die im Krieg +erfolgte stärkere Berührung der deutschen Bevölkerung mit dem Osten ist +diese Bewegung noch gewaltig gefördert worden (Neubuddhismus, +Theosophie, Anthroposophie); auch die Überwindung des "Europäismus" in +der Geschichtsauffassung (der Hegel und Comte noch gemeinsam ist), das +heißt der Methode, an die ganze Entwicklung der Weltgeschichte +europäische Maßstäbe und geschichtliche Bewegungsformen anzulegen, ist +in dieser Bewegung stark in Frage gesetzt worden. Indem die Romantik +ferner das Studium der positiven Religionen in die Sphäre der +allgemeinen Bildung hineintrug, hat sie auch die konfessionellen +Bindungen des philosophischen Denkens gegenüber dem 18. Jahrhundert +wieder bedeutend verstärkt. Sie hat ferner auf viele Jahrzehnte hin die +philosophische Arbeit so einseitig auf das Studium der Geschichte der +Philosophie hingerichtet, daß ein Mann wie Kuno Fischer sagen konnte: +"Geschichte der Philosophie treiben heißt selbst philosophieren." +Während Kant noch meinte, das "wäre ein armseliger Kopf, dem die +Geschichte der Philosophie seine Philosophie ist", hat der historische +R e l a t i v i s m u s in der Philosophie bis in die achtziger Jahre +des vorigen Jahrhunderts hinein die philosophische Arbeit aufs stärkste +niedergehalten. Erst die Philosophie der letzten beiden Jahrzehnte ging +daran, diesen Historismus zu überwinden. Freilich nur in maßvoller +Weise: denn auch in den Forschern, bei denen sich die Philosophie, +abgesehen von Erkenntnistheorie, in bloße Weltanschauungs l e h r e +auflöst, d. h. in Typologie und Psychologie der Weltanschauung (W. +Dilthey, M. Weber, K. Jaspers, H. Gomperz, O. Spengler) ist der aus der +Romantik entsprungene Historismus noch stark gegenwärtig. Und nur in +anderer, naturalistischerer Form erscheint er wieder bei den +Neupositivisten (E. Mach, Levy-Brühl und anderen), die selbst die +Denkformen und Denkgesetze soziologisch aus Traditionen und Erblichkeit +herleiten wollen. + +Ein letztes Merkmal der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist es, daß +sie aus Biologie, Geisteswissenschaften und der seit Fechner in die +Philosophie eingegangenen Disziplin der experimentellen Psychologie +weit stärkere Antriebe empfangen hat als die Philosophie des 17. und +18. Jahrhunderts, deren Probleme überaus einseitig durch die +mathematischen Naturwissenschaften Galileis und Newtons gebunden und +bestimmt waren. + +Auf diesem allgemeinen Hintergrund der Gestaltung der Philosophie des +19. Jahrhunderts überhaupt gewinnt die gegenwärtige Philosophie +Deutschlands ein um so größeres Interesse, als ihre bedeutsamsten +Erscheinungen, obzwar weitgehend genährt durch das gesamte Gedankengut +der Philosophie des 19. Jahrhunderts, sich in vieler Hinsicht in +scharfem Gegensatz zu dieser Gestaltung befinden. Die Philosophie der +Gegenwart strebt danach, den mehr oder weniger a n a r c h i s c h e n +Zustand zu überwinden, der -- diese Merkmale zusammengeschaut -- das +allgemeinste unterscheidende Moment der Philosophie des 19. +Jahrhunderts ausmacht. Dies wird die folgende Darstellung genauer +erhellen. + +Wir behandeln im folgenden nur die deutsche Philosophie der Gegenwart. +Um so mehr müssen wir uns klarmachen, daß die deutsche Philosophie das +Übergewicht, das sie vor hundert Jahren in der Welt besaß, längst +verloren hatte. Der größte internationale Einfluß ist, wie K. +Österreich in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart" I/6, 3. Auflage, +treffend bemerkt, von der französischen Philosophie in den letzten +Jahrzehnten ausgegangen. Der Einfluß Bergsons und der Einfluß W. James' +läßt sich mit keinem Einfluß eines Deutschen vergleichen. Andererseits +wirkt die ältere deutsche Spekulation, insbesondere Hegel, im Ausland +(besonders England, Amerika, Rußland, Italien) auch heute noch stärker +als irgendein nachhegelscher deutscher Denker -- mit Ausnahme +vielleicht Nietzsches. Trotzdem waren die internationalen Beziehungen +der deutschen Philosophie zum Auslande vor dem Krieg in starker Zunahme +begriffen, und es ist aus manchen Anzeichen zu erhoffen, daß sie sich +auch bald wiederherstellen werden. + +Will man die gegenwärtige deutsche Philosophie zur ersten Übersicht in +gewisse G r u p p e n ordnen und zugleich einige ihrer allgemeinen +Charakterzüge hervorheben, so sind es vor allem d r e i Gegensätze, +nach denen man diese Gruppierung vollziehen kann. + +Der erste ist der höchst unerfreuliche Gegensatz einer nur engste +Kreise berührenden streng wissenschaftlichen Fach- und +Universitätsphilosophie und einer unmethodischen, wenig strengen, mehr +oder weniger aphoristischen, aber weiteste Bildungskreise suggestiv in +Bann haltenden "philosophischen Literatur". Im Gegensatz zur +Philosophie des 18. Jahrhunderts, zum Zeitalter Kants und Hegels, aber +auch noch im Gegensatz zum Zeitalter Fechners und Lotzes, vermochte die +akademische Philosophie das geistige Interesse größerer Bildungskreise +bis vor kurzem n i c h t zu gewinnen. Um so mehr vermochte das aber +eine philosophierende Literatur, deren Hauptexponent und Vorbild +Nietzsche gewesen ist, eine Literatur, die ohne Verbindung mit der +strengen Wissenschaft unmethodisch und weit unter der Niveauhöhe der +großen Philosophie der Vergangenheit, in subjektiv persönlicher Form +Meinungen und Werturteil ausspricht. Hierher gehören z. B. +Erscheinungen wie R. Steiner, Johannes Müller, O. Spengler, W. +Rathenau, Graf Keyserling, H. Blüher, die philosophierenden Mitglieder +des George-Kreises und andere mehr. Dieser Z e r f a l l in zwei so +gänzlich verschiedenartige Gattungen von "Philosophie" steht in +scharfem Gegensatz zu allen philosophisch p r o d u k t i v e n +Zeiten, und er muß vor allem aufgehoben werden, wenn die deutsche +Philosophie sich aus der Anarchie des 19. Jahrhunderts wieder erheben +soll. Das ist nur möglich, wenn zwei Arten von akademischer Philosophie +langsam in den Hintergrund treten, die bisher an den deutschen +Universitäten noch stark in Herrschaft sind. + +1. Die traditionalistischen Standpunkts- und Schulphilosophien. Sie +machen sich alle dadurch kenntlich, daß sie ihre eigene Namengebung mit +dem Worte "Neu" beginnen (z. B. Neukantianer, Neuthomisten, +Neufichteaner, Neuhegelianer), als wollten sie nach dem Gesetz: Lucus a +non lucendo damit sagen, daß das, was sie lehren, etwas altes ist. +Eigen ist diesen philosophisch-akademischen Richtungen das, was das +Wesen jeder "Scholastik" ausmacht: daß man sowohl in der Arbeit an den +Sachproblemen in Übereinstimmung mit einer historischen A u t o r i t +ä t (wenigstens im "wesentlichen") zu bleiben sucht, andererseits aber +die Meinung dieser Autorität immer so interpretiert, daß man noch sagen +kann, die eigenen Sachforschungen stimmten mit ihrer Meinung überein. +Diese fortgesetzte Angleichung von Sachforschung und +historisch-philologisch interpretierter Meinung eines Philosophen h i n +d e r t aber ebensowohl echte und reine Sacherkenntnis wie echtes +historisches Verständnis. Am weitesten in dieser "scholastischen" +Methode sind heute merkwürdigerweise nicht die sogenannten +"Neuscholastiker" gegangen, sondern die Neukantianer, deren +Sachforschungen wie geschichtliche Leistungen (besonders H. Cohen, P. +Natorp, E. Cassirer) trotz ihrer mannigfachen Anregungskraft diesen +Charakterzug durchgehends verraten. Eng verbindet sich Schulerstarrung, +Anschauungs- und Wirklichkeitsfremdheit und eine geheime verzwickte +Terminologie (die alle großen Philosophen der Geschichte n i c h t +gekannt haben, und die schon von vornherein eine dicke Wand zwischen +Philosophie und Bildung setzt) mit dem bezeichneten "scholastischen" +Charakter. Erst mit Edm. Husserls "Logischen Untersuchungen" hat eine +standpunkt f r e i e, nicht traditionalistische S a c h philosophie +wieder in breiterem Maße eingesetzt, wenn auch Männer wie Franz +Brentano, Rehmke, Driesch, B. Erdmann, Stumpf auch schon vor Husserls +Auftreten die Philosophie in diese Richtung geleitet haben. + +Ein zweiter Grund für das Auseinanderfallen der deutschen Philosophie +in methodisch strenge Sachphilosophie und "philosophische Literatur" +ist in der Tatsache zu sehen, daß die gegenwärtige deutsche Philosophie +jahrzehntelang, wie Lotze sich ausdrückte, nur "die Messer zu wetzen +pflegte, ohne zu schneiden", daß sie, herausgewachsen aus dem +sogenannten Neukantianismus (Otto Liebmann, Albert Lange, H. Cohen, P. +Natorp), der nach dem Zusammenbruch der deutschen Spekulation die +Philosophie zuerst wieder an deutschen Hochschulen möglich machte, sich +aufs einseitigste, auf Erkenntnistheorie und Methodologie beschränkte +und sich dabei im Grunde nur als Dienerin der Einzelwissenschaften +fühlte. So übertrug sich der Fachcharakter auch auf die Philosophie, +deren Wesen es doch gerade ausschließt, ein "Fach" n e b e n anderen zu +sein. So gab sie nicht nur ihre zentralste und ihre wesentlichste +Disziplin, die Metaphysik, meist völlig preis, sondern hatte außerdem +zu dem übrigen geistigen Leben der Nation, zu den Problemen des +Staates, der Gesellschaft, zu Kunst und Dichtung, zur Religion und zum +Problem der Gestaltung und Bildung der geistigen Persönlichkeit kaum +irgendeinen Zugang mehr. Die Übernahme einer großen Anzahl von +Lehrstühlen durch Vertreter der "jungen experimentellen Psychologie" +befestigten diesen Zustand noch mehr, zumal diese junge und +verheißungsvolle neue Wissenschaft sich erst in den letzten Jahren +ihrer Entwicklung auch den höheren geistigen Funktionen zuwendete oder +doch durch gewisse, in ihr erwachsene Probleme, z. B. durch das +Gestaltproblem, wieder stärkeren Anschluß an die philosophischen Fragen +gewann. Auf seiten der "philosophischen Literatur" aber wurde der +echten Philosophie nicht minder Abbruch getan: einmal dadurch, daß man +in ganz unsachlicher und subjektivistischer Weise seinen Einfällen die +Zügel schießen ließ, das Geistreiche und Blendende an die Stelle des +Wahren, die Suggestion an die Stelle der Überzeugung im sokratischen +Sinne setzte; ferner dadurch, daß man in mehr oder weniger gnostischer, +die Selbständigkeit der Religion und der Mystik gegenüber der +Philosophie total verkennender Weise die Philosophie von aller strengen + W i s s e n s c h a f t loslöste und sie zu einer Sache von +S e k t e n machte, die, im Gegensatz zu den akademischen Schul- und +Standpunktsphilosophien, sich um das rein persönliche, echte oder +scheinbare Charisma einer starken Natur gruppierten. So entstanden +Sekten aller Art, die besonders zu nennen nicht notwendig ist. So ist +es auch verständlich, daß das im 19. Jahrhundert fast verloren +gegangene W e s e n der Philosophie in der Gegenwart erst wieder +aufgesucht werden mußte (siehe E. Husserl: "Philosophie als strenge +Wissenschaft", Logos Bd. I, Heft I; siehe auch M. Scheler: "Vom Ewigen +im Menschen", Bd. I, "Vom Wesen der Philosophie"). + +Ein zweiter Gegensatz durchquert die gegenwärtige Philosophie in d e r +Richtung, ob sie in ihren Problemen mehr geistes- oder +naturwissenschaftlich orientiert ist. Das wird in der folgenden +Darstellung scharf hervortreten im Gegensatz sowohl der neukantischen +und der südwestdeutschen Schule als in den Gegensätzen der einzelnen +selbständigen Sachdenker. Auch dieser Gegensatz ist ein Zeichen dafür, +daß wir eine u n i v e r s a l e Philosophie noch nicht besitzen: +denn eine solche muß b e i d e n großen Daseinsgebieten, und zwar durch +Vermittelung des selbständigen Sachgebietes der inneren und äußeren +B i o l o g i e, ihr gleichmäßiges Interesse zuwenden und darf sich +nicht als bloße "ancilla scientiae" zum einseitigen Vorspann e i n e r +dieser Teile der Wissenschaften machen. Überhaupt ist nichts der +Philosophie abträglicher als die bis vor kurzem in unserem Lande immer +wieder erneuten Versuche, von den Gegebenheiten und Grundbegriffen +einer Einzelwissenschaft her, das g a n z e Weltproblem lösen zu +wollen. Solches geschah z. B. im sogenannten Psychologismus durch eine +gänzlich unberechtigte Ausdehnung der Begriffe, "psychisch" oder +"Bewußtsein": in der Energetik Ostwalds durch eine Verabsolutierung des +Energiebegriffes, im Empfindungsmonismus Ernst Machs durch eine falsche +Verabsolutierung des Empfindungsbegriffes; in gewissen Richtungen der +"Lebensphilosophie" in einer falschen Ausdehnung und Verabsolutierung +des Begriffes Leben, in der neukantischen Marburger Schule in einer +falschen Verengung des Erkenntnisbegriffes auf mathematische +Naturwissenschaft. Die Philosophie hat, von einer Lehre über die +Grundarten der G e g e n s t ä n d e ausgehend und von dem Satze, daß +sich alle Methoden nach der Natur, der Gegenstände zu richten haben +(und nicht die Gegenstände nach Methoden), einen wahren Ausgleich +zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Interessenrichtungen und +methodischen Denkrichtungen herbeizuführen, die Wissenschaften auf dem +Boden einer selbständigen philosophischen und allseitigen +Erkenntnistheorie zu ordnen und in gegenseitige fruchtbare Beziehung zu +setzen. Sie hat nach wie vor zwar nicht eine die Einzelwissenschaften +erdrückende Despotin wie zur Zeit Hegels zu sein, noch weniger aber +ihre Dienerin, sondern "Königin" in jenem legitimen letzten Sinn, der +die wohlerworbenen Rechte der Fachwissenschaften von einem eigenen, +eben nur philosophischen Standpunkt aus s e l b s t ä n d i g würdigt +und achtet und sie für das Ganze unseres Weltbegriffes und unserer +Weltanschauung fruchtbar macht. Die Philosophie des 17. und 18. +Jahrhunderts, die Philosophie des Descartes und Leibniz vermochte +gerade darum so häufig auch den Einzelwissenschaften R i c h t u n g zu +geben und ihnen fruchtbare Anregung zu erteilen, weil sie im engen +Konnex mit den Wissenschaften (und nicht losgelöst von ihnen, wie +unsere Literatenphilosophie) sich nicht einseitig damit zufrieden gab, +bloß zu formulieren, was die "Voraussetzungen der Einzelwissenschaften" +seien und welche Methoden sie selbst anwenden. Die gegenwärtige +Überwindung der Galilei-Newtonschen Naturansicht durch die vier großen +naturwissenschaftlichen philosophischen Fermente unserer Zeit die +Elektronentheorie, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Plancksche +Quantentheorie und die positiv-wissenschaftlichen und neuvitalistischen +Versuche, den Organismus mit übermechanischen Agenzien zu erklären, +sollten J e d e m zeigen, was aus einer Philosophie werden muß, die +nur objektiv logische Voraussetzungen einer fälschlich verabsolutierten +Wissenschaftsstufe zu suchen pflegt. Sie hört mit der Überwindung +dieser Wissenschaftsstufe eben auf, irgendeine Bedeutung zu haben. Nur +dann, wenn die Philosophie einen e i g e n e n G e g e n s t a n d +und eine e i g e n e Methode besitzt allen einzelnen Seinsgebieten +gegenüber, die als solche auch die positiven Wissenschaften erforschen, +wird sie mehr sein können als die bloße Eule der Minerva der positiven +Wissenschaft; und nur, wenn sie die S a c h e n selbst, nicht nur die +Wissenschaft über die Sachen als bloße "Erkenntnislehre" sich zum +Gegenstand setzt (freilich mit Einschränkung auf ihr daseinsfreies +Wesen, ihre e s s e n t i a), kann sie der positiven Wissenschaft auch +geben, anstatt bloß von ihr zu nehmen. + +In Hinsicht auf einen dritten Gegensatz, der auch die gegenwärtige +Philosophie noch unabhängig von einzelnen Sachproblemen bestimmt, +nämlich dem Gegensatz der religiösen Traditionen (katholische und +protestantische Philosophie), ist das Erfreuliche zu vermelden, daß +dieser Gegensatz, der streng genommen in der Philosophie überhaupt +keinerlei Rolle zu spielen hätte, auch tatsächlich stark zurückgetreten +ist. Kant und seine von der Theologie ausgegangenen spekulativen +Nachfolger hatten der deutschen Philosophie einen, geschichtlich +gesehen, einseitigst protestantischen Charakter erteilt. Die +katholische Philosophie oder, besser gesagt, die Philosophie des +katholischen Kulturkreises ging, abgesehen von ganz wenigen +Erscheinungen der Romantik (z. B. Franz Baader, Deutinger, +Froschammer), ihre Wege völlig für sich, und es bestand bis vor kurzem +keinerlei tiefere Berührung zwischen den Forschergruppen beider +Konfessionen. Der von der Enzyklika "Aeterni patris" im Jahre 1897 von +Leo XIII. angeregte Neuthomismus, der durch die Löwener Schule des +belgischen. Kardinals Mercier auch eine für die modernen +wissenschaftlichen Probleme etwas geöffnetere Form erhielt, hat den +Gegensatz der philosophischen Richtungen beider Kulturkreise für viele +Jahre hin noch erheblich gesteigert. Und je mehr die deutsche +Philosophie sich durch Kant einseitig bestimmt erwies und die Weisungen +Leos XIII. (der wohl an erster Stelle an eine einheitliche +philosophische Unterweisung der P r i e st e r gedacht hat und, wie er +selbst auf die Frage der Franziskaner versicherte, keineswegs das +thomistische System zur allverbindlichen Norm für alle philosophischen +Studien erheben wollte) gegen die Absichten des großen Papstes wie eine +Art Dogmatisierung der thomistischen Philosophie interpretiert wurden, +desto schärfer und unüberbrückbarer wurde der Gegensatz. Von den +älteren deutschen Philosophen vermochten nur H e r b a r t in seiner +Schule gläubige Anhänger beider Konfessionen zu vereinigen (z. B. Otto +Willmann). Dieser Zustand hat sich in der Gegenwart weitgehend +verändert. Besonders durch die direkten und indirekten Einflüsse Franz +Brentanos und des von E. Husserl wiederentdeckten großen Logikers +Bolzano, die beide noch in starker geistiger Kontinuität mit den großen +Geistern der Scholastik philosophierten; ferner durch Husserl und die +von ihm angeregten Forscher; endlich auch durch den starken Abbau des +erkenntnistheoretischen Idealismus und durch das Wiedererwachen des +erkenntnistheoretischen Realismus ist ein erfreulicher Denkverkehr +zwischen den Philosophen der beiden Konfessionen in Gang gesetzt +worden. Auch der Einfluß der österreichischen Philosophie (besonders +Martys, Meinongs) auf die deutsche hat in den letzten Jahrzehnten stark +zugenommen. Über die stärkere und lebendigere Berührung der Philosophen +beider Konfessionen auf metaphysischem und religionsphilosophischem +Gebiet wird im einzelnen später noch zu berichten sein. Dagegen hat der +Einfluß der naturalistischen und freidenkerischen Weltanschauungsformen +auf die Philosophie (die ja nicht minder wie Katholizismus und +Protestantismus im 19. Jahrhundert längst "Tradition" geworden sind) in +der Philosophie der Gegenwart stark abgenommen. Haeckels und seiner +Gesinnungsgenossen Philosophie hat in Deutschland nur in den M a s s +e n, nie unter den eigentlichen Philosophen irgendwelche Bedeutung +erlangt. Aber auch weit höher gerichtete und freiere Formen der +naturalistischen Philosophie haben heute an Bedeutung stark verloren. +Die Ostwaldsche Energetik, die in ihrem naturwissenschaftlichen Teile +durch die moderne Atomistik wieder vollständig verdrängt ist, hatte für +die theoretische Philosophie bedeutende Folgen nicht entwickelt. Der +Positivismus, der aus Frankreich und England in gewissen Ausläufern +auch zu uns gekommen war (E. Mach, Avenarius, Ziehen), zählt noch +einige Anhänger, auf die wir später zurückkommen; er mußte aber der +erkenntnistheoretischen realistischen Lehre und der dem Sensualismus +und der Assoziationspsychologie ganz entgegengesetzten +Entwicklungsrichtung der modernen Psychologie mehr und mehr weichen. + +Die gegenwärtige Philosophie enthält zu einem großen Teile die +Entwicklungsstadien des 19. Jahrhunderts noch als gegenwärtige +Schichten in sich. Das gilt an erster Stelle von den Nachwirkungen +älterer philosophischer S y s t e m e. Wir wollen, von den ältesten +Schichten beginnend, die gegenwärtige Philosophie nunmehr betrachten, +um, von ihnen fortschreitend, bei den neuesten Versuchen zu endigen. + +Eines geringen Anhangs und einer steigend geringen Achtung auch bei der +heute philosophierenden Jugend erfreut sich der naturalistische +Monismus, der geschichtlich an die Zeit von Ludwig Büchners "Kraft und +Stoff" (das von 1854 bis 1904 21 Auflagen erlebte) anknüpft. Gleichwohl +muß dieses System hier genannt werden, nicht um seiner inneren +Bedeutung willen, sondern weil es durch seine kaum abzuschätzende +Verbreitung weniger in der deutschen Arbeiterschaft als im kleinen +Mittelstand eine große Wirkung auf das deutsche Geistesleben gehabt +hat. E r n s t H a e c k e l s "Welträtsel" waren bereits in den +Jahren 1899 bis 1914 in mehr als 300 000 Exemplaren verbreitet und in +24 Sprachen übersetzt. Der deutsche Geist war im Ausbau der +naturalistischen Philosophie zu allen Zeiten wenig produktiv; während +in Frankreich und England die naturalistische Philosophie mit +schärfstem Geist und der Form nach in strenger wissenschaftlicher +Methode von Männern vertreten wurde, die, meist auf der Höhe der +sozialen Stufenleiter stehend, sie in weltmännischer Form und nicht +unbedeutendem Stil vertraten, ist der deutsche Materialismus und +Monismus meist überaus grob, borniert und unwissenschaftlich gewesen. +Seine Vertreter waren meist (wie schon Karl Marx bemerkt hat) +"kleinbürgerliche", in Stil und Lebensform untergeordnete, +philosophisch dilettierende Ärzte und Naturforscher, die ohne Kenntnis +der Geschichte des europäischen Denkens und ohne Überschau über den +Kosmos der Wissenschaften, aus der Ecke ihrer zufälligen Interessen +herauß sogenannte "Konsequenzen der Naturwissenschaft" zogen. Diese +Charakteristik gilt auch für den wirksamsten Vertreter dieser Richtung, +Ernst Haeckel (geb. 1834). Seine "Welträtsel" (1899) und seine +"Lebenswunder", zuletzt sein Buch über Kristallseelen sind +philosophisch so gut wie wertlose Erzeugnisse. Mit Recht sagte Fr. +Paulsen in einer Rezension der "Welträtsel", die in den "Preuß. +Jahrbüchern" erschien: "Ich habe mit brennender Scham dieses Buch +gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der +philosophischen Bildung unseres Volkes." Nicht minder scharf war das +Urteil, das E. Adikes mit den Worten fällte: "Haeckel ist eben durch +und durch Dogmatiker; darin steht er mit Büchner auf einer Stufe; als +Naturforscher überragt er ihn weit, als Philosophen sind beide völlige +Nullen." Der russische Physiker Chwolson zeigte in einer besonderen +Schrift, wie völlig unfähig Haeckel war, auch nur den Sinn der +einfachsten Grundsätze der theoretischen Physik, wie z. B. des Satzes +von der Erhaltung der Energie oder gar des zweiten Wärmesatzes (den er +einfach "verwirft") zu verstehen. Der bekannte Ameisenforscher Wasmann +hat in einer besonderen Schrift, "Haeckel als Kulturgefahr", auch seine +entwicklungstheoretischen Leistungen genügsam gekennzeichnet. + +Über den sachlichen Inhalt seiner Philosophie hier noch einmal zu +sprechen, fehlt jeder Anlaß[1]. + + [1] Vgl. neben den genannten kritischen Werken O. Külpe: + "Philosophie der Gegenwart", 6. Aufl., und A. Messner: + "Philosophie der Gegenwart" (1918). + +In Form eines Versuches der Zurückführung alles Wirklichen mit +Einschluß des organischen Lebens, des Seelenlebens und der geistigen +Tätigkeiten auf letzte qualitative Grundarten der E n e r g i e und +ihre Umwandlungsformen vertrat Wilhelm Ostwald (geb. 1855), Professor +der physikalischen Chemie, den naturalistischen Monismus. Seine +Vorlesungen über "Naturphilosophie" waren, soweit es sich um die +Philosophie der anorganischen Natur handelt, überaus anregend. Ostwald +versuchte, den Begriff der Materie völlig auszuschalten. Die Masse der +Mechanik ist ihm nur ein Kapazitätsfaktor der mechanischen Energie, der +gleichgeordnet eine Wärme, ein Licht, eine Gestalt, eine magnetische +und elektrische, eine chemische und psychische Energie zur Seite +stehen. Diese Energie a r t e n sind nicht, wie es die +atomistisch-mechanische Naturansicht wollte, aufeinander +zurückzuführen; sie sind ähnlich wie in der qualitativen Elementarlehre +des Aristoteles letzte Gegebenheiten, die nur in formal quantitativen +Austauschbeziehungen zueinander stehen. "Alles, was wir Materie nennen, +ist Energie; denn sie erweist sich als ein Komplex von Schwereenergie, +Form und Volumenenergien, sowie chemischen Energien, denen Wärme- und +elektrische Energien in veränderlicher Weise anhaften." Trotzdem +verfiel Ostwald in den Irrtum, die Energie, einen bloßen dynamisch +interpretierten Beziehungsbegriff, selbst zu einer Substanz zu +hypostasieren. Nicht minder war es vollständig unbegründet, auch das +Psychische in die Energiearten einzureihen, obgleich ihm die +Grundvoraussetzung, als natürliche Energieart zu gelten, die +Meßbarkeit, fehlt und der ichartige monarchische Aufbau der +Bewußtseinserscheinungen im Widerspruch zu dieser Auffassung steht. +Völlig ungelöst blieb auch das Problem des organischen Lebens, ebenso +ungelöst wie innerhalb der mechanischen Lebenslehre. Aber auch +innerhalb des Anorganischen bewährte sich die Energetik auf die Dauer +nicht. Die Kritik, die insbesondere Boltzmann und W. Wundt an den +"Vorlesungen" geübt haben, ist durch die Entwicklung der +Naturwissenschaften, insbesondere durch den glänzenden Sieg der +Atomistik und der mechanischen Wärmelehre durchaus bestätigt worden. +Ganz und gar unzureichend aber sind de Versuche Ostwalds gewesen (s. +bes. "Philosophie der Werte"), die Probleme der Ethik, der +Gesellschaft, der Zivilisation und Geschichte auf dem Boden der +"Energetik" zu verstehen. Daß an die Stelle des kategorischen +Imperativs der [sic] energetische Imperativ: "Vergeude keine Energie, +verwerte sie" treten soll, mutet fast wie ein schlechter Scherz an. Und +nicht minder mutet so an eine Erklärung, die Ostwald auf dem Hamburger +Monistenkongreß von 1911 gibt, in der es heißt: "Denn alles, was die +Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in den +Begriff /Gott/ zusammengedrängt hatte, wird uns von der Wissenschaft +erfüllt." Ostwalds rein technologische Betrachtung der Weltgeschichte, +die, der deutschen Organisationssucht ein philosophisches Mäntelchen +umhängend, jede geschichtliche Aufgabe zu einer "Organisationsaufgabe" +macht, ist so kindlich, daß sie eine Kritik kaum verdient; nicht minder +seine Meinung, das ästhetische Gefühl und die Kunst hätten nur soweit +Bedeutung, als sie der wissenschaftlichen Arbeit Pionierdienste +leisten, und es werde darum bei reifender Wissenschaft die Kunst einmal +völlig aus der Welt verschwinden. In der Soziologie hat Ostwald einen +ernsten Schüler gehabt, de noch stark in die Gegenwart hineinwirkt. Es +ist der Wiener Soziologe und Vorsitzende des Österreichischen +Monistenbundes R u d o l f G o l d s c h e i d. Sein Werk über +"Höherentwicklung" und "Menschenökonomie" hat sowohl der +Bevölkerungslehre wie der Sozialpolitik reiche und wertvolle Anregungen +vermittelt, wenn auch sein einseitig durchgeführter Versuch, den +Menschen selbst (ähnlich wie in der Sklavenwirtschaft) rechnungsmäßig +als bloßen Wirtschaftswert einzustellen und eine möglichst sparsame +Verwendung dieses "Wertes" zu fordern, soziologisch unhaltbar ist. Eine +Auflösung der Ethik in Ökonomie hat Goldscheid nie versucht. Ein +bedeutender Vertreter des Monismus, der auch in der Gründung und +Entwicklung des Monistenbundes eine große Rolle gespielt hat, war der +kürzlich verstorbene Wiener Psychologe und Ethiker Friedrich Jodl. +Sowohl sein "Lehrbuch der Psychologie" wie vor allem seine +großangelegte "Geschichte der Ethik" sind wertvolle und anregende +Bücher, wenn sie auch in einseitiger Weise allen freidenkerischen und +antikirchlichen Bestrebungen einen ihnen auch wissenschaftlich nicht +zukommenden überragenden Wert beilegen. Wie sehr die ganze +philosophische Richtung des Monismus von p o l i t i s c h e n, d. h. +außerphilosophischen Tendenzen beherrscht ist, beweist ihr am 1. Januar +1906 erfolgter Zusammenschluß zu der Organisation des "Deutschen +Monistenbundes". Ostwald schloß den ersten Hamburger Kongreß mit dem +Satze: "Ich eröffne das monistische Jahrhundert"; sein +Ehrenvorsitzender war E. Haeckel, sein Vorsitzender der Bremer Pastor +Albert Kalthoff, der, stark von Nietzsche angeregt, an den +Junghegelianer Bruno Bauer anknüpfend, die historische Existenz Christi +in seinen Schriften geleugnet hatte, und in loser Berührung mit den +linksliberalen Pastoren Jatho und Traub den christlichen Kirchen eine +scharfe Kampfansage stellte. Wider den Monismus gründete [sic] dann im +Jahre 1907 der Kieler Naturforscher J. Reinke und E. Dennert den +sogenannten "Keplerbund", der sich umgekehrt die Aufgabe setzte, die +Vereinbarkeit der modernen Naturwissenschaft mit der theistischen +Weltanschauung zu erweisen. Sehr mit Unrecht ist die Verbreitung der +monistischen Weltanschauung häufig der Sozialdemokratie und ihren +Führern zugeschrieben worden. Geistesgeschichtlich ist diese Auffassung +grundfalsch. Die Führer des Monismus standen politisch zumeist den +nationalliberalen Anschauungen sehr nahe (z. B. Haeckel selbst), und +bei vielen von ihnen findet sich sogar eine ausgeprägte alldeutsche +Tonart. Wie tief Karl Marx und Engels auf den Materialismus des +deutschen Kleinbürgertums herabblickten, ist aus ihren Äußerungen +genugsam bekannt. + +Während die monistische naturalistische Denkrichtung eigentlich nur +kulturhistorisches und für die deutsche Mentalität vor dem Kriege +bestimmendes Interesse bietet, sind die anderen heute noch lebendigen +philosophischen Systeme auch rein philosophisch von Bedeutung. Das gilt +gleich sehr von der Wirkung Fichtes, Hegels und Schellings wie von +jener Lotzes, Fechners, E. von Hartmanns, R. Euckens und W. Wundts. +Diese Systeme können hier nicht geschildert werden: nur was sie für die + g e g e n w ä r t i g e Philosophie als mitbestimmende Momente noch +bedeuten, sei kurz erwähnt. Die geringste Wirkung von all den Genannten +hatte merkwürdigerweise in Deutschland der zeitlich nächste letzte +große Systematiker der deutschen Philosophie, Wilhelm Wundt. Als +Darstellungen seines Systems sind empfehlenswert O. Külpe in der +"Philosophie der Gegenwart", E. König: "W. Wundt", 1909 und R. Eisler: +"Wundts Philosophie und Psychologie", 1902. Ein Grund für die geringe +Wirkung des ausgezeichneten Forschers und Gelehrten in der Philosophie +mag darin gelegen sein, daß seine Erkenntnistheorie und seine +Metaphysik beiderseits an großer Vagheit und Unbestimmtheit leiden, das +Ganze seiner Philosophie aber trotz seiner Überladenheit mit +Gelehrsamkeit etwas überaus Farbloses und Blutloses besitzt. Auch ein +häufiges Schwanken (z. B. zwischen Idealismus und Realismus in der +Erkenntnistheorie, zwischen psychophysischem Parallelismus als +metaphysischer Hypothese und methodologischer Maxime, zwischen +Relativismus und Absolutismus in der Ethik, Theismus und +Willenspantheismus in der Lehre vom Weltgrund) mag gleichfalls zu +dieser Unwirksamkeit beigetragen haben. + +R u d o l f E u c k e n, der schon an der Grenze steht zwischen +wissenschaftlicher Philosophie und jener früher charakterisierten +philosophischen Erbauungsliteratur, hat eine weit stärkere Wirkung als +Wundt entfaltet sowohl in Deutschland, wie im Auslande; ein deutliches +Zeichen davon ist in letzterer Hinsicht der Nobelpreis. Dieser Denker +ist von gleichbedeutenden Kritikern sehr verschieden beurteilt worden. +Die einen sehen in der Verbindung von Prediger, Metaphysiker und +Forscher, von homo religiosus und Denker, die Eucken darstellt, etwas +besonders Wertvolles und weisen hin auf den reichen intuitiven Gehalt +seines Werkes; die anderen beklagen den Mangel an Anatomie in seinen +Gedanken, die Unverbundenheit seiner Philosophie mit den +Wissenschaften, die unmethodische Art seines Denkens und die große +Unbestimmtheit und Vagheit des eigenartigen persönlichen Stiles seiner +Darstellung. Mögen beide in gewissem Maße recht haben, so kommt Eucken +vor allem das entschiedene V e r d i e n s t zu, in einer Zeit, da +die Philosophie zu einer bloßen Anmerkung zu den positiven +Fachwissenschaften zu werden drohte, ihre Ansprüche festgehalten zu +haben, eine Metaphysik und gleichzeitig eine den Menschen formende +Lebensanschauung zu geben. Ausgegangen von F. A. Trendelenburg (gest. +1872), eine Zeitlang auch Schüler Lotzes, hat Eucken mit starker +Anknüpfung an Fichtes Tatidealismus seinen "Idealismus des +Geisteslebens" zu begründen unternommem. Sein bedeutendstes Werk +(leider am wenigsten gelesen) ist das 1888 erschienene "Die Einheit des +Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit" in dem er seine +personalistisch-theistische Philosophie nicht durch Sachuntersuchungen +der philosophischen Probleme, sondern aus einer Kritik des Panlogismus +Hegels und des Naturalismus hervorwachsen läßt. In den +"Lebensanschauungen der großen Denker" und der "Geistigen Strömungen +der Gegenwart" (ursprünglich "Grundbegriffe der Gegenwart"), die der +wissenschaftlichen Philosophie noch am nächsten stehen, nimmt er aus +der Geschichte der Philosophie das wesentlich "Lebensanschauliche" +heraus und legt es im Sinne seiner Philosophie aus. Die Bücher "Der +Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", "Der Wahrheitsgehalt der +Religion", "Erkenntnis und Leben" und "Grundlinien einer neuen +Lebensanschauung" wiederholen in immer neuen Wendungen dieselben +Grundgedanken. Das Wertvolle dieser Gedanken ist weniger in ihrer sehr +mangelhaften theoretischen Begründung gelegen als in ihrer das +Bewußtsein der Selbständigkeit des Geistes trotz aller tiefempfundenen +und in der endlichen Erfahrung unlösbaren Konflikte des menschlichen +Daseins energisch aufweckenden Kraft. Eucken war in einem überwiegend +praktisch-materialistischen Zeitalter einer der stärksten S e e l e n e +r w e c k e r, die Deutschland besessen hat. Reinsten germanischen +Blutes (Friese), besitzt er in seltener Weise Vorzüge und Fehler des +germanischen Geistes: eine ahnungsvolle Intuition übersinnlicher +Realitäten, ein energisches Festhalten dieser Realitäten inmitten +tiefst empfundener Widerstände der "Welt" gegen die Verwirklichung der +geistigen Forderungen; aber auch alle Vagheit und Nebelhaftigkeit, +Unbestimmtheit und Dunkelheit nordischen Geistes. Das "Geistesleben", +das bei ihm zwischen historischer Realität und metaphysischer Potenz +eigenartig in der Mitte schwebt, wird von dem natürlichen Seelenleben, +das der Mensch mit dem Tiere teilen soll, scharf unterschieden. Es soll +in "noologischer Methode" (eine eigentümliche Erweiterung der Methode +Kants) nicht durch Introspektion, sondern an seinen W e r k e n und +Systemen des Lebens ("Syntagmen") studiert werden. Es soll nicht nur in +jeder Einzelseele, sondern auch in den großen kollektiven Gruppen der +Geschichte als selbständig tätig aufgefaßt werden. Trotzdem soll es in +scharfem Gegensatz zum Hegelschen Panlogismus nur durch tätige +Ergreifung des Einzelmenschen diesen zur "Persönlichkeit" und zur +"Wesensbildung" erhöben. So ist Eucken im letzten Grunde mehr +theistischer Personalist als Pantheist, obgleich eine starke +pantheistische Ader seine Philosophie durchzieht. Mit Methoden, die +denen Pascals in den "Pensées" ähnlich sind, sucht Eucken mit starker +Heranziehung dessen, was er für den relativen Wahrheitsgehalt der +naturalistischen und pessimistischen Systeme hält, zu zeigen, daß +dieses "Geistesleben" in der Welt verloren und in letzter Linie +bedeutungslos ist, wenn es nicht aus einem geistigen W e l t g r u n +d e immer neu schöpferisch herströmend und in die Menschenseelen +einquellend verstanden und geschaut wird. Während die ältere +Philosophie die Vernunft des Menschen zum Reiche der "Natur" rechnete +und ihr das Reich der "Übernatur", der "Gnade" entgegensetzte, wird die +zum Geistesleben erweiterte Vernunft des Menschen bei Eucken selbst +etwas "Übernatürliches". Das macht den g n o s t i s c h e n +Charakter der Euckenschen Philosophie aus, die Religion und Metaphysik +in einem für sie beide unstatthaften Sinne vermischt. + +Die Philosophie Fechners, der durch seine Begründung der Psychophysik +neben Wundt als der eigentliche Begründer der Experimentalpsychologie +gelten muß, hat auf die gegenwärtige Philosophie eine nur geringe +Wirkung ausgeübt. Sein Versuch, die Empfindung als psychische Größe +nachzuweisen und sie durch die Einheit des eben merklichen +Empfindungsunterschiedes zu messen, ist sowohl nach seinen +methodologischen Voraussetzungen als nach seiner psychologischen +Voraussetzung hin (man könne die Empfindung unabhängig von den +Aufmerksamkeitsschwankungen überhaupt im Bewußtsein vorfinden) fast +allgemein zurückgewiesen worden. Stark wirkte zeitweise seine Lehre vom +psychophysischen Parallelismus, die, wie wir noch sehen werden, +freilich in der Gegenwart gleichfalls an Einfluß stark verloren hat. +Seine eigentliche Metaphysik der "Tagesansicht" und der Allbeseelung +hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die ihr meines +Erachtens innewohnt. Auch die nächststehenden Forscher, wie Ebbinghaus +und Wundt, haben diese Seiten seiner Philosophie meist als bloße +"Poesie" und Begriffsdichtung abgelehnt. Was allein bis heute einen +Einfluß ausübt, ist der auch von E. von Hartmann aufgenommene Gedanke +einer "induktiven Metaphysik". Sie beruht bei Fechner auf den beiden +Grundsätzen, daß, was in einem Teile der Welt als unauflösbare Grundart +des Seienden enthalten ist, auch im Ganzen enthalten sein müsse +(Mikrokosmos- und Makrokosmoslehre), und daß wir vermittels der Analogie +in der Lage seien, unser Wissen über das unmittelbar und mittelbar in +der Erfahrung Gegebene kontinuierlich zu erweitern. Diesen Gedanken +haben auch viele moderne Metaphysiker, so Külpe, Driesch, Stern, +Becher, Scheler und andere, aufgenommen. Eine starke Wirkung hatte +Fechners teleologische Ganzheitsbetrachtung der E r d e als des +besonderen Leibes und Ausdrucksfeldes einer Erdseele in der modernen +Geographie. In diesem Sinne sind Ratzels Arbeiten und noch mehr die +gegenwärtigen Arbeiten des Wiener Kulturgeographen Hanslick stark von +Fechner beeinflußt. Wie immer man über Fechners Resultate urteilen mag, +es muß als eine recht unerfreuliche Tatsache bezeichnet werden, daß die +stets tiefsinnigen und sinnreichen Betrachtungen dieses seltenen +Geistes, die dazu in Stil und Ausdruck für weitere Kreise der +Gebildeten geschrieben sind, so sehr wenig gelesen werden. Daß ein +Haeckel so viel und ein Fechner so wenig in Deutschland gelesen wurde, +ist eine für die Mentalität des deutschen Volkes vor dem Kriege recht +charakteristische Tatsache. + +Hermann Lotze (1817-1881) wirkt in die Gegenwart insbesondere nach zwei +Richtungen herein: einmal durch seine "Logik" (auch in der +"Philosophischen Bibliothek" erschienen 1912), deren Kapitel "Über die +platonische Ideenlehre" auf die neukantischen Schulen und auch auf +Husserl stark gewirkt hat, und durch seine Lehre von der +psychophysischen Wechselwirkung. Außer diesen beiden Bestandteilen +seiner Philosophie und abgesehen von seinen Wirkungen auf die +Psychologie (besonders seine Theorie der Lokalzeichen) hat nur noch der +metaphysische Gedanke Lotzes eine stärkere Wirkung geäußert, daß eine +Wechselwirkung zwischen einer Vielheit von Dingen nur möglich sei, wenn +ein und dasselbe ganze, aber von ihnen unterschiedene Seiende, in allen +gemeinsam tätig und von allen gemeinsam reizbar sei. Diesen Gedanken +hat z. B. auch Driesch in seine "Wirklichkeitslehre" aufgenommen. +Lotzes großes geschichtsphilosophisches Werk "Mikrokosmos" (5. Auflage +1909) hat wohl wegen seines allzu gewundenen ziselierten und koketten +Stiles nicht die Wirkung geübt, die ihm vermöge seines Gedankengehaltes +zugekommen wäre. Für den Fortschritt einer Philosophie der Biologie +waren Lotzes Artikel über "Lebenskraft" und über "Seele und +Seelenleben" in Wagners "Handwörterbuch der Physiologie" in denen er +für Physiologie und Biologie eine strenge Durchführung der +mechanistischen Methode fordert (um dann erst dem Ganzen des +Weltmechanismus hinterher eine ideale und teleologische Bedeutung zu +geben), nach meiner Ansicht starke Hindernisse. Sie gaben der in +unserem Lande besonders stark verbreiteten mechanistischen +Lebensauffassung, besonders bei den Naturforschern, ein gutes Gewissen +-- das eine aufrichtige und genaue Betrachtung der Tatsachen nicht im +entferntesten gerechtfertigt hätte. Die stark kokette und süßliche +Christlichkeit Lotzes konnte in religiöser und theologischer Hinsicht +tiefere Geister nicht gewinnen. Immerhin haben insbesondere seine Lehre +von Wert und Werturteil auf die Ritschlsche Theologie und Dogmatik +stark eingewirkt, wenn sie sich freilich hier auch meist mit +neukantischen und positivistischen Voraussetzungen verbanden. In der +Ästhetik endlich wurde Lotze durch seine Lehre von der "Einfühlung" +auch auf die letzten bedeutenden Einfühlungsästhetiker der Gegenwart, +auf Lipps und Volkelt, erheblich wirksam. + +Die einzige Persönlichkeit, deren geistige Spannweite alle +philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfaßte und dazu alle +Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr +System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden +inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der einseitigen +Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht hat, war E d u a +r d v o n H a r t m a n n (1842-1906). Es ist eine der merkwürdigsten +Tatsachen in der deutschen Geistesgeschichte, daß dieses reifste, +durchdachteste, alle Wissensgebiete und die Religion umfassendste +Gedankensystem, welches die zweite Hälfte des Jahrhunderts überhaupt +hervorbrachte, nach anfänglichem Tageserfolg der "Philosophie des +Unbewußten" (1869) auf die wissenschaftliche Philosophie zunächst kaum +eine Wirkung ausgeübt hat. Der große Denker versuchte vergebens, einen +Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten. Gewiß besteht der Grund +nicht nur in der allgemeinen Metaphysikscheu der Zeit und der +einseitigen Herrschaft neukantischer und positivistischer Richtungen; +ein Teil der Gründe liegt auch in der Eigenart der Philosophie +Hartmanns und der Persönlichkeit ihres Urhebers selbst. Bei aller Kraft +logischer Organisation großer Stoffmassen, bei all seinem ungeheueren +Wissen und seiner Gelehrsamkeit gebrach dem Forscher ein unmittelbares +originäres Verhältnis zur Welt. Seine Philosophie ist mehr eine überaus +kunstvolle Verbindung von philosophischen Gegebenheiten (Schelling, +Hegel, Schopenhauer, Lotze, moderne Naturwissenschaft und Psychologie) +als ein neues Wort. Darin bildet er den größten Gegensatz zu +Schopenhauer, der an logisch-synthetischer Kraft ihm weit unterlegen +ist, aber, wie er selbst an seinen Verleger schrieb, den unmittelbaren +"Eindruck", den die Welt auf ihn gemacht, in seiner Philosophie schon +als Jüngling wiedergab. Auf Hartmanns System kann hier nicht +eingegangen werden. Sein in Karlsruhe lehrender Schüler Arthur Drews +hat die beste Darstellung von ihm gegeben: die bekannten, von Hartmann +selbst verfaßten "Grundrisse" führen am besten in es ein. Um so +merkwürdiger ist es nun aber, daß die g e g e n w ä r t i g e +Philosophie begonnen hat, die großen Werte auszuschöpfen, die in seinem +Werke zweifellos vorhanden sind. Abgesehen von den bedeutenden +Leistungen seines Schülers A. Drews und einigen Antrieben, die er dem +vielversprechenden Leopold Ziegler gegeben hat (vor kurzem hat sich +dieser freilich in einer kritischen Schrift, "Hartmanns Weltbild", ganz +von Hartmann abgewandt, indem er, ohne dem Denker gerecht zu werden, +seine Lehre sehr einseitig an den Ansichten Rickerts mißt), hat sich W. +Windelband für die Bedeutung Hartmanns eingesetzt. Besonders ist es +seine "K a t e g o r i e n l e h r e", sein subtilstes und gewaltigstes +Werk, das sowohl auf Windelband als auf Rickerts Schüler, E. Lask, +stark gewirkt hat. Die Unterscheidung der "Reflexionskategorien" von +den "Spekulativen Kategorien" die Unterscheidung ferner der drei +Wirklichkeitssphären, der phänomenalen, objektiv realen und +metaphysischen Sphäre, die Auffassung, daß die Relationskategorie der +Ausgangspunkt der Ableitung a l l e r Kategorien sein müsse, die +Ansicht, daß die Kategorien die Ergebnisse unterbewußter synthetischer +Kategorialfunktionen seien, die nur in ihrem Ergebnis in das Bewußtsein +hereinfallen (ihr hat sich auch G. Simmel in seinem Kantbuch +angeschlossen), hat stark auf die Kategorienlehre der Gegenwart +eingewirkt. Ferner erscheint Hartmann als einer der ersten Vorkämpfer +des nunmehr siegreich vordringenden erkenntnistheoretischen R e a l i s +m u s gegenüber allen Formen des Bewußtseinsidealismus. Hier war es +besonders J. Volkelt, der in seinen Arbeiten "Über Erfahrung und +Denken" und "Die Probleme menschlicher Gewißheit" die Hartmannsche +Auffassung übernommen hat, daß unsere überall diskontinuierliche und +durchbrochene, rein passive Bewußtseinswelt durch die Realsetzung einer +außerbewußten Natur und die Setzung unter- und unbewußter psychischer +Seins- und Wirksphären gedanklich ergänzt werden müsse, um einen +rationellen Zusammenhang zu bilden. So wenig ich diese Richtung der +Begründung des Realismus für aussichtsreich halte, scheint mir der +gegenwärtige Gang zum Realismus doch von diesen Vorkämpfern stark +abhängig. Auf den heute ungemein wirksamen Denker Hans Driesch hat E. +von Hartmann in mehreren Richtungen eingewirkt: 1. mit durch Volkelts +Vermittlung in erkenntnistheoretischer Hinsicht; 2. in der Auffassung, +daß es keine b e w u ß t e n "Akte und Tätigkeiten" gebe, diese +vielmehr zu dem rein passiven Bewußtseinsinhalt erst hinzu erschlossen +seien (siehe Driesch: "Erkennen und Denken"); 3. in der Lösung des +Problems der möglichen Koexistenz der mechanischen Zentralkräfte und +Gesetze mit Gestalt und Richtung bestimmenden, mechanischen, unbewußten +Oberkräften, durch deren Annahme der gewöhnliche Naturbegriff zwecks +Erklärung der Lebenserscheinungen eine Erweiterung erfährt; 4. auch +Hartmanns Lehre, daß es einen Parallelismus zwischen bewußten +seelischen Erscheinungen, erschlossenen seelischen Tätigkeiten und den +die organischen Formen und die Bewegungsreaktion der Organismen +bestimmenden Tätigkeiten der vitalen Oberkräfte gebe, ist von Driesch +und in einiger Modifikation auch von dem Referenten übernommen worden. +Auch die gegenwärtige starke Bewegung zu einer r e a l i s t i s c h e +n P s y c h o l o g i e im Unterschiede von bloßer +Bewußtseinspsychologie (Külpe, Scheler, M. Geiger, Driesch, in gewissem +Sinne auch S. Freud, W. Stern) ist zuerst in E. von Hartmanns Lehre in +die Erscheinung getreten. Wesentliches von Hartmann übernommen hat +ferner auch W. Stern in seinen originellen und zukunftsreichen Arbeiten +"Person und Sache" und "Die menschliche Persönlichkeit". Besonders in +der Annahme psychophysisch indifferenter zieltätiger Kausalfaktoren, +die sich gleichzeitig in den physiologischen Vorgängen und Reaktionen, +wie in den Bewußtseinsprozessen auswirken, steht Stern Hartmann nahe. +Die methodische Auffassung der Metaphysik als induktiver und nur +wahrscheinlichen Erkenntnis, die nur gradweise über die Realsetzungen +der positiven Wissenschaften hinausgeht und das falsche Idol, gegen das +Kant kämpft, das Idol einer absolut gewissen und apriorischen +Begriffsmetaphysik, verwirft, hat unter den gegenwärtigen Metaphysikern +viele Anhänger. Die naturphilosophischen Lehren Hartmanns, besonders +soweit sie sich auf die anorganische Welt beziehen, sind dem heutigen +Wissensstande der Physik nicht mehr angepaßt; was aber nicht +ausschließt, daß seine Kraftzentrenhypothese, nach der aller Stoff nur +eine bewußtseinsideale Erscheinung ist, in modifizierter Form wieder zu +Ehren kommt. In der Religionsphilosophie hat Hartmann den sogenannten +"konkreten Monismus" vertreten, der dem substanzialen Weltgrund ein +logisches und alogisch-dynamisches Attribut zuschreibt, aus deren +Kooperation und Widerstreit der gesamte Weltprozeß erklärt werden soll. +Durch A. Drews sind diese Gedanken auch in die allgemeine m o n i s t i +s c h e Bewegung eingeflossen. Den Wert dieser pessimistischen, Hegel, +Schopenhauer und den späten Schelling verknüpfenden Metaphysik können +wir ebensowenig als zukunftsreich erachten, als die willkürlichen +geschichtsphilosophischen Konstruktionen Hartmanns, nach denen Paulus +der Stifter des Christentums gewesen sei, und nicht in der +Persönlichkeit Christi, sondern in den pantheistisch ausgedeuteten I d +e e n d e r Gottmenschheit und der Erlösung das eigentliche Wesen des +Christentums getroffen sei. A. Drews ist in seiner "Christusmythe" von +diesen Anregungen Hartmanns her dazu gekommen, das Christentum als eine +Schöpfung der allgemeinen Religionsgeschichte verstehen zu wollen und +die historische Existenz Jesu ganz zu leugnen. + +Die zweitälteste Schicht der gegenwärtigen Philosophie besteht in den +an K a n t anknüpfenden erkenntnistheoretischen Denkrichtungen. So sehr +sich nach meiner Ansicht diese Denkrichtungen in unaufhaltsamem +Niedergang befinden, nehmen sie, dem Gesetz der historischen Trägheit +folgend, doch noch einen sehr erheblichen Raum in der deutschen +akademischen Philosophie ein. Mit Ausnahme der jüngsten, der durch +Nelson erfolgten Wiedererweckung der Philosophie des Jenenser Physikers +und Philosophen Jakob-Friedrich Fries, stammen sie alle aus der Zeit, +da die deutsche Philosophie in den sechziger Jahren des vorigen +Jahrhunderts durch den Rückgang auf Kant (zuerst O. Liebmann "Zurück zu +Kant") sich wieder ein akademisches Existenzrecht zu erwerben suchte. +Es sind v i e r Hauptgruppen kantianisierenden Denkens, die unter uns +noch lebendig sind. Der neukritizistische Realismus ist besonders von +Alois Riehl vertreten worden in seinem Werk "Der philosophische +Kritizismus" und in seiner schönen und klaren "Einleitung in die +Philosophie der Gegenwart". Das "Ding an sich", das die Marburger und +Badener Schule vollständig ausscheiden, wird von Riehl als kausativer +Faktor, auf dem die Materie der Empfindung beruhen soll, festgehalten. +Unser Verstand erzeugt nicht das Sein der Gegenstände, sondern gibt nur +ihrem Gegenstandsein die apriorische Form. Die logisch-synthetische +Einheit des Bewußtseins ist nach Riehl die oberste Voraussetzung für +die Gegenstände der Erfahrung. Ihm entspricht das synthetische +Identitätsprinzip, von dem auch die Kausalität (ähnlich wie bei Herbart +und Lipps) nur eine bestimmte Anwendung auf zeitliche Geschehnisse sein +soll. Die Zeit- und Raumlehre Kants sucht Riehl mit den modernen +empiristischen Theorien der Entstehung des Zeit und Raumbewußtseins zu +versöhnen. Die O r d n u n g e n des zeitlichen und räumlichen +Auseinander und Nacheinander werden nach ihm nicht durch die +Anschauungsformen von Raum und Zeit, sondern durch die Dinge an sich +selbst bestimmt. + +Neben der theoretischen Philosophie, die hier ausschließlich auf +Erkenntnistheorie und Logik der exakten Wissenschaften beschränkt +erscheint, gibt es noch eine Philosophie als "Weisheits- und +Weltbegriff" die dem Menschen ein sittliches Ideal vor die Seele +stellt. Aus der praktischen Philosophie Kants hebt Riehl ausschließlich +die Autonomie der Persönlichkeit hervor, verwirft aber den +kategorischen Imperativ; nicht minder verwirft er die gesamt religiöse +Glaubens- und Postulatentheorie Kants. Metaphysisch nennt sich auch +Riehl "Monist" (kritischer Monismus), indem er annimmt, daß das +Psychische und Physische nur zwei Betrachtungsweisen ein und derselben +Wirklichkeit sind, die uns in ihrem Wesen unerkennbar ist und durch die +Religionen nur auf Grund verschiedener sittlicher Lebenserfahrungen +verschiedenartig ausgewertet wird. Riehl wirkt in der gegenwärtigen +Philosophie nur wenig mehr. Angeregt von ihm sind Hönigswald und E. +Spranger. + +Die weitaus w i r k s a m s t e, an bedeutenden Persönlichkeiten +reichste und vielseitigste neukantische Richtung ist auch gegenwärtig +noch die von Hermann Cohen gegründete Schule von Marburg. Hermann Cohen +(1842-1918) hat sich durch eine Reihe kanthistorischer und +kantphilologischer Schriften hindurch erst sehr langsam zu einem +eigenen, großangelegten System hindurchgearbeitet, mit dem er in seinen +drei Werken: "Logik der reinen Erkenntnis", "Ethik des reinen Willens" +und "Ästhetik des reinen Gefühls" wenige Jahre vor seinem Tode +hervorgetreten ist. Zweifellos ist Cohen der herrschende Geist der +Schule, freilich darum nicht auch derjenige, der am meisten in die +Breite gewirkt hat. Seltsame Vorzüge und Fehler vereinigte er in sich. +Auf dem Hintergrund einer patriarchalischen, ehrfurchtgebietenden +Denkerwürde, durch die allein schon er den Schüler leicht mit der +Überzeugung erfüllte, daß der Weltlogos in ihm selber und in jedem, der +ihm folge, tätig sei, hebt sich sein philosophisches Werk ab. +Talmudischen Scharfsinn verbindet er mit einer seltsamen Dunkelheit, ja +häufigen Abstrusität der Darstellung, auch in diesem Punkte dem stark +auf seine Auffassung des Ding-an-sich-Begriffes wirksamen Moses Maimon +nicht unähnlich. Aber diese beiden Eigenschaften sind nicht die +stärksten und wesentlichsten seiner Natur. Was ihn vor allen anderen +Mitgliedern der Schule auszeichnete, das war eine freilich nur +stellenweise in Vortrag und Werken hervorbrechende, Kant wahrhaft +kongeniale Plastik des geistigen Schauens und der Darstellung; eben der +Zug an Kant, der Goethe bei Lektüre der "Kritik der Urteilskraft" +veranlaßt haben mag, zu sagen, "man trete in ein helles Zimmer", wenn +man Kant lese. Dazu ging ein mächtiges, echtes und ernstes, sittliches +Pathos von ihm aus. Wenige erkannten so wie er die Niedergangszeichen +des Wilhelminischen Zeitalters, die Vergötzung von Macht und Geld, von +Nation und Staat. Die ganze Reinheit und Klarheit der Denkweise des +Kantianismus der Männer der Befreiungskriege schien in ihm, lebendig +geworden und in seiner Person vor der Zeit anklagend zu stehen. Diese +Denkweise verband sich aber merkwürdigerweise bei ihm mit einem sehr +bewußten Judaismus. Freilich mit einem Judaismus, der, auf dem Ethos +der Propheten des Alten Bundes beruhend, nicht nur alle ritualistischen +und nomistischen Elemente des Judentums, nicht nur alle mystischen und +pantheisierenden kabbalistischen Elemente die sich ihm später +ansetzten, sondern auch den historisch gegebenen Theismus von ihm +abstreiften. Die Gottesidee war Cohen nur der Garant der "Einheit der +Menschheit" und gleichzeitig ein notwendiges sittliches Vernunftideal. +Von Karl Marx und den deutschen sozialistischen Theoretikern hatte er, +ähnlich wie schon A. Lange (s. s. "Arbeiterfrage"), eine Reihe +Grundsätze in sein ethisches und soziales System aufgenommen; besonders +den von ihm aus dem Nationalen ins menschheitlich Abstrakte erhobenen +jüdischen Messianismus, nach dem alles geschichtlich Gegebene nur von +einem sittlichen Zukunftsideal her aufgefaßt und beurteilt werden kann; +das verband ihn mit Marx, der diesen Messianismus nur unter seiner +dogmatischen ökonomischen Geschichtsauffassung verhüllt hatte. Nur so +ist es zu verstehen, daß auf dem Boden des Marburger Kantianismus auch +eine neue theoretische Fassung des Sozialismus erwuchs, die besonders +von Eduard Bernstein (Revisionismus), von Paul Natorp, von Vorländer +und in manchen Kreisen der "Sozialistischen Monatshefte" vertreten +wurde. An H. Cohen schloß sich Paul Natorp an, der in seinen Schriften +die neukantische Lehre zwar weit klarer und für eine philosophische +Schulbildung eindeutiger und systematisierter vertrat als der Meister, +aber weder dessen Tiefe noch dessen Schwung nahekam. Als dritter +bedeutendster Vertreter der Schule ist Ernst Cassirer zu nennen, der in +seinen geschichtlichen und systematischen Werken der neukantischen +Lehre vielleicht den schärfsten, präzisesten und gegenwärtig +wirksamsten Ausdruck gegeben hat. + +Der Marburger Kantianismus weicht von dem historischen Kant in sehr +weitgehendem Maße ab. Vollständig wird verworfen die Realsetzung eines +Dinges an sich. Cohen interpretiert Kant dahin, das Ding an sich sei +bei Kant nur eine didaktische Anpassung an den naiven Realismus des +Lesers; in Wirklichkeit bedeute diese Wortverbindung nur einen +"Grenzbegriff unserer Erkenntnis" nämlich das Fernziel eines +unendlichen Erkenntnisprogresses. Diese Auffassung ist der von Maimon +sehr ähnlich. Daß sie historisch als Kantinterpretation falsch ist, +duldet heute keinen Zweifel. Indem so eine transzendente Wirklichkeit +nicht nur nach ihrer Erkennbarkeit, sondern auch nach ihrem Dasein +geleugnet wird, wird der Boden frei für einen neuen E r k e n n t n i s- +und W a h r h e i t s b e g r i f f, den nach der Marburger Lehre +Kant aufgestellt habe. Erkennen bedeute nicht Abbildung, aber auch +nicht zeichenartiges Bestimmen einer vorhandenen Gegenständlichkeit und +Realität, sondern es bedeutet ideales "Erzeugen und Formen des +Gegenstandes" selbst. Der Gegenstand sei nicht gegeben, sondern seine +Erzeugung sei unserem Verstande nach den ihm einwohnenden Gesetzen +aufgegeben. Die Naturgegenständlichkeit ist hiernach also ein +ausschließliches Werk, freilich ein endlich nie vollendbares Werk, des +denkenden Verstandes. Gegenständlichsein und Realsein heiße für einen +Inhalt nichts anderes, als gesetzlich gedacht sein und im System der +Gedanken und ihrer Relationen eine bestimmte Stelle haben. Aber von +welcher Gegebenheit ausgehend, erzeugt so der Verstand die +Naturgegenstände? Nach dem historischen Kant, auch nach Riehl und der +südwestdeutschen Schule, ist ein anschaulicher Gehalt, die "Materie der +Empfindung", gegeben. Anders nach H. Cohen. Er erklärt: "Wir fangen mit +dem Denken an"; nichts darf dem Verstande gegeben sein, wenn er alles +durch sich selbst erst bestimmen und erzeugen soll. "Empfindung" sei +ein Ausdruck, der selbst erst mit Hilfe der Kausalrelation und des +Reizgedankens zu definieren sei als dasjenige, was an unserem +Wahrnehmungsgehalt reizbedingt sei; also können Empfindungen nicht +gegeben sein; auch sie sind ein gesuchtes X, ein "Problem des +Verstandes". Soll damit gesagt sein, daß der Verstand, so etwa wie bei +Hegel, rein aus sich heraus die ganze Welt erzeuge? Das ist kaum die +Meinung H. Cohens. Einmal gibt auch er zu, daß in der natürlichen +Weltanschauung Dinge, Ereignisse, Raum, Zeit und Kausalität irgendwie +gegeben seien, und zwar als bewußtseinsjenseitig; aber das macht das +Eigentümliche der neukantischen Lehre aus, daß im Unterschiede zum +historischen Kant die Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und die +wissenschaftliche Erfahrung s c h r o f f getrennt und +auseinandergerissen werden. Die Wissenschaft hat hiernach dem Gehalt +der natürlichen Weltanschauung gar nichts zu entnehmen, auch nicht die +Daseins f o r m e n und Strukturen dieser natürlichen Wirklichkeit, +geschweige ihren Gehalt. Umgekehrt muß vielmehr die natürliche +Weltanschauung und ihr Inhalt ihrerseits durch die Wissenschaft als +physiologisches, psychologisches resp. biologisch zweckmäßiges +Gesamtprodukt aus ursprünglichen Denksetzungen erklärt werden, die ihr +-- konsequent -- also nicht entnommen sein können. Ferner kommt es zu +dem zweideutigen Satze H. Cohens: "Nichts ist dem Denken gegeben," und +das Denken erzeuge erst im Urteil des infinitesimalen Ursprungs die +Realität nur dadurch, daß Cohen Existieren eines Gegenstandes, +Gegenstandsein eines Seienden, Gegebensein und Bestimmtsein einander +gleichsetzt. Das Apriori Kants soll, das wahr der ursprüngliche +Wurzelpunkt der Marburger Lehre, nur im "transzendentalen" Sinne +genommen werden, d. h. hier freilich nicht nur als objektiv logische +Voraussetzung für die Möglichkeit der mathematischen Naturwissenschaft +und ihrer Gegenstände, sondern wenigstens nach der Auslegung des +späteren Systems auch als eine Grund l e g u n g, die unser Denken +immer neu zu legen tätig ist. Die "Grundlage" wird also hier zur +"Grundlegung". Auch die "Kategorien" sind nach der Marburger Lehre +nicht etwa feste, auf einer Tafel ein für allemal zu bestimmende +Schienen, in denen unser Denken laufen muß, sondern sie selbst sind +eine prinzipiell unabgeschlossene Reihe reiner Denk e r z e u g u n g +e n zum Ziele, je nach der gegebenen Problemlage, den unendlichen Prozeß +der Wissenschaft fortzufahren. Nicht nur Ding an sich und +Empfindungsgegebenheit fallen hier im Gegensatz zum historischen Kant +weg, sondern auch die "Anschauungsformen" sowie die kantische Scheidung +von formaler Logik, transzendentaler Logik und Theorie des +Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteils. Die Anschauungsformen von Raum und +Zeit werden für Cohen und Natorp Denkkategorien; sie lösen sich in +einer an Leibnizer Lehre gemahnenden Weise in ein System idealer +Relationen auf, und die gesamte Mathematik soll, von Funktionentheorie +und Algebra angefangen bis zur Geometrie, streng kontinuierlich ohne +Heranziehung von intuitiven Minima, ausschließlich als strenges +apriorisches Denkerzeugnis betrachtet werden. Ferner fällt nach den +Lehren der Marburger Schule der Unterschied zwischen Realwissenschaften +und Idealwissenschaften vollständig dahin. Auch die theoretische Physik +erscheint hier vollständig formalisiert (nicht minder in anderer +Richtung Rechtsphilosophie und Kunstphilosophie). Der ganze +Erkenntnisprozeß der "Wissenschaft" -- ein Begriff, der hier aufs +einseitigste und noch einseitiger bei Kant an der mathematischen +Naturwissenschaft orientiert ist, und zwar an der mathematischen +Naturwissenschaft des newtonschen Zeitalters -- wird hier in +anschauungsfreies Denken, und zwar in erzeugendes Denken aufgelöst. +Alle Gegenstands- und Seinsprobleme werden künstlich in M e t h o d e n +p r o b l e m e verwandelt. So auch der Unterschied des Psychischen +und Physischen. Ein nicht zu übertreffender Scientivismus, der an die +Stelle der Weltbegreifung ausschließlich die Begreifung der einen +zusammenhängenden, den Kosmos aus dem Chaos erst e r z e u g e n d e n +Wissenschaft rückt, ist eines der Hauptmerkmale der Marburger +Philosophie. Die Rechtsphilosophie hat sich z. B. nicht direkt mit dem +Rechte, die Kunstphilosophie nicht direkt mit der Kunst zu +beschäftigen, sondern mit der Möglichkeit der Rechts- und Kunst w i s s +e n s c h a f t. Die Wissenschaft selbst, die, wie Cohen sagt, in +"gedruckten Büchern" vorliegt, ist also allein das für den Philosophen +Urgegebene; sie erscheint hier wie vom Himmel gefallen. Auf die Art, +wie von diesem Standpunkt aus das System der Kategorien hergeleitet +wird, kann hier nicht ein gegangen werden. Die genannten Cohenschen +Grundideen haben N a t o r p und C a s s i r e r sowie die übrige große +Schülerschaft weiterentwickelt. Ein zweifelhafter Vorzug der Schule ist +der Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer Interessen. Sie übertrifft +hierin weit die übrigen Kantschulen. Natorp hat die Idee Cohens, +zunächst in erkenntnistheoretischer Hinsicht, besonders in drei +Richtungen weiterentwickelt: 1. in bezug auf die Theorie der +mathematischen Naturwissenschaft, besonders in seinem Buche "Die +Grundlagen der exakten Naturwissenschaft"; 2. in seiner, einer +erkenntnistheoretischen Fundierung der Psychologie dienenden +"Allgemeine Psychologie"; 3. in der Richtung der Ethik und +Sozialpädagogik. Eine kurze geschickte Zusammenfassung seiner Ansichten +hat er gegeben in den "Wegen zur Philosophie" unter dem Titel +"Philosophie" 1918. Eine Art Geschichtsphilosophie des deutschen Volkes +entwickelte er während des Krieges in seinem Buche "Deutscher +Weltberuf". Ferner hat Natorp in seinem Werke über Platon versucht, die +platonische Lehre mit Abstreifung alles dessen, was er bei Platon für +"mythisch" hält, so zu deuten, daß an den "Ideen" Platons jeder +dingliche Charakter verschwindet und sie als bloße "Gesetze", die unser +denkender Geist selbst zur Grundlegung des Wirklichen hervorbringt, +erscheinen. Schon mit diesem Werke, aber in vielleicht noch höherem +Maße in den großen historischen Werken Ernst Cassirers über Leibniz und +über "Geschichte der neueren Erkenntnistheorie" (in 3 Bänden) hat die +Marburger Schule einen Weg beschritten, dessen fast einzigartig +konsequente Verfolgung zwar ihrem eigenen System einen mächtigen +geschichtlichen Halt zu geben scheint, der sich aber für eine objektive +geschichtliche Auffassung der Philosophiegeschichte nach meiner Ansicht +als geradezu ruinös erwiesen hat. Diese geschichtliche Auffassung der +Philosophiegeschichte ist geleitet von der an Hegel gemahnenden Idee, +daß die Geschichte der philosophischen Ideen eine strenge logische K o +n t i n u i t ä t und einen streng logischen Sachfortschritt darstelle, +bei dem die philosophierenden Personen, ihr ursprüngliches +charakterologisches Verhältnis zur Welt, ferner Religion, soziale +Formen und Klassen, Interessen und Leidenschaften überhaupt keinerlei +Rolle spielen. Abgesehen von dieser rein fiktiven unerwiesenen +Voraussetzung werden in den geschichtlichen Werken der Marburger Schule +die behandelten Denker fast ausschließlich nach ihrer logischen und +erkenntnistheoretischen Seite hin gewürdigt. Dies tritt in Natorps +Platonbuch wie in Cassirers Leibnizbuch mit ganz unsagbarer +Einseitigkeit hervor. Die Leibnizsche Metaphysik, die genau so der +Ausgangspunkt seiner Logik, wie die Metaphysik des Aristoteles der +Ausgangspunkt des "Organon" gewesen ist, wird von ihm so gut wie +hinweginterpretiert. Und genau so ergeht z. B. Descartes in der +"Geschichte des Erkenntnisproblems". Mit vollem Recht hat jüngst Ernst +von Aster in seiner kürzlich erschienenen "Geschichte der +Erkenntnistheorie" (1921), die ein wahres und objektives Bild der Dinge +an Stelle der Marburger Konstruktionen zu geben sucht, diesen Marburger +Vergewaltigungsversuchen der Geschichte zugunsten ihres Systemes +scharfen Widerstand entgegengesetzt. Das erkenntnistheoretische +Hauptwerk Cassirers heißt "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" +(1910). Es enthält eine Erkenntnistheorie der Mathematik, theoretischen +Physik und Chemie und soll zeigen, wie an Stelle der Herrschaft der +Substanzkategorie und der begrifflichen Umfangsverhältnisse in der +Entwicklung der neueren Wissenschaften mehr und mehr eine Denkweise +getreten sei, die alle Substanzen als bloße hypothetische und nie +endgültig zu bestimmende Ansatzpunkte zuerst erfaßter funktioneller +Abhängigkeiten ansieht und eine Logik der Relationen an Stelle der +Aristotelischen Subsumptionslogik setzt. Schöne, zum Teil auch wahre +und tiefe allgemeine Bildungsbücher hat ferner Cassirer während des +Krieges uns geschenkt in seinen Arbeiten "Freiheit und Form" und "Idee +und Gestalt", in denen die Entwicklung der deutschen Dichtung in einige +ihrer Hauptgestalten (Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist) nach der +Einheit ihrer Struktur und Form mit der philosophischen Entwicklung des +deutschen Geistes betrachtet werden (siehe besonders den wertvollen +Aufsatz "Goethe und die mathematische Naturwissenschaft"). In der +Rechtsphilosophie hat R u d o l f S t a m m l e r in seinen Büchern +"Wirtschaft und Recht" und "Das richtige Recht" den neukantischen +Gedanken Ausdruck gegeben, ferner hat auch der Österreicher Jurist +Kelsen diese Philosophie zur Grundlage seiner Arbeiten gemacht. Eine +bekannte Kritik Max Webers von Stammlers Wirtschaft und Recht (siehe +"Zeitschrift für Sozialpolitik") und ein eben erschienenes Buch des +Bonner Juristen Kaufmann haben die ungemeinen Schwächen dieser +Rechtstheorie treffend aufgedeckt (siehe E. Kaufmann, "Kritik der +neukantischen Rechtsphilosophie", 1921). Die Biologie suchte N. +Hartmann in einer Sonderschrift den neukantischen Grundsätzen zu +unterwerfen, ein sehr zukunftsreicher Forscher, der sich aber +neuerdings von der Marburger Schule weit abgewandt und einer mehr +ontologischen Denkrichtung zugewendet hat, die er nicht ohne Einfluß +der Phänomenologie genommen haben dürfte. + +Jünger unter den gegenwärtigen Kantschulen ist die "Badische" oder auch +"Südwestdeutsche Schule". Sie ist begründet von W. Windelband, fand +ihren größten und wirksamsten Systematiker in Heinrich Rickert, als +dessen wichtigster Schüler, aber auch in gewissem Sinne schon +Überwinder, der im Kriege zum Leide der deutschen Philosophie gefallene +zukunftsreiche Emil Lask gelten muß. Nahe stehen dieser Schule vermöge +ihres gemeinsamen Ausgangspunktes von J. G. Fichte auch Paul Hensel und +der auch von Hegel stark beeinflußte Jonas Cohn; in etwas weiterer +Entfernung aber der erheblich selbständige, an der Harvard-Universität +in Amerika lehrende, während des Krieges gestorbene Hugo Münsterberg. Z +w e i Dinge unterscheiden diese Schule scharf von jener Marburgs. +Während die Marburger Schule sich aufs einseitigste an der +mathematischen Naturwissenschaft zu orientieren suchte, sind es die +historischen und Kulturwissenschaften, die den Interessenkreis dieser +Schule vor allem beherrschen. Die Geschichte ist Rickert das "Organon +der Philosophie". Zweitens ist es ein bereits durch J. G. Fichte +hindurchgesehener Kant, dessen Lehren hier weiterentwickelt werden. Das +erste Moment hat seinen Hauptgrund darin, daß der Schöpfer dieser +Schule, W. Windelband, an erster Stelle Philosophiehistoriker war. Auf +diesem Boden hatte Windelband bedeutende Leistungen aufzuweisen, die +freilich auch weitgehender Kritik offenstehen und ihr zum Teil auch +wirklich verfielen. In seinem Platonbuche z. B. gibt er nach meiner +Meinung dem Ideal des Guten bei Platon eine Deutung, die durchaus +fichteisch und kantisch und das gerade Gegenteil von platonisch ist. +Fast überall, wo er über mittelalterliche Philosophie sprach, verfällt +er, wie Baeumker und seine Schüler zeigten, tiefgreifenden Irrtümern. +Systematisch ist Windelband zuerst hervorgetreten mit seiner +Doktordissertation "Über den Zufall", ferner mit seiner Rektoratsrede +"Über nomothetische und ideographische Wissenschaften", die den +Ausgangspunkt für Rickerts Geschichtstheorie in seinem Buche über +"Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" gebildet hat, +ferner in seinen zwei Bänden "Präludien" in seiner "Einleitung in die +Philosophie", in Arbeiten zur Kategorienlehre und in seinem Buche "Über +Willensfreiheit". In seiner Schrift über den Zufall findet sich noch +der französische Philosoph und Mathematiker Cournot zitiert, der meines +Erachtens zuerst die Behauptung aufgebracht hat, daß es objektives, +aber in gesetzmäßige Beziehungen unauflösbares Wirkliches gebe, das +zwar dem Kausalprinzip, sofern es konkrete Kausalität fordere, nicht +aber dem Gesetzesprinzip unterworfen sei; ferner, daß es die Geschichte +mit diesem, objektiv zufälligen Sein, im Unterschiede von allem +gesetzmäßigen Sein und Geschehen zu tun habe. Derselbe Gedanke findet +sich übrigens v o r jener Rede Windelbands auch bereits bei Harms und +ferner in Hermann Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte". Streng +systematisch zu begründen versuchte ihn aber erst H. Rickert in dem +obengenannten Werke. Rickert ging dabei aus von einer bestimmten +Theorie der Begriffsbildung, die er in kritischer Auseinandersetzung +mit dem Logiker Sigwart gewann. Diese Begriffstheorie ist streng +nominalistisch und hat mit jener der Positivisten, z. B. E. Machs, eine +große Ähnlichkeit. Der Begriff soll sein eine "Überwindung der +extensiven und intensiven unendlich reichen Mannigfaltigkeit", die +jeder noch so einfache Teil des unmittelbar erlebten Wirklichen +enthalte. Den auf diese Weise gebildeten Begriffen und nicht minder den +analog gebildeten Gesetztsrelationen, in die sich in letzter Linie auch +die Begriffe sollen auflösen lassen, kommt "Geltung" zu, nicht aber +Wirklichkeit oder Realität. Neben dieser Betrachtungsart ein und +desselben, unter die Kategorie der "Gegebenheit" ursprünglich gefaßten +formfreien "Stoffes der unmittelbaren Erlebnisse" soll es aber noch +eine prinzipiell entgegengesetzte Richtung der Betrachtung und des +Denkens geben. Sie sucht nicht die Mannigfaltigkeit durch +Allgemeinbegriffe zu überwinden, sondern diese Mannigfaltigkeit durch +Bildung von Individualbegriffen immer genauer als "Individuum" und als +Ganzes und Teil zu bestimmen. Individuum und Allgemeines sollen also +das Ergebnis von zwei entgegengesetzt gerichteten Formungen und +Betrachtungsweisen ein und derselben Materie der Erfahrung sein, +freilich so, daß die kategoriale Form des Individuums (Rickert führt +sie als eine neue Kategorie in das Kategoriensystem Kants ein) "k o n s +t i t u t i v e" Bedeutung für dc Wirklichkeit besitze, während der +Gesetzeskategorie nur "regulative" Bedeutung zukomme. Die letzte Wurzel +des Unterschiedes von Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften +soll nun ausschließlich in diesen zwei Betrachtungsweisen gelegen sein. +Man muß wohl beachten, daß die Betrachtungsweisen nicht k o o r d i n i +e r t sind. Da die Kategorie des Individuums konstitutiv ist (und mit +ihr auch die Kategorie der konkreten Kausalität), ist die +Weltwirklichkeit p r i m ä r nicht "Natur", sondern "Geschichte". Und +was wir "Natur" nennen, ist in letzter Linie nur ein allgemein +abstrakter Auszug aus dieser konkreten einmaligen Wirklichkeit, der +nicht notwendig wäre, wenn unser Geist so umfassend wäre, a l l e s +individuell Wirkliche im g a n z e n Reichtum seiner Mannigfaltigkeit +erfassen zu können. Dadurch erhält die Geschichtswissenschaft einen +metaphysischen Vorzug vor der Naturwissenschaft. Diese philosophisch +ganz unbegründete Behauptung ist nur eine ganz willkürliche logische +Scheinrechtfertigung einer aus allen Äußerungen dieser Schule +hervorgehenden primären geringen Wertung der Naturwissenschaft und +insbesondere aller Natur p h i l o s o p h i e. Diesem Begriff der +Naturwissenschaft wird von Rickert außerdem die von ihm ganz unkritisch +rein mechanisch sensualistisch aufgefaßte Psychologie eingeordnet. + +Ein zweites Merkmal des historischen Gegenstandes soll außer der +individualisierenden Betrachtung des Wirklichen nach Rickert die +Beziehung dieses Wirklichen auf ein System allgemein gültiger Werte +sein. Erst diese Beziehung soll aus der unermeßlichen Fülle des +individuell Wirklichen dasjenige auswählen, was -- sei es in positiver +oder in negativer Wertrichtung -- "kulturell bedeutsam" ist. Die +allgemeingültigen Werte werden durch die Philosophie festgestellt; ja, +die Philosophie wird bei Windelband und Rickert geradezu als die +"Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten" definiert. Gegen diese +neue "Logik der Geschichte", an deren Erweiterung, Kritik und Ausbau +sich auch G. Simmel und H. Maier, ferner Troeltsch und Max Weber +beteiligt haben, sind die eingehendsten und meiner Meinung nach +treffendsten kritischen Einwände von Erich Becher in seinem Buche +"Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" (1921) erhoben worden. +Auch F. Krüger hat in seinem wertvollen Buche "Über +Entwicklungspsychologie" (1915) viel Treffendes gegen Rickerts Begriff +der Psychologie gesagt. Beide angegebenen Merkmale können den +geschichtlichen Gegenstand nicht umgrenzen. Auch die Naturwissenschaft +muß, z. B. in der Geographie, in der Mondkunde, vor allem aber im +ganzen Gebiet der Naturkunde überhaupt, individualisierend vorgehen, +und auch in den verschiedenen geschichtlichen und historischen +Geisteswissenschaften gibt es weitgehend Gesetzlichkeit und typische +Entwicklungsabfolge von Erscheinungsreihen. Nur wenn man ferner mit +Rickert die mechanische Naturansicht mit Einschluß des Biologischen und +einer ausschließlichen sensualistischen Assoziationspsychologie als die +einzig wahre Naturwissenschaft bereits willkürlich voraussetzt, auf +geistesgeschichtlichem Boden aber alle Versuche, neben der verstehenden +Geschichte auch eine erklärende und zugleich phasengesetzliche +Geschichtserkenntnis zu geben, völlig verwirft, kann man auf Rickerts +Meinung kommen. Weder läßt sich der ontische Gegensatz des +geistig-psychischen Seins und der äußeren Naturtatsachen, der übrigens +durch die e i g e n g e s e t z l i c h e n Erscheinungen des +organischen Lebens vermittelt wird, in einen bloßen Unterschied von +"Betrachtungsweisen" verwandeln; noch läßt sich mit Fug behaupten, die +Psychologie habe für die Geschichte keine Bedeutung (siehe hierüber +Krüger). Auch die Wertbezogenheit ist nicht w e s e n t l i c h für +das geschichtlich "Bedeutsame"; es genügt dazu die Größe der +Wirkungsfähigkeit eines Tatbestandes. Die eigentlichen Probleme der +Geschichtserkenntnis, die Frage nach den mannigfaltigen Erkenntnisarten +und Realsetzungsgründen fremden Bewußtseins und das von W. Dilthey so +tief aufgenommene, von E. Spranger und von dem Schreiber dieser Zeilen +weitergeführte Problem des geschichtlichen "Verstehens" sind durch +Rickert gar nicht ernstlich berührt. Die Erkenntnistheorie der +Südwestdeutschen Schule hat ihr Hauptwerk in Rickerts "Gegenstand der +Erkenntnis" (3. Auflage, Tübingen 1915). In ihrem Mittelpunkt steht ein +erkenntnistheoretischer Idealismus, der aber nicht extremer +Rationalismus und Logizismus wie jener der Marburger ist, sondern +zugleich die alogischen und arationalen Fundamente gegebener +Erlebniswirklichkeit anerkennt. Der erkenntnistheoretische Realismus +wird am Anfang mit den denkbar billigsten Mitteln in den drei Formen +des Kausalschlusses, des Interpolations- und des voluntativen Realismus +(Dilthey, Frischeisen-Köhler) zu widerlegen gesucht. Alles Seiende und +Gegenständliche soll seinen anschaulichen Fundamenten nach "Inhalt +eines Bewußtseins überhaupt" sein, das Rickert durch ein negatives +Verfahren, durch das er den natürlichen Ichbegriff (pssychophysisches +Subjekt, psychologisches Subjekt, erkenntnistheoretisches Subjekt) +immer weiter zu beschränken sucht, gewinnt. Die Fehler dieses +Verfahrens können hier nicht aufgewiesen werden; auch der Widersinn +nicht, ein sogenanntes "überindividuelles Ich", das weder eine +Außenwelt, noch ein Du, noch einen Leib sich gegenüber hat, anzunehmen. +Der eigentliche "Gegenstand der Erkenntnis" soll nun weder bestehen in +einem bewußtseinsjenseitigen Seienden noch in einem +bewußtseinsimmanenten Gehalt der anschauenden Akte; vielmehr soll das, +was wir "Gegenstand" nennen, auf ein "transzendentes Sollen", d. h. auf +die Forderungen zurückgeführt werden, über das Bewußtseinsgegebene +bestimmte Arten von U r t e i l e n zu fällen und es in diesen Akten +mit kategorialen Formen zu umkleiden. Dieser Gedanke ist von Fichte +übernommen, der ja auch das "Sollen" dem Sein, das Gewissen dem Wissen, +die sittliche Forderung der theoretischen Erkenntnis vorhergehen läßt. +In seinem letzten Werk "System der Philosophie" (1. Band) hat Rickert +nichts wesentlich Neues seinen früheren Arbeiten hinzugefügt. + +Übersieht man das Ganze dieser Schule, so kommt ihr gegenüber der +Marburger Philosophie nur e i n zweifelloser Vorzug zu. Sie erkennt g e +g e b e n e Bestände überhaupt an; sie macht nicht den Versuch, die +ganze Welt in reine Denkbestimmungen aufzulösen; aber sie tut dies +leider auch unter weitgehender Preisgabe der Rechte des Denkens und +verfällt so in einen "Nominalismus", der sich von dem Nominalismus etwa +E. Machs und der Positivisten nur der Färbung der Darstellung nach +unterscheidet. In jeder anderen Hinsicht ist die Schule der Marburger +Lehre weit unterlegen. An Stelle des ungemeinen Reichtums und einer +bewunderungswürdigen Vielseitigkeit der Marburger Gedankenwelt treten +hier einförmige schematisierende Wiederholungen von ein paar überaus +ärmlichen und dürren Grundgedanken, die sich, verbunden mit der +aufgeblähten, von J. G. Fichte ererbten, Icharroganz dem gesamten +Universum gegenüber vergeblich bemühen, eine ganze Philosophie zu +tragen. Der sogenannten "Kultur" (selbst die Religion wird hier auf ein +fadenscheiniges "Norm- und Kulturbewußtsein" in letzter Linie +zurückgeführt) wird eine Rolle und eine Bedeutung im Ganzen des +Weltgetriebes zugesprochen, sie ihr nicht im entferntesten zukommt. +Eine Naturphilosophie ernst zu nehmender Art, eine tiefere Fundierung +der Psychologie oder irgendwelche Leistungen auf diesem Gebiet besitzt +die Schule überhaupt nicht und kann sie gar nicht besitzen, da sie +ihren Jünger von vornherein mit tiefster Verachtung gegen die Wunder +der Natur erfüllt. Natur ist hier genau wie bei Fichte im Grunde nur +"Material" für ein leeres Kulturgetue, das seinen letzten Sinn haben +soll in frei in der Luft schwebenden rein formalen "Werten" und +"Geltungen". Die falsche Meinung, es ließe sich der Wertbegriff auf ein +Sollen zurückführen und "Wahr" und "Falsch" seien nur Werte n e b e n +anderen, ist von Meinong, dem Verfasser (siehe "Formalismus in der +Ethik", 2. Auflage), und zum Teil auch von E. Lask, der eben starb, als +er die grobmaschigen Schematismen seiner Lehrer zu überwinden anfing, +widerlegt worden. Es muß geradezu als ein kulturpsychologisches Problem +gelten, wie diese l e e r s t e der deutschen Kantschulen in unserem +Lande so starke Verbreitung finden konnte. Ich sehe seine Lösung vor +allem darin, daß sie der herkömmlichen historischen Richtung in der +deutschen Geschichtswissenschaft das philosophische R e c h t ihrer +Existenz immer neu bestätigte und jedes satte Genügen an den +herkömmlichen Methoden "philosophisch" rechtfertigte; ferner darin, daß +die Aneignung jener paar Formeln über Wert und Sein und +generalisierende und individualisierende Betrachtung mit Ausscheidung +aller echt philosophischen Probleme der Metaphysik, der +Naturphilosophie, der Psychologie, der Ethik und Ästhetik nur ein +Minimum von Denkarbeit kostete und doch gleichzeitig den Adepten mit +dem Bewußtsein erfüllte, nun ein ganzer Philosoph zu sein. (Vgl. auch +hierzu W. Windelband: "Die Philosophie im deutschen Geistesleben des +19. Jahrhunderts", 1909.) Weit tiefer faßte die Probleme der Weltlehre +und der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der +Geisteswissenschaften der gleichfalls von Fichte ausgegangene Hugo +Münsterberg in seinen "Grundzügen der Psychologie" und in seiner +"Philosophie der Werte". Er versuchte aus rein erkenntnistheoretischen +und methodologischen Forderungen heraus (freilich überkonstruktiv und +mit fichteischer Gewalttätigkeit) eine strenge Assoziationspsychologie +zu versöhnen mit der Anerkennung einer primär nur gewerteten +"Lebenswirklichkeit" (der eigentlichen metaphysischen Sphäre), die nur +zu gewissen methodischen Zwecken technischer Daseinsbeherrschung in +einen äußeren Naturmechanismus "umgedacht" werde. Von diesem +Mechanismus müsse in der erklärenden Philosophie auch das Psychische +als abhängig gedacht werden. Von ihr verschieden ist jedoch eine +subjektivierende Aktpsychologie, die Grundlage der +Geisteswissenschaften sei. + +In einem loseren Verbande mit beiden Kantschulen stand auch Georg +Simmel, der sich von einer anfänglich mehr positivistisch eingestellten +Denkrichtung über die Problematik Kants hinweg schließlich zu einer +"Lebensphilosophie" durchrang, deren Ergebnis er in dem nach seinem +Tode im Nachlaß erschienenen Werke "Lebensanschauung, vier +metaphysische Kapitel" darstellte. Der Aufsatz "Über den Tod" ist das +Tiefste und Reifste, was dieser eigenartige und weit über die deutschen +Grenzen hinaus anregende Denker geschrieben hat. Auch sein Aufsatz über +"Das individuelle Gesetz", in dem er ähnlich wie Schleiermacher und der +Verfasser in seiner "Ethik" neben "allgemeingültigen moralischen +Werten" auch "individualgültige", d. h. eine je individuell sittliche +Bestimmung des Menschen darzutun sucht, hat die Ethik bedeutend +gefördert. Seiner durch Bergson angeregten letzten "Lebensphilosophie" +die dunkel, unbestimmt und verworren bleibt, kann ein gleicher Beifall +nicht gezollt werden. + +Die vierte von Leonhard Nelson begründete Kantschule, die einen reichen +Kreis von Forschern aller Disziplinen unter sich vereinigt, hat ihre +Ansichten besonders in den zahlreichen Werken ihres Begründers und in +den "Abhandlungen zur friesischen Schule" dargelegt. In scharfem +Gegensatz zur "transzendentalen" Auffassung des kantischen Apriori, von +dem Cohen ausging, wird hier die Lehre vertreten, daß wir nur auf dem +Wege anthropologischer Selbstbesinnung mit Hilfe eines Verfahrens der +Reduktion der gegebenen Wissenschaften die obersten Grundsätze der +Vernunft feststellen können. Von einem "Vertrauen in die Vernunft" +ausgehend, das ein rein subjektiver Akt bleibt, müssen die obersten +evidenten Einsichten, nach denen wir das Gegebene in mittelbarem, +Denken bearbeiten, nicht "erzeugt", sondern nur als ursprünglicher +Besitz unseres Geistes enthüllt werden. Die Voraussetzung dieser Schule +ist die Existenz einer unmittelbar anschauenden Vernunft, deren +Grundsätze teils anschaulich (mathematische Grundsätze), teils +unanschaulich (z. B. Kausalprinzip) evident sind, und die durch das +reduktive Verfahren weder "deduziert" noch "konstruiert" sondern allein +für die Selbstbesinnung als evident enthüllt werden müssen. So muß der +apriorische Besitz unseres Geistes nicht auf apriorische, sondern auf +aposteriorische Weise gefunden und entdeckt werden. Eine +"Erkenntnistheorie" im üblichen Sinne, sofern sie die "Möglichkeit der +Erkenntnis" erst aufweisen will, ist nach Nelson ein sinnloses +Unternehmen; denn nur auf Grund schon gewonnener evidenter Erkenntnis +können wir anderweitige Erkenntnis einer Prüfung und Kritik +unterwerfen. Von dieser an Fries anknüpfenden theoretischen Basis aus +hat die Schule eine überaus rege und, wie auch derjenige, der ihr +fernesteht, sagen muß, s e h r wertvolle, sowohl positiv schöpferische +als kritische Tätigkeit entfaltet. Sie hat die Theologie stark +befruchtet (siehe Bousset und vor allem Rudolf Otto, dessen +ausgezeichnetes Werk über "Das Heilige" von der Schule stark bestimmt +ist). Sie hat auf dem Boden der Philosophie, der Mathematik und der +exakten Naturwissenschaft eine sehr rege Tätigkeit entfaltet; sie hat +in Kronfeld einen Vertreter gefunden, der nach ihren Grundsätzen die +Erkenntnislehre der Psychiatrie eingehend bearbeitet und gefördert hat. +Vor allem aber hat ihr charaktervoller und geradsinniger Urheber L. +Nelson auf dem Boden der Rechts- und Sozialphilosophie achtungswerte +Werke hervorgebracht (siehe besonders "Die Rechtswissenschaft ohne +Recht"). In überaus scharfsinniger, freilich allzusehr im Formalismus +Kants steckenbleibender Art und Weise wird hier mit Reinheit und Mut +die Majestät des Rechtsgedankens auf Grund evidenter Vernunfteinsichten +gegen alle Verdunkelungen durch Rechtspositivismus und der in der +Jurisprudenz stark herkömmlichen Machtlehre vertreten. Auch das große +Werk Nelsons "Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik" ist besonders +in seinen kritischen Teilen von großem Scharfsinn. Gegenüber Kant wird +neben dem "Pflichtgemäßen" ein "Verdienstliches" anerkannt, und die +Liebe und das Ideal der "schönen Seele" freilich mehr als ästhetischer +denn ethischer Wert in die Grundkategorien des menschlich Wertvollen +eingefügt. In ihrer politischen Tendenz vertritt die Schule einen +radikalen Liberalismus der geistigen Individualität, den sie gerne auch +an die konfuzianische Weisheit des chinesischen Ostens anzulehnen sucht. + +Überblickt man das Ganze dieser vier Kantschulen, wird man mit +Verwunderung vor der Tatsache stehen, die Kantianer immer noch über den +Sinn der Lehre ihre Meisters streiten, und noch mehr darüber, daß so +grundverschiedene Geistesarten auf demselben Boden des Kantianismus +überhaupt möglich sind. Daß aus der Starrheit dieser Schulkreise heraus +d i e Philosophie, wie wir sie oben als erstrebenswert bezeichnet +hatten, hervorwachsen werde, glauben wir bei allem Wertvollen, das +besonders die Marburger und die Friesschule geleistet haben, nicht. Die +ungeheuren Literaturmassen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit +Interpretation, Fortführung, Neugestaltung der kantischen Philosophie +beschäftigt haben, stehen auf alle Fälle zu den Förderungen, welche die +Philosophie durch sie erhielt, in gar keinem sinnvollen Verhältnis. +Wenn man dazu erwägt, daß die Grundpositionen Kants (ich rechne dazu +seinen Ausgangspunkt von der newtonschen Naturlehre, seine Lehre, das +Gegebene sei nur ein "Chaos von Empfindungen" und alles, was Ordnung +und Beziehung, Einheitsform und Gestalt am Gegenstand der Erfahrung +sei, müsse durch funktionsgesetzlich geregelte Verstandestätigkeiten in +den Gegenstand erst hineingekommen sein, ferner seine Annahme der +prinzipiellen Erklärbarkeit der Natur auf Grund der Prinzipe der +Mechanik) heute der schärfsten und nach meiner Meinung der strengsten +Widerlegung verfallen sind, so wird man nur von einer neuen +untradionalistischen S a c h philosophie -- einer Philosophie, die +nicht von einer historischen Autorität ausgeht, sondern höchstens +retrospektiv auf Grund ihrer gewonnenen Erkenntnisse sich auch einer +philosophiegeschichtlichen Tradition eingeordnet weiß, Wertvolles und +Dauerndes erwarten dürfen. + +Einen weit geringeren Einfluß als die kantische Philosophie übt auf die +Philosophie der Gegenwart der Positivismus und sein neuester Ableger, +der von den Amerikanern Peirce und W. James und dem Engländer Schiller, +in gewissem Sinne auch von Fr. Nietzsche (siehe besonders "Der Wille +zur Macht") angeregte, für das engere Gebiet der +naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie auch von Henri Bergson +angenommene sogenannte "Pragmatismus" aus[1]. Der + + [1] W. James: "Der Pragmatismus" (Philosophisch-Soziologische + Bücherei Bd. 1): F. C. S. Schillers "Humanismus" (derselben + Sammlung, Bd. 25); ferner W. James: "Das pluralistische + Universum", übersetzt von J. Goldstein (Bd. 33). + +europäische Positivismus hat seinen Ursprung und Hauptsitz in +Westeuropa; Bacon, D. Hume, D'Alembert, Condorcet, A. Comte, J. St. +Mill, H. Spencer, Taine und Buckle waren seine bedeutendsten geistigen +Väter. In der gegenwärtigen deutschen Philosophie hat er so wenig wie +in der deutschen Philosophie überhaupt eine allseitige, alle Gebiete +der Philosophie umfassende Vertretung gefunden. Als strengere +Positivisten können unter den Älteren für die Erkenntnistheorie nur E. +Mach und Avenarius, in der unmittelbaren Gegenwart der aus der +Psychiatrie zur Philosophie gekommene selbständige und originelle +Forscher Theodor Ziehen gelten. Eine größere Anzahl von Forschern sind +stärker von ihm beeinflußt, so z. B. der kürzlich verstorbene Benno +Erdmann (siehe besonders seine "Logik", 1. Band, 2. Auflage). In seinen +älteren Arbeiten ist auch A. Riehl, ferner Hans Cornelius, der Humesche +und Machsche Gedankengänge mit Kants Erfahrungstheorie eigenartig +verquickt hat (siehe Cornelius: "Transzendentale Systematik", 1916), +vom Positivismus bestimmt. Als ein dem Pragmatismus, freilich mit mehr +Nietzschescher als angelsächsischer Färbung, näherstehendes Werk muß +die "Philosophie des Als-ob" von H. Vaihinger angesehen werden. Unter +den jüngsten Erkenntnistheoretikern steht Moritz Schlick ("Allgemeine +Erkenntnislehre", 1918) freilich mit realistischem Einschlag dem +Positivismus vermöge seines extremen Nominalismus (Erkennen sei nur +"eindeutiges Bezeichnen und Ordnen der Gegenstände") nahe. In der Ethik +und Religionsphilosophie lehrte Jodl einen monistisch modifizierten +Positivismus. In der Soziologie und Geschichtsphilosophie steht ihm +Müller-Lyer, L. von Wiese, W. Jerusalem (siehe "Die Phasen der Kultur", +"Einleitung in die Philosophie") und R. Goldscheid nahe. Wesentlichste +Basis des deutschen Positivismus ist eine sensualistische +Erkenntnistheorie und ein Versuch, die Denkkategorien psychologisch +oder soziologisch geschichtlich herzuleiten. Die Auffassung, daß die +kategorialen Formen nicht Seinsformen, die Denkgesetze nicht +Seinsgesetze seien, teilt der Positivismus mit den Kantianern. Während +aber jene die apriorische Struktur unseres Denkens nur auffinden oder, +wie die Marburger, immer neu aus ursprünglicher Denkfunktion rein +erzeugen wollen, bemüht sich der Positivismus nach humeschem Muster, +sie auf dem Boden einer beschreibenden (oder bei manchen selbst +genetischen) Psychologie und Soziologie zu verstehen. Die +sensualistische Auffassung, daß der gesamte Inhalt der natürlichen und +wissenschaftlichen Erfahrung auf Sensationen und deren Residuen, resp. +auf die Verknüpfung dieser Residuen nach den Assoziationsgesetzen +zurückführbar sei, das Denken aber auf Zeichengebung und Abfolge +ähnlicher Vorstellungsbilder in letzter Linie beruhe, macht die +eigentliche erkenntnistheoretische These des Positivismus aus. Ihr +entspricht dann die F o r d e r u n g, aus der Wissenschaft alles das +auszuscheiden, was über aufweisbare Empfindungselemente und über die +Funktionalbeziehungen von deren Komplexen hinausgehe. Jeder asensuelle +und übersensuelle u r s p r ü n g l i c h e Bestand im Gegebenen der +Erfahrung, der nur durch ein ursprüngliches, von Bildern nicht +ableitbares eigengesetzmäßiges D e n k e n (oder andere geistige +Funktionen, wie Intuition, kognitives Fühlen usw.) zu erfassen wäre, +wird bestritten. Alle "Substanzen" und "Kräfte" und alle sinnlich nicht +aufweisbaren Inhalte und Realsetzungen solcher müssen aus der +Wissenschaft in letzter Linie ausgeschieden werden: sofern man aber mit +Substanz- und Kraftbegriffen in ihr operiert, kommt diesen Operationen +genau so wie den in der Wissenschaft verwandten allgemeinen Begriffen +und Gesetzen nur die ökonomische Bedeutung zu, mit Bildvorstellungen zu +sparen ("Prinzip der Denkökonomie"). Mit dieser Auffassung verbindet +sich eine streng nominalistische Lehre vom begrifflichen Denken, die in +Deutschland am schärfsten durch H. Cornelius ("Einleitung in die +Psychologie"), E. von Aster und neuerdings von Schlich durchgeführt +worden ist (zur Kritik dieser Lehre vergleiche E. Husserl: "Logische +Untersuchungen", Band 2). In der Realitätsfrage hat sich der deutsche +Positivismus (mit Ausnahme von Schlick) im Unterschied von jenem +Spencers im wesentlichen ablehnend verhalten. Die Existenz der Welt ist +ihm nur der "geordnete Inbegriff ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten". +Avenarius hatte die Gegenstände, Bewußtsein, Seele, Ich auf eine +ursprüngliche Täuschung zurückgeführt, die durch Introjektion eines +Umgebungsbestandteils (z. B. wahrgenommener Baum) in den Mitmenschen +(als "immaterielles Abbild" des Baumes) und erst sekundär auch in das +erkennende Ausgangssubjekt noch einmal "hineinverlegt" worden sei (s. +Avenarius: "Der natürliche Weltbegriff"). E. Mach, der mehr von +idealistischer Seite her kam, nahm letzte qualitative Seinselemente an +(blau, rot, hart, Ton usw.), die, wenn sie in ihrem gegenseitigen +Zusammenhang und in den Abhängigkeiten ihrer möglichen +Komplexveränderungen untereinander betrachtet werden, "Natur" heißen; +"Empfindungen" aber, wenn sie und ihre Komplexänderungen betrachtet +werden in Abhängigheit von den physiologischen Vorgängen des +Organismus. Auch das "Ich" ist ihm nur ein solcher relativ konstanter +Komplex von Seinselementen. Eine vorzügliche Kritik dieser "Ich"-lehre +gibt K. Österreich in seinem Buch "Phänomenologie des Ich". Der +Unterschied von Psychisch und Physisch soll hiernach kein Unterschied +der Materie und der Gegenstände sein, sondern nur ein Unterschied in +der Betrachtung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den +Seinselementen. Mach hat diese Lehre in seinen großen Werken zur +Geschichte der Naturwissenschaft (Geschichte der Mechanik, des Satzes +von der Erhaltung der Arbeit, der Wärmelehre) und in seinem letzten, +sehr wertvollen und lehrreichen Werke "Erkenntnis und Irrtum" auch +geschichtlich zu unterbauen gesucht. Die moderne mechanische +Naturansicht hat nach seiner Meinung nur in dem historischen Z u +f a l l ihren Grund, daß man die Bewegungserscheinungen fester Körper +zeitlich zuerst studierte (Galilei), um dann, nach dem Prinzip: +Erklären heiße nur "relativ Unbekanntes auf zuvor Bekanntes" +zurückzuführen, auch die übrigen Naturerscheinungen auf +Bewegungsgesetze fester Dinge zurückzuführen. Tatsächlich aber bestehe +kein Seinsunterschied zwischen "primären" und "sekundären" Qualitäten. +Besonders die Bedeutung denkökonomischer A n a l o g i e n und Bilder +für den wissenschaftlichen Fortschritt hob er nach dem Vorgang +englischer Physiker (Maxwell, Lord Kelorn, Clifford) in seinen +geschichtlichen Werken und in "Erkenntnis und Irrtum" stark hervor. +Aber alle diese "Bilder" müssen zugunsten strenger, rein mathematisch +formulierter Funktionsgesetze eines Tages wieder aus der Wissenschaft +ausgeschieden werden, wenn sie den neuen Beobachtungen nicht mehr +genügen. Auch der modernen Relativitätstheorie Einsteins hat E. Mach +durch seine Kritik Newtons, besonders seiner Lehre von der absoluten +Bewegung vorgearbeitet (siehe Geschichte der Mechanik). Diese +Auffassung der Arbeit der Naturwissenschaft ist in neuester Zeit von +Planck ("Einheit des physikalischen Weltbildes"), Stumpf, Külpe, ferner +von allen realistischen und kantischen Schulen mit Recht scharf +bekämpft worden (siehe besonders C. Stumpfs Akademieabhandlung: "Zur +Einteilung der Wissenschaften", 1906). Vor allem aber war es Ed. +Husserl, der die nominalistischen Begriffstheorien des Positivismus in +den "Logischen Untersuchungen", Band 2, einer überaus einschneidenden +Kritik unterzog. Die ernstesten Versuche, die Gegner des Nominalismus +und Sensualismus, die heute den Positivismus immer mehr zurückgedrängt +haben, zu widerlegen, haben von diesem Standort aus Ziehen in seiner +"Psychophysiologichen Erkenntnistheorie" und seinem kürzlich +erschienenen sehr wertvollen "Lehrbuch der Logik" (1920) und E. von +Aster unternommen. Daß es ihnen aber geglückt sei, die positivistischen +Positionen zu halten, glaubten wir nicht. Der schärfste Gegner ist dem +Positivismus neuerdings entstanden in der "Phänomenologie", obzwar +diese Denkrichtung mit ihm das Gemeinsame hat, den Aufweis aller +Begriffe in letztfundierenden Anschauungsgegebenheiten zu fordern. Aber +eben dabei erwies es sich, daß der Gehalt des originär Anschaubaren +unvergleichlich r e i c h e r ist als dasjenige, was durch sensuelle +Inhalte und ihr Derivate (und deren fernere psychische Verarbeitung) an +ihm denkbar sein mag. Zu welchen gewagten Annahmen und immer +verwickelter werdenden Hypothesen der Positivismus greifen muß, um +seine Lehre durchzuführen, zeigt auch das letzte scharfsinnige Werk +Benno Erdmanns über "Grundzüge der Reproduktionspsychologie" (1920). + +Wenn der Positivismus im Erkennen nur ein zweckmäßiges mäßiges +Bezeichnen gegebener Sachen sieht, so geht der P r a g m a t i s m u s +von einer etwas anderen Auffassung aus. Er behauptet, daß alles +Erkennen nur die Bedeutung habe, ein Bild der Dinge zu geben, so +geartet, daß seine "Folgen" uns zu Handlungen führen, die bestimmte +praktische Bedürfnisse befriedigen. Der "Sinn" eines Gedankens falle +zusammen mit dem Inbegriff aller möglichen praktischen +Verhaltungsweisen, die er "leiten" und "führen" könne; und "wahr" sei +ein Gedankengebilde dann, wenn diese Reaktionen gattungsnützlich seien +und uns in der praktischen Beherrschung der Dinge weiterführen. Peirces +"Erkenntnis" wird hier ähnlich wie bei den Marburgern selbst zu einem +"Formen" und "Gestalten" einer zunächst völlig indifferenten +chaotischen Masse von Gegebenheiten (James, Schiller). Der letzte +Beweis z. B. für den Wahrheitswert der Naturwissenschaft ist die M a c +h t, die sie uns über die Natur gibt, also Technik und Industrie; die +Arbeit an den Dingen gehe überall der Erkenntnis vorher und die +Erkenntnis zeige in letzter Linie nur die R e g e l n auf, nach denen +unsere Bearbeitung der Welt praktisch reüssiere. In Deutschland ist +diese völlig unhaltbare, allen Wahrheitsernst untergrabende +amerikanistische Theorie -- besonders widerlich, wenn sie zur +Rechtfertigung des Daseins Gottes und der Religion angewandt wird, wie +sie in W. James' "Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung" -- mit +einer eigenartigen Modifikation, die von Nietzsche herrührt (siehe +besonders "Wille zur Macht"), von Hans Vaihinger vertreten wurde. Die +"Modifikation" besteht in folgendem: Während die angelsächsische +Theorie des "Pragmatismus" die Lautverbindung "wahr" geradezu als +"praktisch brauchbar" definiert, hält Vaihinger im Grunde den a l t e n +Wahrheitsbegriff fest, schränkt aber das unmittelbar "Wahre" ein auf +das, was an einer Wortintention nur in reinen Empfindungen gedeckt ist. +Alles, was darüber hinausragt -- seien es Kategorien, Grenzbegriffe (z. +B. ideales Gas, Adam Smiths "eigensüchtiges Wirtschaftssubjekt" usw.), +seien es unanschauliche theoretische Setzungen (z. B. Äther, aber auch +Gott, unsterbliche Seele), das heißt das denkbar Verschiedenartigste +und logisch Verschiedenwertigste -- faßt Vaihinger unter den Begriff +"Fiktion" zusammen; so ergibt sich in letzter Linie die Lehre, daß die +F i k t i o n sozusagen der tragende Grund und Sinn der Welt selber +sei, und daß zwischen Erkenntnis und Dichtung (Vaihinger war von A. +Lange ausgegangen und erweitert im Grunde nur dessen an Fr. Schillers +philosophischen Gedichten gewonnene "Begriffsdichtungs" gedanken von der +Metaphysik auch auf die exakte Wissenschaft) im letzten Grunde nur der +einzige Unterschied sei, daß die e i n e Fiktion praktisch brauchbar +sei, die andere nicht und nur der Betrachtung und dem ästhetischen +Genusse diene. Dazu trat, wie gesagt, der Einfluß Nietzsches. Dies ist +der einzige konstatierbare Einfluß, den Nietzsche, der ja auch den +"Wert der Wahrheit" in Frage gezogen hatte (siehe schon "Unzeitgemäße +Betrachtungen") und im Willen zur Wahrheit nur eine Abart des "Willens +zur Macht" sah, auf die rein theoretische Philosophie in Deutschland +ausgeübt hat. In einzelnen wissenschaftstheoretischen Ausführungen ist +Vaihingers Werk sehr anregend. Die Art, wie es die bekannten kantischen +Als-ob-Wendungen und insbesondere die religionsphilosophische +Postulatenlehre Kants interpretiert, halten wir mit W. Windelband für +historisch grundirrig. Nach unserer Meinung haben diese Wendungen (z. +B. man solle auf den kategorischen Imperativ hören, "als ob" er ein +göttliches Gebot wäre) nur den Sinn, die sittlich praktische M o t i v +i e r u n g der Realsetzung Gottes von Motivierung durch theoretische +Begründung scharf zu unterscheiden. Die Realsetzung selbst ist aber auf +diesem Wege bei Kant genau so ernst gemeint wie die Realsetzungen durch +theoretische Erkenntnis; ja noch ernster -- nämlich im Sinne von +metaphysischer, nicht nur empirischer Realität; der Gedanke der +"Fiktion" oder gar bewußter Fiktion liegt unseres Erachtens Kant völlig +fern. Als Ganzes stellt nach unserer Meinung das Werk Vaihingers den +größten Mißgriff dar, den die deutsche Philosophie in den letzten +Jahrzehnten getan hat. Um so interessanter ist seine starke Verbreitung +-- ein wenig erfreulicher Ausdruck für die Mentalität weiter Kreise. + +Den neukantischen und positivistischen Schulen hat sich in den letzten +Jahren eine im Wachsen befindliche r e a l i s t i s c h e +erkenntnistheoretische Richtung entgegengestellt, die zugleich den +Übergang bildet zu einer Reihe höchst bedeutsamer Versuche der W i e d +e r e r w e c k u n g d e r M e t a p h y s i k (siehe dazu Peter +Wust: "die Auferstehung der Metaphysik"). Diese Erscheinung ist nicht +nur auf Deutschland beschränkt; auch in Frankreich, England und Amerika +sieht sich der erkenntnistheoretische Idealismus und der +positivistische Sensualismus immer mehr in den H i n t e r g r u n d +gedrängt. (Vgl. dazu K. Oesterreich [sic]: "Die philosophischen +Strömungen der Gegenwart".) Die neurealistischen Richtungen (einen +Übergang zu ihnen bilden Riehl, Volkelt und E. v. Hartmann) gehen in +ihrer Art der Begründung des Realismus freilich noch weit auseinander. +Im großen ganzen lassen sich unterscheiden die Formen des +altscholastischcn Realismus, des kritischen Realismus und des +intuitiven und voluntativen Realismus. Gerade die historisch älteste +dieser realistischen Formen, der scholastische Realismus, gewinnt in +gewissem Sinne gegenwärtig wieder neues Interesse. Wie ich schon sagte, +ist es ein eigentümliches Zeichen der letzten Philosophie, daß +überhaupt die scholastische Philosophie in lebendigen Denkverkehr mit +der modernen Philosophie getreten ist. Ein Grund dafür ist, daß die +moderne Philosophie auf ganz verschiedenen Punkten rein aus sich selbst +heraus auf manche scholastische Positionen gekommen ist. So gleicht zL. +B. der Versuch Bergsons, in seinem Buche "Gedächtnis und Materie" zu +zeigen, wie ein ursprünglich unmittelbar gegebenes S e i n in die +Menschenerfahrung erst eingeht, um in ihr nach einer Reihe von +Richtungen deformiert zu werden; gleichen ferner die amerikanischen +neurealistischen Versuche (F. J. E. Woodbridge, E. B. Mc Gilvary u. a.) +methodisch dem altscholastischen Vorgehen, die Erkenntnis ihrem Wesen +nach auf ein Seinsverhältnis, d. h. die Teilnahme eines Seienden an +einem anderen, zurückzuführen. Bergsons und anderer Versuche (auch +Meinong und H. Schwarz in seinem Buche "Die Umwälzung der +Wahrnehmungshypothesen" wären hier zu nennen), die Lehre von der O b j +e k t i v i t ä t der Sinnesqualitäten wieder neu zu begründen, haben +gleichfalls erkenntnistheoretisch in die Nähe der scholastischen +Positionen geführt. H. Driesch kam durch seine modifizierte +Wiedereinführung des aristotelischen Entelechiebegriffs in der +Bearbeitung der Probleme des organischen Lebens gleichfalls der +Scholastik weit entgegen. Andererseits hat die scholastische +Philosophie in den letzten Jahren auch in unserem Lande Vertreter +gefunden, die es wohl verstanden, sich der modernen Probleme von ihrem +Standort aus scharfsinnig zu bemächtigen. Abgesehen von den neuen +Erschließungen und Interpretationen bisher unbekannter Teile der +mittelalterlichen Philosophie, die wir an erster Stelle Grabmann (siehe +besonders seine höchst wertvolle "Geschichte der scholastiscben +Methode" und seine Neueditionen) und den Forschungen Baeumkers und +Baumgartens und dieser beider Schüler verdanken, sind auch +selbständigere systematische Denker auf scholastischem Boden neuerdings +hervorgetreten, so z. B. der verdiente E. L. Fischer, ferner Lehmen und +besonders J. Geyser, der in seinen der Psychologie, der Logik, der +Erkenntnistheorie und der Metaphysik gewidmeten Arbeiten, ferner in +seinem Buche über Husserl und eine Verknüpfung ("Neue und alte Wege der +Philosophie") der scholastischen Lehre mit der modernen Philosophie +anstrebt. Das große psychologische Sammelwerk von Fröbes und die +Arbeiten des aus der Külpeschen Schule hervorgegangenen +Experimentalpsychologen Lindworsky (besonders "Das schlußfolgernde +Denken", 1916, "Experimentelle Psychologie", 1921) haben ferner die +scholastischen Positionen mit der ganzen Experimentalpsychologie eng +verknüpft. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind freilich die +Neuscholastiker in Deutschland mehr dem sogenannten "kritischen +Realismus", der eine reale Welt erst mittels schließender Denkakte +gewinnen will, zugeneigt, als dem altscholastischen Standpunkt, der +schon in der Sinneswahrnehmung eine unmittelbare Erfassung realer +Gegenstände erblickt und der überdies auf das Problem der modernen +Philosophie: "Wie kommen wir zu einer realen Außenwelt?" von seinem +Ausgangspunkte im Grunde gar nicht kommen kann, da er im Gegensatz zur +modernen Philosophie (seit Descartes) von der primären Gegebenheit +eines Seienden ausgeht und von ihm auch erst durch die Scheidung das +ens reale vom ens intentionale die Möglichkeit von Bewußtsein und +Erkenntnis verständlich machen möchte. Aber auch der altscholastische +Realismus hat gegenwärtig eine alle wesentlichen Tatsachen der +Sinnesphysiologie und Sinnespsychologie und alle bisher für die +sogenannte sekundäre Natur aller oder einiger Sinnesqualitäten +vorgebrachten Argumente berücksichtigende, sehr scharfsinnige und +beachtenswerte Darstellung gefunden in Josef Gredts beiden Büchern: "De +cognitione sensuum externorum", Rom 1913, und in deutscher Sprache in +dem kürzlich erschienenen "Unsere Außenwelt, eine Untersuchung über den +gegenständlichen Wert unserer Sinneserkenntnis" (1921). Der vom +Verfasser vertretenen realistisch gerichteten Phänomenolgie ist trotz +verschiedenen Ausgangspunktes der Standpunkt Gredts, nach dem auch der +kritische Realismus, wenn er einmal die Gegenständlichkeit und Realität +der unmittelbaren Sinneserkenntnis leugnet, notwendig in die +Konsequenzen des vollständigen Idealismus getrieben werde, ähnlicher +als der sogenannte "kritische Realismus" vieler Neuscholastiker (z. B. +Mercier, Hertling und Geyser). Schon Otto Liebmann hatte einmal +bemerkt, daß alle Ergebnisse der Naturforschung im Begriffssystem der +aristotelischtn Metaphysik und Erkenntnislehre Platz hätten. Und in der +Tat ist es ein großes Vorurteil, zu meinen, die Fortschritte einer +ihrer Grenzen eingedenken positiven Wissenschaft könnten o h n e +Zuhilfenahme rein philosophischer Wesenuntersuchungen über +metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen überhaupt etwas Letztes +entscheiden. Der ausgezeichnete französische mathematische Physiker und +Historiker der theoretischen Physik, Pierre Duhem (sein Werk: +"Geschichte der physikalischen Theorien", ist mit einer Vorrede von E. +Mach auch in deutscher Sprache erschienen), hat Liebmanns Gedanken +gewissermaßen in großem Maßstabe ausgeführt. Duhem suchte zu zeigen, +daß gerade bei einer strengen mathematischen Formalisierung der +theoretischen Physik die aristotelische Metaphysik mit der modernen +Physik wohl vereinbar sei. Er hat stark auf den auch philosophisch bei +uns wirksamen französischen Mathematiker H. Poincaré gewirkt +("Wissenschaft und Hypothese", "Der Wert der Wissenschaft"), ist aber, +mit ihm verglichen, der weitaus tiefere erkenntnistheoretische Denker. + +Den k r i t i s c h e n Realismus haben mit sehr verschiedenartiger +Begründung in neuester Zeit eine große Reihe von deutschen Forschern +neu zu begründen gesucht. Es seien hier genannt B. Erdmann, Meinong, +Stumpf, Dürr, Oesterreich [sic], Messer, Störring, Freytag, Schlick, +Becher, Troeltsch und vor allem O. Külpe in seinem zweibändigen (der +zweite Band ist 1920 aus dem Nachlaß von Messer herausgegeben worden) +Werke "Die Realisierung, ein Beitrag zur Grundlegung der +Realwissenschaften"; ein dritter Band steht noch in Aussicht. Der +Külpesche Versuch ist ohne Zweifel der ausgedehnteste, eingehendste und +strengste, der seitens der kritischen Realisten zur Begründung ihrer +These unternommen worden ist. Külpe gliedert die Hauptfrage in vier +Unterfragen, deren Beantwortung er je einen Band widmen wollte: 1. Ist +eine Setzung von Realem möglich? 2. Wie ist eine Setzung von Realem +möglich? 3. Ist eine Bestimmung von Realem möglich? 4. Wie ist eine +Bestimmung von Realem möglich? Nach einer ausgezeichneten und +tiefdringenden kritischen Durchmusterung und Widerlegung der +verschiedenen Formen des erkenntnistheoretischen Idealismus und +positivistischen "Wirklichkeitsstandpunktes" im ersten Band untersucht +Külpe im zweiten Band die in der Wahrnehmung und die in rationalen +Grundsätzen und ihrer denkenden Anwendung gelegenen Gründe und endlich +die "gemischten Gründe" für die Setzung einer Realität. De Prüfung der +sechs rationalen Gründe ergibt deren Insuffizienz. Man kann weder von +der induktiven Regelmäßigkeitsvoraussetzung (wie z. B. Becher), noch +durch Schluß auf eine transzendente Ursache unserer Wahrnehmung, noch +vom Ich auf ein vermeintlich begrifflich notwendig dazugehöriges +Nichtich, noch von der bloßen (gegen Berkeley und W. Schuppe +festgehaltenen) Widerspruchslosigkeit des Gedankens einer +bewußtseinsunabhängigen Welt, noch vor dem Transzendenzbewußtsein +unserer Denkakte (z. B. auch Erinnerungsakte) aus (wie es W. Freytag +versuchte), noch von der ökonomischen Zweckmäßigkeit der Annahme einer +realen Außenwelt auf deren Existenz schließen. Auch die in der +Wahrnehmung im Unterschiede zu den "Vorstellungen" gelegenen immanenten +Merkmale lassen nicht ohne weiteres eine reale Welt annehmen (wie es +der altscholastische Realismus will); erst die "gemischten Gründe" +sollen zum Ziel führen. Die Außenwelt müsse gesetzt werden: erstens als +"Bedingung des von dem psychophysischen Subjekt in der Wahrnehmung +Unabhängigen und als das Substrat der vorgefundenen selbständigen +Gesetzlichkeit der Wahrnehmungen". Külpes Versuch bezieht sich nicht +nur auf die Realität der Natursetzung, sondern umfaßt auch das Problem +einer von der Beschreibung der Bewußtseinserlebnisse verschiedenen +Realpsychologie, ferner auch das Problem der Realität des +Vergangenheits- und Fremdbewußtseins und damit auch des +Realitätsproblems in den Geisteswissenschaften. Wie immer man zu Külpes +Werk im einzelnen stehen mag (der Verfasser kann sich nicht überzeugen, +daß, wenn w e d e r in der Wahrnehmung für sich noch im Denken für sich +Gründe zur Annahme einer realen Welt gelegen sind, sie in einer bloßen +"Mischung" beider Momente gelegen sein könne), so verdient die +ausgezeichnete Arbeit des vortrefflichen, für die Wissenschaft viel zu +früh heimgegangenen Forschers doch die allerernsteste Beachtung und +Würdigung. + +Der Richtung des intuitiven Realismus ist zuzuzählen vor allem die auch +in Deutschland stark wirksame Philosophie H. Bergsons, ferner der in +dem Buche "Die Grundlegung des Intuitivismus" niedergelegte Standpunkt +des beachtenswerten russischen Philosophen Losskij. Obgleich der +Realismus in der Weise dieser beiden Forscher aus dem Grunde nicht +durchführbar sein dürfte, da uns Intuition, soweit es eine solche neben +mittelbarem Denken und Sinneswahrnehmung gibt, nur d a s e i n s f r e +i e s W e s e n (und Wesenszusammenhänge) geben kann, verdienen doch +auch ihre Lehren ernstlichste Beachtung. Für die Existenz des fremden +Bewußtseins überhaupt ohne Existenzsetzung eines bestimmten so oder +anders beschaffenen Ichs nahmen neuerdings auch Scheler (siehe +"Formalismus in der Ethik" und sein Buch "Über Sympathiegefühle", +Anhang) und in etwas anders gefärbter Weise J. Volkel (siehe sein Buch +"Über das ästhetische Bewußtsein") intuitive Evidenz in Anspruch. Für +die Begründung einer R e a l p y s c h o l o g i e traten außer Külpe +auch ein Scheler (siehe "Idole der Selbsterkenntnis" in "Abhandlungen +und Aufsätze"), M. Geiger und H. Driesch ("Fragment über den Begriff +des Unbewußten und die psychische Realität", 1921). + +Die Richtung des v o l u n t a t i v e n R e a l i s m u s ist vor +allem -- ich sehe hier ab von ihren historischen Vorformen bei Maine de +Biran, Bouterweek und Schopenhauer -- in neuester Zeit in einer +Akademieabhandlung von Dilthey, Frischeisen-Köhler (siehe "Wissenschaft +und Wirklichkeit", 1912), Scheler und E. Jaensch ("Über die Wahrnehmung +des Raumes", Anhang) vertreten worden. Nach dieser Auffassung führt +erst das unmittelbare Widerstandserlebnis irgendwelcher Gegenstände als +wirklicher und möglicher "Widerstände" zur Setzung einer Realität +überhaupt. Erst die Zuweisung eines in seinem Sosein schon bestimmten +Gegenstandes in die zuvor schon gegebene S p h ä r e d e s R e a +l e n ist von der Einreihbarkeit des Gegenstandes in gesetzliche +Beziehungszusammenhänge (je nach dem Wesen der Gegenstände +verschiedener Artung) abhängig. Analog sind nach Scheler die fünf +Sphären: "Außenwelt", "Innenwelt", "Leib", "Fremdbewußtsein", +"Gottheit", in de ein bestimmtes Reales hineingesetzt wird, als Sphären +jedem endlichen Bewußtsein "vor" jeder bestimmten Erfüllung mit +Inhalten unmittelbar anschaulich gegeben. + +Dem Denken kommt nur die Rolle zu, die Daseinsbestimmung einer +bestimmten Realität vorzunehmen, soweit solche über die unmittelbare +Erfahrung hinausgeht. + +Viel zu wenig beachtet ist nach Meinung des Verfassers innerhalb der +engeren Philosophenkreise die ungemeine Befruchtung, die für alle +Gebiete der Philosophie von der g e g e n w ä r t i g e n Psychologie +mit Einschluß der Experimentalpsychologie auszugehen vermöchte, wenn +ein tieferes Verständnis und eine größere gegenseitige Beachtung ihrer +Arbeiten zwischen Philosophen und Psychologen stattfände. Dieselbe +Forderung stellten neuerdings E. Jaensch, Krüger, Marbe, ferner die +Schulen von C. Stumpf und Külpe. Die moderne Psychologie begann ihr +Werk mit einseitiger Untersuchung der Empfindungstatsachen und mit +Problemen der Größenmessung. Da diese Art der älteren +Experimentalpsychologie sich bald eine Reihe philosophischer Lehrstühle +anzueignen wußte, entstand in den engeren Philosophenkreisen ein +gewisser Arger und, damit verbunden, auch eine weitgehende +Nichtbeachtung ihrer Arbeiten. Man sagte: Diese neue Psychologie ist +eine Spezialdisziplin der Naturwissenschaft; sie sei der Medizin und +Sinnespsychologie zuzuweisen und habe mit Philosophie gar nichts zu tun +oder doch nicht mehr wie irgendeine andere Spezialwissenschaft; darum +gebührten ihr auch keine philosophischen Lehrstühle. Am schärfsten und +im anmaßendsten Tone haben die Vertreter der Südwestdeutschen Schule +dieser Meinung häufig Ausdruck gegeben. (Vgl. hierzu die treffenden +Schilderungen dieser Dinge bei Fr. Krüger, "Über +Entwicklungspsychologie", 1918.) Die zeitweise Herrschaft einer +sogenannten "Psychologie ohne Seele" und einer strengen +sensitivistischen und assoziationspsychologischen Auffassung der +seelischen Tatsachen (die z. B. noch wesentliche Grundlage ist den in +der Einzelbeobachtung ausgezeichneten Arbeiten über "Das Gedächtnis" +von G. E. Müller in seinem großen Werke über "Das Gedächtnis") schien +eine Zeitlang dieser Haltung neue Gründe zuzuführen. Dazu blieben die +langwierigen, philosophischen Streitigkeiten über "psychophysischen +Parallelismus" und "Wechselwirkung", die nur von allgemeinsten +"Prinzipien", sei es der Erkenntnistheorie, sei es neugefundener +physikalischer Wahrheiten ausgingen, (z. B. Vereinbarkeit des seit den +Arbeiten von Rubner und Atwater auch für den organischen Austausch von +Nahrung und Arbeit nachgewiesenen Satzes von der Erhaltung mit einer +psychophysischen Wechselwirkung) nicht nur überaus unfruchtbar, +sondern, was noch weit schlimmer war, ohne jeden fühlbaren Anschluß an +die T a t s a c h e n f o r s c h u n g der empirischen und +experimentellen Psychologie. Nun haben sich aber diese Verhältnisse mit +der Zeit so g r u n d s ä t z l i c h und t i e f gewandelt, daß die +antipsychologische Haltung vieler Philosophen jeder sinnvollen +Grundlage entbehrt. Der sogenannte "Psychologismus", der für die +Philosophie eine Zeitlang eine Gefahr scheinen mochte, ist beute +grundsätzlich abgetan. Die Entwicklung zeigte ferner, daß, wie auch B. +Erdmann in seiner "Reproduktionspsychologie" treffend betont hat, eine +wirklich vollständige Ablösung der Psychologie von der Philosophie gar +nicht möglich ist. Selbst bei den elementarsten Untersuchungen über +Empfindungstatsachen (siehe z. B. den besonders von Köhler geförderten +Streit über die Existenz "unbemerkter Empfindungen"), ferner in allen +Fragen, welche nicht aufeinander zurückführbaren G r u n d a r t e n +s e e l i s c h e r V e r k n ü p f u n g e n es überhaupt gebe, +läßt sich die Philosophie gar nicht ausschalten. Auch die Meinung, es +ließe sich eine empirische Psychologie errichten ohne bestimmte, +erkenntnistheoretische oder metaphysische Überzeugungen über das "Ich", +und sein reales Substrat hat sich gerade durch die Arbeiten der +gegenwärtigen Philosophie und Psychologie als ganz falsch erwiesen. Die +"Psychologie ohne Seele" gehört heute bereits der Geschichte an und +nicht minder die Herrschaft der Meinung, die Psychologie könne sich mit +der Schilderung bloßer Bewußtseinserscheinungen begnügen, und es könne +zwischen diesen selbst ein reales kausales Band aufgefunden werden. Da +ferner die moderne Psychologie sich längst von der einseitigen +Empfindungsforschung abgewandt hat und mit unter Anregung der +Husserlschen logischen Arbeiten sich der experimentell unterstützten +systematischen Selbstbeobachtung (bei der nicht der Versuchsleiter, +sondern die psychologisch geschulte Versuchsperson die psychologische +Beobachtung und Erkenntnis vollzieht im Gegensatz etwa zu bloßen +sogenannten Reaktionsversuchen) auch der höheren psychischen Funktionen +des Wollens (N. Ach, Lindvorsky) und des Denkens (Külpe, Bühler, +Störring, Lindworsky, Selz, Grünbaum) zugewandt hat, besteht nicht der +mindeste Grund mehr, die Experimentalpsychologie etwa der +Sinnespsychologie oder der Medizin oder überhaupt der +"Naturwissenschaft" zuzuweisen. Die von Dilthey, ferner von der +Phänomenologie und von K. Jaspers (siehe seine "Psychopathologie" und +sein neuestes Werk über "Psychologie der Weltanschauungen") auch mit in +de Psychiatrie hineingetragene Frage, wie sich die "Sinnzusammenhänge" +des Seelenlebens von den "psychophysischen Kausalzusammenhängen" +unterscheiden, und welche der beiden Arten von Psychologie (verstehende +oder erklärende Psychologie) Grundlage für die Geisteswissenschaften +sei, hat die Psychologie wieder in allerengste Verbindung mit der +Philosophie geführt. Die von Chr. Ehrenfels und Cornelius auf dem Boden +einer philosophischen Psychologie angeregten Probleme einer autonomen G +e s t a l t g e s e t z l i c h k e i t der ursprünglichsten +psychischen Gegebenheiten sind von Külpe, Bühler, Wertheimer, Koffka, +Benussi, Gelb, Köhler und anderen in überaus wertvollen und für de +Philosophie überaus wichtigen experimentellen Arbeiten so intensiv +gefördert worden, daß die Philosophie sehr übel daran täte, wollte sie +sich um diese Dinge nicht ernsthaft kümmern. Wie sehr die hier +neuaufgedeckten Tatsachen und Probleme auch für die philosophische +Klärung des Problems von Körper und Seele wichtig sind, zeigt die auf +seinen Bewegungsarbeiten ursprünglich fußende neue Theorie von +Wertheimer, daß als gehirnphysiologische Grundlage auch jeder +einfachsten Wahrnehmung (die stets durch einen Aufmerksamkeitsfaktor +mitbedingt und, nach ihrem Inhalt hin betrachtet, nie bloß "reine +Empfindung", sondern immer schon "Gestalt" ist), ein sogenannter +"Querprozeß" zwischen den gereizten Nervenenden der Gehirnrinde +notwendig sei. Als eine neue sehr zu begrüßende Sammelstelle der neuen +gestaltpsychologischen Richtung erscheint jetzt die eben gegründete +Zeitschrift "Psychologische Forschung" (Springer 1921), besonders von +Koffka, Köhler, Wertheimer, Goldstein, Gruhle, Köhler, der den Fragen +der Relations- und Gestalterfassung auch auf dem Boden der +Tierpsychologie in seinen auf der Station von Teneriffa gemachten +optischen Versuchen an Affen nachgegangen ist (Schriften der +Preußischen Akademie, Jahrgang 1915 und 1918 physik.-math. Klasse). +Köhler hat durch sein neuestes Buch über "Physische Gestalten" (1921) +das Wertheimersche Problem einem höchst bedeutsamen und für die gesamte +Naturphilosophie wichtigen Zusammenhang eingereiht, indem er auch auf +rein physikalischem Boden (Elektrostatik) nach einer selbständigen +Gestaltgesetzlichkeit (die sich in summenhafte Kausalität nicht +auflösen läßt) A n a l o g i e n für psychischen Gestalten aufsuchte. +Endlich ist seit Brentanos "Psychologie vom empirischen Standpunkt" das +insbesondere von E. Husserl und Karl Stumpf "Erscheinungen und +Funktionen" (1906) neu aufgegriffene Problem entstanden, ob und wie +weit A k t e u n d F u n k t i o n e n eine von "Erscheinungen" +unabhängige variable Natur und Gesetzmäßigkeit besitzen und eine ganz +neue Richtung der "Psychologie", die sogenannte Aktpsychologie, hat +sich an diese Arbeiten angeschlossen. T. Konstantin Oesterreich hat +sich in seinem grundlegenden Werke zur "Phänomenologie des Ich" ihr +angeschlossen. Es gibt nach meiner Meinung kein wichtigeres und +dringlicheres Desiderat für die künftige Philosophie und Psychologie +als eine eingehende philosophische Durchleuchtung der durch die +Resultate der verschiedenen psychologischen Diszipline gewonnenen +Tatsachenerkenntnisse. Der Verfasser hat es sich mit zu einer +Hauptaufgabe gesetzt, in einer Arbeit, die er unter der Feder hat, +diese Dinge zu fördern. Endlich verdienen auch neue Z w e i g e, die in +den letzten Jahren aus der Psychologie hervorgewachsen sind, genaue +philosophische Beachtung. So die Pathopsychologie, die durch den Krieg +(Kopfschüsse und Gehirnverletzungen) mächtig gefördert wurde, die +neuere Tierpsychologie, die von W. Stern angebahnte differentielle +Psychologie, die zukunftsreiche "Entwicklungspsychologie" Krügers, +nicht minder auch die Religionspsychologie und die erst neuerdings +besonders von Oesterreich, Dessoir, Driesch endlich auch in Deutschland +aufgegriffenen Tatsachen und Probleme der Parapsychologie, d. h. der +Psychologie der sogenannten okkulten Phänomene (siehe dazu besonders +Oesterreich: "Probleme der Parapsychologie" und sein Buch über +"Besessenheit", ferner Max Dessoir: "Das Jenseits der Seele"). Die +Forscher, die sich gegenwärtig in der Richtung auf eine philosophische +Durcharbeitung des neuen mächtig angewachsenen psychologischen +Erkenntnismaterials bewegen, sind vor allem E. Husserl, W. Stern, E. +Jaensch, Wertheimer, Köhler, Grünbaum, Lindworsky, Scheler, Driesch, +Selz, Kronfeld, Koffka, Th. Haering. Wir sind überzeugt, daß auf diesem +Wege sich eine weit tiefer gehende, freilich auch erheblich +kompliziertere abschließende Theorie über den Z u s a m m e n h a n g + v o n L e i b u n d S e e l e ergeben wird, als es durch die leeren +Prinzipienstreitigkeiten der Vergangenheit über Wechselwirkung und +Parallelismus je der Fall sein konnte. Schon jetzt scheiden sich meines +Erachtens drei nicht weiter aufeinander zurückführbare Gruppen von +Verknüpfungsarten und Gesetzen geistig psychischer Geschehnisse (resp. +Akte): 1. die mechanisch assoziativen, 2. die biopsychischen, bei denen +es allein konkrete zielmäßige Ganzkausalität gibt, 3. die poetischen +Intentionalgesetzlichkeiten, denen überall parallele Gegenstands-(resp. +Wert-) gesetzlichkeiten entsprechen. + +Wenden wir uns nun den jüngsten Schichten der gegenwärtigen +Philosophie, die zum größten Teil erst im 20. Jahrhundert ihren +Ursprung haben oder doch in ihm ihre stärkere Auswirkung fanden, zu, so +sind es weniger geschlossene S c h u l e n als einzelne +Persönlichkeiten, welche der Philosophie die Richtung auf einen neuen +Sachkontakt und gleichzeitig auf den Wiederaufbau der Metaphysik +gegeben haben. Einen Übergang zu dieser neuen Artung von Philosophie +bildet Wilhelm Dilhey (1833-1912) und die Forschergruppe, die von ihm +ausgegangen ist. Dilthey selbst war zeit seines Wirkens von +geschichtlichen und philosophischen Interessen gleichzeitig bewegt. +Eine in manchen Zügen dem romantischen Geistestypus verwandte, ungemein +reiche, zarte, genialische, aber auch problematische Natur (selten +schloß er ein Werk ganz ab), schüttelte er in seiner Entwicklung nur +langsam und nie vollständig die Ketten des historischen Relativismus +von sich ab. Aber was er in seinen stets tiefdringenden, gelehrten und +vor hellen intuitiver Erkenntnisgesichten erfüllten Abhandlungen gab, +das trug, gleichgültig, ob er sein Grundproblem, "die Kritik der +historischen Vernunft", ob er philosophiegeschichtliche oder +literatur- und kunstwissenschaftliche oder philosophiesystematische +Probleme behandelt, stets reiche Frucht. Auf sein bereits der +Geschichte angehöriges Werk, das jetzt in seinen noch nicht ganz +herausgegebenen gesammelten Schriften vorliegt, kann hier nicht +eingegangen werden. Alle heutigen Versuche, eine "verstehende +Psychologie" aufzubauen (Jaspers, Spranger, Scheler, Nohl, +Schmied-Kowarcik und auch die hierhergehörigen Versuche der jüngeren +Phänomenologen), wären ohne seine Wirksamkeit undenkbar gewesen. In +seinem Versuche, die Erkenntnistheorie von "der Totalität des +menschlichen Wesens" her, nicht nur von dem "verdünnten Saft bloßer +Denktätigkeit" aus aufzubauen und (hierin den Positivisten ähnlich) die +Erkenntnistheorie eng zu verbinden mit einer historischen Phasen- und +einer Typenlehre der menschlichen Erkenntnis- und der +philosophisch-metaphysischen Weltanschauungsformen, hat er in +Frischeisen-Köhler seinen Hauptschüler gefunden. Sein Interesse an der +Typologie der geistigen G e s t a l t e n des Menschentums, das er in +zahlreichen Aufsätzen bekundet hat, und seine Ideen auf diesem Gebiet +haben besonders Eduard Spranger stark angeregt. Sprangers jetzt in +zweiter erheblich erweiterter Auflage erschienenes Buch über +"Lebensformen" (1921) ist eine der reichsten und feinsinnigsten +Abhandlungen verstehender Psychologie und zugleich typologischer +angewandter Ethik, die wir auf diesem Gebiete besitzen. G. Wisch hat in +seiner "Geschichte der Selbstbiographie", die freilich noch unvollendet +ist, ein Problem ergriffen, das für die Frage der Abhängigkeit der +Selbstauffassung des Menschen von seiner geschichtlichen Umwelt und den +in ihr herrschenden Wertstrukturen von großer Bedeutung ist. H. Nohl +hat Diltheys Ideen über die Weltanschauungstypen in der Philosophie, +der dauernde Typenunterschiede des Menschentums entsprechen sollen und +die in der Geschichte sich gleichsam mit nur immer neuem +Erkenntnisstoff, der wachsenden Menschenerfahrung gemäß, ausfüllen, mit +Glück auf das Gebiet des Studiums der künstlerischen Darstellungsformen +übertragen. Der Metaphysik gegenüber verhielt sich Dilthey bis zu +seinem Lebensende skeptisch. Er hielt sie im Gegensatz zur positiven +Wissenschaft und zum religiösen Bewußtsein für eine nur historische +Kategorie, die einmal völlig aus der Geschichte ausscheiden werde. Das +vor allem macht gleichzeitig seine Verwandtschaft und seinen Gegensatz +zum Positivismus aus, dessen geschichtsmethodische und philosophische +Anschauungen er mit den deutschen, aus der Romantik entsprungenen +Geschichtsauffassungen eigenartig zu verknüpfen suchte (siehe besonders +"Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften", +1910). Allen seinen Schülern wußte er mehr zu vermitteln als bloße +Lehre -- auch etwas von seiner eigenen bedeutenden geistigen Form und +Gestalt. Obgleich ihm Genauigkeit und Strenge in der Erkenntnistheorie +fehlte, wie überhaupt eine letzte klare Basis für seine rein +philosophischen Bestrebungen, hat er die Theorie der +Geisteswissenschaften doch ungleich mehr befruchtet als die +Südwestdeutsche Schule. Schon durch seine andersgeartete +Problemstellung, die nicht "Logik der Geisteswissenschaften" (es gibt +nur e i n e Logik), sondern die materialspendenden Quellen des +historischen Denkens, d. h. die verschiedenen Stufen und Arten des V e +r s t e h e n s fremden Erlebens, in den Mittelpunkt der Untersuchung +gerückt hat, ist sein Unternehmen dem der Badischen Schule weit +überlegen. + +Die bedeutsamste und wirksamste philosophische Bewegung der Gegenwart +ist von der Jahrhundertwende ab in der sogenannten "P h ä n o m e n o l +o g i e" aufgetreten. Das Wort darf vor allem nicht mit dem sogenannten +"Phänomenalismus" (d. h. der Lehre z. B. Kants, daß wir nur +"Erscheinungen", nicht die Dinge selbst erkennen) in Beziehung gebracht +werden. Nicht der Gegensatz von "Wesen" und "Erscheinung", sondern der +schon in der Scholastik als "grundlegend erkannte Gegensatz" von +"existentia" und "essentia". "Wesen" und "Dasein" beherrscht das Denken +dieser Forschergruppe; ferner deutet das Wort "Phänomenologie" an, daß +es sich bei der Aufsuchung der in der Welt realisierten Wesenheiten +(essentiae) vor allem um unmittelbar anschaulichen A u f w e i s +handeln soll. Den Ausgangspunkt für diese Bewegung, die sich freilich +in ihrem schwer durchschaubaren und auch aus Raummangel nicht zu +schildernden Ablauf von überaus verschiedenen geschichtlichen +Einflüssen genährt hat, bildete das Werk Edmund Husserls "Logische +Untersuchungen", 2 Bände (2. Aufl. 1921). Der erste Band dieses überaus +wirksamen Werkes galt einer Neubegründung der Logik. Jede Art von +Empirismus, Psychologismus, Relativismus, Anthropologismus, +Subjektivismus, den die herkömmliche Logik in sich aufgenommen hatte, +wurde bis in seine letzten Schlupfwinkel verfolgt und aus der Logik zu +entfernen versucht. Die logischen Wahrheiten sind nach Husserl streng +evidente Gegenstandswahrheiten, die von aller Konstitution und etwaiger +Veränderung der menschlichen Natur u n a b h ä n g i g sind. So war es +vor allem der siegreiche Kampf gegen den bei J. St. Mill, Sigwart, +Erdmann, Wundt und auch bei der sogenannten "normativen Logik" noch +vorliegenden "Psychologismus", dem das Werk seine große Wirksamkeit +verdankte. Obgleich dieser Band an erster Stelle reine Sachuntersuchung +ist, hat er doch historische Anknüpfungspunkte; sie liegen, wie +Grabmann gezeigt hat, schon in der Scholastik, soweit sie die +platonisierende Richtung einhält (z. B. bei Bonaventura). Ferner haben +Leibniz und sein später bis zu Husserls Wiederentdeckung völlig +unbekannter Schüler, der große Logiker und fruchtbare Mathematiker +Bolzano, der den Urteilsakt und den Satz "Ansich" als ideale +Seinseinheit unterschied, ferner auch Lotze in seinem Logikkapitel über +die "Platonische Ideenlehre" und Herbart in seinen logischen +Bestrebungen analoge Ideen ausgesprochen. Die vollständige +Vernachlässigung, ja der prinzipielle Ausschluß der Aktseite der +Denkgebilde, und die im 1. Band herrschende Vorstellung, es könne unser +Denken ohne Schaden für die Logik sogar etwa rein +assoziationspsychologisch verstanden werden, läßt sich freilich n i c h t +durchführen. Husserl selbst hat schon in seinem zweiten Bande diese +Auffassung im Grunde stillschweigend zurückgenommen. Erst der zweite +Band des Werkes brachte Untersuchungen, die in die Richtung der +späteren Phänomenologie geführt haben, die indes hier noch mit +deskriptiver Psychologie des Denkers identifiziert wird. Die zwei +wichtigsten Bestandteile dieses zweiten Bandes bestehen in der +ausgezeichneten und strengen Widerlegung aller seit Locke, Hume und +Berkeley von einem großen Teil der modernen Philosophie bis zur +Gegenwart fast wie selbstverständlich aufgenommenen nominalistischen +Bedeutungs- und Begriffstheorie und in der sechsten Untersuchung, +betitelt "Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis", +die in ihrem zweiten Abschnitt den wichtigsten Begriffsgegensatz der +"sinnlichen und kategorialen Anschauung" einführt, der nach meiner +Meinungen u n m i t t e l b a r s t e n Ausgangspunkt für die +Entstehung der Phänomenologie gebildet hat. Als der Verfasser im Jahre +1901 in einer Gesellschaft, die H. Vaihinger in Halle den Mitarbeitern +der "Kantstudien" gegeben hatte, Husserl zum erstenmal persönlich +kennenlernte, entspann sich ein philosophisches Gespräch, das den +Begriff der Anschauung und Wahrnehmung betraf. Der Verfasser, +unbefriedigt von der kantischen Philosophie, der er bis dahin nahestand +(er hatte eben schon ein halbgedrucktes Werk über Logik aus diesem +Grunde aus dem Druck zurückgezogen), war zur Überzeugung gekommen, daß +der Gehalt des unserer Anschauung Gegebenen ursprünglich weit reicher +sei als das, was durch sinnliche Bestände, ihre genetischen Derivate +und logische Einheitsformen an diesem Gehalt deckbar sei. Als er diese +Meinung Husserl gegenüber äußerte und bemerkte, er sehe in dieser +Einsicht ein neues fruchtbares Prinzip für den Aufbau der theoretischen +Philosophie, bemerkte Husserl sofort, daß auch er in seinem neuen, +demnächst erscheinenden Werke über die Logik eine analoge Erweiterung +des Anschauungsbegriffes auf die sogenannte "kategoriale Anschauung" +vorgenommen habe. Von diesem Augenblick an rührte die geistige +Verbindung her, die in Zukunft zwischen Husserl und dem Verfasser +bestand und für den Verfasser so ungemein fruchtbar geworden ist. Einen +starken Zuwachs erfuhr die phänomenologische Bewegung in ihrer ersten +Werdezeit dadurch, daß der ausgezeichnete und scharfsinnige Münchener +Psychologe Th. Lipps durch die Einwirkung der "Logischen +Untersuchungen" einen weitgehenden Umschwung seines ganzen Denkens +erfuhr, der sich in seinen letzten Arbeiten klar kundtat. Diesen +Umschwung machten seine hervorragendsten Schüler M. Geiger, A. Reinach, +Pfänder und die ihnen nahestehenden jüngeren Forscher nicht nur mit, +sondern sie schlossen sich, über Lipps überhaupt hinausgehend, den +Husserlschen Positionen weitgehend an. So kam es schließlich zur +Errichtung einer Sammelstelle für die phänomenologische +Forschungsrichtung im "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische +Forschung", von dem bisher fünf Bände bei Niemeyer in Halle erschienen +sind. + +Die Phänomenologie ist weniger eine abgegrenzte Wissenschaft als eine +neue philosophische E i n s t e l l u n g, mehr eine neue T e c h n e +d e s s c h a u e n d e n B e w u ß t s e i n s als eine bestimmte +Methode des Denkens. Nur so wird es verständlich, daß die +phänomenologische Bewegung nicht im selben Sinne die Einheit einer S c +h u l e hervorgebracht hat, wie etwa die früher behandelten Kantschulen +solche darstellen. Aus dem gleichen Grunde kann Phänomenologie nicht im +selben Sinne als objektiver Wissensgehalt g e l e h r t werden, wie die +Gedanken dieser Schulen. Nur durch fortgesetzte Ü b u n g dieser +Bewußtseinshaltung ist es möglich, in die Ergebnisse der Phänomenologie +tiefer einzudringen und selbst in ihr fortzuschreiten. Aus demselben +Grund gehen auch die einzelnen, von Husserl angeregten Forscher und +Forschergruppen in den R e s u l t a t e n viel weiter auseinander als +die Angehörigen jener genannten Schulen, ohne doch darum ihre fühlbare +Einheit, die eben in jener gemeinsamen neuen B e w u ß t s e i n s h a +l t u n g liegt, verlieren zu müssen. Husserl selbst spricht, diese +Bewußtseinshaltung charakterisierend, von einer "phänomenologischen +Reduktion"; sie besteht darin, daß auf der Gegenstandsseite aller +möglichen Gegenstände (physischer, psychischer, mathematischer, +vitaler, geisteswissenschaftlicher Gegenstände) von dem zufälligen h i +c e t n u n c D a s e i n d e r G e g e n s t ä n d e +abgesehen und auf ihr pures W a s, das heißt ihr "W e s e n" +hingeblickt wird; daß ferner analog der den Gegenstand erfassende +intentionale Akt, aus dem psychophysischen Lebenszusammenhang des +individuellen Menschen, der ihn vollzieht, gleichsam herausgelöst und +gleichfalls nur nach seiner essentiellen Wasbestimmtheit +charakterisiert wird. Diesen wesenserfassenden Akt, den unser geistiges +Bewußtsein von Etwas vollzieht, nennt Husserl "Wesenschau" und +behauptet, daß alle möglichen Theorien über das positive Wirkliche in +solchen Wesenseinsichten und in Einsichten in solche +Notwendigkeitsbeziehungen, die im G e h a l t e dieser "Wesen" selbst +fundiert sind, ihren letzten tragenden Grund besäßen. Alle +Wesenseinsichten, ob sie nun von psychischen oder von physischen oder +von mathematischen Gegenständen handeln, sind, obgleich sie weder auf +"eingeborenen Ideen" beruhen noch (wie nach Kant) bloße +Funktionsgesetzlichkeiten der geistigen Akte, das heißt +"Verstandsgesetze", ausdrücken gegenüber allem zufällig Wirklichen +objektiv a priori gültig. Denn was immer von dem Wesen irgendwelcher +Gegenstandsbereiche wahr ist und gilt, das muß auch gelten für alle +möglichen Gegenstände dieses Wesens, soweit sie der zufälligen +Daseinssphäre angehören. So begründet die Phänomenologie einen n e u a +r t i g e n A p r i o r i s m u s, der nicht nur die rein formalen +Sätze der Logik und der Axiologie in ihren verschiedenen +Unterdisziplinen (Ethik, Ästhetik usw.) umfaßt, sondern auch materiale +Ontologien entwickelt. Die Sphäre des apriorischen Wissens ist also in +der Phänomenologie unvergleichlich reicher als im formalen Apriorismus +Kants. Auch darin unterscheidet sich die Phänomenologie von Kants +Lehre, daß sie das proton pseudos Kants verwirft, es müsse alles, was +an Gegebenem n i c h t sensuell sei, erst durch eine hypothetisch +angenommene, synthetische konstruierende Tätigkeit des Verstandes oder +des Anschauens in den Erfahrungsgegenstand hineingekommen sein. Sie +sucht das "Gegebene" überall möglichst s c h l i c h t, v o r u r t e i +l s l o s und r e i n in möglichst dichte Anschauungsnähe zu bringen, +um es dann durch phänomenologische Reduktion in sein W e s e n zu +erheben. Das Apriori hat hier also keinen f u n k t i o n e l l e n +S i n n mehr. (Freilich schwankt Husserl in seiner letzten Schrift +"Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie" wieder über diesen +fundamentalen Punkt.) Das Apriori ist, wie auch eine seiner Unterarten +die kategorialen Formen, vielmehr Gegenstandsbestimmtheit, die von u n +s e r e n Begriffen vom Apriori nicht genau zu unterscheiden ist. +Ferner stellt das Apriori nicht mehr ein geschlossenes S y st e m von +Einsichten dar, die sich voneinander herleiten ließen, sondern kann im +Laufe der Entwicklung des Wissens immer neu vermehrt werden. Auch der +Gegensatz von Erfahrung und Denken, um den die großen Richtungen der +neuzeitlichen Philosophie, "Rationalismus" und "Empirismus", kreisen, +ist hier von der Schwelle der Philosophie abgewiesen. Mit Recht hat +Husserl immer wieder hervorgehoben, daß die Phänomenologie nicht nur +die Einlösung sei alles Wahren, was die kontinentale rationalistische +Richtung der Philosophie uns gegeben hat, sondern auch in gewissem +Sinne die Einlösung aller Ansprüche des Positivismus. Auch das, was a +priori evident ist, verdankt einem e r f a h r e n d e n (die +Phänomenologie sagt hier "schauenden"), nicht einem schaffenden, +formenden, konstruierendem Verhalten des Subjektes seine Erkenntnis, +nur mit d e m Unterschied von aller Erkenntnis zufälliger (hic et nunc) +Wirklichkeiten, daß das Ergebnis schauender Erfahrung durch die Q u a n +t i t ä t der "Fälle", an denen Erfahrung sich vollzieht, nicht +modifiziert werden kann. Nicht daher dem "Erfahren" überhaupt, sondern +nur der Methode der B e o b a c h t u n g und der i n d u k t i v e n +V e r a l l g e m e i n e r u n g an beobachtenden Fällen steht das +phänomenologische Erfahren und "Schauen" gegenüber. Auch die +Phänomenologie setzt so der Philosophie die Aufgabe, für alle ihre +Disziplinen die a p r i o r i s c h e n W e s e n s - u n d I d e e +n s t r u k t u r e n, die als objektiver Logos die gesamte +Weltwirklichkeit durchflechten und (im Sinne der Gültigkeit) +beherrschen, aufzudecken und alle positiven Wissenschaften und ihre +materialen Seinsbereiche in dieser Struktur gemeinsam zu verwurzeln. +Sie kann, geschichtlich gesehen, auch als eine Erneuerung eines i n t u +i t i v e n P l a t o n i s m u s angesehen werden, freilich mit +vollständiger Beseitigung der platonischen Ideenverdinglichung und +aller mythischen Beisätze. Und es ist wohl verständlich, daß von dieser +ihrer Eigenart her die Phänomenologie neuerdings auch mit der gesamten +p l a t o n i s c h - a u g u s t i n i s c h e n Philosophie der +patristischen und frühmittelalterlichen Philosophie, zum Teil aber auch +mit dem Aristotelismus, stärkere Fühlung genommen hat. Freilich gehen +in der Beantwortung sehr wesentlicher philosophischer Fragen und nicht +weniger in der Auffassung und Methode der Phänomenologie selbst die ihr +nahestehenden Forscher oft weit auseinander. Abgesehen von den +Weltanschauungsgegensätzen unter den Phänomenologen, der zum Teil in +verschiedenen religiösen Auffassungen gegründet ist, treffen wir z. B. +eine mehr systematisch gerichtete und eine mehr auf +Einzeluntersuchungen gerichtete Tendenz in der Phänomenologie. So +wertvoll viele dieser Einzeluntersuchungen sind (besonders diejenigen +Alexander Pfänders), so muß sich die Phänomenologie doch hüten, zu dem +zu werden, was ich andernorts "Bilderbuchphänomenologie" genannt habe; +ferner bestehen Gegensätze in der Auffassung jener, die, wie einst +Husserl selbst, die Phänomenologie der beschreibenden Psychologie zu +nahe rücken (z. B. Jaspers, Katz und Andere) oder hier doch nur ihre +Fruchtbarkeit sehen wollen und jenen, die sie vor allem als a p r i o r +i s c h e W e s e n s e r k e n n t n i s irgendwelcher -- auch nicht +bewußtseinimmanenter -- Gegenstände auffassen. Am tiefsten aber ist der +Gegensatz unter den Phänomenologen in den erkenntnistheoretischen +Fragen. Er ist dadurch besonders gesteigert worden, daß E. Husserl in +seinem letzten Werk über "Ideen" usw. sich dem erkenntnistheoretischen +Idealismus Berkeleys und Kants, sowie der Ichlehre Natorps wieder +bedeutend genähert hat und die Phänomenologie nur als Wesenslehre von +den B e w u ß t s e i n s s t r u k t u r e n (die durch zufällige +Erfahrungen unwandelbar sind) auffaßt; gleichzeitig aber, ähnlich wie +Kant, diese Bewußtseinsstrukturen zu Voraussetzungen auch der +Gegenstände der Erfahrung selber macht. Auch ihm werden so die Gesetze +der Erfahrung der Gegenstände zugleich Gesetze der Gegenstände aller +möglichen Erfahrung ("kopernikanische Wendung" Kants). Diese +eigenartige Wendung Husserls, nach der auch bei Aufhebung aller Dinge +ein "a b s o l u t e s B e w u ß t s e i n" erhalten bliebe, ist fast +von allen den von ihm angeregten Forschern a b g e l e h n t worden +und sie ist zugleich ein Haupthindernis für den Aufbau einer Metaphysik +auf wesenstheoretischer Basis. Die Einwirkung der Phänomenologie auf +die Philosophie der Gegenwart erstreckt sich auf alle philosophischen +Disziplinen. Auf Ethik, Wertlehre, Religionsphilosophie und verstehende +Psychologie hat die phänomenologische Einstellung in seinen Forschungen +auch der Verfasser angewandt (siehe "Der Formalismus in der Ethik", +"Phänomenologie der Sympathiegefühle", "Abhandlungen und Aufsätze", +"Vom Ewigen im Menschen"); nach der Seite der Philosophie der +Mathematik und der Grundlegung der Ästhetik Moritz Geiger (siehe +Jahrbucharbeiten); nach der psychologischen und logischen Seite +Alexander Pfänder (siehe gleichfalls Jahrbuch); nach der +erkenntnistheoretischen und rechtsphilosophischen Adolf Reinach, ein +überaus tiefgründiger und zukunftsreicher Forscher, der zum Schaden für +die deutsche Wissenschaft im Kriege gefallen ist. (s. seine eben jetzt +bei Niemeyer in Halle erschienenen, in einem Band zusammengefaßten +Abhandlungen). Aber weit über diesen älteren und engeren Forscherkreis +hinaus hat die Phänomenologie nicht nur eine Anzahl höchst +zukunftsreicher jüngerer Forscher in ihren Reihen (hier seien nur D. +von Hildebrand, Heidegger, Frau Connad-Martius, A. Koyré, W. Schapp, +Leyendecker, E. Stein genannt), sondern hat weit darüber hinaus auch +auf die gesamte Wissenschaft unserer Zeit stark eingewirkt. Aus der +Südwestdeutschen Schule hatte sich ihr E. Lask, von Marburg her hat +sich ihr N. Hartmann genähert. Brunswigg hat, von ihr ausgehend, ein +wertvolles Buch über Psychologie der Relationen und eine für die +Kantkritik wertvolle Schrift geschrieben. P. F. Linke hat die +Phänomenologie für die Expenmcntalpsychologie fruchtbar zu machen +gewußt (siehe "Grundfragen der Wahrnehmungslehre", 1918). Der +theoretische Physiker und Mathematiker Weyl hat sein ausgezeichnetes +Buch über die Relativitätstheorie Einsteins gleichfalls auf +phänomenologischer Basis aufgebaut. Auch die Diltheyschule hat sich +ihr, wie übrigens Dilthey kurz vor seinem Tode selbst, in mannigfacher +Hinsicht genähert. Driesch ist in seiner "Ordnungslehre" weitgehend von +ihr beeinflußt worden; auch auf de scholastische Philosophie blieb sie, +wie Geysers "Alte und neue Wege der Philosophie" zeigen, nicht ohne +Einfluß. Obgleich viele fundamentale Fragen der Philosophie in ihr noch +ungeklärt sind, darf doch erhofft werden, daß von der Phänomenologie +aus sich allmählich ein E i n h e i t s b o d e n d e r B e t r a c +h t u n g f ü r d i e g a n z e P h i l o s o p h i e +entwickelt, von dem aus eine neue universale Sachphilosophie, wie wir +sie anfangs forderten, sich entfalten kann. + +In Oesterreich kommt die Brentanoschule (Marty, Höfler, Meinong) aus +eigenen Antrieben einigen der phänomenologischen Tendenzen weitgehend +entgegen. Marty, der Brentano am nächsten steht, ist vor wenigen Jahren +gestorben; sein höchst wertvoller Nachlaß, besonders seine ausgedehnten +Untersuchungen zur Sprachphilosophie und eine die Probleme von Raum und +Zeit betreffende Arbeit ist vor kurzem bei Niemeyer (Halle) erschienen. +Meinong, dessen geistige Entwicklung und Leistung am besten durch sein +im Buch "die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen" +gegebene, sehr schön geratene und jetzt nach seinem Tode besonders +wertvolle Selbstdarstellung kund wird, hat in seiner neubegründeten +"Gegenstandstheorie" gleichfalls das Ideal einer daseinsfreien +aprioristischen Gegenstandserkenntnis entworfen, die seine Schüler, +besonders Mally, weiter ausgebaut haben. Der Unterschied der +Gegenstandstheorie von der Phänomenologie bleibt gleichwohl tiefgehend. +Der Gegenstandstheorie fehlt vor allem der i n t u i t i v e C h a r +a k t e r der Phänomenologie. In seinem letzterschienenen Buche über +"Emotionale Präsentation" hat sich Meinong in der in diesem Buche neu +behandelten Theorie der Werte und Wertungen dem Standpunkt erheblich +genähert, den der Verfasser in seiner Ethik vertreten hat. + +Große Verwandtschaft, besonders mit der erkenntnistheoretischen +realistisch gerichteten Phänomenologie weist ferner das Werk eines +Mannes auf, der, viel zu wenig beachtet, einer der gründlichsten und +originellsten Denker unter den gegenwärtigen Philosophen darstellt. Ich +meine Johannes Rehmke, der in seiner "Grundwissenschaft" in seiner +"Logik" und in seiner "Psychologie" gleichfalls von dem als "gegeben +Gehabten" ausgeht und eine Ontologie des Gegebenen und seiner +Grundformen zur Basis aller theoretischen Philosophie macht (siehe auch +seine Selbstdarstellung in dem obengenannten Werke). Freilich blieb +Rehmkes Einfluß bisher auf kleine Kreise beschränkt, so daß sie die +Würdigung, die sie verdient, noch lange nicht gefunden hat. + +Unter den selbständigen Einzelpersönlichkeiten, die in der +gegenwärtigen Philosophie hervorragen, sind besonders als W i e d e r e +r w e c k e r d e r M e t a p h y s i k vier Namen zu nennen: W. +Stern, H. Driesch, H. Schwarz und E. Becher. + +Alle Wiedererwecker der Metaphysik sind erkenntnistheoretische +Realisten; alle wollen sie keine Metaphysik "aus reinen Begriffen" +(Kant), sondern eine Metaphysik, die auf dem Boden der +Erfahrungswissenschaft ruht, aber gleichzeitig in einer apriorischen +Bedeutungslehre ein Sprungbrett besitzt, um mit Hilfe der Methode der +Analogie über das direkt und indirekt Erfahrbare der positiven +Wissenschaften noch hinauszugehen. Die Richtung der modernen +metaphysischen Versuche geht im allgemeinen auf eine Neubegründung des +T h e i s m u s hinaus. Ohne bewußte historische Anknüpfung nähert +sich die Metaphysik so der deutschen Theistenschule der 50er und 60er +Jahre (Weiße, Ulrici, H. Fichte, Lotze). So gehören Külpe, H. Schwarz, +Brentano, Ehrenfels, Scheler, Driesch, Oesterreich, Becher, Jellinek, +Stern unter den Vertretern der modernen Metaphysik der theistischen +Gedankenrichtung an, wie verschieden sie auch je ihren Theismus und +Personalismus begründen. Es ist also ein besonderes Merkmal der +gegenwärtigen Metaphysik, daß sie im scharfen Gegensatz zur Metaphysik +der klassischen Epoche (noch mit Einschluß E. von Hartmanns) auffällig +u n p a n t h e i s t i s c h und stark p e r s o n a l i s t i s c h +ist. Ich habe a.a.O. (siehe "Vom Ewigen im Menschen", Band 1) gezeigt, +wie der moderne Pantheismus sich einmal durch die Entwicklung vom +akosmistischen zum naturalistischen Pantheismus (Hegel bis zum modernen +Modernismus), sodann durch Aufnahme immer neuer i r r a t i o n a l e r +Faktoren in den Weltgrund (Schelling, Schopenhauer, von Hartmann, +Bergson) in immer größerem Maße selbst zersetzt hat. Auch ist es wohl +begreiflich, daß in einer so chaotischen und leidenden Zeit wie der +unsrigen der Pantheismus (im Grunde eine Denkweise harmonisierend +gerichteter synthetischer und abschließender Kulturzeitalter) keinerlei +s e e l i s c h e A t m o s p h ä r e besitzt. Eine dritte Tendenz +der modernen Metaphysik ist die Aufnahme der biologischen Grundfragen +in das Zentrum der metaphysischen Probleme und eine gewisse, nach +meiner Meinung zu starke Neigung, die metaphysischen Fragen besonders +von dieser Seite her zu lösen (Bergson, Driesch, Stern). + +Neben dem Gottesproblem ist von der modernen Metaphysik auch die +Seelenfrage und das Problem der Willensfreiheit eingehender behandelt +worden. Auch in der Seelenfrage hat die theistische und +antipantheistische Auffassung der Seele als selbständiger, tätiger +Substanz wieder größeren Anhang erhalten (Stern, Driesch, Oesterreich, +Külpe, Scheler, Becher). Vor allem aber ist die tiefgehende Wandlung +des modernen metaphysischen Denkens an der Stellungnahme führender +Forscher zum Problem der Willensfreiheit kenntlich. Während vor etwa +zehn Jahren die mannigfachen Formen des "Determinismus" in fast +ausschließlicher Herrschaft standen, treten gegenwärtig eine große +Reihe bedeutender Forscher für die Lehre von der F r e i h e i t d e s +m e n s c h l i c h e n Willens ein. Es seien hier genannt James, +Bergson, K. Joël, dem wir ein besonders tiefgehendes Buch über die +Frage verdanken, Driesch, H. Münsterberg, Scheler, N. Ach, der in +seinem Buche "Der Wille und das Temperament" mit am meisten getan hat, +um die Willenstatsachen experimentell-psychologisch zu erklären, steht +gleichfalls der Lehre vom freien Willen nahe. + +Unter den genannten Metaphysikern, die diese allgemeine Richtung +einhalten, dürfte Stern, Becher und Driesch die größte Bedeutung +zukommen. William Stern, dessen Hauptwerk "Person und Sache" noch +unvollendet ist, versucht den Begriff der "Person" als ein +psychophysisch indifferentes, zieltätiges Aktionszentrum zur Grundlage +der Metaphysik zu machen -- eine Auffassung, die manches mit der +Personlehre des Verfassers, wie er sie in seinem Buche über Ethik +entwickelt hat, gemeinsam hat, in anderer Richtung aber an Driesch und +von Hartmanns konkreten Monismus erinnert. Das wertvolle Buch Sterns +enthält auch eine sehr beachtenswerte Auseinandersetzung mit der +passivistischen und mechanistischen Biologie und der gleichsinnigen +Assoziationspsychologie, die einer scharfsinnigen und weittragenden +Kritik unterworfen werden. Sterns "teleomechanischer Parallelismus" der +alle formalmechanischen Beziehungen im Universum nur als M i t t e l +s y s t e m e für zwecktätige unbewußte Akte und Kräfte faßt, in denen +sich eine Hierarchie zwecktätiger "Personen" verschiedener Seins- und +Wertstufen immanent auswirken, ist ein sehr beachtenswerter Gedanke. +Freilich erscheint uns Sterns Vorgehen bislang noch zu dogmatisch, auch +ist bei Stern übersehen der Wesensunterschied von "Geist" und "Leben", +der hier in einen bloß graduellen Unterschied aufgelöst wird. Erich +Becher, der von der Naturphilosophie herkommt, ragt hervor durch seine +wertvollen naturwissenschaftlich-synthetischen Arbeiten (siehe seine +"Naturphilosophie" in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart"), die +allerdings eines selbständigen philosophischen Ausgangspunktes +ermangeln und noch zu sehr der Methode des Positivismus huldigen, +naturwissenschaftliche Resultate bloß nachträglich in eine Synthese zu +bringen. In seinem Werk über "Gehirn und Seele" und vor allem in seinem +Buche über "Die fremddienliche Zweckdienlichkeit in der Natur" (die er +an den Gallenbildungen erläutert) hat er die Anfänge einer Metaphysik +entwickelt. Sie gewinnt ihren Abschluß in der Annahme eines +"überindividuellen Psychischen", das die Erfahrungen und funktionellen +Anpassungen des Organismus während seines Lebens verwertet und alle +jene Erscheinungen verständlich machen soll, die auf eine E i n h e i t +des organischen Lebens in allen Arten und Gattungen hinweisen (neben +der fremddienlichen Zweckdienlichkeit, Ähnlichkeit von Organbildungen +bei stammesgeschichtlicher weitgehender Verschiedenheit, Tatsachen der +Sympathie, Erklärung all derjenigen Entwicklungserscheinungen, die +weder lamarckianistisch, n o c h darwinistisch erklärbar sind, +Erblichkeit funktionell erworbener Eigenschaften, die gleichwohl vom I +n d i v i d u u m als solchem nicht erworben sein können usw.). Zu +einem noch selbständigeren, einheitlicheren und geschlosseneren Aufbau +einer Metaphysik, die gegenwärtig großen Einfluß gewinnt, ist Hans +Driesch gelangt, Er hat jüngst seine Gedanken im Aufsatz "Mein System +und sein Werdegang" (siehe "Philosophie der Gegenwart in +Selbstdarstellungen", Band 1) kurz zusammengefaßt. Driesch kam von der +Naturforschung aus (Entwicklungsmechanik) in die Philosophie; seine +Hauptleistung stellt auch heute noch dar seine "Philosophie des +Organischen" (die eben in zweiter Auflage erschienen ist, bedeutend +vermehrt und erweitert), ein Werk, das zweifellos die bedeutendste +naturphilosophische Leistung darstellt, welche die deutsche +gegenwärtige Philosophie besitzt. Driesch versucht hier aus einer an +der Hand der modernen Entwicklungsmechanik, die er selbst stark +förderte, gewonnenen Analyse der Formbildung des Organismus und einer +Analyse der Handlung des Organismus s t r e n g e B e w e i s e für +seinen neuartigen "Vitalismus" zu erbringen. Bei aller Formbildung und +allen überreflexmäßigen "Handlungen" des Organismus müsse ein Agens +tätig sein, dem ganz bestimmte Merkmale und eine ganz bestimmte +gesetzmäßige Wirksamkeit zugeschrieben werden. Es heißt als +hypothetischer Wirkfaktor der Handlungen "Psychoid", als dynamischer +Wirkfaktor der Formbildungen "Entelechie" (was indes keine strenge +Identität mit dem aristotelischen Entelechiebegriff bedeutet). In +seiner eigentlichen Metaphysik sucht nun aber Driesch zu zeigen, daß +nicht nur das "Psychoid" mit der "Entelechie" in der metaphysischen +Wirklichkeitssphäre identisch seien, sondern daß auch die unserem +kontinuierlichen "Selbst" zugrunde zu legende, aus den passiven +Bewußtseinserscheinungen erschlossene reale Seele mit dem durch rein +objektive Naturbetrachtung gewonnenen entelechialen und psychoidealen +Faktor identisch sei. Diesen Gedanken hat Driesch besonders in seinem +Werk "Leib und Seele", in dem er den psychomechanischen Parallelismus +(besonders durch eine Mannigfaltigkeitsbetrachtung) widerlegt, +ausgeführt. Eine erkenntnistheoretische und logische Basis für diese +Metaphysik hat Driesch entwickelt in seiner "Ordnungslehre" und in +seinem Buch "Erkennen und Denken"; die Gesamtheit seiner metaphysischen +Gedanken hat er zusammengefaßt in seinem Buche über +"Wirklichkeitslehre". Ausgehend von einem "methodischen Solipsismus", +entwickelt er in einer besonderen "Selbstbesinnungslehre" zuerst ein +apriorisches System von Bedeutungen und d e n k m ö g l i c h e n +Beziehungsformen. In der Art, wie dies geschieht, ist er durch Husserl +und Meinong stark beeinflußt. Sein Gegenstandsbegriff ist von Meinong +übernommen. Die Schwäche der Driesch'schen Metaphysik (von ihren +Mängeln, dem fast vollständigen Übergehen sowohl der sittlichen als der +geistig historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit als Daten auch für +die Metaphysik abgesehen) scheint mir weniger in seinen höchst +wertvollen biologischen Positionen als in seiner Naturphilosophie des +Anorganischen zu liegen, in der er einem Mechanismus, der einem +veralteten Stande der theoretischen Physik entspricht, huldigt. Ferner +kommt auch bei ihm, ähnlich wie bei Stern, der Unterschied der +spezifisch g e i s t i g e n Akte und ihrer autonomen Gesetzlichkeit +gegenüber dem biopsychischen Tatsachenbereich n i c h t zu seinem +Rechte. Dadurch entsteht die Gefahr eines pantheistisch gefärbten +Allvitalismus, der durch seine neuesten Ausführungen in der +"Philosophie des Organischen" über "Einheit und Pluralität" der +Entelechien, in denen er stark der Einheitslehre zuneigt, noch größer +geworden ist. Jedoch kann bei diesem entwicklungsreichen und +großzügigen Denker über die endgültige Gestaltung seiner Philosophie in +diesen Punkten noch nichts Sicheres ausgesagt werden. + +Die unmittelbarste Einwirkung vielleicht, welche die großen +Weltereignisse auf den Gang der deutschen Philosophie ausgeübt haben, +haben ohne Zweifel an erster Stelle die R e l i g i o n s p h i l o s o +p h i e und die P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n +d G e s e l l s c h a f t erfaßt. Sowohl die gewaltige r e l i g i ö +s e Bewegung unserer Tage wie der Hiatus der europäischen Geschichte +(und die Gesamtheit von Bestrebungen zu sozialer Neuformung) mußten +auch die Philosophie stark in ihren Bereich ziehen. Religiöse Bewegung +und religionsphilosophisches Denken stehen heute in stärkster +Wechselwirkung. Auf die religiösen oder gar kirchlichen Bewegungen +selbst können wir hier nicht eingehen (siehe hierzu meinen Aufsatz über +"Friede unter den Konfessionen" im "Hochland" und mein Buch "Vom Ewigen +im Menschen", Band 1). Will man der gegenwärtigen religiösen Bewegung +ein allgemeines Merkmal zuerteilen, so wird man vor allem von einer +Hypertrophie m y s t i s c h e r Tendenzen in allen Sonderarten der +religiösen Bewegung und auf allen Gebieten (Philosophie, Kunst, +Dichtung) reden können. Diese Bewegung umfaßt sowohl den katholischen +und den protestantischen Kulturkreis als jene Kreise, die eine "neue +Religion" wollen. Die gesamte mystische Bewegung steht stark unter dem +Einfluß des Ostens, so der großen russischen religiösen Denker +(Tolstoi, Dostojewski, Mereschkowski, Solowjew), aber auch der +indischen und chinesischen alten Weisheitslehren (siehe z. B. die +Wirksamkeit R. Tagores), Die immer stärker anwachsende +anthroposophische Bewegung R. Steiners, deren Ideen auch die +philosophisch von Driesch stark beeinflußten, in vieler Hinsicht sehr +wertvollen Gedanken des physikalischen Chemikers K. Jellinek in seinem +lesenswerten Buche "Das Weltengeheimnis" eigentümlich färben, steht +gleichfalls unter östlichem Einfluß (z. B. Wiederverkörperungslehre, +der auch H. Driesch nahesteht). Die expressionistische Kunst der +Gegenwart, die im "Weißen Reiter" auch einen vorwiegend katholischen +Ausdruck gefunden hat, steht gleichfalls stark unter diesen östlichen +Einflüssen. Am befremdlichsten wirkt hierbei die mystische Bewegung +innerhalb des protestantischen Kulturkreises, um so mehr, als die +vorwiegende protestantische Theologie, besonders die Schule A. +Ritschls, vor den Kriege aller Mystik äußerst abhold war und in ihr +überall "katholisierende Tendenzen" witterte. Der Ausspruch Harnacks: +"Ein Mystiker, der nicht katholisch würde, sei ein Dilettant" ist für +die ältere Stellung der protestantischen Theologie in schärfstem +Gegensatz zur Gegenwart charakteristisch. Sehr häufig verbindet sich +die östlich gefärbte Mystik unserer Tage, die man mit Recht in eine +geschichtliche Parallele einerseits mit dem unseren Zeitalter so +ähnlichen Hellenismus der Spätantike, andererseits mit den +Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Auftreten des +Pietismus) gesetzt hat, auch mit einer östlichen Orientierung in der +Politik (siehe z. B. die Schriften des Heidelberger Philosophen H. +Ehrenberg und die Arbeiten E. Rosenstocks). Es ist noch fraglich, wie +weit die Gesamtheit dieser Erscheinungen als bloße Flucht der Seele aus +den Wirren der Zeit und wie weit sie als p o s i t i v e +Ausgangspunkte einer neuen lebendigen Religiosität zu werten sind. +Bisher hat das Ganze noch einen stark chaotischen Charakter. Innerhalb +des katholischen Kulturkreises, in dem gegenwärtig eine große geistige +Regsamkeit wahrzunehmen ist, stellen sich die mystischen Tendenzen noch +am geformtesten dar und werden außerdem durch eine ihnen in gewissem +Sinne entgegengesetzte Bewegung, die von den Benediktinern inaugurierte +"liturgische Bewegung" in Schranken gehalten. Hier bemüht man sich vor +allem, "wahre und falsche Mystik" zu unterscheiden (siehe besonders die +Aufsätze von A. Mager in der "Benediktinischen Monatschrift" und im +katholischen Sonderheft der "Tat"; für die liturgische Bewegung siehe +vor allem die vom Abt J. Herwegen herausgegebene Schriftenreihe +"Ecclesia orans", besonders R. Guardini: "Vom Geist der Liturgie"). +Trotz des tiefen inneren Gegensatzes der mystischen, mehr an das +Mittelalter und die Gotik anknüpfenden Bewegungen und der liturgischen +a l t k i r c h l i c h e n Bewegung gewinnen beide Tendenzen eine Art +Einigung wieder dadurch, daß manche katholischen Denker auch in der +Philosophie und Theologie stärker an die mystischer gefärbte +platonisch-augustinische Auffassung anknüpfen, die mit den liturgischen +Bestrebungen ja auch den alt- und frühkirchlichen historischen +Grundcharakter teilen. In der Philosophie ist auf +religionsphilosophischem Boden dieser sich allenthalben wieder stärker +regende A u g u s t i n i s m u s (freilich stark modifiziert) auch mit +der Phänomenologie (die, wie bemerkt, ja selber stark platonisch +orientiert ist) in Verbindung getreten durch das Werk des Verfassers +"Vom Ewigen im Menschen", Band 1, in dem versucht wurde, sowohl der +Metaphysik als der Religionsphilosophie (das letztere durch +Aufrechterhaltung eines selbständig religiösen und unmittelbaren +Faktors in der religiösen Gotteserkenntnis) eine neue Selbständigkeit +zu geben ("Konformitätssystem von Glauben und Wissen"). Auf ganz +anderem philosophischen Boden (mit Anknüpfung an die modernen +Kantschulen) hat J. Hessen den "augustinischen Gottesbeweis" wieder zu +Ehren zu bringen versucht, und auch Switalsky hat ihm in seinen +Arbeiten wieder ein größeres Recht eingeräumt, als die vorwiegend +thomistische Richtung ihm bisher gewährte. Auch diese Tendenz ist wohl +verständlich sowohl aus dem a l l g e m e i n e n Streben wieder +stärker an frühkirchliche geistige Erscheinungen anzuknüpfen, als vor +allem auch daraus, daß es sich heute nicht darum handeln kann, so wie +zu Zeiten des Thomas von Aquin das relative R e c h t von Natur und +Vernunft gegenüber einer stark im Übernatürlichen versunkenen mächtigen +und einheitlichen christlich erfüllten Welt sicherzustellen, sondern u +m g e k e h r t darum, eine ganz und gar in das Weltliche und +Materielle versunkene weltanschaulich tiefpartikularisierte +Gesellschaft Gott und die göttlichen Dinge wieder geistig +nahezubringen. An Stelle der bloßen "ars demonstrandi", die +erfahrungsgemäß nur dort überzeugt, wo traditioneller Glaube den +Menschen bereits beherrscht, tritt hier eine "ars investigandi et +inveniendi" und gleichzeitig die alte anselmische Lehre, daß das +religiöse Bewußtsein und das Haben seines Gegenstandes (Gottesidee) dem +philosophisch-wissenschaftlichen Bewußtsein und der ihr entsprechenden +Weltgegebenheit gesetzlich (wenn auch geschichtlich mit ganz variablem +Inhalt) vorhergeht (im Sinne des anselmischen "Credo, ut intelligam"). +Auch mit H. Newman, dessen "Grammatik der Zustimmung" eben von Th. +Haecker neu übersetzt wurde, und dessen Schriften gegenwärtig auch in +katholischen Bildungskreisen stark gelesen werden, steht diese Bewegung +in mannigfacher Verbindung (vgl. auch die Zeitschrift "Brenner", in der +sich religiöse Gedanken verschiedener Konfessionen begegnen). Auch die +bemerkenswerten Reden des Tübinger Dogmatikers Adam über "Glauben und +Wissen", "Religion und Gegenwart" verraten die geschilderten +Gedankenmomente. Ihr praktisches Gewicht und ihre soziale Parallele +erhält diese neuere katholische Denkrichtung durch die sich in den +katholischen Bildungskreisen immer stärker durchsetzende Überzeugung, +daß die Religion sich in einer Zeit, in der die gewaltigen Stützen der +Kirche durch den Staat zusammengebrochen sind, und in der sich der +Glaube zu r e i n i g e n hat von allen ständischen und klassenmäßigen +Amalgamierungen, in die ihn die verflossene Geschichte gebracht hatte, +vor allem innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den +Interessenstrukturen der Politik und Wirtschaft gewinnen müsse, um +wieder eine praktisch lebendige Kraft auf das Leben zu gewinnen. Aus +demselben Grunde sucht man in bezug auf geschichtliche Vorbilder +innerhalb des katholischen Kulturkreises an solche Zeiten und +Persönlichkeiten anzuknüpfen, in denen die Religion aus ihrer eigenen +inneren Kraft heraus (ohne Stütze von irgendeiner anderen Macht) neue +soziale Bewegungen e i n g e l e i t e t oder doch mit ihrem Geiste +durchhaucht hat. Das von D. von Hildebrand herausgegebene Buch "Der +Geist des heiligen Franziskus" will in diesem Sinne die franziskanische +Bewegung nach allen in Betracht kommenden Richtungen charakterisieren. + +Innerhalb des p r o t e s t a n t i s c h e n Kulturkreises deuten +mehrere Erscheinungen gleichfalls auf den neuen religiösen Geist der +Zeit hin. Der weitgehenden soziologischen Umformung der Behälter und +Wirkungsweisen des protestantischen Geistes (die keineswegs, wie man so +oft irrig meint, ein Nachlassen auch seiner K r a f t und seiner +Wirksamkeit zu bedeuten braucht) -- man kann sie kurz als Tendenz zu +Sekten, Kreis-Ordensbi1dungen um irgendeine charismatisch erscheinende +Persönlichkeit herum charakterisieren -- entspricht eine Reihe +religionsphilosophischer und theologischer Neuerscheinungen, welche +starke Beachtung verdienen. Hier sind vor allem die tiefgreifenden und +wirksamen Arbeiten von R. Otto (siehe "Das Heilige", 2. Auflage), +ferner von H. Scholz "Religionsphilosophie" (1921), die Arbeiten des +Hallenser Dogmatikers Heim, die mannigfachen Schriften Fr. Heilers +(siehe "Das Gebet" und "Buddistische Versenkungsstufen", "Das Wesen des +Katholizismus"), die mystische Wert- und Religionsphilosophie von H. +Schwarz "Das Ungegebene", Tübingen 1921, zu nennen. Auch die Arbeiten +von K. Oesterreich über "Religionspsychologie" und die neue große +Arbeit über denselben Gegenstand von J. K. Girgensohn, ferner als +überkonfessionelle Sammelstelle religionspsychologischer Bestrebungen +die "Zeitschrift für Religionspsychologie" mögen hier aufgeführt sein, +obzwar diese Erscheinungen weniger religiös als rein wissenschaftlich +bedeutsamen Charakter besitzen. Den größten Einfluß von diesen Arbeiten +hatten ohne Zweifel die Schriften von Otto und Heiler. Otto betrachtet +die Werte des Heiligen und Göttlichen, die er in der ersten Hälfte +seines Buches rein phänomenologisch untersucht, auf ihre +Wesensbestandteile und scheidet sie in rationale (z. B. Güte, Wissen +usw.) und irrationale. Als irrationale Grundwerte, die sich nicht so, +wie die Kantschulen meinen, in "allgemeingültige Vernunftwerte" oder +deren Steigerung ins "Unendliche" oder "Vollkommene" auflösen lassen, +nennt Otto das "Numinose". Er zerlegt das ihm entsprechende Gefühl in +das "Kreaturgefühl" in das "mysterium tremendum" das dem Heiligen den +Charakter des Schauervollen, Übermächtigen und Energischen verleiht, in +das Moment des geheimnisvollen "ganz anderen" und in das Moment des +magisch anziehenden "fascinosum". Er verfolgt alle diese dem Göttlichen +konstitutiv eigenen "irrationalen" Elemente durch das Alte und Neue +Testament und durch Luthers Schriften hindurch und gibt am Schlusse +eine Art religiöser Erkenntnistheorie, die an die von Fries +modifizierte Kategorienlehre Kants anknüpft. Eine Kritik seiner +Aufstellungen habe ich auch in meinem Buche "Vom Ewigen im Menschen" +gegeben (siehe auch E. Troeltsch in den "Kantstudien"). Die +Bestrebungen nach einer freien religiösen Mystik sind innerhalb des +Protestantismus durch dieses Buch stark gesteigert worden. Heiler gab +in seinem Buche über "Das Gebet" eine überaus großzügige, gelehrte und +auch phänomenologisch und psychologisch überaus anregende Studie, die +nur den Fehler hat, daß sie mit Hilfe gewisser von der Ritschlschen +Theologie entlehnter Kategorien, besonders der Kategorie des +"prophetischen" und "mystischen Gebets" viele Erscheinungen des +religiösen Lebens vergewaltigt. Das beste Buch Heilers ist das Buch +über "Buddhistische Versenkungsstufen", in dem er diese Stufen +feinsinnig phänomenologisch erörtert und nur ihre T e c h n i k noch zu +wenig beschreibt. Sei prinzipienlos und historisch nach rein +individuellen und subjektiven Eindrücken geschriebenes Buch über das +"Wesen des Katholizismus", das zugleich eine erstaunliche +Verherrlichung der im "Gebet" gerade als "unevangelisch" verurteilten +katholischen Mystik und gleichzeitig eine herbe Anklage gegen die +gegenwärtige Kirche darstellt, sucht nach Harnacks Vorgang das Ganze +des Katholizismus als "Synkretismus" aus fünf Bestandteilen zu +erweisen; sie sollen bestehen im Evangelium, dem römischen Reichs- und +Rechtsgedanken, dem jüdischen Legalismus und seiner Kasuistik, den +paganisch-magischen Faktoren (Messe) und der nach Heiler auf den Orient +zurückgehenden hellenischen Philosophie und Mystik. Die Methode der +Betrachtung ist hier im wesentlichen diejenige Harnacks. Das religiöse, +bei Heiler vorherrschende, aber von seinen Stimmungen stark abhängige +"Ideal" soll gegeben sein in dem, was er in seiner Anlehnung an den +schwedischen Bischof Soederbloem die "Evangelische Katholizität" nennt. +-- Die "Religionsphilosophie" von H. Scholz, die besonders in ihren +kritischen Partien ausgezeichnet geraten ist, will ähnlich wie R. Otto +und in mancher Hinsicht auch ähnlich wie der Verfasser in seinem Werke +"Vom Ewigen im Menschen" die Religion auf eine besondere F o r m d e r +r e l i g i ö s e n E r f a h r u n g gründen, die aber nicht +allen Menschen zukommen soll. Auch dieses Werk nimmt seinen +Ausgangspunkt vor allem in dem Wesen der m y s t i s c h e n +Gotteserfahrung und sucht von hier aus die Religion mit dem Ganzen des +menschlichen Geisteslebens in innere Beziehung zu setzen. Auch K. +Oesterreich hat in seiner Schrift "Über die religiöse Erfahrung" +dieselbe Methode und denselben Ausgangspunkt wie die genannten +phänomenologischen vorgehenden Forscher. Überblickt man diese und +andere hier aus Raummangel nicht genannten Erscheinungen der +protestantischen Religionsphilosophie und Theologie und vergleicht sie +mit den augustinisch gefärbten Arbeiten innerhalb des katholischen +Kulturkreises, so eröffnet sich eine A u s s i c h t, die nach meiner +Meinung von größter Tragweite ist. Es ist die Aussicht auf eine mählich +fortschreitende Einigung der Forscher verschiedener Konfessionen über +die Grundfragen wenigstens der natürlichen Theologie und der +Religionsphilosophie. Solange auf der einen Seite einseitigster +Kantianismus, auf der anderen Seite ein ausschließlicher Thomismus +traditionalistisch herrschten, war auch der bloße V e r s u c h einer +solchen Einigung völlig ausgeschlossen (siehe dazu auch R. Eucken: +"Kant und Thomas, der Kampf zweier Welten"). Den W e r t einer solchen +Einigung aber wird man nicht gering anschlagen dürfen, denn es würde +dadurch der widersinnige Zustand, den ich a. a. O. als einen "Skandal +der Philosophie und Theologie zugleich" bezeichnet habe, aufgehoben, +daß in der nicht auf positiver Offenbarung und Tradition beruhenden +sogenannten "natürlichen Gotteserkenntnis" (die jedem Menschen spontan +zugänglich sein soll) gerade am m e i s t e n der bloße historische +Traditionalismus herrscht, und daß die konfessionell verschiedenartigen +religiösen Bildungskreise in der natürlichen Theologie und +Religionsbeurteilung eher n o c h w e i t e r auseinandergehen als in +den Fragen der positiven Theologie und der Glaubensbekenntnisse. + +Auch innerhalb der theoretischen und praktischen Führerschaft der +deutschen Sozialdemokratie sind gegenwärtig Versuche bemerkenswert, das +religiöse Problem einer neuen Durchforschung zu unterziehen, die von +der marxistischen überkommenen Lehre, der gemäß die göttlichen Dinge +nur ein phantastisches "Aroma" sein sollen, das als +"Begleiterscheinungen" ökonomischer Herrschaftsverhältnisse aus der +"bürgerlichen Gesellschaft" aufsteigt (Marx), prinzipiell abweichen. +Noch sehr fadenscheinig ist die Religion in Paul Göhres "Der unbekannte +Gott" gefaßt, dagegen haben Radbruch, Maurenbrecher, mehrere Freunde +der "Sozialistischen Monatshefte", die theoretischen Vertreter des +Bundes sogenannter "religiöser Sozialisten" Ansichten geäußert, die, +wie immer man sie beurteilen mag, eine neue Stellung auch der +sozialdemokratischen Arbeiterklasse zu den Problemen der Religion +ankündigen. Da nach unserer Meinung jeder religiös nicht an das höchste +Gut und Gott glaubende Mensch, und jede Klasse solcher Menschen ein +nachweisbares S u r r o g a t des höchsten Gutes in Form eines zu einem +"Götzen" gestempelten endlichen Wertes (heiße er Geld, Nation, +Zukunftsstaat oder sonstwie) besitzen, wird der vermutlich bald +vollständig einsetzende, schon heute (siehe das neue +sozialdemokratische Parteiprogramm) sehr weitgehende Verzicht auf die +Verwirklichung der Ideale des Kommunismus und des "Zukunftsstaates" (an +die ein gewaltiges Maß eschatologischer Religiosität gleichsam +festgebunden war) einen l e e r e n Raum in der Seele der +Arbeiterklasse schaffen, der ihre Disposition für die Aufnahme echt +religiöser Güter bedeutend steigern dürfte. In diesem Sinne hat sich +auch Otto Baumgarten in seinem Buche "Der Aufbau der Volkskirche", das +die Möglichkeit des Aufbaus einer protestantischen Volkskirche an +Stelle einer bloßen "Pastorenkirche" eingehend und feinsinnig erwägt, +ausgesprochen. + +Nicht minder tief greifen, wie gesagt, die Wirkungen der Weltereignisse +auf die geschichtsphilosophischen und soziologischen +Neuorientierungsversuche der Gegenwart ein. Alle größeren +geschichtsphilosophischen Versuche der europäischen Geschichte, die wir +kennen, die Versuche Augustins und Johanns von Freising, die Versuche +Vicos, Bossuets, Hegels und Comtes haben ihren Ursprung in Zeitaltern, +die nach großen, die Verhältnisse tief umformenden Geschichtswendungen, +gleichsam eine Besinnung der Menschheit über den bisherigen Verlauf +ihrer Geschichte anregen. Der Französischen Revolution wohnte in diesem +Sinne die mächtigste Anregungskraft für geschichtsphilosophische +Besinnung ein, und so ist es kein Wunder, daß gerade gegenwärtig die +geschichtsphilosophisch m a t e r i a l e B e t r a c h t u n g der +Dinge eine neue Auferstehung gefeiert hat. Zum Teil knüpfen diese +Versuche an Gedanken an, die schon vor dem Kriege wieder eine Rolle zu +spielen begannen. Kaum ein geschichtsphilosophischer Versuch der +Gegenwart zeigt sich z. B. nicht irgendwie durch Nietzsches starke +Anregungen bedingt. Ferner fühlt man überall die Ideen Burckhardts, wie +er sie in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" entwickelt hat, +die Auffassungen von Dilthey, Troeltsch, Hegel und Hartmann noch +lebendig. Der grundlegende Gesichtspunkt, welcher der gegenwärtigen +Geschichtsphilosophie ihr b e s o n d e r e s Gepräge verleiht, ist vor +allem der Gegensatz zwischen Dekadenz oder Erneuerungsmöglichkeit der +europäischen Menschheit und dazu die noch mögliche Aufgabe und Rolle +"Europas" im zukünftigen Weltgetriebe. Schon diese Frage führt wie von +selbst dazu, die E n g e und B e d i n g t h e i t der spezifisch +europäischen Maßstäbe und europäischen Denkformen in allen bisherigen +Geschichtsauffassungen und -beurteilungen immer tiefer zu erkennen. +Diesen Fragen gegenüber sind heute die mehr formalen Probleme der +Geschichts e r k e n n t n i s weitgehend zurückgetreten. Oswald +Spengler hat dem auf alle Fälle starken Wurfe seines "Untergang des +Abendlandes" in seinem Aufsatz über "Pessimismus?" eine sehr +eigenartige Interpretation nachfolgenlassen (der zweite Band des +"Untergangs" wird demnächst erwartet). Seine D e k a d e n z l e h r e +ist in seinem "Untergang" weniger tiefgehend als sensationell +vertreten. Die ungeheure Wirkung dieses Buches und der aufregende +Neuheitseindruck, mit dem es entgegengenommen wurde, ist psychologisch +nur aus der N i e d e r l a g e Deutschlands im Kriege zu verstehen. +Aber außerdem ist er nur begreiflich daraus, daß das große Publikum +offenbar keine Ahnung davon hatte, wie sehr diese Dekadenzlehre bereits +durch anderweitige Forscher vorbereitet war. Graf Gobineau, J. +Burckhardt, Fr. Nietzsche, F. Tönnies, E. Hammacher (siehe sein Buch: +"Grundprobleme der modernen Kultur"), M. Scheler (siehe "Ressentiment +im Aufbau der Moralen"), W. Sombart -- sie alle hatten ja, wenn auch +mit weitgehend verschiedener Begründung und Fundierung, im Grunde der +These gehuldigt, daß sich das Abendland des 19. Jahrhunderts im +Niedergang befinde. Der Kreis Stefan Georges dachte in derselben +Richtung. E. von Hartmanns universaler Geschichtspessimismus zielte +gleichfalls auf eine geschichtsphilosophische Dekadenzlehre hin. Nur +das satte Behagen der deutschen Oberklassen während des Wilhelminischen +Zeitalters konnte diese warnenden Stimmen über hören lassen und den +Schein erzeugen, daß man über Fortschritt und Aufstieg Europas so einig +sei, wie es etwa Hegel und in anderer Form und Art die Positivisten +Comte und Spencer gelehrt hatten. Freilich maßten sich alle diese +genannten Denker n i c h t an, astronomisch voraussagen zu können, was +in Zukunft sein und geschehen werde, so wie es Spengler auf Grund +seiner vermeintlichen vagen Phasen- und Gleichzeitigkeitsgesetze getan +hat, nach denen z. B. Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus innerhalb +der Phasenabfolge der indischen, römischen und modernen Zivilisation +"gleichzeitig" sein sollen. Es genügte ihnen so wie es allein möglich +und sinnvoll ist, von Niedergangstendenzen zu reden, deren Realisierung +durch die ursprüngliche Freiheit der menschlichen Persönlichkeit oder +doch durch arationale Geschichtsfaktoren auch prinzipiell umgebogen +werden könne. Eine solche "Freiheit" kennt Spengler nicht, er +betrachtet die großen Kulturen, die er an sich mit Recht als eine +ursprüngliche Vielheit ansieht (siehe hierzu auch des Verfassers +Abschnitt "Die Einheit Europas" in seinem Buche "Genius des Krieges"), +wie Pflanzenvegetationen, die aus der "mütterlichen Landschaft" +herauswachsen, dann einen Prozeß des Aufblühens, Alterns und Sterbens +durchlaufen. Diese biologischen Analogien sind aber auf die Geschichte +unanwendbar. Wertvoll dagegen ist der Versuch Spenglers, a l l e +Sphären der geschichtlichen Güterwelt (Wissenschaft, Künste, +Staatsformen usw.) auf die Einheit einer "Kulturseele" +zurückzubeziehen, und ihre Strukturidentität aufzuweisen. Die +Durchführung des Gedankens, den auch Dilthey, Duhem (siehe "Geschichte +der physikalischen Theorien"), Scheler und andere längst aufgenommen +hatten, ist indes oft überaus spielerisch und willkürlich (vergleiche +dazu das Heft des "Logos" indem sich eine Reihe von Forschern mit +Spengler beschäftigen). Zur Kritik Spenglers ist schon eine kleine +Literatur erschienen, aus der ich Th. Haerings "Die Struktur der +Weltgeschichte" (1921), die Schrift von H. Scholz "Zum Untergang des +Abendlandes" (1920) und Götz Briefs "Untergang des Abendlandes, +Christentum und Sozialismus" (1920), Kurt Breysigs "Der Prophet des +Untergangs" hervorhebe. Ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und +überdies aus den mannigfaltigsten verschwiegenen Anregungen +zusammengeflossen sind die philosophischen und erkenntnistheoretischen +V o r a u s s e t z u n g e n des Buches. Sie enthalten einen +Relativismus, der sich im tiefsten Gegensätze befindet zu aller +ernsthaften gegenwärtigen Philosophie, und sind nur ein letzter +Nachklang des romantischen Historismus der Vorkriegszeit und seiner +verantwortungslosen, sich in alles und jedes "einfühlenden" +schauspielerischen Verwandlungskunst -- Haltungen, von der heutigen J u +g e n d mit Recht scharf zurückgewiesen werden. Wenn wir nicht glauben, +daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg, stark mitbedingt durch die +psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen +gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem +gewissen "Troste" vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des +Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung +befindet so daß man gewissermaßen sagen kann auch jetzt wieder: +"Deutschland in der Welt voran" -- wenn auch in absteigender Richtung +-- überdauern wird, so erhoffen wir um so Wertvolleres von anderen +wichtigen Erscheinungen der gegenwärtigen Soziologie und +Geschichtsphilosophie. + +Das Grundbuch der deutschen Soziologie wird noch auf lange Zeit hinaus +Ferdinand Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" bleiben, das erst +langsam seine volle Bedeutung auswirkt. Max Weber, dessen Werke jetzt +gesammelt erscheinen, hat uns noch kurz vor seinem Tode mit seinen +großangelegten religionssoziologischen Untersuchungen über die +Religionsformen Chinas, Indiens und der verschiedenen kirchlichen +Bildungen des Christentums beschenkt, die sich seiner ungemein +wirksamen Untersuchung über die Bedeutung der calvinistischen +Religiosität und systematischen Selbstkontrolle für die Ausbildung des +"kapitalistischen Geistes" würdig angereiht haben. Die Bedeutung der +Weltreligionen für die soziale Struktur der Völker und für ihre +Wirtschaftsgesinnung ist in diesen Untersuchungen überaus großartig +hervorgetreten. Nimmt man noch hinzu die bekannten "Soziallehren der +christlichen Kirchen von E. Troeltsch und die Untersuchungen von P. +Honigsheim Über den Einfluß des Jansenismus auf die französische +Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" so ist in diesen Arbeiten ein +bedeutendes, zusammenhängendes Bild entstanden von der soziologischen +Bedeutung der Religion überhaupt (vgl. auch des Verfassers +"Abhandlungen und Aufsätze"). In anderer Richtung hat Werner Sombart in +seinen Kapitalismusbüchern und seinem "Bourgeois", vor allem aber in +der neuen Auflage seiner "Grundlagen des modernen Kapitalismus" nun +eine s y s t e m a t i s c h e A n o r d n u n g aller Kausalfaktoren +für die Entstehung der Phasen des modernen Kapitalismus gegeben, die +den älteren Einwänden gegen seine Aufstellungen weitgehend standhält. +Sein zu erwartendes Buch über die geistesgeschichtlichen Bedingungen +des modernen Sozialismus, zu dem er sein bekanntes "Sozialismus und +soziale Bewegung" umzuarbeiten im Begriffe ist, wird über die +Entstehung besonders der marxistischen Theorien neues Licht verbreiten. +Die neuen, in den Schriften der Kantgesellschaften herausgekommenen +Untersuchungen von E. Troeltsch über die bisherigen Formen der +Soziologie seit Comte und über die dialektische Methode Hegels haben +gleichfalls über die Entstehung des Gegensatzes unserer deutschen +Geschichtsauffassung von der bei den Westvölkern vorliegenden +Auffassung uns wichtige Einsichten erschlossen. Erwägt man dazu, daß +die gesamte marxistische Soziologie (siehe dazu die neueren Arbeiten +von J. Plenge, Lederer, Cunow, Lensch, Schumpeter, Renner, R. Michels, +Max Adler und anderer) sich in der tiefgehendsten Krisis befindet, in +der sie sich seit der Auseinandersetzung von Lassalle und Marx befunden +hat, so wird man die langsam beginnende geschichtsphilosophische und +soziologische Auseinandersetzung der sozialistischen und bürgerlichen +Soziologie und Geschichtsauffassungen nicht gering anschlagen dürfen. +Was uns gegenwärtig vor allem notwendig ist, das wäre eine neue, auf +der Gesamtheit der durch diese Literatur erschlossenen empirischen +Einsichten fußende T h e o r i e d e r h i s t o r i s c h e n +K a u s a l f a k t o r e n, die insbesondere die O r d n u n g ihrer +Wirksamkeit genau bestimmt und feststellt, und die zugleich mit allen +bisherigen Einseitigkeiten, vorwiegend spiritueller und +naturalistischer Geschichtsauffassungen, endgültig bricht. Der +Verfasser ist damit beschäftigt, in einem demnächst erscheinenden Buche +über die Gesellschafts- und Geschichtslehre des "Solidarismus" eine +solche Theorie zu entwickeln. -- + +Wenn man die ungemeine, nur noch mit dem Zeitalter Kants und Hegels +vergleichbare, g e i s t i g e R e g s a m k e i t auf dem Boden der +Philosophie im gegenwärtigen Deutschland (von der diese Zeilen ein +schwaches, durch den Raum engbegrenztes Bild geboten haben) mit dem +vergleicht, was gegenwärtig in den Ländern der Sieger auf diesem Boden +geschieht, so ist -- wie alle, die vom Ausland zu dem Verfasser nach +Köln kommen, bezeugen -- der Abstand ein u n g e h e u e r g r o ß e +r. Dieser Eindruck ist, wenn man noch hinzunimmt, was trotz des neuen +Elends des Bibliothekswesens und der geringen Aufwendungen, die seitens +des Staates für die Wissenschaft und ihre Institute heute allein +möglich sind, auch auf dem Boden der Naturwissenschaften und der +Erfindungen geleistet wird, so stark, daß an ihm allein schon das +tiefgesunkene Selbstgefühl und Selbstwertgefühl der Nation s i c h +w i e d e r a u f z u r i c h t e n v e r m a g. Ein Volk, das im +größten Elend seiner politischen und ökonomischen Lage zu einer solchen +Fülle geistiger Anstrengungen und Leistungen fähig ist, kann nicht +zugrunde gehen. Einem in gewissem Sinne tragischen Grundgesetze der +deutschen Geschichte gemäß (das man preisen oder beklagen mag) wird +auch diesmal die Nation; gerade aus ihren tiefsten Leiden und Nöten +heraus, mit neuen und frischen Energien, die ihr aus der dunklen Tiefe +ihrer durch kein Geschick zerbrechlichen Seele zufließen, mit neuem +Wagemut wieder zu den ewigen Sternen ihrer eigentlichen "Bestimmung" +greifen. Der Philosophie kommt dabei die nicht zu unterschätzende Rolle +zu, die einseitige Verfachlichung und Spezialisierung, in die das +deutsche Volk vor dem Kriege so sehr versunken war, daß ihm die auch zu +einer gesunden und einheitlichen Politik und zur Führung des Krieges +notwendige spontane Einigungsbereitschaft und Einigungsbefähigung +weitgehend gebrach, allmählich aufzulösen und damit beizutragen, eine +neue, einheitlichere geistige Bildungsgestalt dem deutschen Menschen +aufzuprägen. + + + + +RELATIVITÄTSTHEORIE +VON A. SOMMERFELD + +VORTRAG, GEHALTEN IN EINEM ZYKLUS GEMEINVERSTÄNDLICHER EINZELVORTRÄGE, +VERANSTALTET VON DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN, SOMMER 1921 + +Konrad Ferdinand Meyer läßt im "Hutten" den alten Pfarrer von Ufenau +sagen: + + Erfahrt, daß unter uns, die wir bemüht + Um die Natur sind, ein Geheimnis glüht! + Mit hat's ein fahr'nder Schüler anvertraut. + Neigt euch zu mir! Man sagt's nicht gerne laut. + Ein Chorherr lebt in Thorn, der hat gewacht, + Bis er die Rätsel deutete der Nacht. + Herr Köpernick beweist mit bünd'gem Schluß, + Daß -- staunet -- unsre Erde wandern muß! + +Dasselbe Staunen, das vor 400 Jahren die Menschheit bei der Kunde von +der Umwälzung des Kopernikus erfaßte, ist heute lebendig, wo es sich um +eine neue Umwälzung im Weltbilde handelt, vergleichbar der +kopernikanischen, ja vielleicht mit ihren erkenntnistheoretischen +Wurzeln noch tiefer reichend. Dasselbe geheimnisvolle Dunkel wie damals +-- "man sagt's nicht gerne laut" -- umweht die neue Theorie von Raum, +Zeit und Schwere. Wird es mir gelingen, das Dunkel in etwas zu lichten? +Ich weiß nur zu gut, daß dies ohne die sichere Leitschnur des +mathematischen Gedankens letzten Endes unmöglich ist. Für viele meiner +Behauptungen werde ich den Beweis schuldig bleiben müssen, da er sich +nur aus der vollen Kenntnis der physikalischen Tatsachen und zum guten +Teil nur mit den Hilfsmitteln der mathematischen Rechnung erbringen +ließe. Ich muß zufrieden sein, wenn ich Ihnen eine Vorstellung von den +Problemen und von den Gedankengängen, die zu ihrer Lösung führen, geben +kann. Etwas genauer möchte ich dann darauf eingehen, wie es mit der +erfahrungsmäßigen Prüfung der neuen Lehre steht. Insbesondere werde ich +von der Sonnenfinsternis des Jahres 1919 zu sprechen haben. Während in +Fachkreisen das Interesse an der Relativitätstheorie seit 15 Jahren +lebendig ist, datiert das allgemeine Aufsehen und die Popularität der +Theorie erst von ihrer Bestätigung durch diese Sonnenfinsternis. + + "Ihr meint, wie sitzen ruhig hier? Erlaubt, + Wir schweben, wie von Adlerkraft geraubt" -- + +so fährt der Pfarrer von Ufenau zu reden fort. "Wir sitzen ruhig hier." +Und doch drehen wir uns, so belehrt uns Kopernikus, um die Erdachse mit +einer Geschwindigkeit von einigen hundert Metern in der Sekunde; +gleichzeitig bewegt sich die Erde und wir mit ihr um die Sonne mit +einer Geschwindigkeit von 30 km in der Sekunde, also hundertmal +schneller, als der Schall die Luft durcheilt. Und die Sonne selbst +bewegt sich gegen die Fixsterne und führt die Erde und uns selbst "wie +mit Adlerkraft" fort. Von diesem ganzen zusammengesetzten +Bewegungsvorgang spüren wir nichts, es sei denn, daß wir mit genauen +Hilfsmitteln ausgerüstet sind, um an den Sternen Beobachtungen zu +machen. Wir müssen daraus schließen: Bewegung an sich ist nicht +beobachtbar, sie ist an sich nichts. Nur relative Bewegung können wir +konstatieren. Und weiter: Der Raum ist an sich nichts, das +Fortschreiten im Raum betrifft keine wirkliche Tatsache. Es gibt keinen +absoluten Raum. Der Raum existiert nur durch die in ihm enthaltenen +Körper und Energien. Ein Fortschreiten im Raum ist nur zu messen am +Rauminhalt und läßt sich überhaupt nur denken relativ zu den +raumerfüllenden Körpern und Energien. + +Dies ist das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik. Es bildet +seit 200 Jahren die Grundlage für das Studium der himmlischen und +irdischen Bewegungen. Der genaue Ausdruck dieses ältesten +Relativitätsprinzips lautet: Es ist unmöglich, festzustellen, ob sich +ein System von Körpern als Ganzes in Ruhe oder in gleichförmig +geradliniger Bewegung befindet, sofern wir nur innerhalb dieses +Körpersystems Erfahrungen anstellen und keine Merkmale außerhalb +desselben beobachten können. Wir können also nichts von der +fortschreitenden Bewegung der Erde bemerken, wenn wir keinen Ausblick +nach dem Fixsternhimmel haben. Mit der drehenden Bewegung der Erde ist +es allerdings zunächst anders, sie fällt nicht unter das +Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik, da bei ihr die Richtung +der Geschwindigkeit fortgesetzt wechselt. In der Tat können wir sie +durch Pendelbeobachtungen auf der Erde messen oder an der Abplattung +der Erde nachweisen. Wir werden hierauf zurückkommen, wenn wir das +allgemeine, über die klassische Mechanik hinausgehende +Relativitätsprinzip entwickelt haben werden. + +Gehen wir von der Mechanik zur Optik über. Die Erscheinungen des +Lichtes beruhen, wie wir heutzutage wissen, auf der Ausbreitung +elektromagnetischer Felder. Die Optik und Elektrodynamik glaubte einen +L i c h t ä t h e r nötig zu haben, einen feinen materialisierten Raum, +in dem sich die Lichtwirkungen ausbreiten sollten. Hiernach wäre es +denkbar, absolute Bewegung im Raum als Bewegung gegen den Lichtäther +durch Lichtstrahlen nachzuweisen. Ein Lichtstrahl, der sich im Sinne +der Erdbewegung, diese überholend, fortpflanzt, sollte sich relativ zur +Erde langsamer fortpflanzen als ein Lichtstrahl, der senkrecht zur +Erdbewegung fortschreitet. Das Relativitätsprinzip wäre damit +durchbrochen und die absolute Bewegung der Erde im Raum nachweisbar. +Der Versuch ist mit außerordentlicher Schärfe von M i c h e l s o n +angestellt worden und lieferte kein Anzeichen der Erdbewegung. Es hätte +keinen Zweck, wenn ich Ihnen den Michelsonschen Versuch näher schildern +wollte. Die Überzeugung von seiner bindenden Kraft könnte ich Ihnen +doch nicht beibringen, ohne mich in experimentelle Einzelheiten zu +verlieren. Der Versuch ist so schwierig und verlangt so +außerordentliche Hilfsmittel, daß er nur zweimal durchgeführt worden +ist. Hier, wie in vielen anderen Punkten, muß ich auf Ihren guten +Glauben an die Zuverlässigkeit der physikalischen und astronomischen +Messungen rechnen können. Der Michelsonsche Versuch und andere weniger +genaue Erfahrungen zeigen also, daß das Relativitätsprinzip zu Recht +besteht, daß absolute Bewegung auch nicht optisch als Bewegung gegen +den Lichtäther nachgewiesen werden kann. Daraus folgt weiter, wie +Einstein hervorhob, daß der Lichtäther keine reale, beobachtbare +Existenz besitzt. Er ist nicht physikalisch, sondern metaphysisch, ein +verkappter absoluter Raum und als solcher irreführend. + +Aber noch weiter: Die Lichtfortpflanzung findet statt in Raum und Zeit. +Sie hat, von der im Sonnensystem fortschreitenden Erde aus gemessen, +dieselbe Geschwindigkeit, wie sie von der Sonne aus gesehen werden +würde, die doch an der Erdbewegung nicht teilnimmt. Wir nennen +allgemein B e z u g s s y s t e m ein physikalisches Laboratorium, +welches mit Maßstäben und Uhren zu Raum- und Zeitmessung ausgerüstet +ist. Dieser Hörsaal ist ein Bezugssystem, da ich in ihm die jeweilige +Lage eines bewegten Körpers durch seine Abstände von dreien seiner +Begrenzungsebenen und durch die Angaben einer Uhr bestimmen kann. Drei +solche Abstände nennt man die R a u m k o r d i n a t e n des +betrachteten Punktes, die zugehörige Zeitangabe kann man seine +Zeitkoordinate nennen. Wir haben es hier mit einem irdischen +Bezugssystem zu tun. Wir können uns aber auch ein entsprechendes +Bezugssystem auf der Sonne oder auf einem gegen die Erde bewegten +Eisenbahnzuge denken. Die allgemeinen Tatsachen der Lichtfortpflanzung +zeigen nun, daß sich das Licht in jedem Bezugssystem in gleicher Weise +ausbreitet, nämlich in Kugelwellen mit der gleichen +Lichtgeschwindigkeit, unabhängig von dem Bewegungszustande der +Lichtquelle gegen den Beobachter. Das scheint widerspruchsvoll zu sein. +Denn wenn wir eine Kugelwelle, die sich im irdischen Bezugssystem +ausbreitet, von der Sonne aus betrachten, so würde auf der Vorderseite +(das sei diejenige Seite, nach der die augenblickliche Geschwindigkeit +des Erdkörpers gerichtet ist) zur Lichtgeschwindigkeit noch die +Erdgeschwindigkeit hinzukommen; auf der Rückseite der Welle würde sich +die Erdgeschwindigkeit von der Lichtgeschwindigkeit abziehen. Die +Vorderseite der Welle würde also, von der Sonne aus gesehen, schneller +fortschreiten als die Rückseite. Das widerspricht dem +Relativitätsprinzip und den optischen Erfahrungen. Die Lichtwelle weiß +nichts davon, ob sie zum Bezugssystem der Erde oder der Sonne gehört. +Jedem Beobachter erscheint sie als Lichtwelle von der gleichen +Fortpflanzungsgeschwindigkeit. + +Der Widerspruch löst sich dadurch, daß wir auch die Zeit ihres +absoluten Charakters entkleiden. Jedes Bezugssystem hat seine eigene +Zeitskala. Es gibt keine absolute universale Zeit. Die Mechanik +leugnete den absoluten Raum, ließ aber die absolute Zeit bestehen; sie +konnte es tun, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, weil sie nicht über +so exorbitante Geschwindigkeiten wie die Lichtgeschwindigkeit verfügt. +Die Optik und Elektrodynamik verlangen auch die Relativierung der Zeit. +Auch die Zeit ist an sich nichts. Sie besteht nur vermöge der sich in +ihr abspielenden Ereignisse. Diese Ereignisse, z. B. eine Lichtwelle, +sind real und objektiv; die Beurteilung des zeitlichen Ablaufs aber +hängt vom Standpunkt des Beobachters, vom Bezugssystem ab. Daraus folgt +weiter: Es gibt keine absolute Gleichzeitigkeit. Zwei Ereignisse, die +in meinem Bezugssystem gleichzeitig sind, sind vom Standpunkte eines +relativ gegen mich bewegten Bezugssystems aus nicht gleichzeitig. Wenn +ich mir einmal erlaube (in Fig. 1), Zeit und Raum durch zwei Richtungen +in der Zeichenebene darzustellen, + +[=== Abbildung 1 -- siehe figure1.png ===] + +so sind die beiden Ereignisse A und B gleichzeitig im Bezugssystem +(Raum -- Zeit); A ist aber früher als B im Bezugssystem (Raum -- +Zeit), welches durch die punktierten Achsen dargestellt wird. Diese +bildliche Darstellung, die hier nur als Gleichnis aufgefaßt werden +möge, gibt sogar den wirklichen Sachverhalt zahlenmäßig wieder, wenn +wir auf der Zeitachse mit einem im Verhältnis der Lichtgeschwindigkeit +vergrößerten Maßstab messen, wobei dann die in der Figur durch die +Strecke a b dargestellte Ungleichzeitigkeit nur als winzig kleine +Zeitdifferenz erscheint. + +Ein anderes Beispiel: Von der Erde löst sich in einem bestimmten +Augenblick ein ihr gleiches Abbild los und entfernt sich von ihr mit +einer gewissen Geschwindigkeit. Zwei Zwillinge, A und B, werden in +diesem Augenblick geboren, A bleibt auf der Erde, B wird auf ihr Abbild +ausgesetzt. Sie entwickeln sich auf den beiden identischen Sternen bei +identischen Lebensverhältnissen in genau identischer Weise, aber in +verschiedenem Zeitmaß. Wenn A irgendwie Kunde von B erhält, findet er, +daß B langsamer lebt, daß er in seinem Lebensalter und in seinen +Lebensschicksale immer etwas hinter A zurückbleibt. Dasselbe +konstatiert B von A; A ist jünger als B vom Standpunkte des B, B ist +jünger als A vom Standpunkte des A. + +Es wurde kürzlich vorgeschlagen, das Wort Relativitätstheorie zu +ersetzen durch Standpunktslehre. Das Wort ist gut; es verdeutscht und +verdeutlicht den wesentlichen Inhalt der neuen Auffassung. Wenn wir den +Standpunkt wechseln, indem wir ihn von der Erde auf ihr Abbild verlegen +oder auf einen über die Erde fahrenden Eisenbahnzug, sehen wir, was an +unserem Weltbilde vom Standpunkt abhängt, also gewissermaßen subjektive +Zutat ist, und was vom Standpunkte unabhängig ist, also in den Dingen +liegt. Raum und Zeit sind vom Standpunkte abhängig oder relativ; auch +die Auffassung zweier Ereignisse als gleichzeitig ist es. Aber die +Ereignisse selbst sind wirklich, ebenso wie die Tatsache einer sich +ausbreitenden Lichtwelle oder wie ein Menschenleben. Dabei ist jeder +Standpunkt zulässig und gleichberechtigt mit jedem anderen. Es gibt +keinen bevorzugten Ätherstandpunkt oder Erdstandpunkt oder +Sonnenstandpunkt: daß die Erscheinungen von jedem Standpunkte gesehen +miteinander harmonieren, trotz mancher Paradoxien, und niemals in +wirkliche Widersprüche geraten können, zeigt die mathematische +Ausführung der ganzen Lehre. + +Man wolle den Sinn des Wortes Relativität ja nicht so deuten, als ob +alles Geschehen vom Standpunkte des Beobachters abhinge, als ob alles +subjektiv wäre. Gerade der Wechsel des Standpunktes läßt erst das +Naturgesetz in seinem unveränderlichen Kern hervortreten. Die +Relativitätstheorie hat nicht nur eine negative, wegräumende, sie hat +vor allem eine positive, aufbauende Seite. Als positive Aufgabe der +Standpunktslehre wollen wir ausdrücklich statuieren: Die +Gesetzmäßigkeit in der Natur als einen "Felsen aus Erz" aufzurichten, +der hinüberragt über die wechselnden Erscheinungsformen von Raum und +Zeit, der von allen Standpunkten aus zu sichten ist für denjenigen, +dessen Auge mit dem Fernblick des mathematischen Organs ausgerüstet +ist. Die Aufräumung alles metaphysischen, unbeobachtbaren Absoluten war +ein großes Verdienst der neuen Theorie. Aber die Aufrichtung des für +alle Standpunkte und Bezugssysteme Gültigen, Bleibenden und +Unabhängigen war ihr größeres Verdienst. Mathematisch erreicht die +Theorie dieses, indem sie die Unveränderlichkeit (Invarianz) der die +Naturgeschehnisse beschreibenden Gleichungen gegenüber beliebigen +Transformationen derjenigen Hilfsgrößen (Koordinaten von Raum und Zeit, +Feldstärken, Energien) nachweist, durch die wir die Naturgeschehnisse +beschreiben. + +Das ist gerade der Unterschied zwischen Mach und Einstein, dem +Vorarbeiter und dem Vollender des Relativitätsgedankens. Bei Mach war +der Blick auf das Negative gerichtet. Er wollte das Gestrüpp entfernen, +das den Ausblick auf die Wirklichkeit versperrt, das Vorurteil eines +absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Aber ihm entschwand bei +dieser nützlichen Rodearbeit unter den Händen der Glaube an die +Festigkeit der Naturgesetze. Er sagt einmal: "Die absolute Exaktheit, +die vollkommen genaue eindeutige Bestimmung der Folgen einer +Voraussetzung besteht nicht in der sinnlichen Wirklichkeit, sondern nur +in der Theorie." Die Naturgesetze werden ihm zu ökonomischen Maßnahmen, +zu Ordnungsschematen, in die sich die Mannigfaltigkeit der +Erscheinungen bequem unterbringen läßt. Aber das ist es nicht, was wir +brauchen. Naturgesetze von so unbestimmter und formalistischer Art +wären kaum der Mühsal und Aufregung des Forschens wert. Der tastende +Naturforscher, der auf dunklen Wegen nach einem geahnten Ziel strebt, +braucht einen helleren Leitstern als die Machsche Lehre. Positivismus +heißt diese Lehre bei seinen Nachfolgern, trotzdem ihr Verdienst +wesentlich in der Negation des Unbeobachtbaren liegt. Einstein denkt +anders. Das Negieren des Metaphysischen ist ihm nur das Mittel, um den +Weg frei zu bekommen zur höchsten Bejahung der Naturgesetze, zu ihrer +invarianten Gültigkeit, unabhängig von jedem Standpunkte. Es ist +charakteristisch, daß die Positivisten den halben Einstein, den +abbauenden, begeistert loben, den anderen Einstein, den aufbauenden, +aber nicht anerkennen wollen. Ich hatte kürzlich einen ausgiebigen +Briefwechsel mit einem geistvollen Vertreter des Positivismus, einen +Briefwechsel, der natürlich zu keiner Einigung führte. Zum Schluß +schrieb ich dem Kollegen: "Wenn Sie uns nicht die Exaktheit der +Naturgesetze lassen, kann es zwischen uns keinen wirklichen Frieden, +sondern nur eine achtungsvolle gegenseitige Duldung geben." + +Wir sind mit unseren letzten Äußerungen schon hinübergeglitten von dem +Gedankenkreis der ursprünglichen, speziellen Relativitätstheorie zu der +allgemeinen, voraussichtlich endgültigen Theorie; jene datierend von +1905, diese von 1915. Jene ließ nur die gleichförmig und geradlinig +bewegten Bezugssysteme als berechtigt zu, diese erkennt jeden +Standpunkt an und verwendet grundsätzlich alle möglichen Bezugssysteme +zur Beschreibung der physikalischen Erscheinungen, also beliebig +gedrehte und beschleunigte Bezugssysteme, veränderliche Maßstäbe und +beliebig laufende Uhren. Sie behauptet, daß die Naturgesetze ihre Form +beibehalten auch bei so allgemeiner Beschreibung, wenn wir nur von +Anfang an den richtigen, hinreichend verallgemeinerten mathematischen +Ausdruck der Naturgesetze wählen. Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu +dieser allgemeinsten Auswirkung des Relativitätsgedankens war M i n k o w +s k i s vierdimensionale Zusammenfassung von Raum und Zeit. + +Die Zeit hat eine Ausdehnung, der Raum drei; beide zusammen haben vier +Dimensionen, das heißt: zur Fixierung eines Raumzeitpunktes, zur +Beschreibung eines Ereignisses in Raum und Zeit sind vier unabhängige +Zahlen erforderlich, von denen drei die räumliche, eine die zeitliche +Lage angeben. Minkowski spricht von der v i e r d i m e n s i o n a l e n +W e l t als der Zusammenfassung von Raum und Zeit. Es lassen sich auf +diese vierdimensionale Welt die Gesetze der gewöhnlichen +dreidimensionalen Geometrie übertragen, teils in zeichnerischer, teils +und besonders erfolgreich in rechnerischer Verallgemeinerung. Ich kann +von Ihnen nicht verlangen, daß Sie sich eine vierdimensionale Welt +vorstellen sollen. Denn ich kann es selbst nicht. Aber wir können uns +leicht eine zweidimensionale Welt vorstellen. Nehmen Sie einmal an, daß +Sie als denkendes Wesen mit all Ihren Erfahrungen und Sinnen in eine +Ebene gebannt wären. Dann gäbe es für Sie kein Oben und Unten, sondern +nur ein Nebeneinander. In dieser ebenen Welt können sich +Lichterregungen als Kreise, wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche, +fortpflanzen. Sie können in der Ebene Erfahrungen sammeln und sich eine +Geometrie aufbauen, die E u k l i d i s c h e G e o m e t r i e der +Ebene, wie wir sie in der Schule gelernt haben. Aber Sie können niemals +zu der Vorstellung z. B. eines Würfels gelangen. Sie können auf einer +Geraden Ihrer Ebene ein Lot innerhalb der Ebene errichten, aber Sie +können sich nicht anschauungsgemäß ein Lot auf der Ebene vorstellen, +weil es für Sie nichts außerhalb Ihrer Ebene gibt. Wenn Sie aber als +Flächenwesen hinreichende mathematische Phantasie haben, so können Sie +doch begrifflich von Ihren zwei zu drei Dimensionen fortschreiten. Sie +brauchen nur statt Ihrer zwei Koordinaten in der Ebene drei Koordinaten +als Rechnungsgrößen einzuführen und können das Lot auf der Ebene durch +Gleichungen in diesen drei Koordinaten beschreiben, von denen Sie sich +allerdings nur zwei richtig vorstellen können. In demselben Verhältnis +wie diese Flächenwesen zur dreidimensionalen Euklidischen +Raumgeometrie, stehen wir zur vierdimensionalen Weltgeometrie. Wenn wir +sie uns auch nicht vorstellen können, so können wir doch in ihr denken +und rechnen. Insbesondere können wir uns ebene und räumliche +Ausschnitte aus dieser Welt konstruieren, die dann wieder unserer +Anschauung zugänglich sind. + +Im dreidimensionalen Raum ist uns die Erscheinung der perspektivischen +Verkürzung geläufig. Diese Tischplatte erscheint mir von der Seite +gesehen schmäler, als von oben gesehen. (Der Positivist, dem die +Empfindungen selbst das letzte und einzige sind, würde sogar sagen: sie +ist von der Seite gesehen schmäler als von oben gesehen.) Unter +dasselbe Bild der perspektivischen Verkürzung, wenn wir es auf die +vierdimensionale Welt übertragen, lassen sich alle die seltsamen +Folgerungen bringen, die die Relativitätstheorie gezogen hat. Ein gegen +den Beobachter bewegter Körper erscheint in der Bewegungsrichtung +verkürzt (Lorentz-Kontraktion als einfachste Erklärung des +Michelson-Versuches). Der Zeitablauf in einem gegen den Beobachter +bewegten Bezugssystem erscheint diesem Beobachter verlangsamt +(Aufhebung der Gleichzeitigkeit, Verjüngung eines unserer beiden +Zwillinge vom Standpunkte des anderen). Die Masse eines Körpers, z. B. +eines Elektrons, das sich gegen den Beobachter bewegt, erscheint diesem +vergrößert, nämlich größer als einem Beobachter, der auf dem bewegten +Körper selbst seine Beobachtungsgeräte aufstellt und die Masse des für +ihn ruhenden Körpers mißt. Dieses Gesetz von der Massenveränderlichkeit +des Elektrons wurde zum Prüfstein der ursprünglichen speziellen +Relativitätstheorie. Zuerst bestritten, hat es sich im Laufe der Jahre +mit immer größerer Genauigkeit als wahr herausgestellt, am schärfsten +in den Feinsten Äußerungen bewegter Elektronen, in den Spektren der +einfachsten Atome. Seitdem darf der Vorstellungskreis der speziellen +Relativitätstheorie als experimentell gesichert gelten; seitdem haben +wir uns in der vierdimensionalen Minkowskischen Welt wohnlich +eingerichtet und wissen uns in ihren zum Teil paradox verzerrten +Anblicken zurechtzufinden. + +Aber ich muß leider noch höhere Anforderungen an Ihre Abstraktion +stellen. Denn nun muß ich Ihnen zeigen, wie Einstein die alte +Rätselkraft der Gravitation in sein System eingearbeitet hat. Die +Gravitation war seit Newton in der Formel des Newtonschen Gesetzes: +"proportional den wirkenden Maßen, umgekehrt proportional dem Quadrat +ihrer Entfernungen" erstarrt. Darüber hinaus hatte sich aus unseren +täglichen Erfahrungen über die Erdschwere oder aus den Beobachtungen +der Astronomen über die Gravitationswirkungen zwischen den Gestirnen +nichts über ihre Wirkungsweise ergeben. Unter allen Kräften hatte sich +die Gravitation allein als momentane Fernwirkung behauptet. Erst +Einstein konnte ihr neue beobachtbare Seiten abgewinnen. Ich will Ihnen +nicht den Weg schildern, wie Einstein nach manchen Kreuz- und +Quergängen zum Ziel gekommen ist, sondern nur das Ziel selbst +schildern, zu dem er gelangt ist. + +Stellen wir uns wieder auf den Standpunkt unseres Flächenwesens, aber +versetzen wir uns diesmal nicht in eine Ebene, sondern in eine +gekrümmte Fläche, z. B. auf eine Kugel. Wir können uns nicht aus der +Kugeloberfläche entfernen, wir können nichts außerhalb der +Kugeloberfläche wahrnehmen, weder dringt irgendeine Kunde vom Äußern +noch vom Innern der Kugel zu uns. Es gibt auch jetzt für uns kein Oben +und Unten, sondern nur ein Nebeneinander. Unsere Welt ist wie vorher +nur zweifach ausgedehnt. Sie ist in diesem Falle übrigens nicht +unendlich groß, sondern sie schließt sich im Endlichen. Es gibt keine +Geraden in unserer Welt, sondern nur gewisse geradeste Linien. Das sind +im Falle der Kugel die größten Kreise, z. B. die Meridiane von +irgendeinem Pol aus, aber nicht die Parallelkreise. Stoßen wir einen +Massenpunkt in der Ebene an, so läuft er in einer geraden Linie. Stoßen +wir ihn in gleicher Weise auf der Kugel an, so läuft er, sich selbst +überlassen und von keinen äußeren Kräften beeinflußt, in einer +geradesten Linie, in einem größten Kreise um die Kugel herum. Die +natürlichen kräftefreien Bahnen sind in der gekrümmten Fläche die +geradesten Linien, wie sie in der nicht gekrümmten Ebene die geraden +Linien sind. Konstruieren wir uns in der Kugelfläche eine Geometrie, so +wird sie von der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie verschieden. Auf +der Kugeloberfläche haben wir den einfachsten Fall der sogenannten +Nicht-Euklidischen Geometrie. Während es in der Euklidischen Geometrie +bekanntlich heißt: Die Winkelsumme im Dreieck ist gleich zwei Rechten, +heißt es in der Nicht-Euklidischen Kugelgeometrie: Die Winkelsumme im +Dreieck ist größer als zwei Rechte. Konstruieren wir z. B. ein Dreieck +aus lauter geradesten Linien auf folgende Weise: Wir gehen vom Nordpol +N auf einem Meridian bis zum Äquator, diesen entlang um ein Viertel +seines Umfanges und abermals auf + +[=== Abbildung 2 -- siehe figure2.png ===] + +einem Meridian zum Pol zurück, das letzte Stück im entgegengesetzten +Sinne zu den eingezeichneten Pfeilen, auf deren Bedeutung wir später +zurückkommen. Jeder Winkel dieses Dreiecks ist ein Rechter (in der +Figur mit R bezeichnet), die Winkelsumme gleicht drei Rechten, also +größer als zwei Rechte, wie es unser Satz von der Winkelsumme in der +Nicht-Euklidischen Geometrie verlangt. + +Alle diese Behauptungen sind bequem durch die Anschauung zu +kontrollieren. Aber nun kommt ein Schritt, zu dem eine gewisse +intellektuelle Unerschrockenheit gehört. Unser Flächenwesen soll sich +im Anschluß an seine Kugelfläche begrifflich einen dreifach +ausgedehnten Raum konstruieren, der dieselben Eigenschaften hat wie +seine Kugelfläche, in dem z. B. der Nicht-Euklidische Satz von der +Winkelsumme allgemein gilt, und in dem alle geradesten Linien in sich +zurücklaufen, also keine geraden Linien sind. Einen solchen "gekrümmten +Raum" können wir uns nicht vorstellen; und doch müssen wir uns +begrifflich und rechnerisch in ihm orientieren. Und mehr noch, wir +müssen zu einer gekrümmten v i e r d i m e n s i o n a l e n W e l t +fortschreiten und nicht nur zu einer gleichmäßig, nach Art der Kugel +gekrümmten Welt, sondern zu einer Welt von w e c h s e l n d e n K r +ü m m u n g s v e r h ä l t n i s s e n. + +Was hat nun dieser seltsame geometrische Vorstellungskreis mit der +Gravitationstheorie zu tun? Gehen wir zunächst nochmals der besseren +Übersicht wegen in unsere flache, nur zweifach ausgedehnte Welt zurück. +Die Fläche sei zwar im allgemeinen und ungefähren eben, also nicht +gekrümmt; sie habe aber Buckel, gekrümmte Auswölbungen an solchen +Stellen, wo sich Massen befinden. Jede Materie ist Sitz mannigfacher +Energieformen, chemischer und physikalischer Energien, welche in der +Bindung der Atome untereinander und in dem Aufbau der Atome stecken. +Statt Materie können wir daher auch allgemeine Energie im weitesten +Sinne des Wortes sagen. Überall, wo sich physikalische Ereignisse +abspielen und daher Energie lokalisiert ist, insbesondere in den +Stellen stärkster Energiekonzentration, der greifbaren Materie, soll +unsere flache Welt ausgewölbt sein, mehr oder minder, je nachdem wir es +mit größerer oder geringerer Energiekonzentration zu tun haben. +Betrachten wir insbesondere zwei solcher Buckel: einen von +überwiegender Wölbung, den wir Sonne nennen, und einen kleinen Buckel, +den wir Planet nennen. Wir geben letzterem einen Anstoß und lassen ihn +durch unsere Welt laufen. Wäre der Sonnenbuckel nicht da und alles +eben, so würde sich unser Planet auf gerader Bahn bewegen. Das +Vorhandensein des Sonnenbuckels hat zur Folge, daß er sich statt dessen +auf einer geradesten Bahn bewegt. Diese weicht von der Geraden um so +mehr ab, je näher der Planet an die Sonne herankommt. + +Sie sehen hiernach bereits, wie sich dieses zweidimensionale Gleichnis +zur Gravitationstheorie verhält. An den Stellen großer +Energiekonzentration ist die Raumzeitstrukur eine singuläre, gekrümmte. +die geradesten Bahnen in der Nähe solcher Stellen weichen weit ab von +den geraden Bahnen; sie verhalten sich annähernd so, wie wir es aus der +alten Gravitationstheorie her wissen, als Keplerellipsen. Dabei haben +wir nicht nötig, eine besondere Gravitationskraft einzuführen. Bahnen, +die lediglich unter dem Einfluß der Gravitation durchlaufen werden, +sind kräftefreie, geradeste Bahnen; ihre Krümmung spiegelt nur die +durch die Energieanhäufung bewirkte Weltkrümmung wider. Der +Ausgangspunkt der Relativitätstheorie bleibt dabei durchaus erhalten. +Raum und Zeit sind an sich nichts. Sie erhalten ihre Eigenschaften, +ihre Struktur erst durch die in ihnen enthaltenen physikalischen +Energien aufgeprägt. + +[=== Abbildung 3 -- siehe figure3.png ===] + +Die Bahnen sind nach dieser Gravitationstheorie angenähert +Keplerbahnen, aber nicht genau. Das Newtonsche Gesetz ergibt sich nur +in erster Näherung; bei genauerer Rechnung treten Abweichungen auf. Die +Ellipse ist keine geschlossene, sondern eine langsam sich drehende, +eine solche von fortschreitendem Perihel. (Perihel heißt bekanntlich +der Punkt größter Sonnennähe auf der Planetenbahn.) Die Figur zeigt in +sehr Übertriebenem Maßstabe diesen Perihelfortschritt. Er ist um so +stärker zu erwarten, je näher der Planet der Sonne kommt, also beim +Merkur, dem sonnennächsten der Planeten am stärksten. Nach den +Beobachtungen und Rechnungen der Astronomen tritt nun in der Tat beim +Merkur eine Perihelbewegung auf, die sich nach der Newtonschen Theorie +nicht erklären läßt. Sie beträgt hier 43 Bogensekunden im Jahrhundert; +das will sagen, daß erst nach 30 000 Jahrhunderten die Merkurbahn in +ihre Anfangslage zurückgekehrt erscheint. Bei den sonnenferneren +Planeten, z. B. bei der Erde, ist das Fortschreiten des Perihels +dagegen unmeßbar klein. + +Gerade diesen Wert von 43 Sekunden im Jahrhundert ergab nun die +Einsteinsche Rechnung auf Grund seiner neuen Auffassung der +Gravitation. Man beachte wohl: der Einsteinsche Gedankengang nahm +seinen Ausgang von erkenntnistheoretischen Forderungen, hatte nirgends +eine Unbestimmtheit oder Lücke, wußte von Hause aus nichts vom +Merkurperihel und führte doch zwangläufig auf den astronomischen +Beobachtungswert. + +Ich darf nicht verschweigen, daß eine kritische Überprüfung der +astronomischen Angabe von 43 Sekunden, die Herr Kollege Großmann +kürzlich durchgeführt hat, diesen Wert unsicherer erscheinen läßt, als +die Astronomen bisher annahmen. Der wahrscheinlichste Wert liegt nach +Herrn Großmann etwas tiefer als 43 Sekunden. Bis die Astronomen sich +hierüber geeinigt haben werden, kann man also nur sagen, daß die neue +Gravitationstheorie jedenfalls die Größenordnung der +Merkur-Perihelbewegung richtig wiedergibt. + +[=== Abbildung 4 -- siehe figure4.png ===] + +Wir kehren zu unserem Bilde des Sonnenbuckels in der zweidimensionalen +flachen Welt zurück. Statt eines Planeten jagen wir jetzt einen +Lichtstrahl an der Sonne vorbei. Auch dieser läuft auf einer geradesten +Bahn; bei fehlender Weltkrümmung würde er eine gerade Bahn beschreiben. +Auch hier wirkt, wie bei dem Planeten, die Krümmung des Raums in der +Sonnennähe so, als ob eine Anziehung von der Sonne auf den Lichtstrahl +ausgeübt würde, als ob der Lichtstrahl nach der Sonne hin fiele. Man +denke an die analogen, aber im Grunde doch wesensverschiedenen +Verhältnisse bei der atmosphärischen Strahlenbrechung, wo sich der +Lichtstrahl in der Erdatmosphäre ebenfalls krümmt. Was wir hier zu +erwarten haben, zeigt die nächste Figur. Der Stern A, der sein Licht +hart an der Sonne vorbeischickt, erscheint dem Erdbeobachter nicht in +A, sondern wegen der gekrümmten Form des Lichtweges in der Verlängerung +des Strahlenendes, d. h. an der Stelle B des Himmelsgewölbes. +Sonnennahe Sterne zeigen also eine scheinbare Ablenkung vom Sonnenrande +fort. Natürlich läßt sich diese Ablenkung nur bei einer t o t a l e n +S o n n e n f i n s t e r n i s beobachten, weil sonst das Sternlicht +vom Sonnenlicht überstrahlt wird. + +[=== Abbildung 5 -- siehe figure5.png ===] + +Am 29. Mai 1919 fand eine Sonnenfinsternis statt, die in Brasilien +total war. Deutschland war von ihrer Beobachtung ausgesperrt, England +rüstete zwei Expeditionen aus. Die Ergebnisse sind mir zugeschickt +worden. Die Konstellation war besonders günstig, weil 7 verhältnismäßig +helle Sterne in Sonnennähe standen. Unser Bild in Figur 5 stellt die +verdunkelte Sonne mit ihrem leuchtenden Strahlenkranze, der Korona, +dar. Die 7 Sterne sind durch kleine Kreise markiert. + +Von den Sternen aus sind die Ablenkungen als gerade Strecken +aufgetragen, wie sie theoretisch nach Einstein sich errechnen; sie +verlaufen in radialer Richtung und sind für die sonnennäheren Sterne +größer als für die sonnenferneren. Der Maßstab ist dabei viele +tausendmal übertrieben. Am Sonnenrande ist die theoretische Ablenkung +nur 1,7 Bogensekunden, d. h. so klein, daß wir sie in unserem Bilde gar +nicht einzeichnen können; im doppelten Abstande von der Sonnenmitte ist +die Ablenkung noch halbmal kleiner. In demselben übertriebenen Maßstab +sind nun auch die beobachteten Ablenkungen als Striche mit einer +Pfeilspitze eingetragen. Die wirklichen Ablenkungen auf der +photographischen Platte sind nur unter dem Mikroskop auszumessen und +überhaupt nur indirekt festzustellen. Außer der +Sonnenfinsternisaufnahme selbst wurde eine Aufnahme einige Wochen nach +der Sonnenfinsternis gemacht, zu einer Zeit, wo sich die Sonne aus der +fraglichen Gegend des Fixsternhimmels entfernt hatte. Überdies wurde +eine dritte Vergleichsplatte aufgenommen, die in das photographierende +Fernrohr verkehrt, d. h. mit der Glasseite nach außen, mit der +Schichtseite nach innen eingelegt war. Diese Vergleichsplatte konnte +dann mit den beiden Bebachtungsplatten, der bei der Sonnenfinsternis +und der nach derselben aufgenommenen, Schicht auf Schicht zur Deckung +gebracht werden. Die Ablenkungen der Sterne sind durch dieses indirekte +Verfahren unter dem Mikroskop ausgemessen und nach dem +Ausgleichsverfahren rechnerisch ermittelt worden. Wie unsere Figur +zeigt, stimmen die so gewonnenen empirischen Ablenkungen aufs +überraschendste mit den theoretischen überein. Sie zeigen nicht nur, +wie diese annähernd die radiale Richtung vom Sonnenmittelpunkte nach +außen hin (was zum Teil durch das angewandte Ausgleichsverfahren +bewirkt wird, also noch nicht ohne weiteres beweisend wäre), sondern +sie zeigen auch durchweg fast dieselbe Größe und die von der Theorie +geforderte Größenabnahme bei zunehmender Entfernung des Sterns von der +Sonne. + +[=== Abbildung 6 -- siehe figure6.png ===] + +Dies wird besonders überzeugend im nächsten Bilde dargetan, welches dem +englischen Originalbericht entnommen ist. Nach oben hin sind die +Sternablenkungen, nach rechts hin die reziproken Abstände vom +Sonnenmittelpunkte aufgetragen, mit denen die theoretischen Ablenkungen +proportional gehen. Die Abnahme der Ablenkung mit zunehmender +Entfernung von der Sonne wird theoretisch durch die stark ausgezogene +Gerade dargestellt. Die wirklichen Beobachtungspunkte (durch starke +Punkte wiedergegeben) liegen dieser Geraden äußerst nahe, viel näher +als der punktierten Geraden, welche nach einer älteren, nicht +konsequenten Theorie Einsteins die Sternablenkung darstellen würde. Man +wende nicht ein, daß die Ablenkung des Sternortes durch die +Sonnenatmosphäre bewirkt sein könnte. In so großen Entfernungen, wie +sie hier in Frage kommen, ist die Sonnenatmosphäre einfach belanglos. +Die astronomischen Sachkundigen sind sich darüber einig, daß die +Beweiskraft der englischen Sonnenfinsternisaufnahmen bündig ist. + +Das Ziel jeder Wissenschaft ist, nach einem schönen Worte des +Mathematikers Jacobi, die Ehre des menschlichen Geistes. Der 29. Mai +1919 wird für alle Zeiten ein Ehrentag des menschlichen Geistes bleiben. + +Neben dem Merkurperihel und den Sonnenfinsternisbeobachtungen gibt es +noch ein drittes Kriterium für die Einsteinsche Gravitationstheorie: +die Rotverschiebung von Spektrallinien, die auf der Sonne entstehen, +gegenüber den Spektrallinien des gleichen Stoffes, wenn sie unter +irdischen Verhältnissen hervorgerufen werden. Man kennt, seitdem es +eine Astrophysik gibt, die Erscheinung des sogenannten Dopplereffektes. +Sie besteht in der Verschiebung eines Spektrums nach der roten Seite +hin bei Sternen, die sich von der Erde entfernen, in einer Verschiebung +nach der violetten Seite bei Sternen, die auf die Erde zukommen. Die +Größe dieser Verschiebung entspricht der Geschwindigkeit, mit der sich +der betreffende Stern von uns fort oder auf uns zu bewegt. Man pflegt +daher auch die von Einstein vorhergesagte Rotverschiebung im +Sonnenspektrum durch eine Geschwindigkeit zu charakterisieren, die im +Dopplereffekt dieselbe Rotverschiebung bewirken würde, und zwar beträgt +diese Geschwindigkeit 0,6 Kilometer in der Sekunde. + +Über den physikalischen Grund dieser Rotverschiebung sei hier nur +soviel gesagt, daß er natürlich nicht wie der gewöhnliche Dopplereffekt +in einer relativen Bewegung der Sonne gegen die Erde, sondern in dem +Gravitationsfelde der Sonne liegt. Dieses ist außerordentlich viel +stärker als das Schwerefeld der Erde. Die Rotverschiebung entspricht +direkt dem Unterschied der Schwere an der Sonnenoberfläche und +Erdoberfläche. + +[=== Abbildung 7 -- siehe figure7.png ===] + +Das geeignetste Versuchsobjekt zur Prüfung dieses Effektes bilden +Linien der sogenannten Zyanbanden. Merkwürdigerweise konnten die mit +den besten Hilfsmitteln ausgestatteten amerikanischen Sternwarten keine +systematische Verschiebung dieser Linien nach der roten Seite +nachweisen. Die Bonner Physiker Grebe und Bachem haben aber erst +gezeigt, mit welcher Vorsicht man beim Vergleich der Sonnenlinien und +der Linien aus irdischen Lichtquellen vorgehen muß, um sichere +Resultate zu erhalten. Beide Spektren enthalten nicht nur die in Rede +stehenden Zyanlinien, sondern daneben ein Gewirr von Linien anderen +Ursprungs, die sich jenen überlagern. Photometriert man ein solches +Spektrum, d. h. stellt man die Lichtintensität in ihrer Abhängigkeit +von der Wellenlänge durch ein Schaubild dar, so entsteht eine +Zackenkurve nach Art eines Gebirgskammes. Nur solche Linien sind +einwandfrei, die im Schaubild durch eine isolierte Zacke dargestellt +werden; wenn eine Erhebung fremden Ursprungs in der Nähe liegt, fälscht +sie die Lage der Hauptzacke und macht sie zur Untersuchung der +Rotverschiebung ungeeignet. Bei diesem kritischen Vorgehen erwiesen +sich von 36 gemessenen Zyanlinien nur 9 als unverdächtig und brauchbar. +Nach R. T. Birge ist die Auswahl sogar noch weiter zu beschränken auf +zwei von diesen Linien. Und siehe da: Wenn alle verdächtigen Linien +ausgeschaltet und nur die 9 bzw. 2 tadellosen benutzt werden, so ergibt +sich der richtige Betrag der Rotverschiebung, wie er von Einstein +vorhergesagt wurde, nämlich rund 0,6 Kilometer in der Sekunde. + +[=== Abbildung 8 -- siehe figure8.png ===] + +Ich möchte noch ein letztes Beispiel zur Sprache bringen, welches zwar +nicht als Prüfstein der Einsteinschen Gravitationstheorie, wohl aber +als Mittel zu ihrer Veranschaulichung wertvoll ist. Wir wissen, daß ein +Kreisel, der aufgezogen ist und keinen äußeren Kräften unterliegt, +bestrebt ist, seine Richtung im Raume beizubehalten. Unsere Erde ist +ein solcher Kreisel von gewaltigen Ausmessungen. Freischwebend im Raum +würde er die Richtung seiner Drehachse nicht ändern. In Wirklichkeit +beschreibt die Erdachse in langsamstem Tempo einen Kegel um die Normale +zur Erdbahnebene (Ekliptik). Figur 8 zeigt die Erde mit eingezeichneter +Erdachse in ihrem Umlauf um die Sonne und deutet in ihrer Stellung am +weitesten rechts den Kegel an, den die Erdachse im Verlauf vieler +Umläufe beschreibt. Der Kegel wird erst in 26 000 Jahren vollständig +durchlaufen, in jedem Jahr beträgt die Winkelverlagerung 50 Sekunden +(Präzession der Äquinoktien). Nach der gewöhnlichen Auffassung rührt +diese Verlagerung der Erdachse von der Anziehung der Sonne auf den am +Äquator wulstförmig aufgetriebenen Erdkörper her, also daher, daß die +Erde kein kräftefreier, sondern ein von der Sonnengravitation +beeinflußter Kreisel ist. In der Einsteinschen Theorie aber ist die +Gravitation keine äußere Kraft; die Gravitationsbahnen der +fortschreitenden sowohl wie der drehenen Erdbewegung verlaufen +kräftefrei als geradeste Bahnen im gekrümmten Raume; die Erdachse +sollte also im Schwerfelde sich selbst parallel bleiben. Was aber +heißt: sich selbst parallel bleiben im Nicht-Euklidischen Sinne, bei +gekrümmter Raumstruktur? + +Wir ziehen nochmals unsere Figur 2 zu Rate. Wir gehen jetzt vom Nordpol +aus zunächst auf unserem ersten Meridian äquatorwärts und halten dabei +stets einen geraden Stab vor uns hin. Zweifellos bleibt er bei dieser +Wanderung sich selbst parallel, da er dabei ja dauernd in die Richtung +einer geradesten Bahn, in den Meridian, weist. Im Äquator angelangt, +steht er senkrecht zu diesem. Soll er sich selbst parallel bleiben, so +muß er dauernd senkrecht zum Äquator gehalten werden, solange wir den +Äquator abschreiten. Gehen wir auf dem zweiten Meridian zum Pole +zurück, so bleibt unser Stab wieder sich selbst parallel, wenn er +dauernd die Richtung dieses Meridians einhält. Kommen wir in den Pol +zurück, so hat sich, wie unsere Figur zeigt, unser Stab um einen +rechten Winkel gedreht, trotzdem er dauernd mit sich parallel war! +Nehmen wir statt des Stabes einen Kreisel zur Hand, so stellt sich +dessen Drehachse selbst so ein, wie wir soeben die Stabachse richteten; +es gilt also für den Kreisel das gleiche wie für unseren Stab: Trotzdem +er mit sich parallel bleibt, schließt er nach beendetem Umgang einen +Winkel gegen seine Anfangslage ein. Der Grund liegt in der Krümmung der +Kugelfläche. Bei einem Umgang in der Ebene, das heißt: wenn wir ein +ebenes Dreieck mit einem Kreisel in der Hand umschreiten, würde von +einer Winkelverlagerung des Kreisels keine Rede sein. + +Die Anwendung auf das Problem der Erdachse ist unmittelbar +einleuchtend. Dem Umgang um das Kugeldreieck entspricht bei der Erde +ihr jährlicher Umgang um die Sonne, der Kugelkrümmung die von der Sonne +bewirkte gekrümmte Raum-Zeit-Struktur. Indem die Erdachse nach einem +Umgang um die Sonne in den Frühlings-Tagundnachtgleichenpunkt +zurückkehrt, schließt sie einen Winkel mit sich ein. Dieser beträgt +zwar nicht, wie in unserem Beispiel, einen Rechten, sondern nur 50 +Sekunden, hat aber dieselbe Bedeutung wie jener, er zeigt uns nämlich +an, daß der umlaufene Flächeninhalt der Erdbahn nicht eben, sondern +gekrümmt war. Man sieht, wie schön und einfach sich die ältere +Auffassung, nach der die Gravitation als äußere Kraft wirkt, in die +neuere Auffassung umsetzt, nach der sie sich nur auf dem Wege über die +Verkrümmung der Welt äußert. Beide Auffassungen sind im Ergebnis +gleich; nur insofern, als die neue Auffassung eine Korrektion am +Newtonschen Anziehungsgesetz mit sich bringt, eine Korrektion, die sich +z. B. in der Perihelbewegung des Merkur äußerte, wird auch die nach +Einstein berechnete Winkelverlagerung der Erdachse bei ihrem jährlichen +Umgang um die Sonne ein wenig verschieden von der nach Newton +berechneten ausfallen. Doch betrifft diese Verschiedenheit nur die +höheren Dezimalen der angegebenen Zahl von 50 Sekunden. Als Kriterium +für oder wider Einsteins Gravitationstheorie wird also diese +Erscheinung nicht dienen können, insbesondere deshalb nicht, weil zu +ihrer praktischen Verwertung eine anderweitige Kenntnis der Mondmasse +erforderlich wäre. + +Hiernach kehren wir von Sonne, Mond und Sternen zu unserem Standpunkt +auf der rotierenden Erde zurück. Nach unserem Relativitätsglauben ist +jeder Standpunkt berechtigt, auch derjenige auf einem rotierenden +Bewegungssystem. Die Naturgesetze gelten für diesen Standpunkt ebenso +wie für jeden anderen, wenn wir sie nur hinreichend allgemeingültig +gefaßt haben. Ja, es entsteht die Frage: Was heißt überhaupt rotieren? +Hat es einen Sinn, von der rotierenden Erde zu reden, wenn Sonne und +Fixsterne nicht da Wären, an denen wir die Rotation der Erde doch erst +wahrnehmen können? Würde es nicht wieder einen absoluten Raum oder +einen Äther voraussetzen, gegen den die Drehung gedacht wird, wenn wir +von der Erddrehung schlechtweg, ohne Beziehung zum Sternhimmel, +sprechen wollten? Wie aber steht es dann mit den Folgen der Erddrehung, +den Fliehkräften, die wir bei der Drehung des Foucaultschen Pendels +oder die wir in der Abplattung der Erde beobachten? Wenn die Erddrehung +nur relativ zu den Gestirnen gedacht werden kann, nur durch +Vorhandensein äußerer Massen ermöglicht wird, so können auch die +Fliehkräfte der Erddrehung ihre Existenz nur dem Vorhandensein der +Gestirne verdanken, sie müssen als Wechselwirkungen zwischen diesen und +den Massen der Erde aufgefaßt werden. + +Bis zu diesem fundamentalen Schluß war Mach gekommen. Durch ihn hat er +Einstein den Weg bereitet. Mach stellte eine Frage und Einstein +beantwortete sie. Er beantwortete sie zugleich mit seiner Antwort auf +die Rätselfrage der Gravitation. Die Gravitation erwies sich als eine +Scheinkraft, de ihren Grund in der Raumstruktur hat. Auch die +Fliehkräfte sind Scheinkräfte oder Trägheitskräfte, die nach Newton +ihren Grund in dem absoluten Charakter der Rotation haben würden. D i e +s e n Grund können wir nicht gelten lassen. Aber stellen wir uns auf +den Standpunkt des gedrehten Bezugssystems. Wenn äußere Massen und +Geschehnisse vorhanden sind, die an der Drehung nicht teilnehmen, so +wandern diese gegen das Bezugssystem. Da sie ihrerseits eine Verzerrung +der Raumstruktur bedingen, de mit ihnen umläuft, erscheint die +Raumkrümmung vom gedrehten System aus anders als ohne Drehung. Diese +vom Standpunkt abhängige Änderung der Raumkrümmung bedingt +Scheinkräfte, die wir mit der Gravitation auf eine Stufe stellen +können. Diese Scheinkräfte sind die Fliehkräfte der Erdumdrehung. Wären +aber Massen und Geschehnisse außerhalb der Erde nicht vorhanden, so +könnten Fliehkräfte nicht auftreten; die im Raum isolierte Erde könnte +sich, physikalisch gesprochen, nicht drehen, das heißt: sie könnte +keine beobachtbaren Anzeichen ihrer Umdrehung verraten. + +Die Wesensgleichheit von Schwerkräften und Trägheitskräften, auf die +wir so geführt worden sind, findet ihre überzeugende Bestätigung in der +Gleichheit von schwerer und träger Masse. Vor hundert Jahren durch +Bessels Pendelbeobachtungen bewiesen, hat diese Identität zweier +scheinbar verschieden definierter Größen viel zu wenig Beachtung +gefunden. Erst jetzt sind uns die Augen geöffnet, sie richtig zu sehen +und sie in Zusammenhang zu bringen mit der Erneuerung unserer +Zeit-Raum-Auffassung und mit der Vertiefung aller Naturgesetze. -- + +Was würde nun unser Pfarrer von Ufenau zu dieser Wendung der Dinge +sagen, wenn sie ihm ein fahrender Schüler des zwanzigsten Jahrhunderts +anvertrauen würde? Würde er glauben, daß Herr Köpernick umsonst gewacht +hat? Sicherlich nicht. Der Wechsel des Standpunktes, den Kopernikus +vornahm, war der erste Schritt zur Wahrheit. Der Erdstandpunkt des +Ptolemäischen Systems mußte zuerst einmal aufgegeben und durch den +Sonnenstandpunkt des Kopernikanischen ersetzt werden. Indem Kopernikus +Sonne und Fixsterne stillstehen und die Erde wandern hieß, erhielt er +ein vereinfachtes Weltbild. Die Raumkrümmung wird von diesem Standpunkt +aus so gering wie möglich, der Raum erscheint so euklidisch, als es +nach Lage der Sache sein kann. Deshalb wird der Kopernikanische +Standpunkt für alle Zeiten dem rechnenden Astronomen und dem +beobachtenden Erdbewohner die besten Dienste leisten. Aber dieser +Standpunkt ist nicht mehr der einzig mögliche. Es ist zwar sehr +unpraktisch, aber nicht mehr falsch zu sagen: Die Erde ruht und die +Sonne wandert. -- Darüber hinaus sehen wir mit E i n st e i n den +wahren und endgültigen Standpunkt darin: alle Standpunkte souverän zu +umfassen, je nach der besonderen Aufgabe den Standpunkt besonders zu +wählen und zu der Überzeugung vorzudtingen: Die Natur ist, unabhängig +von dem wechselnden menschlichen Standpunkte, immer gleich groß und +gleich gesetzmäßig. + + + + +GEGENWARTSFRAGEN DES DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSLEBENS +VON UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. GOETZ BRIEFS (WÜRZBURG) + + Anmerkung: Der Aufsatz wurde Ende August 1921 abgeschlossen. G.B. + +Wer dieses Thema liest, möchte leicht geneigt sein, es umzuändern in: +die Fraglichkeit des deutschen Wirtschaftslebens. Und wer sich mit dem +vollen Ernst dieser Fraglichkeit erfüllt hat und sieht, welche +Zusammenhänge heute von der Wirtschaft in alle anderen deutschen Lebens +gebiete bis in die Kultur, in die politische Freiheit und das +Volksleben ausstrahlen, möchte wohl von der Fraglichkeit des deutschen +Lebens im ganzen sprechen und die düstersten Zukunftsbefürchtungen +daran anschließen. + +Zu jäh ist für uns alle dieser Titanensturz, den Volk und Reich seit +jenen tragischen Juli- und Augusttagen 1914 erlebt haben. Wir sind wie +betäubt vom Sturz. Wir wissen nur eines: Nicht am Boden liegen bleiben! +Sonst ist Ehre, Reich und Volk auf immer verloren. Wo standen wir? Wo +stehen wir? Das sind die festen Punkte, an denen wir Richtung nehmen, +um uns zunächst einmal mit der vollen Schwere dessen zu erfüllen, was +geschehen ist, und um an ihnen zu ermessen, was nun geschehen soll. + +Wo standen wir? Wir jüngere Generation kennen aus eigenem Erlebnis der +Vorkriegszeit nur das starke, stolze Reich, das im Inneren Einigung und +Blüte, nach außen schimmernde Wehr und hohe Geltung besaß. Die +Reibungen unseres innerpolitischen und wirtschaftlich-sozialen Lebens +schienen uns Wachstumsschmerzen, die keinen verschonen, aber mit denen +man fertig wird. Unsere Weltgeltung stand auf der Stärke einer +gewaltigen Kriegsmacht und einer Wirtschaftsmaschine von unerhörter +Leistungsfähigkeit, aber auch auf sozialen Kulturtaten und geistigen +Leistungen, die vorbildlich waren. Mit diesen Eindrücken von Macht, +Größe und Reichtum erfüllte sich unsere Seele. Wer von uns draußen war, +sah auf allen Meeren, in allen Ländern die Zeichen eines aufstrebenden, +gewerbefleißigen, "in allen Künsten und Hantierungen geschickten" +Volkes, das im Herzen Europas saß und von dort aus das Reich seines +wirtschaftlichen und technischen Unternehmungsgeistes aufbaute. Das war +das Deutschland der jüngsten Vorkriegsgeneration. Ihre Väter und +Großväter noch hatten das andere alte Deutschland gekannt, jenes +Deutschland, das weltpolitisch und weltwirtschaftlich nicht viel mehr +als ein geographischer Begriff, "Provinz" war; jenes Deutschland, +dessen Getreideausfuhr der Londoner Produktenbörse den Namen "Baltic" +gab, jenes bäuerlich-handwerkerliche Deutschland, das oft genug +auslaufende fremde Schiffe mit Sand als Ballast befrachten mußte, weil +ihm Waren zur Ausfuhr fehlten, jenes Deutschland, dessen Vorstellung +für Gladstone noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts verbunden war +mit Ärmlichkeit, Spießbürgertum, viel Militär und einem Bündel von +Kleinstaaten. Und greift man nun zurück auf die ersten Jahrzehnte des +19. Jahrhunderts, dann taucht man in die schwere Luft eines +kontinentalen bäuerlich-handwerkerlichen Volkstums ein, das politisch +nicht zu eigener Form kam, dessen Ohnmacht im Konzert der Völker mit +seiner Zersplitterung wetteiferte, und das im ganzen mehr Objekt als +Subjekt der hohen Politik war. Wenn in jenen Zeiten der deutsche Name +in fremden Landen respektvoll genannt wurde, dann war es um der Werte +des G e i s t e s willen. Wer von den großen Geistern unserer +klassischen Zeit war Prophet und Seher genug, vorauszuschauen, was aus +diesem Volke im Laufe zweier oder dreier knapper Generationen werden +sollte! Wer von ihnen h o f f t e auch nur auf jene Wendungen in +unserem Geschick, die wir als Volk bald nahmen? Dem Briten die See, dem +Franzosen das Land, dem Deutschen das Reich des Geistes: das war jene +nicht etwa schmerzvoll den Tatsachen entnommene, sondern aus innerstem +Bewußtsein gewertete Teilung der Erde, die Schiller in einem seiner +Gedichte vor Augen hat. Freilich: das konnte der Dichter wohl nicht +ahnen, daß das "Luftreich der Gedanken" der Boden sein werde, auf dem +der beispiellose deutsche Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19. +Jahrhunderts reifen würde. Man möge in dem trefflichen Buche: "Die +deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert" selbst nachlesen, was +Sombart mit großer Meisterschaft der Darstellung zu erzählen weiß von +dem Leben der dritten Generation vor uns, von ihrem Schaffen und Mühen, +von der Kleinheit -- und so schien uns wenigstens in den reichen Tagen +der Vorkriegszeit -- Ärmlichkeit dieses Lebens! "Eine an Dürftigkeit +grenzende Einfachheit" allerorten, in Wirtschaft und Staat, im privaten +Leben und in der Gesellschaft! + +Beengt, klein, dürftig blieb im ganzen genommen das Dasein unseres +Volkes bis in hohe Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Gewiß, es kamen +schon stärkere Impulse; im Westen und Süden regte sich industrielles +Leben, das in Friedrich List den genialen Anwalt seiner Bedeutung für +das ganze Volkstum fand. Aber der eigentliche Aufmarsch der deutschen +Wirtschaft zu jener Stärke und Geltung, in deren Bewußtsein wir +aufgewachsen sind, liegt sehr erheblich später. Noch in den sechziger +Jahren hatten wir eine stärkere Getreideausfuhr als Einfuhr; erst 1873 +verschwand der letzte Getreideausfuhrüberschuß, der Weizenüberschuß. Es +war damals noch nicht die Konkurrenzunfähigkeit der deutschen +Landwirtschaft die Ursache der Einfuhrüberschüsse bei Getreide, sondern +die verstärkte Hinwendung der Landwirtschaft zum Kartoffel-, +Futtermittel- und Rübenbau. Aber diese Wendung leitete eine +wirtschaftliche Umwälzung ein: an der Zuckerrübe wurde eine der ersten +und blühendsten deutschen Industrien wach, auf den Kartoffelböden des +Ostens entstand eine landwirtschaftliche Nebenindustrie (Brennereien +und Stärkefabriken) von großer Bedeutung. Im Westen und Süden +entwickelte sich im Anschluß an eine alte Tradition des Gewerbefleißes +eine Industrie der Textilien, des Eisens und der Kohle; sie hatte +jahrzehntelang einen schweren Stand gegenüber der hochentwickelten +englischen Industrie wie auch gegenüber dem französischen und +belgischen Wettbewerb, der teilweise mit Ausfuhrprämien arbeitete. +Aufschwungsimpulse von größter Bedeutung waren die Reichseinigung, die +Kriegsentschädigung von 1870 und das gehobene Nationalgefühl, das nach +dem glorreichen Kriege durch das deutsche Volk ging. Die Bevölkerung +wuchs von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in starken Rhythmen, das industrielle +Leben entfaltete sich, wenn auch über Wellentäler von Depressionen weg, +so doch im ganzen stark und nachhaltig; die Schutzzollgesetzgebung von +1879 kräftigte jenes Doppelfundament der deutschen Wirtschaft, +Industrie und Landwirtschaft gegen die vom Weltmarkt her drohenden +Erschütterungen. Wenn schon in den letzten Jahrzehnten des 19. +Jahrhunderts die deutsche Industrie- und Reichtumsentfaltung den +ausländischen Beobachtern so überraschend -- und gestehen wir auch das, +in mancher Hinsicht überstürzt und gewaltsam -- vorkam, so waren das +nur Auftakte zu jener ungeheuren, fast möchte man sagen: elementaren +Expansion, die mit dem neuen Jahrhundert einsetzte. + +Drei Züge kennzeichnen diesen neuen Abschnitt der deutschen +Wirtschaftsentfaltung: das Aufschießen von Riesenbetrieben, zumal in +der Kohlen- und Eisenindustrie, in der chemischen und +Elektrizitätsindustrie; weiterhin der Organisationsprozeß der deutschen +Wirtschaft in Gestalt von Betriebskombinationen, Kartellen, Syndikaten, +Interessengemeinschaften usw.; und drittens das Vordringen der +wissenschaftlich fundierten Industriewirtschaft, mit anderen Worten: +der wirtschaftlichen Auswertung naturwissenschaftlicher Forschungen +einerseits, andererseits des Aufbaues von Betrieben und Unternehmungen +nach Methoden, die wissenschaftlich auf ihre höchste Zweckmäßigkeit +ausgeklügelt sind. Während Großbetriebe, Kartelle und Truste Ergebnisse +von Tendenzen sind, die alle moderne Wirtschaft in fast allen Ländern +kennzeichnen, ist der Weg zur Wirtschaft über die Wissenschaft ein +spezifisch deutscher Weg gewesen; seine geistigen und sittlichen +Voraussetzungen lagen nur hier in der Stärke und Reinheit vor, die +nötig waren, ihn zu beschreiten und zu erobern. Jedenfalls ist das +Schrittmaß der deutschen Wirtschaftsentwicklung unter dem Antrieb jener +neuen Organisationsformen und Produktionsmethoden so schnell, daß in +seinem Gefolge schwerwiegende Erscheinungen im Inneren des deutschen +Volkskörpers auftauchten. Noch schwerer wiegende nach außen! + +Ein wachsendes Volk auf schmaler Rohstoffbasis! Was das wachsende Volk +an Nahrung und Kleidung brauchte, konnte der deutsche Boden allein +nicht hergeben; die Einfuhr mußte über eine Million Tonnen Brotgetreide +und für eine Milliarde Mark (Goldmark!) Futtermittel zuschießen; dazu +Milliardenbeiträge für Wolle, Baumwolle, Erze usw. Wir könnten diese +wenigen Angaben noch vermehren um den Hinweis auf den stark +anwachsenden Tonnengehalt unserer Handelsflotte, die Ausweise unserer +Banken, die deutsche Kapitalanlage im Auslande, unsere Steuerkraft und +vieles andere mehr. Doch genug der Zahlen! Sie sind heute schmerzvolle +Erinnerungen. Wer sich sinnfällig den Unterschied des damaligen und des +heutigen Deutschlands vergegenwärtigen will, überlege nur einen +Augenblick den Wert der Mark von heute gegenüber dem der alten +Goldmark. Der Unterschied redet eine Sprache, die auch der Einfältige +versteht. + +Und doch müssen wir noch einmal vom alten Deutschland reden, ehe wir +uns dem armen Deutschland unserer Tage zuwenden, und zwar nach einer +doppelten Hinsicht. Ein Volk, das keine Hoffnung mehr sieht und auf +Generationen hinaus Wüstenwanderung vor sich hat, gibt sich auf. Haben +wir dazu Anlaß? Wir hätten Anlaß dazu, wenn alle Wurzeln unserer +Vorkriegsblüte verdorrt wären. Stellen wir fest, welches diese Wurzeln +waren. 1. La n d als Grundlage von Ackerbau und Viehzucht, Land als +Fundstätte von Rohstoffen und Kraftquellen, Land als räumliche +Grundlage von Leben und Wohnen. Nach allen drei Richtungen haben wir +schmerzvollste Verluste erlitten, aber keine, die nicht mehr oder +minder zu mildern wären. 2. Die natürliche Lebenskraft der N a t i o n: +Arbeitskraft, Geschlechtsverteilung, Altersaufbau, Gesundheit. Auch +hier sind schwere Einbußen zu verbuchen, aber wiederum keine, die nicht +auszugleichen oder zu ertragen wären. 3. K a p i t a l k r a f t, +Vermögensmacht, Reichtum, "Wohlstand": hier liegt die gewaltigste +Einbuße vor, diejenige auch, die am wenigsten von heute auf morgen +ausgeglichen werden kann. Hier ist Anlaß, in der Tat von einer +hochgradigen Verarmung zu reden. Teils ist sie eine Folge der +Erschöpfung unserer Reichtumsquellen durch den Krieg, teils der +Ausplünderung und Ausraubung durch den Frieden. Wenn es heute ein +"Proletariervolk" im Sinne eines Volkes, das in Dürftigkeit von der +Hand in den Mund lebt, gibt, dann sind w i r e s. Wir sind das +Proletariervolk, auf das für Jahrzehnte hinaus ungeheuerliche +Verpflichtungen gelegt sind. Wir sind ein verarmtes, ausgeraubtes Volk, +das noch von seiner Hände Arbeit und von seiner Armut Fabelsummen in +Gold ausgepreßt bekommt. Hier liegt der Punkt, wo die Wirtschaftslage +in das allgemeine Leben des ganzen Volkes auf Jahrzehnte hinaus +empfindlich einzuschneiden droht. Alle Kultur, alle Zivilisation, alle +Bildung des Geistes und des Herzens, alle soziale Fürsorge, alle gute +Verwaltung, alle Schaffung von Recht und Sicherheit hängt mit tausend +Fäden an der Wirtschaftsblüte; sie entscheidet über das Leben +ungeborener Geschlechter, und vor allem darüber, ob der junge Aufwuchs +der Nation an Leib und Seele verkrüppelt und verwildert aufwächst oder +nicht; sie entscheidet darüber, ob Mitteleuropa zurücksinkt in die +stumpfe Dumpfheit und Stickigkeit einer geistig und physisch elenden +Volksmasse, und weiterhin darüber, ob sich damit die Nachtschatten über +ganz Europa senken. Denn man kann nicht das Mittelstück eines Kultur- +und Zivilisationszusammenhanges mit frevlen Händen herausbrechen und +sich dabei einbilden, das könnte den Anschlußstücken in Ost und West +von Vorteil sein. Die wirtschaftliche Erschöpfung bei gleichzeitiger +Überbürdung mit Verpflichtungen ist der Boden der schlimmsten +Gegenwartsbefürchtungen; an diesem Punkte kann a l l e s fraglich +werden. Ob die Befürchtungen sich verwirklichen, hängt ab von der +Freiheit, die man unserer Arbeitskraft, unserer Unternehmungslust und +unserem Erfindergeist im fremden Lande gewähren wird, und hängt nicht +zuletzt ab von der tätigen Hilfe in Gestalt von Krediten, +Rohstoffvorschüssen und vor allem Verpflichtungserleichterungen, die +uns das Ausland gewährt 4. S i t t l i c h e E i g e n s c h a f t e n: +Arbeitswilligkeit, Arbeitsfreude, Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit, +Genügsamkeit, Wille zum Vorwärtsstreben, Mut zum Leben. Wer will +behaupten, daß diese Eigenschaften, die gewiß zeitweise getrübt und in +manchen Einzelgruppen heute noch geschwächt sind, im ganzen +unerträglich gelitten hätten? Nur interessierte Böswilligkeit oder +Unverstand kann derartiges behaupten. Festzustellen ist wohl, daß das +Maß der Leistungen nicht so stürmisch und ungezügelt ist wie früher. +Aber das hat seine besonderen Gründe in schlechter Lebenshaltung, +wirtschaftlichen Beengungen durch den Friedensvertrag und seine Folgen +und ist übrigens zu einem Teil eine verständliche Reaktionserscheinung +auf de ungeheueren Anforderungen der letztem sieben Jahre. 5. D e r +d e u t s c h e S t a a t. Sicher war das alte Staatsgefüge mit seiner +inneren Ordnung, seiner Stärke und Macht nach außen ein gewichtiger +Hebel wirtschaftlichen Aufstiegs. Zweifellos hat die allgemeine +Heerespflicht Eigenschaften geweckt und gefördert, Sachverhalte +geschaffen, die der Wirtschaft zugute kamen. Was ein starker, politisch +unabhängiger Kultur- und Machtstaat der Wirtschaft zu bieten vermag, +weiß kein Volk besser als das deutsche. Wir müssen uns mit dem Gedanken +vertraut machen, daß unser Staat von heute so schwer nach außen und +innen zu tragen hat, so überbürdet ist mit Aufgaben und toten Lasten, +daß ihm die Wirtschaft eher helfen muß, als er der Wirtschaft helfen +kann. Das sind Folgen des Krieges und des Friedens, Folgen aber auch +der gerade in Deutschland so weit verbreiteten Neigung, in allen Nöten +des Lebens nach dem Staate zu rufen. Und doch ist es nicht so, wie +mancher wohl gelegentlich denken möchte, als ob der Staat von heute nur +eine tote Last unserer Wirtschaft sei. Auch heute lebt die Wirtschaft +auf dem Boden des staatlich gesicherten Rechtes und der staatlich +gewährleisteten Ordnung. Und vor jedem vorschnellen Urteil sollte man +bedenken: Das Staatsgefüge in Deutschland hat eine ungeheuere +Anspannung und Probe ausgehalten, ohne unterzugehen! Gewiß, es hat sich +neue Formen geschaffen; es ringt in manchen Hinsichten noch mit sich +selbst und den neuen Verhältnissen -- aber das Wesentliche ist +gesichert: im neuen Staate sind die Unterlagen des Wirtschaftslebens +und die Voraussetzungen eines wirtschaftlichen Aufbaues gegeben. Es ist +Aufgabe des Staates, auf seinem Gebiete der Wirtschaft aufzuhelfen; es +ist Aufgabe der Wirtschaft, mit ihren Mitteln den Staat zu stützen. Die +Vorstellung, es könne eines von beiden o h ne e das andere gedeihen, +ist eine gefährliche Illusion. + +Das ist der e i n e Blick auf das alte Reich, ein Blick, der uns +vergegenwärtigen sollte, wieviel noch von den Pfeilern der alten Macht +und Größe steht und Tragkraft besitzt für den Neubau. Und nun der +andere Blick auf das alte Reich: wieviel von den Nöten, Sorgen und +Schwierigkeiten unserer Gegenwart lagen in ihm schon mit zugrunde! Aus +der Tiefe seiner Armut könnte es einem kommenden Geschlecht einmal +scheinen, als ob in den glanzvollen Jahrzehnten des Kaiserreiches eitel +Friede und Wohlfahrt in Deutschland geherrscht habe. Und ein +Geschlecht, das in seinen Tagen die Fehden blutdürstiger Matabelestämme +auf europäischem, politisch zerkleinertem Boden zu erleben glauben +wird, könnte vielleicht einmal denken, der europäische Friede vor dem +Kriege sei eitel Völkerfreundschaft gewesen. Solche Auffassungen haben +mit der Wahrheit sehr wenig gemein. Das von jeher an Gegensätzen und +Spannungen so reiche deutsche Leben hat auch unter dem zweiten +Kaiserreiche den inneren Frieden nicht gefunden. Gewiß trat der alte +Bruch zwischen Nord und Süd für das Bewußtsein der jungen Generationen +als eine praktisch erledigte Angelegenheit, deren gefühlsmäßige +Restbestände allmählich ganz erlöschen werden, zurück; auch war nach +dem Einschwenken in der Kulturkampfpolitik der konfessionelle Gegensatz +kein auseinanderreißendes Element mehr, soviel Kraft er im übrigen noch +verschlingen mochte. Aber dafür ging der Riß der w i r t s c h a f t +l i c h - s o z i a l e n G e g e n s ä t z e in Gestalt des +Klassenkampfes durch unser Volk. Wie die moderne Wirtschaftsverfassung, +zumal in ihrer hochgesteigerten deutschen Gestalt, Besitz und Verfügung +über die Produktionsmittel von der Arbeit an ihnen trennt, so +schichteten sich auch politisch und sozial die Gruppen. Hier Besitz und +wirtschaftliche Machtverfügung, dort Nichtbesitz und ausführende +Arbeit; hier stärkste soziale Geltung mit erhöhten politischen Rechten +und Ansprüchen, dort tatsächliche soziale Mindergeltung und politische +Minderberechtigung; hier die relativ dünnen Schichten, die mit Stolz +Besitz und Bildung berufen konnten, dort die ungeheueren Massenheere +der Arbeiterschaft, besitzlos, hungrig nach Bildung und Wissen. Das war +der Sachverhalt, der den Ausgangspunkt gefährlicher innerer Spannungen +abgab, der den Trennungsstrich zog durch das Volk, und der, so schien +es manchmal, zwei feindliche Völker auf einem Boden und in einem +Staatsverbande zusammenhielt. Wenn schon festzustellen ist, daß der +schärfste Radikalismus von beiden Seiten sich allmählich abstumpfte, +und wenn schon zugegeben werden muß, daß die staatliche Sozialpolitik +sehr viel zur Milderung der Konflikte tat, so traf doch noch der +plötzliche Kriegsausbruch in eine Spannung der Gegensätze, die nicht +unbedingte Sicherheit gab, daß die Zusammenfassung aller Kräfte nach +außen restlos gewährleistet, der Burgfriede nach innen gewahrt sei. -- +Und noch eine Frage der Vorkriegszeit ragt in unsere Gegenwart hinein, +doppelt und dreifach verschärft. Es ist Tatsache, daß unser +Volkswachstum, getragen von dem gigantischen Aufschwung unserer +Wirtschaft, mit der Folge der Überflügelung aller übrigen europäischen +Wirtschaften politisch unsere Lage erschwerte. Gegnerschaften, die das +alte Deutschland von vor 1870 nie herausgefordert hatte, forderte das +hochindustriell entwickelte Deutschland heraus. Verständliche +Besorgnis, Machtgier und Racheinstinkte schlugen vor dem Bilde des +wirtschaftlich so gewaltig sich reckenden Deutschland zur verzehrenden +Flamme empor und führten Staaten zu feindlichem Bund zusammen, deren +Lebensinteressen an sich gegeneinanderstanden. Es wird sich zeigen, wie +die Wirtschaftslage auf die politische Konstellation heute unheilvoll +nachwirkt, teils infolge des Friedens und des Londoner Ultimatums, +teils als Folge unserer trotz Kriegsverlust äußerlich scheinbar +intakten Wirtschaft. + +Man hat gesagt, der Versailler Vertrag sei die Urkunde des neuen +Europas. Unser Volk weiß und fühlt es Tag für Tag, daß er allerdings +die haß- und infamiegesättigte Urkunde s e i n e s Lebens ist. Seine +Einzelheiten wollen wir nicht betrachten; aber was er im gröbsten für +uns bedeutet, bedarf der Skizzierung. Er raubt uns ganze Länder und +Provinzen. 6,7 Millionen Hektar Fläche schneidet er in Ost und West aus +dem deutschen Gebietskörper heraus. Er nimmt uns alle Kolonien. Fast 6 +Millionen Menschen, von denen die Mehrzahl Deutsche sind und deutsch +fühlen, spricht er mit oder ohne Abstimmung fremden Völkern zu. +Außerdem werden 32 000 Quadratkilometer unseres Staatsgebietes +langjähriger Besetzung und feindlichen Eingriffen unterworfen, die +wiederum auf 6,5 Millionen Menschen ihr Zwangsjoch legen. Suchen wir +uns zu vergegenwärtigen, was nur diese wenigen Bestimmungen des +Friedensvertrages wirtschaftlich besagen. Eine Regierungsdenkschrift +hat berechnet, daß ohne Berücksichtigung der Abstimmungsgebiete 14,9% +unserer Ackerfläche durch die Abtretungen verloren gehen. Naturgemäß +bedeutet das stärkste Einbuße an landwirtschaftlichen Erträgen, um so +mehr, als die verlorenen Ostgebiete geradezu die Korn- und +Kartoffelkammern des Reiches darstellten. Man hat berechnet, daß 19% +der Roggenernte, je 20% der Gersten- und Kartoffelernte und teilweise +noch höhere Prozentzahlen bei anderen Produkten mit der Abtretung jener +Gebiete unserer Volksernährung verloren gegangen sind. Also rund ein +Fünftel der deutschen Ernährungsgrundlage! Dazu der Verlust an unserem +stark verminderten Viehstapel. Diese Einbußen verstärken sich dadurch, +daß in jenen abgetretenen Gebieten nur 13,3% der deutschen Bevölkerung +wohnten. 3,6 Millionen Menschen durchschnittlich könnten von den Ü b e r +s c h ü s s e n der verlorenen Provinzen ernährt werden, wenn man +jene Mehl- und Kartoffelrationen zugrunde legt, die 1920 zugeteilt +wurden. Mit anderen Worten: Die Schwierigkeit der deutschen +Volkswirtschaft, ihre Menschen zu ernähren, ist heute, zur Zeit ihrer +allgemeinen Verarmung und Belastung, weitaus größer als in jenen +reichen Tagen der Vorkriegszeit! Um so mehr, als durch den Raubbau +während des Krieges die Erträge der Böden und das Schlachtgewicht +unserer Viehstapel erschreckend zurückgegangen sind. Problem: bei +verminderter Fläche und ab gewirtschafteten Böden die Bedarfsversorgung +einer nicht im gleichen Umfange zurückgegangenen Bevölkerung zu +gewährleisten. Und wir müssen noch hinzufügen: den Bedarf einer +Bevölkerung, die teilweise entkräftet ist durch die mangelnde +Ernährung, die 1,7 Millionen ihrer kräftigsten Männer verloren bat, die +1,5 Millionen ganz oder teilweise erwerbsunfähiger Kriegsbeschädigter +zu versorgen hat, und deren Kaufkraft für die Erzeugnisse des Auslandes +ins Bodenlose zusammengefallen ist. Das ist eine Bergeslast, die der +Friedensvertrag auf uns wälzte; unsere landwirtschaftliche +Eigenversorgung ist völlig unzureichend; an ihr und an unserem +verbliebenen Wohlstand gemessen, sind wir ein übervölkertes Land. + +Mancher mag geneigt sein, das nicht so tragisch zu nehmen. Er erinnert +an die wachsenden Millionen der Vorkriegszeit, für die ja auch die +Eigenversorgung des deutschen Bodens nicht auslangte, und tröstet sich +damit, unsere I n d u s t r i e müsse den Überschuß an Menschen +ernähren. Doch so einfach liegen die Dinge nicht mehr. Zunächst ist die +Quote der heute auf die Industrie angewiesenen Menschen verhältnismäßig +größer als damals. Und weiterhin kann die Industrie die Menschen nur +dann ernähren, wenn sie 1. Ausfuhrmöglichkeiten hat, die auf G e g e n +l e i s t u n g e n beruhen, und 2. wenn ihre eigene Kraft nicht +gelähmt ist. Zum ersten Punkt sei in diesem Zusammenhange nur kurz +bemerken, daß die geschmälerten Ausfuhrmöglichkeiten der deutschen +Industrie von heute im größten Umfange o h n e Gegenleistung sind. Es +sind großenteils einseitige Leistungen, die direkt oder indirekt auf +Konto der Reparation laufen und in diesem Umfange tote Lasten unserer +Wirtschaft darstellen, für die in Deutschland zwar Millionen fronden, +von denen aber keiner leben kann. Davon abgesehen aber hat der +Friedensvertrag auch die Grundlagen unserer Industrie erheblich +geschmälert. Schätzungsweise ein Viertel unserer deutschen +Kaliförderung ging mit Elsaß-Lothringen verloren; wichtiger als der +Förderverlust ist der Verlust der Monopolstellung, die Deutschland auf +dem Kalimarkte hatte. 79% unserer vor dem Kriege geförderten Eisenerze +-- das Rückgrat unserer Industrie und jeden industriellen Lebens -- +sind durch den Verlust Lothringens und den Zollausschluß Luxemburgs +dahin; ungefähr 9% unserer Kohlenförderung ist, wenigstens für 15 +Jahre, durch die Abtrennung des Saargebietes uns entzogen; ungefähr +zwei Fünftel unserer Kohlengesamtförderung wäre verloren, wenn +Oberschlesien an Polen fällt[1]. + + [1] Das ist inzwischen geschehen, indem der Völkerbund gerade + die industriereichen Teile Oberschlesiens Polen zusprach. + +Das Ruhr-, Wurm- und mitteldeutsche Kohlengebiet ist alles, was uns +verbleibt. Aber auch deren Förderung steht nicht zu unserer freien +Verfügung. Der Friedensvertrag belastet uns auf in Jahre mit +Lieferungen an die Entente, die sich auf über 40 Millionen Tonnen +stellen. Das Spaaer Abkommen hat dann diese Phantasieforderung +ermäßigt. Da uns auch die freie Verfügung über die oberschlesische +Kohle seit der Besetzung des Landes genommen ist, ruht die schwere Last +der Versorgung auf dem Ruhrrevier. Diesem Anfordern war weder die alte +Belegschaft gewachsen, noch langten die Förder- und +Verkehrseinrichtungen. Die Wirkung war eine doppelte: Es mußten die +Belegschaften vermehrt und die Verkehrsmöglichkeiten gesteigert werden +-- was nur mit ungeheueren Opfern seitens des Reiches zu machen war +(Wohnungsbauten, Löhne, Lebensmittelzuschüsse) --, und es mußten +deutsche Betriebe in ihrem Kohlenverbrauche sich beschränken, oft genug +gar die Arbeiter entlassen und stillliegen, weil die +Zwangslieferungskohle vorgeht. Das waren zeitweise geradezu +katastrophale Zustände, die an das Mark unseres industriellen Lebens +rührten. Heute ist in der Tat die Rohstoffdecke zu knapp geworden, an +Kohle, an Zinkerzen, an Blei usw. Heute hat der deutsche Osten noch +weniger als bisher die Möglichkeit, seine Menschen festzuhalten, +während das Ruhrrevier schlimmer als je bisher mit Anforderungen für +die deutsche Wirtschaft aller Provinzen belastet und für deren +Erfüllung mit Menschen unerwünscht dicht belegt werden muß. Das sind +Verschiebungen, die unsere industrielle Basis erschüttern, uns +außerstande setzen, unsere Menschen selbst zu ernähren, und die +natürlich uns vorher zum Aussetzen unserer Vertragsleistungen an die +Entente zwingen -- mit der Wirkung umübersehbarer politischer Folgen! + +Das sind nicht die einzigen Beschneidungen unseres Daseins durch den +Friedensvertrag. Der Vertrag raubt das deutsche Volk mit einer +Gründlichkeit und Schamlosigkeit nach allen Richtungen hin aus, in der +sich Haß, Brutalität und Pharisäertum zu einer widerlichen Fratze +verbinden. Kein Guthaben im Auslande, kein Schiffspark, kein Kabel, +keine Ansprüche, Rechte und Privilegien, keine Patente und keine +Gebrauchsmuster werden übersehen. Und um die ganze Schamlosigkeit +dieses Raubzuges wird der Pharisäermantel der vergeltenden +Gerechtigkeit gelegt. Alle gerechte Entrüstung ändert nichts daran, daß +die wertvollen Posten unserer Wirtschaft in Gestalt von +wirtschaftlichem, militärischem und maritimem Rüstzeug allesamt +verloren sind, und daß die Sieger sich auf deutschem Boden und in der +deutschen Wirtschaft Rechte zwangsmäßig usurpiert haben, die die an +sich schon schmale Basis des deutschen Bodens und der deutschen +Hoheitsrechte unerhört verengen. In richtiger Erkenntnis der Sachlage +schrieb die englische Zeitschrift "Nation" vom 22. März 1919: "Es gibt +Leute in und außer Europa, die, wenn sie vom Frieden sprechen, +Diebstahl meinen. Sie möchten Deutschland seine Bergwerke stehlen, +seine Kabel, Kanäle, Kohlen, Land, Schiffe, Kredit, Industrien, +Patente, Handelsgeheimnisse; sie möchten seine Grenzsteine verschieben +und seine offene Brust allen Feinden an allen Ecken und Enden +preisgeben. Das wäre das Ende von Europas Zivilisation." + +Gerade die letzterwähnten Verluste müssen den Versuch, durch verstärkte +industrielle Tätigkeit wiederum zu Atem und Leben zu kommen, aufs +stärkste gefährden. Fünf Jahre war uns der Weltmarkt entfremdet. In +dieser Zeit reifte einerseits der amerikanische und japanische Weizen +im Welthandel, industrialisierten sich andererseits manche +Auslandsmärkte, um für jetzt und in Zukunft unabhängig zu sein von +Versorgungsstörungen auf Grund europäischer Verwicklungen. Typische +Beispiele: Holland und Dänemark legen sich Eisenhütten zu, Schweden +baut seine Hütten- und Stahlwerke aus, Amerika entwickelt eine große +Farbenindustrie, Argentinien und Brasilien bemühen sich um industrielle +Selbstversorgung auf wichtigen Gebieten. Während des Krieges wurde +gerade von England eine intensive Zerstörung aller deutschen +Überseeinteressen vorgenommen, bis zur Vernichtung der Geschäftsbücher, +der Aufstellung schwarzer Listen, des geistigen Diebstahls an deutschen +Patenten und Geschäftsmethoden und vor allem bis zur Verzerrung des +deutschen Antlitzes vor der Welt zur Fratze, mittels einer Lüge und +Verleumdung zu systematischen Kampfmitteln erhebenden beispiellosen +Hetzpropaganda. Wer will ermessen, welche Barren gerade der Raub des +deutschen guten Namens dem deutschen Handel und Gewerbefleiß in der +ganzen Welt bereiten muß? Wer will auf Milliarden aufzählen, was uns +die raffinierte Bearbeitung der öffentlichen Meinung in aller Herren +Länder durch das feindliche Kabelmonopol gekostet hat und noch kostet? +Dieser Verlust des deutschen guten Namens vor aller Welt gehört sicher +mit zu den schlimmsten Kriegsverlusten. Es wird unserer zähesten und +unermüdlichsten Arbeit bedürfen, allmählich durch diese Berge von +Verleumdung, Haß und Vorurteil zu dringen, die sich schlimmer als eine +Blockade um uns legen und uns das moralische Recht und das +wirtschaftliche Leben unerträglich schmälern. Hier hilft uns die doch +zu offensichtige Brutalität und Ungerechtigkeit des Friedensvertrages, +hier hilft uns das allmähliche Wachwerden des Anstands- und +Wahrheitsempfindens in allen edlen Geistern aller Nationen. "Von nun an +müssen wir uns der Aufgabe widmen, diesen Schandfleck des Versailler +Vertrages von dem guten Namen Englands auszulöschen." ("Daily Herald", +10. Mai 1919.) + +Bis zum 1. Mai 1921 sollte nach Bestimmung des Friedensvertrages die +sogenannte Wiederherstellungssumme, die aber in der Art, wie sie +berechnet wird, tatsächlich eine Kriegsentschädigung darstellt, +festgelegt werden. Es ist bekannt, daß diese Summe durch das Londoner +Ultimatum diktiert und die deutsche Unterschrift unter sie erpreßt +wurde. Gefordert wurde vom deutschen Volke ein Gesamtbetrag von 132 +Milliarden Goldmark, abzahlbar in jährlichen Raten von 2 Milliarden, +zuzüglich 26% des Wertes unserer Ausfuhr in Gold, dazu Leistungen auf +Grund von Ausgleichsforderungen und Besatzungskosten, deren Höhe nicht +festgelegt ist, aber in die Goldmilliarden geht. Die furchtbare Last +dieser jährlichen Zahlungen erstreckt sich nach den festgesetzten +Verzinsungs- und Tilgungsgrundsätzen auf weit mehr als ein +Menschenalter. Diese wenigen Daten umschließen die Schuldknechtschaft +eines ganzen Volkes und sind von einer Härte, wie sie in aller +Geschichte unerhört ist. + +An der Wiege solcher Friedensbedingungen hat weder die politische noch +die wirtschaftliche Vernunft gestanden. Das haben die leider so wenigen +Einsichtigen in allen Ländern deutlich ausgesprochen. Auf den inneren +Widersinn dieser Entschädigungsforderungen wies vor allem die englische +Zeitschrift "The Nation" hin, die das Problem ganz richtig faßte: +entweder zahlt Deutschland jene Unsummen, dann nur, indem es uns die +Ausfuhrmärkte ruiniert und uns wirtschaftlich aufs äußerste bedrängt; +oder wir unterbinden ihm unsere Märkte, dann kann es nicht zahlen. +Durchaus zutreffend! Es wird ja niemand im Ernst glauben, aus dem +deutschen Boden selbst ließen sich jene Summen herausstampfen, sie sind +eben nur beschaffbar, wenn die deutsche Arbeit für fremde Völker sie +erst hereinholt und zur Verfügung stellt. Aber auch das ist richtig: +Werden de Forderungen nicht erfüllt, dann drohen politische +Zwangsmittel in Gestalt von Neubesetzungen, Sanktionen, die unserer +politischen Selbständigkeit den letzten Rest geben, die eine dauernde +Gefährdung des europäischen Friedens sind, und die mit dem Zerbruch des +Reiches enden könnten. Der Reichskanzler Wirth hat das zutreffend +formuliert: "Wir kämpfen mit unserer Arbeit um unsere Freiheit als Volk +und Staat." + + * * + * + +Das ist der furchtbare äußere Rahmen unseres Daseins. Aus ihm heben +sich deutlich die Probleme heraus: Wie heilen wir im Lande selbst die +furchtbaren Wunden des Krieges? Wie bringen wir die Mittel auf zur +Erfüllung der ungeheueren Verpflichtungen nach außen? Welche +wirtschaftlichen und sozialen Weiterwirkungen schließen sich an die +Erfüllung dieser Aufgaben bzw. an den Versuch ihrer Erfüllung an? + +Die Not im Lande selbst ist sehr vielgestaltig. Sie äußert sich als +Gefährdung der physischen Volkskraft und Volksgesundheit und tritt im +einzelnen in Erscheinung als mangelnde Ernährung weiter Kreise, Mangel +an Kleidung und Wäsche, fehlende Wohnungen, ungenügende +Wohnungseinrichtungen. Ein Ausdruck dieser Not sind die +Sterblichkeitsstatistiken und die Ausweise der Krankenkassen. Die +Ursachen dieser Not sind die Erschöpfung unseres Wohlstandes durch den +Krieg, die starke Herunterwirtschaftung unseres Sachkapitals, die +Aushungerung unserer Böden, die Aufzehrung der privaten Vorräte und +Ausstattungen, die Leistungen an die Entente auf Grund von +Waffenstillstand und Friedensvertrag, der Aufkaufshunger für alle +möglichen, teilweise sehr gut entbehrlichen Auslandsgüter nach dem +Kriege. Diese Aufzählung wäre ungenau, wenn sie an jenen Schädigungen +des Volksvermögens vorbeiginge, die mit der Gebietsbesetzung, mit +Streiks und Aussperrungen, mit böswilliger Wertvernichtung und Revolten +zusammenhängen. Unleugbar haben auch einige Bestimmungen des neuen +Arbeitsrechtes Schädigungen mit sich gebracht. Im großen Ganzen hat die +Volkswirtschaft noch nicht jene Umschichtung der Berufe und +Rückschichtung der Bevölkerung weg von den Städten erreicht, die der +neuen Wirtschaftslage entsprechen: das sind weitere Quellen +vielgestaltiger Not. Im weiteren darf nicht übersehen werden, daß die +Auflösung des alten Heeres, von Teilen der alten Bürokratie, die +Rückwanderung Deutscher aus verlorenen Gebieten und die Vernichtung +vieler Rentner-, Mittelstands- und Kleinexistenzen des bürgerlichen +Lebens durch Krieg und Kriegsfolgen die Schleusen der Not in weiteren +Schichten geöffnet haben. Eine Denkschrift der Regierung, die für die +Londoner Verhandlungen fertiggestellt wurde, beziffert das deutsche +Volkseinkommen gegenwärtig auf 234 Milliarden Papiermark == ungefähr +22-23 Milliarden Goldmark. Vor dem Krieg berechnete man das +Volkseinkommen auf 43 Milliarden Goldmark! Daraus ergibt sich die +gewaltige Senkung des Realeinkommens des Volkes -- und von diesem so +geminderten Realeinkommen sollen die Leistungen an die Entente und die +Steuern für Reich, Länder und Gemeinden aufgebracht werden! Hier steht +die elementare Bedingung unseres Daseins als Volk und Staat vor uns: +wir müssen a l l e Produktivkräfte aufs ä u ß e r s t e anspannen, um +das physische Leben und die politische Freiheit zu erhalten. Unsere +Existenz steht auf der Schneide der äußersten Wirtschaftsergiebigkeit. +Daraus die Forderung, alle sachlichen und geistigen Voraussetzungen +gesteigerter Produktivität anzuspannen, allen überflüssigen Verbrauch +zu meiden. + +Was brauchen wir zur Steigerung der Produktion? Zunächst natürlich +Rohstoffe. Als deren Quelle kommen in Betracht die natürlichen +Rohstofflagerstätten und die Landwirtschaft. Erstere sind die Kohlen- +und Erzadern, die Gesteine und sonstige industriell verwertbaren Güter, +die das Bodeninnere birgt. Ihnen gegenüber -- als den durch Abbau +erschöpfbaren Gütern -- stehen die landwirtschaftlich in regelmäßiger +Wiederkehr erzeugten Güter. Nach beiden Richtungen hin haben wir +beträchtliche Einbußen erlitten durch Gebietsverluste, Raubbau und +Belastung mit Abgaben. + +Mit dem Rest muß umso schonender umgegangen werden; denn die +Bodenschätze sind entweder überhaupt nicht künstlich vermehrbar, oder +nur durch Mehraufwand von Arbeit und Kapital. Abbau und Anbau stehen +außerdem auf der Spitze der Rentabilität. Wenn wir schon vor dem Kriege +eine starke Einfuhr von Erzen, Kohle und Ölen hatten, von +Nahrungsmitteln, Futtermitteln, Textilien und Rohstoffen aller Art, so +können wir sie heute noch viel weniger entbehren. Wir brauchen die +Einfuhr, weil das Ausland vielfach ergiebigere Fundstätten und Böden +hat und daher billiger liefert. Wir brauchen sie, weil sie Bestandteil +neuer Ausfuhr werden, nachdem sie durch deutsche Arbeit zu fertigen +Produkten veredelt sind. Im Grade der Einfuhr verschulden wir uns; aber +diese Verschuldung ist so lange unbedenklich, als ihr deutsche +Gegenleistungen in Gestalt rentabler Ausfuhr gegenüberstehen. +Unvermeidlich ist, daß große Einfuhrposten für de Deckung des +notwendigen, seit dem Kriege so stark vernachlässigten Eigenbedarfs des +deutschen Volkes hereinkommen. Das bedeutet zunächst eine Belastung der +Zahlungsbilanz oder eine Verschuldung durch Kredite; in jedem Falle +müssen auch diese Beträge durch Ausfuhr oder durch andere geldwerte +Gegenleistungen gedeckt werden, entweder aus laufenden +Wirtschaftserträgen oder aus der Substanz des Volksvermögens. Wenn +einsichtige Wirtschaftspolitiker schon vor dem Kriege den starken +Materialverbrauch beklagten, die Zerstörung lebendiger menschlicher +Arbeit durch ein unwirtschaftliches Vergeuden von Rohstoffen, so gilt +das heute natürlich zehnfach. Rohstoffe sind kristallisierte +Arbeitsstunden, Arbeit ist unser wertvollstes Kapital. Fahrlässigkeit, +Böswilligkeit und Unverstand zerstören nach einem Worte Friedrich +Naumanns mehr als Feuersbrunst und Überschwemmung. Dieses Gebot +wirtschaftlichster Rohstoffverwertung hat zwei Seiten: das Haushalten +mit dem Material der M e n g e und der G ü t e nach. Wer verwaltet +unsere Rohstoffe? Drei große Stoffverbraucher kennen wir: die Betriebe +in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, die Haushaltungen und die +öffentlichen Verbände. Bezüglich der Haushaltungen ist ohne weiteres +klar: vom Geschick vorwiegend der deutschen Hausfrau hängt es ab, wie +mit den Verbrauchsgütern gewirtschaftet wird. Das ist teilweise eine +Erziehungsfrage. Wie viele Hausfrauen haben sich je über zweckmäßige +Stoffverwendung Gedanken gemacht? Tausende von Frauen, nicht nur aus +Arbeiterkreisen, verwirtschaften ohne Ahnung von den Folgen ihres +Ungeschickes Milliardenwerte. Das ist teilweise auch eine Folge der +Frauenberufsarbeit. Wer die Verhältnisse in den Arbeiterfamilien der +Industriereviere kennt, weiß, daß die erwerbstätige Frau die kürzesten +Methoden der Haushaltsführung vorzieht und vielfach gerade wegen ihrer +Berufstätigkeit vorziehen muß. Neben den Schäden, die die +Frauenberufsarbeit für das Familienleben und die Erziehung mit sich +bringt, liegen in der unwirtschaftlichen Stoffverwendung bedenkliche +volkswirtschaftliche Seiten der Frauenberufsarbeit. Was die +Materialverwertung der öffentlichen Verbände anlangt, so hat die +Kriegszeit dort in erschreckendem Maße gezeigt, wie wenig hier den +Anforderungen einer vernünftigen Bewirtschaftung Rechnung getragen +wurde. Die bureaumäßige Verwaltung von öffentlichen Betrieben und +Verbrauchseinrichtungen hat eben nicht jene Motive zum sparsamen +Haushalten und jene scharfen Kontrollmöglichkeiten, die die +Privatunternehmung hat. Dem rein verwaltungsmäßig gerichteten Sinn +fehlt vielfach die Einsicht in die wirtschaftliche Bedeutung +sparsamster Materialverwertung. Aber selbst in der privaten +Unternehmung sind nicht ohne weiteres die Garantien für sparsame und +zweckmäßige Rohstoffverwendung gegeben. Zwar drängt das Interesse der +Unternehmung am möglichst hohen Geldertrag auf äußerste Zweckmäßigkeit +und Ergiebigkeit in der Verwendung aller Produktionselemente; aber hier +ist es wiederum eine Frage der Erziehung und der Einsicht der +Arbeitskräfte, ob sie mit den ihnen anvertrauten Wirtschaftsgütern +möglichst schonend umgehen. Keine Aufsicht kann das eigene +Mitbesorgtsein der Arbeiter ersetzen. Dieses Mitbesorgtsein zu wecken +und zu erhalten, ist großenteils eine Sache der Erziehung, des +Verantwortungs- und Gemeingefühls und der Einsicht. Hier mündet die +Aufgabe des Rohstoffschutzes unmittelbar in ethische und soziale +Voraussetzungen. Die zweckmäßige Rohstoffverwendung in der privaten +Unternehmung ist gleichzeitig eine Frage der Betriebsgröße, der +Betriebsorganisation und der Produktionsweise. Die objektiv stärkste +Möglichkeit wirtschaftlicher Produktion hat der kombinierte +Großbetrieb, der sich in der Produktion einstellt auf normalisierte und +typisierte Erzeugnisse. Wieviel nach dieser Richtung in Deutschland +noch fehlt, beweisen die Klagen führender Industrieller und zünftiger +Volkswirte. + +Rohstoffökonomie ist also Haushalten mit den Unterlagen unseres +Daseins. Neben der Verfügung unserer Sachgüter ist die wichtigste +dieser Unterlagen die l e b e n d i g e A r b e i t s k r a f t. Das +volkswirtschaftliche Ziel hat Rathenau in Anbetracht unserer Lage +einmal dahin zusammengefaßt: "Es ist nötig, ...den Wirkungsgrad +menschlicher Arbeit so zu steigern, daß eine verdoppelte Produktion die +Belastung zu tragen vermag und dennoch ihre Hilfskräfte besser entlohnt +und versorgt werden." Das ist durchaus richtig. Wenn das Kapital, mit +dem wir neu anfangen, im wesentlichen unsere Arbeit ist, dann muß mit +dieser Arbeit sparsam umgegangen werden. Sie darf nicht vergeudet +werden durch Produktion von entbehrlichen Gütern, sie darf nicht durch +Raubbau abgewirtschaftet werden. Es müssen alle technischen, +organisatorischen und sozialen Voraussetzungen geschaffen werden, um +die möglichst große Produktionssteigerung durch möglichst sparsamen +Arbeitsaufwand zu erreichen. Auch hier wieder die Voraussetzung: +Bildung und Erziehung der heranwachsenden Geschlechter, Erfüllung mit +Einsicht in den Ernst der Verantwortung für das Ganze, Abwehr aller +Neigung zu einem resignierten Versinken in die stumpfe Fron für den +laufenden Tag. + +Diese Aufrechterhaltung unserer Arbeitskultur und Wirtschaftshöhe ist +wiederum gebunden an stoffliche Unterlagen, nämlich an den +ausreichenden S u b s i s t e n z f o n d s der Nation. Man spricht +gewöhnlich davon, es müsse genügend "Kapital" vorhanden sein, um die +Arbeits- und Wirtschaftskultur wie übrigens die Gesamtkultur des ganzen +Volkes, die ja immer irgendwie an sachliche Unterlagen gebunden ist, zu +erhalten. Die Quelle dieses Kapitals aber ist die Differenz zwischen +Volkseinkommen und Verbrauch, mit anderen Worten: das nichtverbrauchte +"ersparte" Volkseinkommen. Von zwei Seiten her kann diese +Kapitalbildung gefördert werden: von der Erhöhung des Volkseinkommens +durch erhöhte Produktion und von der Minderung des Verbrauches her. +Unsere Lage zwingt uns, beide Wege zu beschreiten: die Produktion aufs +äußerste zu steigern, den Verbrauch an allem Entbehrlichen möglichst +zurückzudrängen. Das wird für Jahrzehnte unser Schicksal sein, ein +Schicksal, dessen Härte nur dadurch erträglich ist, daß es uns die +Aussicht gibt, die Einheit des Reiches und des Volkes durch alle +Fährlichkeiten des verlorenen Krieges und des Friedens hindurch zu +retten. Die besondere Schwierigkeit unserer Kapitalneubildung liegt +darin, daß sie mit ungewöhnlichen Belastungen zu rechnen hat. Die +Belastungen bestehen in den geschilderten Zahlungsverpflichtungen +gegenüber der Entente, in der gewaltigen Steuerlast, in der ungünstigen +Entwicklung des Außenhandels (der im vergangenen Jahre mit zweieinhalb +Goldmilliarden p a s s i v war!), ferner in der Ungunst der +Einkommensverteilung. + +Bei sotanen Dingen ist alles, was unsere Wirtschaftserträge erhöht, +eine Daseinserleichterung, eine neue Gewähr unseres physischen und +kulturellen Lebens. Das gilt für alle Seiten unserer Wirtschaft, für +Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Verkehr. In der Landwirtschaft +zumal spielt es eine besondere Rolle. Hier sind die Erträge gegenüber +der Vorkriegszeit sehr stark gesunken, hier ist außerdem die Quelle +unseres dringendsten Bedarfes, der Ernährung. Das landwirtschaftliche +Betriebskapital ist während des Krieges scharf heruntergewirtschaftet +worden, es bedarf jetzt der Erneuerung. Kredite müssen der +Landwirtschaft zufließen, die sie im Kriege glaubte abstoßen zu können +oder nicht mehr zu benötigen. Durch Düngemittel aller Art, durch +Meliorationen, durch Maschinen müssen die Böden wieder in den alten +hochgepflegten Zustand gebracht werden. Der Viehstapel muß ergänzt +werden. Das landwirtschaftliche Bildungswesen darf um keinen Preis +vernachlässigt werden. Was uns diese Forderungen erheben läßt, ist die +einfache Tatsache, daß der stark abgewirtschaftete Zustand der +Landwirtschaft im Interesse der Allgemeinheit, des Staates, des Volkes +in Stadt und Land und nicht zuletzt auch des Fiskus saniert werden muß, +ehe er wiederum ein tragender Pfeiler unserer Wirtschaftsblüte werden +kann. Erst bei solcher Intensivierung der landwirtschaftlichen +Erzeugung besteht die Aussicht, daß der Strom von Menschen, welcher im +Gefolge des Krieges den Städten zugeflutet ist und dort die Not +vermehrt, wiederum vom Lande aufgenommen werden kann. Wie bedeutsam +eine solche Rückwanderung ist, ergibt sich ohne weiteres; sie entlastet +den Arbeitsmarkt, entlastet den Fiskus von der Erwerbslosenfürsorge, +sie entlastet die städtische Fürsorge, sie mildert die Schärfe unserer +sozialen Not und sie beseitigt jenes Übel, das schon vor dem Kriege auf +dem Lande vielfach anzutreffen war, nämlich die Leutenot. + +Wenn die wesentliche Aufgabe der deutschen Landwirtschaft darin +besteht, in möglichst weitem Umgange den Nahrungsbedarf unseres Volkes +zu erstellen, so hat die Industrie demgegenüber eine verwickeltere +Aufgabe. Sie soll einesteils den starken Verbrauch an +Industrieerzeugnissen decken, den das Inland hat; sie soll aber +andererseits die Grundbedingung unseres Daseins gewährleisten, nämlich +die aktive Zahlungsbilanz. Deren Hauptbestandteil war von jeher die +Handelsbilanz, das heißt das Wertverhältnis der Wareneinfuhr zur +Warenausfuhr. Heute sind die anderen Bestandteile der deutschen +Zahlungsbilanz ungefähr auf den Nullpunkt reduziert; wir haben keine +Gewinne mehr aus Frachten für das Ausland, unsere Erträgnisse aus der +Kapitalanlage im Auslande sind mitsamt den Kapitalien fast ganz +verloren, unsere Gewinne aus Vermittlung und Versicherung für fremde +Völker sind dahin. Nach all diesen Richtungen haben wir nur noch +Passiva. Und trotzdem besteht unabweisbar das Ziel: Herstellung einer +aktiven Zahlungsbilanz! Die Handelsbilanz muß die dazu erforderlichen +Wertüberschüsse der Ausfuhr über die Einfuhr erbringen. Wir müssen, ob +wir wollen oder nicht, Exportwirtschaft treiben. Unsere +landwirtschaftlichen Erzeugnisse brauchen wir selbst, also kann der +Überschuß der Ausfuhr über die Einfuhr im großen ganzen nur industriell +erwirkt werden. Zwei Gesichtspunkte sind entscheidend: die +Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie einerseits, die Aufnahmefähigkeit +und Aufnahmewilligkeit der fremden Märkte andererseits. Was zunächst +die Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie anlangt, so ist sie teils eine +Frage des Preiskurants, das heißt: des billigeren deutschen Angebots, +teils ein Produktionsproblem: Haben wir Güter, die das Ausland +unbedingt erwerben will? Haben wir Überschüsse, die für die +ausländische Nachfrage zu Gebote stehen? Bezüglich der ersten Frage ist +festzustellen, daß manche Tatsachen uns günstige Aussichten im +Wettbewerb bieten. Der Wert des deutschen Geldes, gemessen am Gelde der +ausländischen maßgebenden Gläubigerstaaten, steht sehr tief. Niedrige +Wechselkurse aber bedeuten eine Prämie und einen Anreiz für die +Ausfuhr. Unsere Lebenshaltung ist relativ weniger reich und kostspielig +wie die der fremden Konkurrenzwirtschaften. Die Arbeitsfähigkeit und +Arbeitswilligkeit unserer Bevölkerung hat sich vergleichsweise +schneller erholt als die der meisten anderen Völker. Außerdem waren +deutsche Waren im allgemeinen so wohl beleumundet in der ganzen Welt, +daß Nachfrage nach ihnen ohne weiteres wahrscheinlich ist. Aber +übersehen wir nicht die Hemmungen unserer Überlegenheit im Preisgebot! +Wir mußten unsere Industrie viel eingreifender als die anderen +kriegführenden Nationen auf einen neuen Friedensstand umstellen; +technisch und organisatorisch ist diese Aufgabe schnell und glänzend +gelöst worden, aber sie verschlang viele Arbeitskräfte und viele +Kapitalien. Manche Industrien hatten im Laufe des Krieges Schulden in +fremder Währung aufgenommen; der rapide Fall des deutschen Geldwertes +steigerte den Belauf der Schulden ins Phantastische und bewirkte neue +Kosten der Abdeckung oder Umwandlung. Die rastlose Anstrengung der +Kriegsarbeit hat in vielen Industrien keine Kräfte und keine Zeit frei +gelassen zu Reparaturen, Materialergänzungen, Erneuerung des +Sachkapitals; das mußte alles nachgeholt werden. In den Zeiten der +Umwälzung nach dem Kriege häufen sich die Streiks, die +Wertzerstörungen, die Lohnforderungen; das Arbeitstempo ließ nach; all +das erscheint als Produktionskosten wiederum im Warenpreis. Und nicht +zuletzt legt die Steuergesetzgebung der Industrie ungeheuere Lasten +auf, die natürlich Preissteigerungen im Gefolge haben. Der gewaltige +Anreiz zu großen Gewinnen, der nach dem Kriege im Abverkauf von +Betriebseinrichtungen und in der Angleichung der Inlandspreise an den +Weltmarkt lag, wirkte sich auch in den gestiegenen Preisen aus. Nicht +zuletzt bot der Warenmangel des erschöpften Inlandsverbrauchs die +Möglichkeit, unter dem Anreiz des Dividendenhungers den Preisstand +scharf zu erhöhen. Auch die Verteuerung der Produktion durch die +Einfuhr fremder Rohstoffe und durch das damit verbundene starke +Valutarisiko wirken in die Richtung steigender Preise. Nach einer +Periode grenzenloser Schleuderverkäufe ins Ausland, die direkt nach dem +Kriege einsetzte, kam die Gegenwirkung: die Preishöhe vieler deutscher +Industrieprodukte lag zeitweise über den entsprechenden +Auslandspreisen. Die Folge davon war stockende Ausfuhr, das heißt +Gefährdung des Zieles der aktiven Handelsbilanz. Im ganzen hat der +Druck auf unsere Wechselkurse dafür gesorgt, daß die Ausfuhrprämie +nicht verschwand. Aber wie prekär die Sachlage ist, zeigt sich +regelmäßig bei selbst geringfügigen Steigerungen unserer Wechselkurse: +es setzt in diesen Fällen eine Stockung der Ausfuhr und eine Steigerung +der Einfuhr ein, also ein ganz bedenklicher Sachverhalt. Der hin- und +hergehende Wertstand des deutschen Geldes gefährdet für den deutschen +Unternehmer alle Grundlagen der Kalkulation, bringt ein spekulatives +Moment in die ganze Wirtschaft hinein und wirft uns aus einer Periode +der Schleuderverkäufe und der stockenden Rohstoffeinfuhr in die andere +stockender Ausfuhr und der Überschwemmung mit Auslandsware. Das +Verlangen, den Urheber dieser Zustände, nämlich den wilden Wechselkurs, +zu binden, ist ebensooft erhoben wie als zunächst aussichtslos +abgelehnt worden. Deutschland ist ohne Unterstützung der +kapitalsstarken Gläubigerstaaten völlig außerstande, eine solche +Festlegung des Wechselkurses vorzunehmen. Nur mit Hilfe ganz gewaltiger +Kredite und einer vorläufig noch sehr unwahrscheinlichen vernünftigen +Gebahrung der Entente in der Reparationsfrage könnten stabile +Wechselkurse eingerichtet und durchgehalten werden. + +So steht es um die Aussichten der deutschen Industrie im +internationalen Preiskampf! Eine andere Frage ist die, ob wir Güter +haben, die das Ausland unbekümmert um den Preis haben muß oder haben +will. Das gilt gewiß bei einer Anzahl von hochwertigen Erzeugnissen, +zumal der chemischen, optischen und elektrotechnischen Industrie; es +gilt auch in einigem Umfang für Kali. Aber auf eine Anzahl solcher +Erzeugnisse hat der Friedensvertrag die Hand gelegt und sie uns in +großen Mengen auf "Reparation" abgefordert. Andererseits sind manche +Erzeugnisse, für die Deutschland vor dem Kriege einen unbestrittenen +Markt besaß, in der Zwischenzeit von fremden Industrien aufgegriffen +und hergestellt worden. Immerhin hat auch heute noch ein gewisses +Marktgebiet starken Druck und starke Neigung zum Verbrauch deutscher +Produkte. Und nun die weitere Frage, haben wir Überschüsse frei für die +Ausfuhr? Wir rechnen nicht in diese Überschüsse dasjenige hinein, was +auf Reparationsrechnung zwangsweise geliefert werden muß. Diese Posten +tragen zur Aktivierung der Handelsbilanz nichts bei, so beträchtlich +sie an Wert sein mögen. Im Gegenteil, sie verschlechtern unsere Bilanz, +denn soweit ausländische Rohstoffe und ausländische Arbeit direkt oder +indirekt in ihnen kristallisiert sind, müssen sie erst mit teuren +Kosten angeworben werden. Sehen wir also von dieser Art Ausfuhr ab, so +fällt zunächst auf, daß bestimmte Industrien ihre Ausfuhrüberschüsse +verloren oder stark gemindert haben. Das gilt für bedeutsame Industrien +landwirtschaftlicher Rohstoffverarbeitung, beispielsweise für die +Zuckerindustrie, deren Ausfuhr früher mehrere hundert Millionen +Goldmark einbrachte; es gilt ebenso für die Branntweinindustrie. Es +gilt aber auch für die Kohlenausfuhr. In die gleiche Richtung wirkt das +zollpolitische "Loch im Westen", das uns den Warenüberdruck der fremden +Märkte vielfach auf Schleichwegen in unser Land pumpt, deutsche +Industrien, besonders im besetzten Gebiete, lahmlegt und uns mit einer +Sorte Einfuhrwaren beglückt, die nach dem Stande unserer Verarmung +besser draußen blieben. Der Verlust von Industrien im abgetretenen +Gebiet, die Materiallieferungen an die Entente auf Grund des +Waffenstillstandes und des Friedens, die starke Beschäftigung für den +Aufbau der Eigenwirtschaft und der Rückgang der Leistungen an Menge und +Güte, die Stillegung mancher Betriebe bringen erhebliche Minderungen +der Überschüsse mit sich. Die Ausfuhrabgaben, die Kontrolle der Ausfuhr +und die Unübersichtlichkeit der fremden Absatzgebiete infolge des +Abbruches alter eingefahrener Wirtschaftsbeziehungen wirken in die +gleiche Richtung. + +So weit die Ausfuhrfähigkeit der deutschen Industrie. Und nun die +andere Seite: die A u f n a h m e f ä h i g k e i t und A u f n a h m e +w i l l i g k e i t des Auslandes! Hier sind Anreizmomente für den +Bezug deutscher Produkte vorhanden: ihre Billigkeit, ihre Güte, ihre +teilweise Monopolstellung. Aber lassen wir die Gegentendenzen nicht aus +dem Auge. Der Krieg wäre für England verloren, wenn er nicht mit einer +Zurückwerfung der deutschen Industrieausfuhr endigte. England hat im +Kriege Zeit gehabt, unsere Auslandsmärkte zu verwüsten, viele Neutrale +haben sich auf den englischen und amerikanischen Lieferanten +umgestellt, haben sich auf einzelnen Marktgebieten unabhängig gemacht. +Die meisten Länder haben ihre Zölle erhöht, manche Länder haben zum +Schutz ihrer eigenen Produktion zu sehr drastischen Abwehrmitteln gegen +die fremde Einfuhr gegriffen. In den ehemals feindlichen Ländern sorgt +der mit Leidenschaft geschürte Nationalismus dafür, daß der deutschen +Ware die Wege weithin versperrt werden. Manche Rohstoffländer sind +während des Krieges zur Verarbeitung übergegangen und spüren geringe +Neigung, ihre mit Opfern großgezogene Verarbeitungsindustrie durch +Ausfuhr von Rohstoffen der fremden Konkurrenz auszusetzen. Die ganze +Welt ist beträchtlich ärmer geworden und hat ihren Verbrauch auf einen +tieferen Durchschnittsstand setzen müssen. Die Erwerbslosenheere sind +heute eine internationale Erscheinung und erschweren die Rückhehr in +die Bahnen des offenen, freien Welthandels, selbst wenn die maßgebenden +Kreise den Willen dazu hätten. Die Neigung, nur solche Erzeugnisse +auszuführen, in denen hochwertige Arbeit verkörpert ist, hat starke +Antriebe erhalten mit der Wirkung, daß unsere Waren, deren Güte und Art +geradezu auf der stark konzentrierten Arbeit aufgebaut war, +verschärftem Wettbewerb begegnen. So ist es erklärlich, daß in der +Ausfuhr verhältnismäßig starke Rohstoff- und Halbfabrikatposten +anzutreffen sind. Die Gefahr lauert im Hintergrunde: ein Sinken unseres +gewerblichen Könnens, unserer Wirtschaftskraft dem Auslande gegenüber, +sinkende Lebenshaltung, sinkende Kultur, sinkende politische Bedeutung. +Das scheint weit ausgeholt, ist aber drohender Ernst. Der Rückfall auf +vorwiegende Rohstoff- und Halbfabrikatausfuhr könnte uns auf ein enges +kontinentales Dasein zurückwerfen. + +Man muß die großen Linien ins Auge fassen, um diesem Pessimismus nicht +zu erliegen. Gewiß, wir vertrauen auf die unversiegliche Lebenskraft +unseres Volkes, auf seinen Unternehmungsmut, auf seine hohe +Geistigkeit. Aber ein Faktor von ebenso großer Bedeutung ist die +Herzlage Deutschlands inmitten des Kontinents. Wir sind die +Durchfahrtsstraße von Ost nach West, von der Atlantis zum Baltischen +Meer; wir sind das Zwischenglied zwischen Westeuropa und dem Osten, das +wirtschaftliche Glacis Englands und Amerikas, dessen industrielles +Leben immer noch im Osten, zur Atlantis staut, und nicht im Westen! -- +nach Mittel- und Osteuropa. Man hat im Haß des Krieges und im Rausch +des Sieges geglaubt, uns durch neue Handelswege, deren Linien um uns +herum zu legen seien, aus dem großcn Zuge des internationalen Verkehrs +auskapseln zu können, ein Versuch, der keine geringere Bedeutung hat, +als uns wirtschaftspolitisch aus der Herzlage Europas an seinen Rand zu +drängen. Aber beim Versuch ist es geblieben. Wenn der Osten wieder für +ruhige wirtschaftliche Entwicklung Sinn und Zeit hat -- und das wird +auch einmal wieder der Fall sein --, dann ist Deutschland das +Mittelstück Europas; und die vollen Vorteile dieser Lage werden ihm +zugute kommen u n t e r d e r V o r a u s s e t z u n g, daß es +sich nicht selbst ausschaltet und daß es politisch selbständig bleibt. +Der industrielle Bedarf von Ost und Südost stößt irgendwie immer +zunächst auf uns, und den Valuten jener Länder gegenüber sind wir trotz +aller Hemmungen anderer Art leistungsfähiger als die valutastarken +Industrieländer. Hier im Osten und Südosten erschließen sich unserer +wirtschaftlichen Pioniertätigkeit neue Kontinente, reiche +Rohstoffgebiete. Wenn sie mit Vernunft und in weitherziger +Berücksichtigung der Interessen jener Länder und Völker selbst +ausgebaut werden, so eröffnet sich eine neue Zukunft für die deutsche +Wirtschaft. Für die Richtigkeit dieser Erwägungen spricht die Tatsache, +daß fremde Kapitalien in großem Umfange die deutsche Industrie +befruchten, zeigt das handelspolitische Interesse, das allenthalben in +der Welt für unsere Wirtschaft besteht. Sorgen wir dafür, daß dieses +Interesse kein Interesse der "Pleitegeier" an der Ausschlachtung eines +alten soliden, ehemals blühenden Handelshauses wird! Das ist nur dann +möglich, wenn wir alle Kräfte anspannen, die politische Freiheit und +die Einheit des Reiches zu bewahren. Wenn das Mittel dazu die +angestrengte Arbeit des ganzen Volkes ist, gut! so müssen wir sie auf +uns nehmen. Vor dem Kriege war es die freie, gesunde Kraft eines stark +wachsenden Volkes, wagender Kaufleute und Unternehmer, die uns den Weg +in die Weltwirtschaft gehen hieß; heute ist es der Kampf um Freiheit +und Einheit! + +Dieser Weg hat gewiß seine Gefahren. Die Hoffnung der Entente auf bare +Zahlungen und Naturalleistungen hat uns wider alle wirtschaftliche +Vernunft in die Kette der Diktate geschlagen. Heute zeigen sich die +Folgen: Wenn wir zahlen wollen, müssen wir erst verdienen; wenn wir +aber verdienen wollen, müssen wir erst die fremden Märkte aufsuchen. +Unsere Ausfuhr aber und die Devisenaufkäufe zum Zwecke der Zahlung +beginnen heute schon, unseren Gegnern empfindliche Wirtschaftsstörungen +zu bereiten. Da taucht die Sphinx der Zukunft auf: Die Entente hat in +Hinsicht auf das Friedensdiktat ein zweiseitiges Interesse: ein +Gläubigerinteresse und ein Produzenteninteresse. Diese beiden +Interessen stehen in Widerspruch. Beispielsweise: Wenn wir die im +Friedensvertrag auferlegten 200 000 Tonnen Schiffsraum für England +bauen, dann liegen die englischen Werften still, und die Arbeitskräfte +müssen entlassen werden. Wenn wir die zwangsweise Kohlenlieferung +durchführen, dann feiert der englische Bergarbeiter, oder er streikt, +weil der Rückgang der Kohlenpreise die englischen Bergherren zwingt, +die Löhne zu senken. Diese Gegensätze sind heute klar herausgearbeitet. +Man faßt sie nur nicht grundsätzlich an, sondern versucht mit einer +Politik der kleinen Mittel sich an ihnen vorbeizudrücken. Eines Tages +aber wird die Härte der Gegensätze ihre Lösung verlangen. Entweder man +saugt uns aus durch bare Zahlungen, dann müssen wir die Märkte mit +allen Mitteln erobern und das feindliche Produzenteninteresse +schädigen; oder man verwehrt uns die Märkte, dann können wir nicht +zahlen, und das feindliche Gläubigerinteresse ist getroffen. Auf diesem +Punkte laufen sich die Diktate tot an den wirtschaftlich +unausweichbaren Zusammenhängen. Was soll dann geschehen? Das stärkere +Gläubigerinteresse liegt bei Frankreich, das den geringeren +Industrialismus und den stärksten Anteil an unseren Zwangszahlungen +(52%) hat; das stärkere Produzenteninteresse liegt bei England, das den +gesteigerten Industrialismus und den geringeren Anteil (22%) an unseren +baren Leistungen hat. Welches Interesse wird durchdringen, das +französische Gläubiger- (Rentner-) Interesse oder das englische +Produzenten- (Arbeiter-) Interesse? Hier eröffnen sich Entscheidungen, +die für unser Schicksal unerhört wichtig sind. Zu einem Teil haben wir +es in der Hand, sie zu beeinflussen. Unser Interesse kann nicht mit +Frankreich gehen, solange Frankreich in uns ein Beutestück sieht, eine +politische Masse, deren Liquidation nicht brutal genug betrieben werden +kann. Wir stehen wieder an dem Kreuzungspunkt -- nur mit viel +schlechterem Einsatz --, an dem wir schon einmal standen, den wir +damals aber in seiner Tragweite nicht genügend begriffen: vor der +Steuerung des Kurses ins englisch-deutsche Einvernehmen, oder -- auf +noch weiteren Aspekt gestellt -- vor der Steuerung des Kurses in das +anglosächsisch-deutsche Einvernehmen. Oder welcher andere Weg sollte +noch offen sein? Auf die russische Karte jetzt schon zu setzen, +erscheint verfrüht; außerdem kann bei unserer Kapitalschwäche und der +starken Interessierung der anglosächsischen Wirtschaftsmacht an Rußland +diese russische Karte nur im Rahmen einer deutsch-anglosächsischen +Verständigung geschlagen werden. + +Verschiedentlich mußten wir darauf hinweisen, daß unsere politische +Freiheit in den schmalen Resten, in denen sie überhaupt noch besteht, +auf der Schneide der Erfüllung von Diktaten steht. Diese Erfüllung aber +ist ein fiskalisches Problem, eine Frage des Steueraufkommens des +ganzen Volkes. Die Steuerleistung aber ist letzten Endes eine Frage der +Wirtschaftskraft. Das Elend der deutschen Wirtschaft aber spiegelt sich +im Elend der deutschen Finanzen. Das Elend der Finanzen ist nun nicht +erst eine Erscheinung von heute; seit 1876 hat das Reich so ziemlich +fortwährend in Finanzverlegenheiten gelebt. Ein Hauptgrund dafür war +der Aufbau des Reichsfinanzwesens und hier besonders die Verteilung der +Steuerkompetenzen zwischen Reich und Bundesstaaten. Das Reich hat eine +Steuerdomäne, die fast ausschließlich aus indirekten Abgaben und aus +Zöllen bestand. Die direkten Steuern, das Rückgrat jeder gesunden +Finanzwirtschaft, lagen unter Verschluß der Einzelstaaten und wurden +von ihnen eifersüchtig gehütet. Die Einkünfte des Reiches aus +Betriebsverwaltungen waren recht geringfügig im Verhältnis zu dem, was +die großen Bundesstaaten aus ihrem Staatsbesitz zogen. Das war eine +verhängnisvolle Fehlkonstruktion der Reichsfinanzen. Im Frieden war sie +deswegen noch erträglich, weil das Reich doch bekam, was es brauchte, +nur sehr umständlich, unter großer Erregung der öffentlichen Meinung +und nicht immer sehr zweckmäßig. + +Die v e r h e e r e n d e Wirkung dieser Fehlkonstruktion zeigte erst +der Krieg. Die Folge der Verteilung der Steuerkompetenzen nach der +alten Reichsverfassung war die, daß das R e i c h, der Träger der +H a u p t l a s t des Krieges, die d ü r f t i g s t e n und r ü c k +l ä u f i g s t e n E i n n a h m e q u e l l e n besaß, während die +Bundesstaaten, die die Last des Krieges ja gar nicht zu tragen hatten, +die ertragreichsten und stabilsten Steuerquellen unter Verschluß +hatten. Die Abneigung, eine entschlossene starke Kriegssteuerpolitik +nach englischem Muster einzurichten, ließ nur den einen Ausweg: den +Krieg mit S c h u l d e n zu führen. Was an Kriegssteuern dann seit +1916 kam, kam zu spät und zu zaghaft. Man rechnete im Grunde immer nur +mit dem siegreichen Ausgang des Krieges, wollte auch die +Durchhaltestimmung im Volke nicht gefährden, fürchtete sich vor dem +Wachwerden alter Parteigegensätze; kurz und gut, man finanzierte den +Krieg mit Schulden. Das Resultat war: steigende Schulden des Reiches, +steigende Inflation, sinkende Wechselkurse, steigende Löhne und +Warenpreise, steigende Kosten der Kriegsführung, steigende +Reichsverschuldung, neues Sinken der Wechselkurse, neues Steigen der +Löhne und Warenpreise und so fort. Eine Schraube ohne Ende, oder +vielmehr eine Schraube mit einem sehr dicken Ende: Reichsüberschuldung, +Wohlstandsvernichtung breitester Kreise, goldene Zeit für alle +Schieber, schwerste Not in breitesten Kreisen, Verschärfung der +sozialen Gegensätze, schleichende Enteignung gerade der Kreise, die vor +und im Kriege dem Staate Kredit gegeben hatten. Eine beispiellose +Umschichtung der Vermögen ist vor sich gegangen, und die staatliche +Finanzpolitik hat ihr ebensowenig wie die Wuchergesetzgebung zu steuern +vermocht. + +Zur Verdeutlichung des Bildes seien einige Zahlen angegeben. Die +Reichsschuld betrug vor dem Kriege 5,4 Milliarden Mark; sie bezifferte +sich September 1918 auf 133,4 Milliarden, September 1919 170,9 +Milliarden, September 1920 283,7 Milliarden. Die schwebende Schuld des +Reiches betrug am 31. Juli 1914 300 Millionen Mark Schatzanweisungen; +sie stieg bis Dezember 1918 auf 55,1 Milliarden und endete am 30. Juni +1921 mit 214,2 Milliarden. Der Umlauf an Banknoten gravitierte vor dem +Kriege um 1,5 Milliarden, dazu kamen vergleichsweise geringe Beträge an +umlaufenden Reichskassenscheinen. Der Umlauf an Noten betrug nach dem +Ausweis vom 11. August 1921 77,6547 Milliarden; zu dieser ungeheueren +Papierzettelschuld kommt noch ein Umlauf an Darlehenskassenscheinen von +rund 8,22 Milliarden. Daß zur selben Zeit der Wert des deutschen Geldes +gegenüber dem ausländischen vollvaluten Geld ins Abgrundtiefe gestürzt +ist, ist nicht verwunderlich. Während vor dem Kriege 100 holländische +Gulden rund 169 Mark kosteten, kosteten sie am 12. August 1921 rund +2560 Mark[1]. Diese Zahlen genügen zur Illustration. Sie erhalten erst +ihr volles Relief, wenn man die Zwangsleistungen an die Entente noch +hinzurechnet. + + [1] Seit Abschluß des Aufsatzes haben sich die Verhältnisse + wesentlich ungünstiger entwickelt. Der Guldenkurs steht + im Dezember 1921 nahe an 7000, der Umlauf an Geldzeichen + hat die hundertste Milliarde längst hinter sich + gelassen! + +Das ist die Sachlage, der sich der Fiskus gegenübersah. Sie erforderte +Finanzreformen allergrößten Stiles. Wir befinden uns seit Kriegsende +zwar fortwährend in den Reformen, aber deutlich heben sich zwei +gewaltige Reformperioden heraus: die grundlegende, heute abgeschlossene +Reform von 1919 bis 1920, und die zweite Reformetappe, deren +Vorbereitung und Anfänge eben sichtbar werden. Was bedeutet die Reform +von 1919/20? Sie schafft einen fiskalischen Unitarismus, der in seinen +politischen Folgen gemildert wird durch Artikel 8 der Reichsverfassung; +dieser verpflichtet das Reich, auf die Lebensfähigkeit der Länder +Rücksicht zu nehmen. Sie schafft eine einheitliche +Reichssteuerverwaltung, sie gibt einheitliche Richtlinien der +Steuerveranlagung und -erhebung, deren Zweck es ist, die "Steuerinseln" +zu beseitigen und dadurch dem Grundsatz der steuerlichen Gerechtigkeit +zu dienen. Sie gibt dem Reiche das Gesamtsystem der ertragreichen und +anpassungsfähigen direkten Steuern. Sie läßt den Ländern und Gemeinden +einige Ertragssteuern und beteiligt sie im übrigen mit bestimmten +Anteilen am Ertrag der Reichseinkommensteuer, der +Reichserbschaftssteuer, der Umsatzsteuer, der Körperschaftssteuer und +der Grunderwerbssteuer. Entsprechend diesem Eingriff des Reiches in +alte Steuerrechte von Ländern und Gemeinden entlastete es die Länder +und Gemeinden durch Übernahme beträchtlicher Schuldverpflichtungen auf +sich selbst. Es gehört zu den wesentlichen Verdiensten dieser +Reformperiode, daß das alte Bismarcksche Projekt der Reichseisenbahnen +nun verwirklicht wurde. + +Man mag zu den Einzelheiten dieser Reform stehen wie man will: das +ganze Reformwerk ist eine ungeheuere Leistung, deren volle Segnung erst +erkennbar wird, wenn unsere Wirtschaftslage sich einigermaßen +erleichtert. Dr. Respondek stellt sie in seinem Buche "Die +Reichsfinanzen auf Grund der Reform von 1920" sogar in Parallele zu der +Stein-Hardenbergschen Reform. Ob diese Parallele treffend ist, muß die +Zukunft zeigen. + +Versenken wir uns einen Augenblick in die Haushaltsrechnung des Jahres +1920! Der "Ist-Etat" des Reiches zeigte beim Abschluß des +Rechnungsjahres (31. März 1921) folgendes Bild: Die Reichseinnahmen aus +Steuern, Abgaben, Gebühren, Zöllen bezifferten sich auf 27,7 +Milliarden. Die Ausgaben, betrugen netto 73,7 Milliarden. Dazu treten +an Schuldzinsen des Reiches 10,4 Milliarden, an Zuschüssen des Reiches +in den Betriebsverwaltungen (Reichseisenbahn, Reichspost), 18,2 +Milliarden. Mithin Totalausgabe 102,6 Milliarden. Die Differenz +zwischen Ausgaben und Einnahmen, 74,9 Milliarden, mußte demnach auf +neue Schulden genommen werden. Die schwebende Schuld wuchs auf 184,127 +Milliarden an. Der Voranschlag für 1921 zeigt folgende Ziffern: +Einnahmen 46,9 Milliarden, einmalige Ausgaben 1,368 Milliarden, +fortdauernde Ausgaben 45,579 Milliarden. Dazu kam ein Nachtragsetat von +1,5 Milliarden. Es balanciert also der ordentliche Etat mit 48,459 +Milliarden auf der Einnahme- und Ausgabeseite. Daneben außerordentliche +Ausgaben: 59,68 Milliarden; von diesen ungedeckt und auf schwebende +Schulden zu nehmen: 49,18 Milliarden. In dieser Summe von 59,68 +Milliarden stecken nach Voranschlag rund 18,8 Milliarden Zuschüsse für +Betriebsverwaltungen (Eisenbahn, Post). In den erwähnten Summen des +ordentlichen Etats sind noch keine Aufwendungen für Reparationen +eingeschlossen; ihre Gesamtsumme wurde bei der Beratung in der +Kommission des Reichstages mit 53 Papiermilliarden jährlich +veranschlagt. Ein schwankender Posten von hohem Belauf sind die +Besatzungskosten; sie sind mit 8,5 Milliarden angesetzt. Alles in allem +ist der heute errechenbare Fehlbetrag 110 Milliarden Mark. Der +erschreckende Zug ist das Anwachsen der schwebenden Schuld. Das Reich +kontrahiert sie in Gestalt von Schatzanweisungen, die an die Reichsbank +begeben werden; diese schießt dem Reiche dafür Noten vor. Mit Noten +bezahlt das Reich seine Verpflichtungen an Schuldzinsen, an Gehältern, +Löhnen usw.; diese Noten kommen also als zusätzliche nominelle +Kaufkraft in den Verkehr, nicht weil der Verkehr sie verlangt, sondern +weil das Reich zahlen soll und ungenügende Einkünfte hat. So senken sie +den Geldwert, steigern die Preise und Löhne, drücken die Valuta und +führen alle die Risiken, Gefahren und Hemmungen des Wirtschaftslebens +mit herauf, die sich an solche Währungszustände anzuschließen pflegen. + +Diese Sachverhalte lassen eines ganz deutlich werden: die Notwendigkeit +n e u e r R e f o r m e n. Das erste und ursprüngliche Problem ist +dieses: Wie bringen wir laufende Einnahmen und laufende Ausgaben zur +Deckung? Die weitere Frage ist: Wie bringen wir die Reparationssummen +auf? Und die dritte Frage lautet: Wie stärken und stabilisieren wir +unseren Geldwert? Wenn man diese Probleme an den oben entwickelten +Zahlen mißt, spürt man Neigung, zu glauben, es bandele sich um die +Quadratur des Zirkels. Breite Strömungen im Volke, und was viel mehr +besagen will, ernste sachverständige Kreise glauben nicht an die +Möglichkeit, diesen furchtbaren Anforderungen gerecht zu werden. +Grundsätzlich ist zu sagen, daß alles v e r s u c h t werden muß, +unseren Verpflichtungen nach außen und nach innen nachzukommen und die +Reichsfinanzwirtschaft zu sanieren. Die Gefährlichkeit der Aufgabe +versteht an folgendem Beispiel auch der Laie. Das Reich könnte hohe +Milliardenausgaben sparen, wenn es die Lebensmittelzuschüsse +beseitigte, wenn es die Zuschüsse zu den Betriebsverwaltungen aufhebt, +wenn es höhere Kohlenpreise durch Erhöhung der Kohlensteuer veranlaßt. +Aber was ist die Wirkung? In all diesen Fällen gewinnt das Reich auf +der einen Seite als F i s k u s, was es als B e t r i e b s v e r w a l +t u n g und als Lohn- und Gehaltszahler wiederum wenigstens zum großen +Teile drauflegen muß. Das ist der Punkt, an welchem sich zeigt, daß mit +den üblichen Mitteln der Steuererhöhung schlechterdings nicht mehr +durchzukommen ist. + +Mit dieser Erkenntnis sind die Voraussetzungen der zweiten großen +Reformetappe gegeben. Ihre maßgebenden Gesichtspunkte sind, soweit sich +das bisher beurteilen läßt, die folgenden: Zunächst Entlastung des +Reiches von bestimmten Aufwendungen des außerordentlichen Haushaltes; +dahin rechnen die Zuschüsse zur Verbilligung der Lebensmittel (8,6 +Milliarden), zu den Betriebsverwaltungen (18,8 Milliarden), für den Bau +von Bergmannswohnungen (1,5 Milliarden), eventuell für +Erwerbslosenunterstützung (1,3 Milliarden). Weiterhin eine Reform der +Einkommensteuer und die Veredelung des Notopfers in eine drei zu drei +Jahren zu erhebende Vermögenszuwachssteuer; die Erhöhung einer Anzahl +indirekter Abgaben und Zölle liegt auf der Linie alter steuerlicher +Methoden. Neu ist der Gedanke, die Unterschiede zwischen Auslands- und +Inlandspreisen durch ein Erhöhung der Kohlensteuer zu erfassen; neu -- +wenigstens für die deutsche Finazgeschichte -- der Gedanke, das Reich +durch eine Art Genußschein an den werbenden Sachwerten der Nation mit +zu beteiligen. + +Dieser Vorschlag einer direkten Wirtschaftsbeteiligung des Reiches hat +vieles für sich. Die papierene Blüte unserer Wirtschaft hängt eng mit +der Finanznot des Reiches zusammen. Die Erzeugung lädt in weitem +Umfange auf die Preise ab, was sie an Lasten zu tragen hat. Das Reich +wird von diesen Preissteigerungen, deren wichtigste Ursache seine +Schuldenwirtschaft ist, in größtem Stile mit betroffen. Es half sich +bisher durch neue Schuldaufnahmen und neue Steuern, aber immer liefen +die Preise voraus, hinkte der Fiskus nach. Die Schwäche des Fiskus und +die relative Stärke der Wirtschaft stehen in gefährlicher +Wechselbeziehung. Ganz zutreffend kennzeichnet die "Frankfurter +Zeitung" (Nr. 604 vom 16. August 1921) die Lage: Mittelstand und +Festbesoldete können durch keine nach der Leistungsfähigkeit abgestufte +Steueraktion so schwer geschädigt werden wie durch eine unzureichende +Reform. Das gilt in hohem Maße auch für Handel und Industrie. Unsere +Wirtschaftskreise sollten heute, so paradox es klingt, vor zu hoher +Steuerbelastung weniger besorgt sein als vor zu geringer. Denn auf die +Dauer wird die Notenpresse sie immer noch unbarmherziger ausquetschen +als die Steuerschraube. Das Reich ist eben heute kein außerhalb der +Wirtschaft stehender "Zweckverband" mehr, an den geringe Summen +abgeführt werden, damit er seine begrenzten Funktionen erfülle, sondern +das Reich ist heute mit der Wirtschaft zu einem dichten einheitlichen +Körper verwachsen. Gibt man ihm nicht, was es braucht, so zerstören +seine Notauswege langsam aber sicher das Leben der Nation. + +So ist es verständlich, daß das Reichswirtschaftsministerium sich +grundsätzlich zum Steuerprogramm und zu den Reparationslasten äußerte. +Nach den Angaben in der oben zitierten Nummer der "Frankfurter Zeitung" +betont eine neue Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vor +allem die Notwendigkeit eines Gesamtprogramms, das die +Reparationsleistungen und ihre Aufbringung durch Ausfuhrüberschüsse und +Devisenkäufe mit dem Ziel der Kräftigung der Wirtschaft durch höchste +Rationalisierung, mit der inneren Finanzierung der Reparationslasten +und mit den notwendigen sozialpolitischen Übergangsmaßnahmen in +organische Verbindung bringt. Das wirtschaftspolitische Ziel sei die +Aktivierung der Handelsbilanz, die Beschränkung der Einfuhr an allem +Entbehrlichen, die Hereinholung der vollen Gegenwerte der Ausfuhr durch +Einstellung der wirklichen volkswirtschaftlichen Selbstkosten, die +Beseitigung der Reichszuschüsse, der Abbau der Zwangswirtschaft, die +Tiefhaltung der Preise auf dem Kohlen- und Wohnungsmarkt. Damit würden +die mühelosen Zwischengewinne verschwinden, die deutsche Wirtschaft +würde auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig; höchste +Wirtschaftsleistungen, höchste Erzeugung und höchstwertige Ausfuhr +würden gesichert. Die Umsatzsteuer, die Erhöhung der Zölle und eine +Aufwandssteuer würden den entbehrlichen Verbrauch beschränken; die +Zwischengewinne, die bei der Anpassung an den Weltmarktpreis abfallen, +könnten für die Zwecke der Reparation erfaßt werden. Die Übergangszeit +erfordere sozialpolitische Maßnahmen: Planmäßige produktive Verwendung +der erwerbslosen und freiwerdenden Arbeitskräfte für den Ausbau der +Verkehrsmittel, der Wasserkräfte und für die Erfordernisse des +Baumarktes. + +Die Denkschrift untersucht im weiteren die Frage, ob das Reich, +nötigenfalls zum Zwecke der Verpfändung an das Ausland, die Substanz +der Sachwerte erfassen soll. Der Ausbau des Notopfers könnte den +Fehlbetrag im Etat nicht decken. Die Erfassung der Substanzwerte in der +Wirtschaft erscheine deswegen zweckmäßig, weil sie tragkräftig, weniger +fluchtfähig und derart erfaßbar seien, daß das Betriebskapital nicht +gefährdet werde. Notwendig sei die dinghafte Sicherung des +Ertragsanteils und seine Kapitalisierung. Den Verfassern der +Denkschrift schwebt eine Beteiligung des Reiches mit 20% der +Substanzwerte der Wirtschaft vor, unter dinglicher Sicherung. Damit +werde die Deckung der Fehlbeträge im Etat für de ersten Jahre +erleichtert und eine Grundlage für Auslandskredite erzielt. So lange +sollten die deutschen Sachwerte bei organisierter Beleihung den +Fehlbetrag in der Goldbilanz des deutschen Außenhandels decken, bis die +deutsche Wirtschaft sie planmäßig durch erhöhte Sachleistungen auf dem +Weltmarkte abdecken könne. Den Gesamtbetrag, den das Reich durch die +übernommenen Sachwerte für seine Zwecke verfügbar machen könne, +berechnet die Denkschrift auf 382 Papiermilliarden. Der Erfolg dieser +Aktion wäre eine Minderung der Inflation infolge der Ablösung der +Grundschulden mit allen daran anschließenden günstigen Weiterwirkungen +auf die Wechselkurse, die Preise und die Löhne; auch würde die +Nachfrage des Reiches auf dem Devisenmarkte (für Reparationszahlungen) +gemindert werden durch die Möglichkeit, auf der Basis der dem Reiche +verpfändeten Vermögenssubstanz Auslandskredite zu erlangen. + +Ohne uns auf eine Kritik dieser Vorschläge im einzelnen einzulassen, +sei nur so viel bemerkt: Wenn diese Ideen sich durchsetzen, dann ist +eine Bahn beschritten, an deren Ende möglicherweise die +"Staatswirtschaft" steht. Oder um das vielgebrauchte, wenig eindeutige +Wort zu nennen: die Sozalisierung. "Beim ersten sind wir frei, beim +zweiten sind wir Knechte", das muß all denen gesagt werden, die den +vorgeschlagenen Weg der Reichswirtschaftsbeteiligung bejahen, aber +nicht seine Folgen in den Kauf nehmen wollen. Die Dinge haben ihre +eigene Logik, und hat man sie einmal zum Ausspielen ihrer Logik +gebracht, dann haben sie Durchschlagskraft und Beharrung genügend +gewonnen, ihren Weg selbst weiter zu suchen. Die Anhänger der liberalen +Wirtschaftsidee der wirtschaftlichen Freiheit der Privatinteressen, die +diese Entwicklung der Dinge mit höchstem Mißtrauen betrachten, +übersehen allzuleicht, daß auch in der f r e i e n Entwicklung der +Wirtschaft Tendenzen sich herausgebildet haben, die auf +"Wirtschaftsherrschaft" hinauslaufen und teilweise schon eine echte, +von privaten Wirtschaftsgewalten ausgeübte Wirtschaftsherrschaft +darstellen. Rathenau sprach ganz zutreffend von der Herausbildung +"wirtschaftlicher Herzogtümer", deren Leiter die maßgebenden Köpfe der +Industrie, der hohen Bankwelt und des Handels sind. Die B i n d u n g +der alten "elementaren" und liberalen Wirtschaftswelt ist aus sozialen +und weltwirtschaftspolitischen Gründen im Anzug. Der Prozeß verstärkt +sich mit seinem eigenen Wachstum. Es fragt sich bloß, ob der Staat sich +in tatenlosem Zusehen vor Tatsachen stellen lassen will, oder ob er +eine Politik einschlägt, deren grundsätzliches Motiv de Wahrung von +Allgemeininteressen ist. Bis jetzt steht die Sache so, daß die +Wirtschaft in der organisierten und ins riesenhafte zusammengeballten +Form den inneren G e i s t d e r f r e i e n K o n k u r r e n z +w i r t s c h a f t, nämlich die Abstellung auf private Interessen, +beibehalten hat. Das Interesse des Staates und des Volkes in seiner +Allgemeinheit ist meines Wissens noch von keinem der gewaltigen +Wirtschaftskonzerne öffentlich und grundsätzlich als Richtschnur des +Handelns anerkannt worden. Wir haben den Glauben verloren, daß das +freie Schaltenlassen von Privatinteressen durch irgendeinen mystischen +Zusammenhang "von selbst" zum Besten der Allgemeinheit und des Staates +tendiere. Wir sehen die Gefahren für das politische und soziale +Gemeinwesen zu deutlich, als daß wir diese Dinge getrost sich selbst +überlassen könnten. -- + +Aber was sollen wir tun, um die Dinge nicht sich selbst zu überlassen, +um sie herauszubringen aus dem Getriebe reiner Privatinteressen? Da +erhebt sich die Stimme, die wir seit drei Jahren so ausgiebig gehört +haben: man sozialisiere, man tue es bald und gründlich! + +Wer genau zuhört, wird merken, daß dieser Ruf die innere Sicherheit und +Überzeugungswärme stark verloren hat, die ihn noch vor zwei-drei Jahren +auszeichnete. Das hat seine guten Gründe. Was St. Simon seinerzeit von +England sagte, dieses Land mache zum Nutzen aller Völker einen +gewaltigen Versuch -- nämlich den Versuch der freien industriellen +Verkehrswirtschaft --, das können wir heute von Rußland sagen: Dieses +Land hat zur Lehre für alle Völker ein gewaltiges Experiment +angestellt, hat versucht, der marxistisch-soziaistischen Idee so, wie +seine Wortführer sie verstanden, den Leib der Wirklichkeit zu gehen. +Der Versuch hat eine alte Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung in +tausend Scherben geschlagen, hat eine neue aufgebaut, aber, wie sich +mehr und mehr herausstellt, keine Verfassung idealer Erfüllung, sondern +der Gewalt, des Schreckens, der Wirtschafts- und Kulturvernichtung, der +Not und des Hungers. Vieles am Mißerfolg ist auf spezifisch r u s s i +s c h e Rechnung zu setzen: auf die mangelnde Industrialisierung des +Landes, auf die schlechte Organisation der Verwaltung, auf die +Unbildung des Volkes, auf die Weite der Landräume, auf die übereilte +Gewaltsamkeit des Prozesses, auf die Mißachtung geistiger und +sittlicher Vorbedingungen, auf die Direktion der Handlungen durch den +toten Buchstaben des orthodoxen Marxismus unter Vergewaltigung aller +Wirklichkeit. Vieles geht auf den verlorenen Krieg und auf die +Absperrung des weiten Reiches vom Auslande zurück. Wenn wir das alles +in gebührende Rechnung stellen, bleibt ein unbeglichener Rest: und er +argumentiert g e g e n die Idee der Sozialisierung -- das Wort im +strengen Sinne einer Überführung aller Produktionsmittel in öffentliche +Hand unter Zentralisierung der Wirtschaftsverfügung und Zuteilung der +Wirtschaftserträge verstanden. Sein Argument lautet: Die Aufgabe ist zu +groß, um bureaukratisch und zentralistisch gelöst zu werden; das +Wirtschaftsleben ist zu vielgestaltig, um auf den Leisten von +Verordnungen gespannt zu werden; es gibt zu viel natürliche +Unberechenbarkeiten in den Grundbedingungen aller Wirtschaft, die sich +den Paragraphen und noch mehr der Gewalt entziehen; und nicht zuletzt: +der primäre Wirtschaftsfaktor Mensch ist zu sehr -- Mensch, um jenes +äußerste an Pflichtgefühl, Verantwortung und Arbeit, das eine +ertragreiche Wirtschaft verlangt, aufzubringen, w e n n er nicht den +Erfolg f ü r s i c h s e l b s t unmittelbar sieht. Das eigene +Interesse ist der stärkste Hebel aller wirtschaftlichen Energien -- +dieser Satz wurde vor 150 Jahren von Adam Smith ausgesprochen; er wird +so lange gelten, wie Menschen Menschen sind. Nur die besondere Fassung, +die Smith ihm gab, ist zu eng: dieses Eigeninteresse ist nicht +notwendig das unmittelbare Eigeninteresse jedes einzelnen. Es kann auch +weitergreifen, es kann Stände, Körperschaften, +Selbstverwaltungsorganisationen erfassen. Es reicht so weit, wie +gewertete und erlebte Gemeinschaft reicht. Es hört immer da auf, wo das +Fremde anfängt, dasjenige, was der einzelne nicht als unmittelbar -- +sei es beruflich, sei es standesmäßig, sei es familienmäßig oder +freund-nachbarlich -- zu sich gehörig empfindet. Aber schon in diesem +Bereich finden sich leicht Abschwächungen der Verantwortungsfredigkeit +und des Pflichtgefühls. Man wendet ein, der Z w a n g könne die +Gemeinschaftsgesinnung ersetzen und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen +erzielen. Das ist ein Irrtum. Zwang und Gewalt sind keine Bindungen von +innen, sondern Grenzen von außen. Ihre Reichweite ist beschränkt; wir +sehen es am russischen Beispiel, wir erlebten es am eigenen Leibe in +der Kriegswirtschaft. Eine Grenze von außen bedeutet immcr gleichzeitig +eine Prämie auf Grenzüberschreitung, und deren Möglichkeit ist immer +gegeben. Sie unterhöhlt das ganze Gefüge, während die klappernde Mühle +von Verordnungen und Strafbestimmungen leeres Stroh drischt. Der +radikale Vcrsuch, mit G e w a l t die sozialistische Gesellscafts- und +Wirtshaftsidee durchzusetzen, führt notwendig zur Lähmung der +Wirtschaft durch Abdrosselung der Wirtschaftsenergien und zur +Erstickung aller Initiative durch Bureaukratie. Pflichtgefühl und +Verantwortung für das Ganze hängen nicht an der Koppel du +Polizeidieners. + +Mit dieser Ablehnung der allgemeinen und zentralistischen +Sozialisierung ist das Sozialisierungsproblem jedoch nicht erschöpft. +Wir sahen bis jetzt nur seine Grenzen. Nur auf dem Boden einer +Gemeinschaftsgesinnung ist Gemeinschaftswirtschaft möglich. Diese +Gemeinschaftsgesinnung aber kommt nicht von oben, durch Verordnung, +sondern nur von unten, aus sittlichen Grundvorstellungen bei +Gemeinsamkeit des Lebens und Erlebens. Wir sahen das andere: Sachliche +Vorbedingungen sind unerläßlich; sie liegen aber von Gewerbe zu Gewerbe +verschieden und sind selbst innerhalb der einzelnen Gewerbe mannigfach +gelagert. Diese Verschiedenheit der sachlichen Vorbedingungen macht die +Forderung der allgemeinen Sozialisierung zu einer unmöglichen, das +heißt nach aller vernünftigen Erwägung fehlschlagenden Lösung. Sie +nötigt uns, über die Herrschaft der Phrase und der wohlmeinenden, aber +unverständigen Köpfe hinauszukommen, den vernünftigen Kern der +Sozialisierungsidee zu retten vor ihren eigenen schlecht beratenen +Freunden. Die ganze Sozialisierungsaktion löst sich auf in eine Fülle +von schwierigen Einzelproblemen. Die erste und zweite +Sozialisierungskommission hat dieses Ergebnis gezeitigt und die +Schwierigkeit der ganzen Frage ins hellste Licht gerückt. +Sozialisierung ist aus einer marxistischen Verheißung und einem +sozialistischen Dogma eine Organisationsfrage der Wirtschaft geworden. + +Heute ist man sich allenthalben darüber klar, daß unsere äußeren und +inneren Daseinsbedingungen jene Formen und jene Verfassung der +Wirtschaft fordern, die technisch und wirtschaftlich die +leistungsfähigsten sind. + +Damit taucht das Problem der wirtschaftlichen F o r m b i l d u n g +auf. Es ist unbegreiflich, daß man drei kostbare Jahre hat verstreichen +lassen, ohne durch organisatorische Versuche brauchbare Formen der +Betriebsverfassung herauszufinden. Es macht einen kümmerlichen +Eindruck, zu sehen, wie festgerannt man auf diese oder jene Form der +Arbeits- und Betriebsverfassung ist. Man übersieht dabei, daß reiche +Bauformen nötig und zweckmäßig sind. Eine Wirtschaftsverfassung ist +kein Militärrock, der auf jeden passen muß. Die Formen der +kapitalistischen Unternehmung sind sehr vielgestaltig, aber alle auf +ihre Art zweckmäßig. Warum will man nicht Grundtypen +gemeinwirtschaftlicher Unternehmungsform herauswachsen lassen? Wer +nicht die bornierte Auffassung hat, es könne nur diese oder jene +(natürlich gerade von ihm vertretene!) Form in Betracht kommen, wird +zugeben, daß eine Vielgestalt der Verfassungen denkbar ist, die den +gemeinwirtschaftlichen Ansprüchen gerecht wird ohne jene Energien zu +ersticken, die auf dem Boden der Selbstverantwortung gedeihen. + +Das wird zumal derjenige zugeben, der in die inneren psychologischen +Antriebe des Sozialisierungsverlangens geschaut hat. Woher stammt +unsere Arbeiterbewegung, woher stammen ihre Wirtschaftsideale und +Gesellschaftsanschauungen? Unzweifelhaft aus der Abwehr gegen die +Arbeitsverfassung, die Arbeitsmethoden, die Ertragsverteilung und die +gesellschaftliche Stellung der Handarbeit in unserer modernen +Wirtschaft. Wer das nicht im Auge behält, sieht das ganze Problem der +Sozialisierung und des Sozialismus falsch. Skizzieren wie die Punkte, +die die Arbeiterschaft veranlassen, die moderne Wirtschafts- und +Gesellschaftsverfassung mit so ungeheurem Nachdruck abzulehnen. Die +Arbeit ist im kapitalistischen Betrieb fremdbestimmte Arbeit an fremden +Arbeitsmitteln, für fremden Ertrag, unter fremdem Kommando, gegen einen +Lohn, der die Besitzlosigkeit des Arbeiters und damit seine erzwungene +Einordnung in das kapitalistische Arbeitsverhältnis dauernd und erblich +macht. Sie ist mechanisierte Teilarbeit, die keine Persönlichkeitswerte +braucht und verträgt. Sie ist weiterhin Arbeit von Massen, und zwar von +Betriebsmassen, wie auch Großstadtmassen. Die Arbeiterschaft als Ganzes +stand gesellschaftlich und staatsbürgerlich nicht in der Geltung und +Achtung, die sie nach ihrer Bedeutung für Wirtschaft, Staat und +Gesellschaft beanspruchen zu können glaubte. Zu diesen objektiv +feststellbaren Quellen der Abneigung gegen die moderne +Wirtschaftsverfassung kommen als weitere die spezifisch proletarischen, +vom Marxismus formulierten und genährten Klassen- und Wertgefühle der +Arbeiterschaft. Aus diesem Gesamtkomplex der Empfindungen und +Anschauungen floß die Sozialisierungsidee, der Zukunftsstaatgedanke, +die bewußte und gewollte Gettohaftigkeit des Proletariats in +weltanschaulichen und sozialen Hinsichten. Der Grundgehalt des +Widerstandes gegen den Kapitalismus war die Revolte des lebendigen +Menschen dagegen, bloßes Mittel zu sein für privatwirtschaftliche +Zwecke und für ein höchstes Produktionsideal. + +Wer das bedenkt, sieht de notwendig zweiseitige Lösung des +Sozialisierungsproblems. Die eine Lösung ist die wirkliche und +wahrhaftige Überführung dazu geeigneter Betriebe in de öffentliche Hand +oder in gemischtwirtschaftliche Betriebsform oder in +Selbstverwaltungskörperschaften -- alle drei unter Anteilnahme und +Mitbestimmung der Arbeiter; beziehungsweise die Beteiligung der +Arbeiter an den Erträgen der Unternehmung in der einen oder anderen +Form -- Kleinaktie, Gewinnbeteiligung, auch arbeitergenossenschaftliche +Führung und Übernahme von Betrieben. Die andere Lösung des +Sozialisierungsproblems ist unvermeidlich die: es muß die Stellung des +Arbeiters im Wirtschaftsprozeß selbst geändert werden. Er muß +Mitbestimmungsrecht in gewissem Rahmen haben; er muß mit dem Betriebe +enger verwachsen, als es bisher der Fall war; er muß gegen die +Konjunkturgefahren, gegen Betriebsunfälle, gegen Alter und Invalidität, +gegen Ausbeutung geschützt werden. Die soziale und rechtliche Geltung +der Arbeiterschaft muß auf ihr richtiges Maß gebracht werden. All das, +damit er selbst lebendige Verantwortung für den Betrieb und +Pflichtgefühl der Arbeit gegenüber aufbringen könne! Das ist nicht nur +eine sozialpolitische Notwendigkeit, es ist vor allem ein +wirtschaftspolitisches Erfordernis. Nur so wecken wir Verantwortung und +Pflichtgefühl, nur so durchdringen wir die Wirtschaft bis in de +kleinsten Zellen mit diesen Eigenschaften. + +Ein gewichtiger Teil der Gesetzgebung hat sich seit der Revolution mit +Reformen in dieser Richtung befaßt. Zunächst die Reichsverfassung +selbst. Sie stellt die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des +Reiches. Sie gewährleistet das freie Vereinigungsrecht für jedermann, +für alle Berufe. Sie verspricht ein einheitliches Arbeitsrecht und +einen entschlossenen Ausbau der Sozialpolitik. Sie nähert sich dem +Gedanken des Rechtes auf Arbeit durch die Bestimmung, daß es jedem +Deutschen ermöglicht werden solle, durch wirtschaftliche Arbeit seinen +Unterhalt zu erwerben, und sichert für die Notfälle der +Arbeitslosigkeit den Unterhalt zu. Sie bringt allerdings auch zum +Ausdruck, daß jeder Deutsche die sittliche Pflicht habe, seine +geistigen und körperlichen Kräfte für das Wohl der Gesamtheit +einzusetzen. Konkreter werden die Bestimmungen der Verfassung +hinsichtlich der Anerkennung der Gleichberechtigung von Arbeitern und +Angestellten bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Ein +Aufbau von Betriebsräten und Bezirksräten, sowie einige auf +Gemeinwirtschaft zielende Bestimmungen sind verfassungsrechtlich +festgelegt. + +Diese verfassungsrechtlichen Ankündigungen haben teilweise bereits ihre +Verwirklichung erlebt. Wir erwähnen in diesem Zusammenhange das neue +Recht der Tarifverträge und der Schiedsgerichte, und vor allem das +Betriebsrätegesetz. + +Noch ehe die Reichsverfassung die Gedanken der Gemeinwirtschaft und die +Richtlinien der sozialen Befriedung festlegte, hatten die Verbände der +Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zusammengefunden, um auf einer neuen +Grundlage die kommenden Schwierigkeiten der Nachkriegszeit durch +gemeinsame Vereinbarungen zu bewältigen. Schon im November 1918 +erschien die sogenannte "Vereinbarung"; in ihr anerkennen die Vertreter +der Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften als berufene Vertretung der +Arbeiterschaft, in ihr wird jede Beschränkung der Koalitionsfreiheit +untersagt, und der Arbeitsfriede in Gestalt allgemeiner +tarifvertraglicher Regelung, der Arbeitsausschüsse, der +Schlichtungs- und Einigungsämter grundgelegt. Auf diese Vereinbarung +erfolgte im Dezember 1918 die Errichtung der sogenannten +Arbeitsgemeinschaften. Man hat diese Vereinbarung nicht mit Unrecht die +Magna Charta der Arbeiterschaft im neuen Deutschland genannt. Sie +verwirklicht gewerkschaftliche Forderungen, um die jahrzehntelang +umsonst gekämpft worden ist. Sie führt Arbeitgeber- und +Arbeitnehmerverbände zusammen zu paritätischer Entscheidung all der +Fragen, die das Arbeitsverhältnis betreffen. Wenn auch heute schon +feststellbar ist, das [sic] längst nicht alle Blütenträume gereift +sind, die an die Vereinbarung, die Arbeitsgemeinschaften und das +Betriebsrätegesetz anschlossen, so ist doch der eingeschlagene Weg +g r u n d s ä t z l i c h r i c h t i g und wird sicher nicht mehr +aufgegeben werden für das zweifelhafte Linsenmus wilder +Kampfauseinandersetzungen --, deren Last und Folgen würden auf beide +Teile vernichtend zurückfallen. So können wir hoffen, nach Zeiten +stärkster sozialer Konflikte und Spannungen allmählich alte Gegensätze +abzubauen, den Weg zum sozialen Frieden zu finden. Was der Glanz der +deutschen Macht, der Stolz auf das nach außen einige Vaterland und der +Schimmer blendenden Reichtums nicht vermochten, das wird, so hoffen +wir, als ein Werk der deutschen N o t zustande kommen: die Einigung +Deutschlands nicht nur nach Verfassungsparagraphen, sondern aus der +Einheitsgesinnung und aus dem Einheitswillen des ganzen Volkes heraus! + +Wir brauchen brauchen diesen unbeirrbaren Einheitswillen, um als Volk +und als Staat durch die trostlose Nacht des nationalen Unglücks +hindurchzukommen. Wir sind nicht mehr Herren im Lande, weder +staatsrechtlich -- das einzige Souveränitätsrecht, das der +Friedensvertrag uns gelassen hat, ist nach den Worten van Calcers das +Recht, Krieg zu erklären; ein platonisches Recht für ein Volk, das man +entwaffnet hat, und das nach allen Richtungen unter Kontrolle steht -- +noch wirtschaftlich. Durch ungeheuere Verpflichtungen sind wir zum +Lohnarbeitervolk geworden; die Last der Reparationen, die +Ausgeschöpftheit unseres Wohlstandes nötigen uns, die Betriebsmittel +unserer Lohnarbeit sogar noch vom valutastarken Ausland uns erstellen +zu lassen. Wir brauchen Aufbau- und Betriebskapitalien, unsere +Kapitalbildungskraft ist minimal, und so droht uns die Gefahr, daß +unsere Industriewerte vom ausländischen Kapital "überfremdet" werden. +Milliardenbeträge an Mark, aufgenommen vom Ausland, strömen zurück; +Milliardenbeträge an Schatzanweisungen, Obligationen und Industriewesen +müssen ins Ausland verzinst werden. Der Dollar, das Pfund Sterling, der +Gulden und der Frank bemächtigen sich unserer Industriewerte, unserer +Häuser, unseres Grundbesitzes, unserer Vorräte. Das ist ebenso +schmerzlich wie unabwendbar; wir brauchen das fremde Kapital. Es kommt +darauf an, es nicht der Menge nach, sondern seinem Macht- und +Verwaltungsanspruch nach zu begrenzen oder, wie Professor Schumacher +das neuerdings ausdrückte, es zu "entgiften", den Strom dieser +Kapitalien zu regulieren. Gewiß wäre es wünschenswert, wenn diese +ausländischen Kapitalien die wenigst bedenkliche Anlage in Deutschland +wählen würden, wenn sie dem G r u n d b e s i t z zuflössen. Aber das +ist wenig wahrscheinlich. Die Anlage, die sie suchen, und in der die +meisten Gewinne locken sind eben die Industriewerte; und unsere +Regulierung dieser Kapitalzuwanderung ist damit beschränkt auf das +Aushilfsmittel der Vorzugsaktie. Im übrigen stehen wir dem Prozeß so +lange mit gebundenen Händen gegenüber, als die Reparationslast und die +Steuern unsere Sparkraft lähmen. + +Aufkauf unserer Werte durch das valutastarke Ausland -- Abschöpfung +unserer Arbeitserträge durch Steuern zu Zwecken der Reparation: das +heißt wirklich das Licht an zwei Enden anzünden! Die Unhaltbarkeit +dieser Sachlage anerkennen selbst führende Wirtschaftspolitiker aus dem +Ententelager. Unter ihnen erwähnen wir Van der Lip und Keynes. Der +Engländer Keynes, der in seinem bedeutungsvollen Buche über den +Versailler Vertrag ein großes Maß an ruhiger Vernunft bewies, äußert +sich in neuerlichen Aufsätzen in der "Industrie- und Handelszeitung" +über die Fähigkeit Deutschlands, die ihm aufgelegten Lasten zu tragen. +Er kommt zu einem negativen Ergebnis. Er sieht im Londoner Diktat eine +provisorische Abmachung, die schon im nächsten Jahre ihre +Unzulänglichkeit zeigen werde. "An einem bestimmten Zeitpunkt, der +zwischen Februar und August 1922 liegt, muß Deutschland der +unvermeidlichen Zahlungsunfähigkeit erliegen. Nur bis dahin reicht die +Schonzeit, die gewährt wird." Diese Ansicht stützt Keynes auf eine +Untersuchung der Handelsbilanz, des deutschen Staatshaushalts und des +deutschen Volkseinkommens. + +Diese Darlegungen, deren sachliche Richtigkeit nicht bestritten werden +kann, die höchstens die eine Frage offen lassen, ob der von Keynes +genannte Termin gerade der richtige ist, zeigen uns, in welch +gefährlichem Fahrwasser das lecke Schiff der deutschen Wirtschaft +schwimmt. Das Echo, das sie in England und Frankreich vielfach gefunden +haben, beweist, wie machtvoll heute die Idee der Gewaltpolitik unter +Abweisung aller Vernunftserwägungen und aller sittlichen Begriffe in +den Köpfen der Sieger herrscht. Man sieht nur Goldmilliarden, die mit +dem Rechte Shylocks erpreßt werden müssen; aber man sieht nicht die +Abgründe, die vor ihnen liegen. Die geistige und sittliche Einheit +Europas ist vor dem nationalen Machtrausch und vor der Habgier der +heute, zumal in Frankreich, führenden Schichten ein Schrei in die +Wüste. Gerechtigkeit in der Behandlung großer, wehrloser Völker ein +leerer Paradespruch für Bankette, das Drapeau, mit dem Gewalttat und +Eroberungsgier zugedeckt werden. Der Geist Richelieus ist wieder +lebendig geworden, am Rhein und im Osten; nur ruft er heute keine +Türken herbei, sondern Schwarze und Braune aus allen Himmelsstrichen +und mobilisiert die slawische Welt gegen uns. Wir sind heute das +ungedeckte Glacis des elementar gegen Europa vordringenden Slawentums. +Dürfen wir hoffen, daß die unwiderlegliche Logik der Geschichte selbst +die Einsichtslosigkeit beheben, den verbrecherischen Übermut dämpfen +wird? Müssen die Trostlosigkeiten dauernder politischer Unruhen und +chronischer wirtschaftlicher Verarmung erst die ganze Welt schütteln +und erschüttern, ehe der Satz begriffen wird, daß kein Volk auf die +Dauer davon leben kann, daß es das andere unter die Füße tritt und +ausraubt! Wahrlich, wir haben unser gutes Gewissen wiederbekommen an +all den Furchtbarkeiten und Greueln, die man uns seit dem +Waffenstillstand zugefügt hat. Mit diesem guten Gewissen haben wir die +neue Pflicht für das gequälte und leidende Europa übernommen, der +Gerechtigkeit und der Ansicht breite Tore in uns und allen zu öffnen, +die in Europa und in der Welt noch guten Willens sind. Das sei im +Dunkel der gegenwärtigen Stunde unser Trost, daß wir nie zu so großer +Mission geläutert und berufen waren, wie wir heute sind! + + + +***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART*** + + +******* This file should be named 16264-8.txt or 16264-8.zip ******* + + +This and all associated files of various formats will be found in: +https://www.gutenberg.org/dirs/1/6/2/6/16264 + + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + diff --git a/16264-8.zip b/16264-8.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..89f4946 --- /dev/null +++ b/16264-8.zip diff --git a/16264-h.zip b/16264-h.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e7cc98c --- /dev/null +++ b/16264-h.zip diff --git a/16264-h/16264-h.htm b/16264-h/16264-h.htm new file mode 100644 index 0000000..4dd49fa --- /dev/null +++ b/16264-h/16264-h.htm @@ -0,0 +1,9521 @@ +<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 4.01 Transitional//EN" + "http://www.w3.org/TR/html4/loose.dtd"> +<html> +<head> +<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=ISO-8859-1"> +<title>The Project Gutenberg eBook of Deutsches Leben der Gegenwart, by Philipp Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and Goetz Briefs</title> +<style type="text/css"> +<!-- + blockquote { font-size: .7em; + line-height: 1em } + body { margin-top:100px; + margin-left:15%; + margin-right:15%; } + hr { width: 100%; + height: 5px; } + a:link {color:blue; + text-decoration:none} + link {color:blue; + text-decoration:none} + a:visited {color:blue; + text-decoration:none} + a:hover {color:red} + pre {font-size: 8pt;} +--> +</style> +</head> +<body> +<h1 align="center">The Project Gutenberg eBook, Deutsches Leben der Gegenwart, by Philipp +Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and Goetz Briefs, +Edited by D. Philipp Witkop</h1> +<pre> +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at <a href = "https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a></pre> +<p>Title: Deutsches Leben der Gegenwart</p> +<p> Deutsche Dichtung der Gegenwart, von Prof. Dr. Philipp Witkop; Deutsche Musik der Gegenwart, von Paul Bekker; Deutsche Philosophie der Gegenwart, von Prof. Dr. Max Scheler; Relativitätstheorie, von Prof. Dr. A. Sommerfeld; Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart, von Prof. Dr. Goetz Briefs</p> +<p>Author: Philipp Witkop, Paul Bekker, Max Scheler, Arnold Sommerfeld, and Goetz Briefs</p> +<p>Editor: D. Philipp Witkop</p> +<p>Release Date: July 11, 2005 [eBook #16264]</p> +<p>Language: German</p> +<p>Character set encoding: ISO-8859-1</p> +<p>***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART***</p> +<br><br><center><h3>E-text prepared by Martin C. Doege<br> + mdoege@compuserve.com</h3></center><br><br> +<hr noshade> +<br> +<br> +<br> +<p><a href="#lit">PROF. DR. PHILIPP WITKOP<br>Deutsche Dichtung der Gegenwart</a></p> + +<p><a href="#mus">PAUL BEKKER<br>Deutsche Musik der Gegenwart</a></p> + +<p><a href="#phi">PROF. DR. MAX SCHELER<br>Deutsche Philosophie der Gegenwart</a></p> + +<p><a href="#rel">PROF. DR. A. SOMMERFELD<br>Relativitätstheorie</a></p> + +<p><a href="#eco">PROF. DR. GOETZ BRIEFS<br>Deutsche Wirtschaftsprobleme der Gegenwart</a></p> +<br> +<br> +<br> +<br> +<h1>DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART</h1> + +<p><b>HERAUSGEGEBEN VON PROF. D. PHILIPP WITKOP</b></p> + + +<p>Mit 8 Abbildungen</p> + + +<p>Berlin 1922</p> + + +<p>VOLKSVERBAND DER BÜCHERFREUNDE<br>WEGWEISER VERLAG G. M. B. H.</p> + + + +<blockquote> Dieses Buch wurde als dritter<br> + Band der dritten Jahresreihe<br> + für die Mitglieder des "Volksverbandes<br> + der Bücherfreunde" hergestellt und wird nur an<br> + diese abgegeben / Den Einband<br> + zeichnete A d o l f P r o p p</blockquote> + + +<br> +<br> +<br> +<br> +<h3>VORWORT</h3> + +<p>Deutsches Leben der Gegenwart — dem feindlichen Blick, der nur +seine Oberfläche streift, möchte scheinen, daß die Gegenwart wenig vom +deutschen Leben, mehr vom deutschen Sterben zu melden hätte. Aber der +nachdenkliche Betrachter weiß, daß die größten geistigen Epochen +Deutschlands über seinen politischen Niederlagen wuchsen, daß gerade +die Zeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach dem Zusammenbruch von +Jena zu den schöpferischen des deutschen Lebens gehören. Und so wird +seinem geschärften Auge nicht entgehen, wie auch heute hinter der +zerstörten und zersetzten deutschen Außenwelt seelische und geistige +Kräfte keimen — in heiligem Trotz dem Elend und Leid der +Gegenwart entkeimen — die eine Verjüngung und Vertiefung, eine +Erneuerung Deutschlands verheißen.</p> + +<p>Von solchen Kräften will dies Buch uns Kunde geben, auf daß wir der +inneren deutschen Welt gewiß und froh werden, wenn auch die äußere noch +darniederliegt.</p> + +<p>Und es ist bedeutsam, zu sehen, daß diese Mächte durch den Krieg +zwar erst ganz befreit und gefördert, aber nicht erst durch den Krieg +geweckt sind. Schon seit der Jahrhundertwende regen sich Kräfte in +Deutschland, die es aus der europäischen Epoche des Materialismus und +Rationalismus, des Technizismus und Kapitalismus hinausführen wollen zu +geistigem und seelischem Urgrund.</p> + +<p>In der Dichtung, Musik, Philosophie, der Naturwissenschaft und +Wirtschaft drängen junge, schicksalstiefere Kräfte vor. Und so wenig +die Autoren dieses Buches einem bestimmten anderen Punkte sieht und +schafft, so leben und schaffen doch alle nicht im Gefühl eines Ausgangs +und Untergangs, sondern eines Anfangs und Übergangs, einer Zeitenwende, +in der dem deutschen Volke vielleicht gerade um seiner größeren Leiden +willen die größere, schwerere Aufgabe zugewiesen ist.</p> + +<blockquote> F r e i b u r g i. B., Neujahr 1922.</blockquote> + +<blockquote> Prof. Dr. Philipp Witkop.</blockquote> + + + + +<h2><a name="lit">DIE DEUTSCHE DICHTUNG DER GEGENWART<br>(IN IHREN GRUNDLINIEN)<br>VON +PHILIPP WITKOP</a></h2> + + +<h3>DER ROMAN</h3> + +<p>Alle epische Dichtung, das Versepos wie der Roman, setzt sich als +höchstes Ziel, ihr ganzes Volk in ihrer Zeit darzustellen, in seinen +religiösen, sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Grundformen. +Aber die Urzeit der Völker, da diese Formen in ungeschiedener Einheit +das ganze Volk umfassen, hat selten ein Volk zum Bewußtsein und zur +epischen Gestaltung seiner selbst gelangen lassen. Erst nachdem sich +aus der Einheit und Einfachheit des ganzen Volkes einzelne Stände +herausgehoben und gesondert ihre Anlagen und Lebensformen entwickelt +haben, sind die großen Epen entstanden. Die Ilias wie die Nibelungen +stellen die Lebensformen einer ritterlichen Gesellschaft dar. Und wenn +de ständischen Volksgruppen sich kulturell und dichterisch entwickelt +haben, meist nacheinander, so bleiben sie in der epischen Dichtung +ihres Landes nebeneinander bestehen: fast alle großen neueren Romane +gestalten die Lebensformen eines bedeutenden Standes; so zerfällt der +Volksroman in den Ritter- oder Adelsroman, den Bürgerroman, den +Bauernroman, den Arbeiterroman. Die jeweilige schöpferische Bedeutung +dieser Stände entscheidet zumeist auch über die Bedeutung ihrer Romane. +Sind ihre Lebensformen, ihre religiösen, sittlichen, geistigen, +wirtschaftlichen Grundkräfte gesund, klar, einig und schöpferisch, so +drängen sie auch nach ihrem schöpferischen Ausdruck, so geben sie einem +wesensverbundenen Epiker die innere Form zu einem epischen +Gesellschafts- und Volksbild, das sich in breitem Nach- und +Nebeneinander, in plastischer Gestaltenfülle, in farbiger Sinnlichkeit +und Sichtbarkeit, in liebevoller Bejahung des Lebens entfaltet.</p> + +<p>In Deutschland ist dies Wesen und Werden der epischen Dichtung von +fremden Kräften durchkreuzt. Seine ritterliche Kultur hat zwar in +Gottfried von Straßburgs "Tristan" und in Wolfram von Eschenbachs +"Parzival" vollen epischen Ausdruck gefunden. Aber schon im "Parzival", +dem eigentlich deutschen der beiden Gedichte, bricht jene deutsche +Eigenheit durch, die dem epischen Lebensgefühl widerspricht: die +deutsche Art schlägt das Auge eher nach innen denn nach außen auf, ist +mehr metaphysisch als physisch, mehr musikalisch als plastisch, sie +weiß mehr von der inneren Einsamkeit der Persönlichkeit als von der +Gemeinsamkeit des Standes, Volkes und Staates, mehr von Kampf und +Tragik als von Frieden und Daseinsfreude. Schon die Nibelungen sind im +Grunde eine Tragödie, der grauenvolle Untergang eines ganzen Volkes. +Ein unendliches Wehklagen ist ihr Schluß und die düstere Erkenntnis, +"daß alle Freude immer zuletzt in Leid sich kehrt". Und der erste der +großen deutschen Prosaromane, Grimmelshausens "Simplizissimus", +schildert die irrende deutsche Seele, die aus Mord und Getümmel des +Dreißigjährigen Krieges auf eine einsame Insel, an das Herz ihres +Gottes flüchtet. Die Entwicklung und Vollendung der Seele wird zum +Inhalt des deutschen Romans, nicht die Darstellung des äußeren Lebens, +der Gesellschaft, des Volkes, der Kriege und Siege. Die großen +deutschen Epen und Romane sind Entwicklungsromane: "Parzival", +"Simplizissimus", "Wilhelm Meister", "Der grüne Heinrich".</p> + +<p>Diese deutsche Wesensart ist durch die Geschichte Deutschlands +bedeutsam verstärkt worden — wobei vielleicht auch hier +"Schicksal und Gemüt Namen e i n e s Begriffes sind" (Novalis). Während +die romanische und angelsächsische Welt mit der Renaissance sich der +Bewunderung, Erforschung und Eroberung der Natur zuwandte, verlor sich +Deutschland in die metaphysischen Tiefen und Konflikte der Reformation, +bis daß es in einem dreißigjährigen Religionskriege fast zugrunde ging. +Aber während es politisch und wirtschaftlich so auf lange daniederlag, +hob es sich philosophisch und künstlerisch zu seiner größten Bedeutung. +Zum epischen Ausdruck dieser inneren Welt und Wesenheit wird der Roman +der deutschen Romantik (Hölderlin, Novalis, Jean Paul. Eichendorf, E. +T. A. Hoffmann), der durchaus musikalisch-metaphysisch bestimmt ist, +aus der Welt der Gestalten in die "unendliche Melodie" +hinüberdrängt.</p> + +<p>Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt Deutschland aus dem Reich +der Dichtung, Philosophie und Religion in das Reich der Industrie, +Technik und Politik hinaus. Aber die künstlerisch bedeutenden +realistischen Romane, die um diese Zeit entstehen (Immermanns +"Münchhausen", 1838, Ludwigs "Heiteretei", 1853, Freytags "Soll und +Haben", 1855, Reuters "Ut mine Stromtid", 1862-64, Raabes "Der +Hungerpastor", 1864), begleiten diese Entwicklung kaum. Ihre Welt ist +die des alten Deutschlands, des Bauerntums, der Gutsbesitzer, des +Kleinbürgertums geblieben. Die deutsche Kultur vermag die neuen, +industriellen und politischen Kräfte nicht schöpferisch zu durchdringen +und zu formen.</p> + +<p>Es war das Verhängnis der deutschen Kultur, daß die neue Entwicklung +die klassische Zeit des deutschen Idealismus nicht auf ihrer Höhe, +sondern im Niedergang antraf, daß das philosophisch-dichterische und +das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter sich nicht durchdrangen, +sondern einseitig ablösten. Als die idealistische deutsche +Weltanschauung schon in sich zersetzt, Hegels Philosophie bei Feuerbach +in ihr Gegenteil umgeschlagen war, da drangen Naturwissenschaften, +Technik und Industrie ein. Eine abgestorbene innere Welt stand einer +jungen äußeren gegenüber, die sich in unerhörter Jähe und Stärke +entwickelte. Und die politischen Geschehnisse — die wieder nicht +aus innerem Wachstum reiften, sondern von außen, durch Bismarcks Genius +heraufgeführt wurden — steigerten diese Entwicklung ins +Hemmungslose. So vermochten die alten bürgerlichen Lebensformen sich +nicht mehr organisch fortzubilden; sie wurden gesprengt. Mit dem +Aufstieg des deutschen Bürgertums zur äußeren Macht beginnt seine +innere Zersetzung. Der Biedermeierstil ist der letzte Ausdruck einer +bürgerlichen Lebensform in Deutschland.</p> + +<p>Am Ende dieser bürgerlichen Kultur steht Thomas Mann (geb. 1875). +Seine Vaterstadt Lübeck, die alte Hansastadt, vermochte ihre +Lebensformen am längsten zu behaupten. Die "Buddenbrooks" (1901) sind +der größte und letzte bürgerliche Roman in Deutschland.</p> + +<p>Thomas Mann war — wie sein Bruder Heinrich Mann — der +Sohn eines Lübecker Senators. Über ein Jahrhundert hinweg sah er sein +Geschlecht in der sicheren Tradition, den festen bürgerlichen +Lebensformen der Freien Hansastadt wurzeln und wirken. Und am Ende +dieser Reihe standen er und sein Bruder, unwillig, unfähig, diese +Tradition fortzuleiten. Der Dreiundzwanzigjährige suchte nach einer +Erklärung, einer Rechtfertigung seines Andersseins. Und als Sohn eines +naturalistischen Zeitalters, das eben Darwin aufgenommen hatte, das +Entwicklung und Verfall der Arten, die geheimnisvolle Unübersehbarkeit +der Erbgesetze zu durchschauen meinte, sah er — nicht ohne +Einfluß Zolas und seiner Rougon-Macquart-Reihe — sich als den +Ausgang eines alten, immer mehr verfeinerten Geschlechtes, das +schließlich, durch Beimischung des mütterlichen, romanischen Blutes dem +tätigen Leben entfremdet, im bloßen Zuschauer, Kritiker und Gestalter +des Lebens, im Künstler, endete. Ein Entartungs-, ein Dekadenzproblem! +Auf mehr denn tausend Seiten schrieb der Jüngling die Chronik des +Niederganges: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie." Aber er war viel +zu seelenhaft, zu metaphysisch, zu musikalisch, als daß er im +naturalistischen Roman steckengeblieben wäre. Stärker als Zola +bestimmte ihn Richard Wagner, dessen überwiegend epische Elemente ihm +deutlich und nah waren, stärker als die Rougon-Macquart-Reihe der "Ring +der Nibelungen". So wurde ihm die Entartung zur Verinnerlichung: Vier +Generationen schreiten den Weg aus klarer, derber Lebenstüchtigkeit in +die allauflösende, geheimnisdunkle, "unendliche Melodie". Durch die +naturalistische Darstellung bricht das Lebensgefühl der deutschen +Romantik: "Sympathie mit dem Tode".</p> + +<p>Die vier Generationen schreiten den Weg nicht nur kraft einer +naturgesetzlich berechenbaren Zersetzung ihres Blutes und ihrer Nerven, +nicht nur Kern einer metaphysisch unbedingten Wesensgegebenheit, sie +schreiten ihn auch, weil die alten bürgerlichen Lebensformen ihrer +Umwelt sie nicht mehr zu halten und binden vermögen. Auch hier sind, im +weiten epischen Sinne, "Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffes" +(Novalis). Im "Verfall einer Familie" schildert der Epiker den Verfall +einer Welt, der Welt des alten deutschen Bürgertums. Subjektiv +"flüchtig und ohne daß ich an diesem Gegentyp sonderlich teilgenommen +hätte", objektiv aber notwendig und bedeutsam geht dem Abstieg der +Buddenbrooks der Aufstieg der Hagenströms parallel, um in der Übernahme +des Buddenbrookschen Hauses durch Hagenströms zu gipfeln: Der Bürger +wird abgelöst durch den Bourgeois, patriarchalische, sittliche, +geheiligte Lebensformen, die über den Personen und Generationen +standen, weichen der egoistischen, skrupellosen Willkür des +Individuums, das "frei von der hemmenden Fessel der Tradition und der +Pietät auf seinen eigenen Füßen stand" dem "alles Altmodische fremd" +war.</p> + +<p>In vier Generationen umfaßt der Roman die Zeit von 1768, dem +Gründungsjahr der Firma (unmittelbar von 1835, dem Jahr des +Wohnungswechsels) bis nach 1880: die eigentliche Zeit des neuen +deutschen Bürgertums, in Aufstieg, Glanz und Niedergang. Schon diese +äußere Spannweite greift über jeden deutschen Roman hinaus, nicht +minder die innere: der Beginn: rationalistische Behaglichkeit, +sinnlich-geruhige Lebensfreude und Lebensbejahung, das runde, rosig +überhauchte, wohlmeinende Gesicht, das schneeweiß gepuderte Haar, das +leise angedeutete Zöpflein des alten Monsieur Johann Buddenbrook, ein +Diner von traditioneller Feinheit und Fülle und epischer Dauer, +Schinken von sagenhaftem Umfang, Puddings von mythischer Schichtung und +Mischung, Weine von staubumsponnenem Alter, anakreontisch tändelnde +Verse: "Venus Anadyoméne — Und Vulcani fleiß'ge Hand", +heiter-graziöse Flötentöne und ein wenig schlüpfrige Verslein im +Billardsaal. Und das Ende: der fünfzehnjährige, lebensunwillige, +leidverlorene Hanno Buddenbrook mit den Augen des Wissenden, Einsamen, +Heimatlosen, der so müde des Daseins ist, der schlafen möchte und +nichts mehr wissen: "man sollte mich nur aufgeben; ich wäre so dankbar +dafür", der aus der Sphäre epischer Bejahung und Gegenständlichkeit in +verzweifeltem Aufbruch sich hinüberflüchtet in das weltflüchtige, +weltverneinende, jenseitige Reich einer an Wagner geschulten Musik: +Hanno Buddenbrook vor dem Flügel.</p> + +<p>Zwischen diesen äußersten Spannungsweiten dehnt sich die Handlung. +In einer epischen Gegenständlichkeit, die keine Reflexion, keinen +blassen Bericht zuläßt, die ganz sichtbare, farbige Gegenwart ist, +folgen sich die Gestalten und Generationen als feste Glieder in der +Kette des Geschlechts, der Firma, der bürgerlichen Tradition. Dieser +Zusammenhang umfaßt ihre Weltanschauung. Ihr Unsterblichkeitsglaube ist +der epische des Geschlechts: "daß er (Thomas Buddenbrook) in seinen +Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte +nicht allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein, +seiner geschichtlichem Pietät übereingestimmt; es hatte ihn auch in +seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung +unterstützt und bekräftigt." Die Bibel dieses Glaubens ist die +Familienchronik: die feierliche Darstellung des Werdens, Ringens und +Wachsens dieser Folge, der Menschen, der Generation und des Ideals, dem +sie unterstellt sind: der Firma.</p> + +<p>Wie es die Lebensaufgabe der Fürsten- und Königshäuser ist, ihren +überkommenen Machtbezirk taten- und ehrenvoll zu behaupten und zu +erweitern, so ist es die verantwortungsvolle Aufgabe des Bürgerhauses, +die ererbte Firma zu immer weiterer Wirkung, immer reicherer Würde zu +führen. Eine überpersönliche, sittliche Aufgabe! Ihr opfert man seine +Ruhe, seine Liebe, sein Glück. "Wir sind nicht dafür geboren, was wir +mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück +halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende +Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie +wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen +und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und, ohne +nach rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen +Überlieferung folgten."</p> + +<p>Die ersten beiden Generationen des Romans sind von diesem +Lebensgefühl noch bluthaft durchdrungen; in den beiden letzten zersetzt +es sich. Nur Toni Buddenbrook bleibt sein gläubiger Träger. Ihm opfert +sie ihre Jugendliebe, um seinetwillen heiratet sie den erst +widerwärtigen Grünlich, um seinetwillen trennt sie sich von ihm, um +seinetwillen geht sie die neue We mit Permaneder ein. Und als alle +männlichen Glieder der Familie gestorben, die Firma aufgelöst ist, da +bleibt ihr Lebenstrost, einmal in der Woche die weiblichen Verwandten +zu sich zu laden: "Und dann lesen wir in den Familienpapieren." Ihr +Gegensatz ist ihr Bruder Christian. Ihn vermögen die alten Lebensformen +nicht mehr zu halten, sie lassen ihn gehen, er läßt sich gehen: "Wie +satt ich das alles habe, dies Taktgefühl und Feingefühl und +Gleichgewicht, diese Haltung und Würde, wie sterbenssatt!" Die Firma, +das überpersönliche Ideal der Familie bedingt ihn nicht. Er zergeht in +"ängstlicher, eitler und neugieriger Beschäftigung mit sich selbst". +Sein Interesse für Theater, Varieté und Zirkus ist das Interesse des +formlos gewordenen Bürgers für "die Fahrenden" die dem +mittelalterlichen Bürger als unehrlich galten.</p> + +<p>Schließlich heiratet er seine Kurtisane; den alten, bürgerlichen +Formen entglitten, unfähig, sich neue zu bilden, fällt er seelisch und +körperlich auseinander. Zwischen Toni und Christian steht Thomas +Buddenbrook. Die Gefahren Christians, der Hang zur Formlosigkeit und +Subjektivität, ist ihm nicht fremd. Er bekämpft und überwindet sie. Er +wird zum Helden des sinkenden bürgerlichen Ideals. Aber die alten +Lebensformen halten weniger ihn, als daß er sie hält. Der Held wird zum +Schauspieler des Ideals; er repräsentiert es, er verkörpert es nicht. +"Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in +Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Innern, +verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen +Enschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine +Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Dehors zu wahren, +hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewußt, +gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung, jede +geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden +Schauspielerei geworden war."</p> + +<p>Diesem Schauspieler des Ideals wird als Sohn Hanno Buddenbrook, der +viel zu müde ist, um zu schauspielern, viel zu vornehm, um gleich +seinem Onkel Christian zum "Fahrenden" zu werden. Wenn er zur Kunst +flüchtet, so sucht er nicht das Formlose im Leben, sondern das Formlose +jenseits des Lebens: die Musik, die vor und über aller Erscheinung ist, +das Meer der unendlichen Melodie, das sein Tropfendasein erlösend +zurücknimmt. Von den alten bürgerlichen Lebensformen verlassen, nach +neuen nicht begierig, ein Bürger des Metaphysischen, das sich seinem +Vater nur in der Lesung Schopenhauers einmal blendend enthüllt hat, +gibt er leidvoll und heimwehmüde vor der Zeit das Leben preis.</p> + +<p>Wie diese — erst in Hanno ungehemmte — "Sympathie mit +dem Tode" heimlich aus der bürgerlichen Diesseitigkeit der Generationen +emporwächst, ist in weitgespannter, erschütternder Symbolik +dargestellt. Die ersten, eigentlich epischen, lebensbejahenden +Generationen verstehen den Tod nicht: "Kurios! Kurios!" murmelt der +alte Monsieur Buddenbrook am Sterbebett seiner Frau mit leisem, +erstauntem Kopfschütteln; mit einem letzten "Kurios" kehrt er selber +sich sterbend zur Wand. "Mit Furcht und einem offenkundigen, naiven +Haß" beobachtet die Konsulin Buddenbrook, "die ehemalige Weltdame, mit +ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und zum +Leben überhaupt" die Fortschritte ihrer Krankheit; sie kämpft mit dem +Tod in langer, verzweifelter Kraft. Thomas Buddenbrook aber, der Held +und Schauspieler des bürgerlichen Ideals, ist längst so vom Tode +unterhöhlt, daß ein Zahngeschwür genügt, um seine krampfhafte +Lebensbehauptung niederzureißen. Mitten auf der Straße wirft es ihn um; +der so lang und gewissenhaft Würde, Haltung, Form verteidigt, liegt im +Kot und Schneewasser des Fahrdamms. "Seine Hände, in den weißen +Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze." Hanno aber +kämpft nicht mehr gegen den Tod; hemmungslos ersehnt und ruft er ihn +als den Freund und Erlöser.</p> + +<p>Mit ähnlicher, weitgespannter Symbolik, mit gleicher Fülle und Dauer +der inneren Beziehungen baut sich alles auf in diesem Roman. Von den +alten Epen ist das Leitmotiv übernommen und über Richard Wagner her +musikalisch verinnerlicht, symbolisch vertieft. Gegenüber der lockeren +Form des "Wilhelm Meister" und des "Grünen Heinrich" ist hier an +Geschlossenheit des epischen Aufbaus in Deutschland ein Höchstes +erreicht.</p> + +<p>Die "Buddenbrooks" schreibt Thomas Mann, dreiundzwanzig bis +sechsundzwanzig Jahre alt, in Italien und München, so wie Gottfried +Keller seinen "Grünen Heinrich" in Berlin niederschrieb. Nicht er +allein schuf diesen Roman; durch ihn schuf und gestaltete sich sein +Geschlecht, sein Heimatstaat Lübeck, wie der Berner Stadt-Staat durch +Jeremias Gotthelf, Zürich durch Gottfried Keller, das alte Berlin durch +Theodor Fontane sich Gestalt erdrang. Aber Gottfried Keller kehrte aus +Berlin nach Zürich heim, wurde Staatsschreiber und Führer, nahm in +Anteil und Liebe neue Lebensbilder und -schicksale seines Volkes auf, +Grund und Gehalt zu neuen Schöpfungen. Was blieb Thomas Mann, dem +Epiker, der seine eigene Welt zu Grabe getragen, der ihr das letzte +Zeichen seiner Liebe im Riesendenkmal seiner Dichtung geschaffen hatte? +Ein Lyriker hat die Natur, ein Dramatiker. die Idee, die seiner Kunst +Boden und Wachstum geben. Ein Epiker ist undenkbar ohne Volks- und +Heimatzusammenhang. Im Weh verfrühter Hellsicht stand der Einsame, +Zurückgebliebene, ein König ohne Land, ein Bildner ohne Stoff. Sollte +er zum bloßen Zuschauer, Beobachter, Kritiker, zum weiteren Zersetzer +des Lebens werden? Sollte er das Leben verachten, das ihm nicht gemäß +war, und hochmütig sich in das Reich einer rein formalen Kunst, einer +l'art pour l'art, zurückziehen? Das Europäisch-Intellektuelle seine +Wesens, das Romanische seines Blutes drängte zu diesem Entscheid. Der +Zwiespalt wurde zur Dichtung: In den "Buddenbrooks" hatte Thomas Mann +sich Rechenschaft über das Problem seines Lebens gegeben, im "Tonio +Kröger" gab er sich Rechenschaft über seine Kunst.</p> + +<p>Und er blieb dem Leben treu, obwohl es ihn allein gelassen hatte. +Über die Qual der Einsamkeit, den Hochmut der Form und Erkenntnis +hinweg bekannte, ja predigte er "die Bürgerliebe zum Menschlichen, +Lebendigen und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt +aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von +der geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen reden +könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle +sei." Er verspottete und geißelte die Gefahren des Literaten- und +Ästhetentums — seine Gefahren! — im Schriftsteller Spinell. +In Leidverwandtschaft kehrte er sich den Enterbten des Lebens zu, +sprach er sein Leid in ihrem Leid, im Weltleid aus. Wie in den +"Lamentationen" Heines, den das Leben verwiesen und in die +Matratzengruft geworfen hatte, so ziehen die Verfolgten und Verratenen +des Lebens — Tobias Mindernickel, der kleine Herr Friedemann, der +Bajazzo, Rechtsanwalt Jacoby, Friedrich Schiller, Baronin Anna, Lobgott +Piepsam, Van der Qualen, Hieronymus — mit friedlosen, sehenden +Augen an uns vorüber.</p> + +<p>Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein +Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und +Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine junge +Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden, nicht in +Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "Königliche Hoheit" zeichnet die +Erlösung durch die Liebe von einem formalen, repräsentativen Dasein zur +Tat und Gemeinschaft, zum "strengen Glück". Ein Kunst- und Märchenspiel +von romanischer Klarheit, Bewußtheit, Überlegenheit der Form, von +deutscher Innerlichkeit, Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des +Gehalts. Der "Gesang vom Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines +Töchterchens, Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast +ohne ästhetische Form, nur als Ausdruck der formgewordenes, +harmonischen Persönlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht +in Bauschan, dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des +Lebens und der Liebe ein.</p> + +<p>Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen +Zugehörigkeit und Entschlossenheit, dieser Wärme, Liebe und Güte formt +er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die +zersetzenden Kräfte in sich und der Umwelt: an die auflösende +Erkenntnis, die Relativierung der Werte und — tiefer und +tragischer im Konflikt seines Helden — an die leere Schönheit, +die bloße Form: "Der tiefe Entschluß des Meister gewordenen Manns, das +Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber +hinwegzugehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die +Leidenschaft im geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen +geeignet ist, liegt hinter dem Dichter Aschenbach, dem Helden der +Meisternovelle 'Der Tod in Venedig'." Im Kampfe zwischen Geist und Kunst +hat er leidenschaftlich für die Kunst gefochten. Um der Kunst willen +hat er dem Leben entsagt, an der Einsamkeit seines Schreibtisches hat +er gegen seinen schwächlichen Körper in zähem, unermüdlichem Ringen die +reine Form seiner Werke erkämpft, die ihm ebenso ethische wie +ästhetische Aufgabe war. Aber hinter dieser Form, die den Spannungen +seines Willens und Bewußtseins abgerungen, die nicht organischen +Lebens- und Liebestiefen entwachsen ist, droht ständig die Gefahr der +Abspannung und Entfesselung, der Zügellosigkeit und Vernichtung. Auf +der Höhe seines Ruhmes verführt und überwältigt sie ihn. Sie lockt ihn +nach den Gestaden Venedigs, wo das das Leben Schein und die Kunst +Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm die Liebe zu Tadzio, dem schönen +Polenknaben, eine zuchtlose Ausschweifung seiner künstlerischen und +sinnlichen Phantasie, sie sich nicht an der Wirklichkeit beruhigen, +berichtigen, gestalten kann noch will, eine weglose Liebe zur reinen +Form, die zur Unfruchtbarkeit verdammt ist, die nicht zeugen kann im +Geliebten, die widernatürlich und tödlich ist. In tragischer +Steigerung, in unentwirrbarer Mischung des Heiligen und Verworfenen, +jagt sie "den Meister, den würdig gewordenen Künstler", durch alle +Leiden und Leidenschaften, alle Verzückung und Erniedrigung zur +"Unzucht und Raserei des Untergangs". Nie sind die eingeborenen +Gefahren der Kunst würdiger und erschütternder gestaltet, die Gefahren +der Schönheit, die dem Geist wie den Sinnen verknüpft ist, die in jedem +von ihnen zur Ausschweifung neigt, sofern nicht beide in der höheren +Einheit der Seele sich organisch finden und binden.</p> + +<p>Dann kam der Krieg. Und über alle militärischen und politischen +Kämpfe erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche Auseinandersetzung +zweier Weltanschauungen, jener Gegensätze, die er in sich selber +erlitten und entschieden hatte: das Germanische und das Romanische, das +Deutsch-Dichterische und das Europäisch-Intellektuelle, Kunst und +Erkenntnis, Gehalt und Form, Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen +Bruder war der Teil seines Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt +hatte, Wille und Angriff geworden. Gegen seinen Bruder mußte er diesen +Kampf noch einmal aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden. +Alle großen Epiker waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im +ästhetischen, auch im ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher: +Wolfram von Eschenbach im "Parzival", Grimmelshausen im +"Simplizissimus", Goethe im "Wilhelm Meister" Gottfried Keller im +"Grünen Heinrich" und "Martin Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem +seiner schollentreuen Romane. Es brauchte des französischen Vorbildes, +Emil Zolas, nicht, das Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das +Bild, das sie formen wollten und mußten aus dem Rohstoff ihres Volker: +das entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein +soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, französischen, +rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Thomas +Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er gestaltete und +verkündete den metaphysischen, deutschen und russischen, religiösen, ja +mystischen, pessimistischen Menschen des 19. Jahrhunderts. Dem +Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs des Großen +entgegengestellt, den geschwätzigen, optimistischen, rationalistischen +"Vier Evangelien" des Romanciers die Dämonie und herrische Pflichttreue +des gottgeschlagenen und gotterwählten Königs, der sich verzehrte in +Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, daß von ihm nichts übrigblieb +wie ein abgemergelter, verschrumpfter Kinderleib, den ein Diener mit +einem seiner Hemden bekleiden mußte, da "man kein heiles, sauberes Hemd +in seinen Schubladen fand".</p> + +<p>Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung +ersehnt und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kräfte, die imstande +sind, "die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit +und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und +Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt" zu +überwinden, "dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem +Wiederaufbau seelischer Form zu dienen" und so dem heimatlosen Epiker, +seinem Leben wie seiner Kunst, eine neue Welt zu schaffen.</p> + +<p>Heinrich Mann aber, Thomas Manns Gefahr und Gegensatz, ist nicht nur +in und durch Thomas Mann überwunden, ist politisch an der Entwicklung +der Zeit, künstlerisch an seiner zersetzenden Subjektivität und +Lieblosigkeit zergangen. Thomas Mann hatte sein Geschlecht und Volk +noch im Verfall umfaßt, hatte am Ende der Reihe, ein Zugehöriger und +doch Außenstehender, in Liebe und Ironie zugleich ihm Gestalt gegeben. +In Sehnsucht hatte jedes seiner Werke vom Wiederaufbau, der neuen +Lebensform und Lebensgemeinschaft gehandelt. Im tiefsten Sinn war ihm, +dem wahren Epiker, Richard Dehmels Spruch Lebensgefühl gewesen: "Alles +Leid ist Einsamkeit — alles Glück Gemeinsamkeit." Heinrich Mann +hatte sich stets wichtiger genommen als sein Geschlecht und sein Volk. +Früh und fremd hatte er Vaterstadt und Vaterland den Rücken gekehrt. +Der romanische Tropfen in seinem Blute trieb ihn nach Italien, das +Thomas erst sein tiefes Deutschtum deutlich machte. Eine Zeitlang +glaubte Heinrich Mann, dort "zu Hause zu sein. Aber ich war es auch +dort nicht; und seit ich dies spürte, begann ich etwas zu können. Das +Alleinstehen zwischen zwei Rassen stärkt den Schwachen; es macht ihn +rücksichtslos, schwer beeinflußbar, versessen darauf, sich selbst eine +kleine Welt und auch die Heimat hinzubauen, die er sonst nicht fände. +Da nirgends Volksverwandte sind, entzieht man sich achselzuckend der +üblichen Kontrolle. Da man nirgends eine Öffentlichkeit weiß mit völlig +gleichen Instinkten, gelangt man dahin, sein Wirkungsbedürfnis +einzuengen, es an einem einzigen auszulassen, wodurch es gewinnt an +Heftigkeit. Man geht grelle Wege, legt das Viehische neben das +Verträumte, Enthusiasmen neben Satiren, koppelt Zärtlichkeit an +Menschenfeindschaft. Nicht der Kitzel der andern ist das Ziel: wo wären +denn andere! Sondern man schafft Sensationen für einen einzigen. Man +ist darauf aus, das eigene Erleben reicher zu fühlen, die eigene +Einsamkeit gewürzter zu schmecken." Welch treffendes Selbstbildnis! +Welch Zerrbild eines Epikers! Ohne Wurzelboden, ohne Zusammenhang, ohne +Liebe, im Selbstgenuß hochmütiger, überreizter Sensationen, +zersetzender Erkenntnisse, ehrgeiziger Spannungen. Ihm wird die Kunst +zur "widernatürlichen Ausschweifung". "Pippo Spano", das Gegenbild zum +"Tonio Kröger", bekennt in leidender zuchtloser Lässigkeit: "Sie (die +Kunst) höhlt ihr Opfer so aus, daß es unfähig bleibt auf immer zu einem +echten Gefühl, zu einer redlichen Hingabe. Bedenke, daß mir die Welt +nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen. Alles, was du siehst und +genießt: mir wäre nicht an ihrem Genuß gelegen, nur an der Phrase, die +ihn spiegelt. Jeder goldene Abend, jeder weinende Freund, alle meine +Gefühle und noch der Schmerz darüber, daß sie so verderbt sind — +es ist Stoff zu Worten." Das ganze Leben und Schaffen Heinrich Manns +ist ästhetischer Selbstgenuß statt ethischer Selbstvollendung oder +-überwindung.</p> + +<p>Welche epischen Werke können aus solcher Willkür wachsen? Das +Hauptwerk "Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy" +(1902-03) weiß der Wurzel- und Heimatlosigkeit seines Dichters keine +andere Heldin als die Balkanprinzessin der Operetten. Macht, Kunst und +Liebe werden — in reinlichem Nacheinander! — ihr +Lebensinhalt. Der Balkan, Venedig, Neapel sind die billigen Kulissen +dieser Stationen. Da Heinrich Mann nicht seine Literatur aus dem Leben, +sondern sein Leben aus der Literatur empfängt, sind alle Figuren und +Leidenschaften aus zweiter Hand, ästhetische, durchsichtige, +monumentalisierte Schemen, nicht unergründliche, blut- und seelenvolle +Gestalten, nur der papiernen Phantasie von Literaten und Großstädtern +überzeugend. Was ihnen an organischem Leben fehlt, ersetzen sie durch +die Überreiztheit ihrer Gefühle und Gebärden, durch Rausch und Hysterie +— eine krampfige Nachfolge d'Annunzios.</p> + +<p>Neben solchen Orgien einer überreizten Literatenphantasie stehen die +satirischen Romane: "Im Schlaraffenland", "Professor Unrat", "Der +Untertan" usw. Sie sind Emil Zola näher, zumal ihr bester, "Im +Schlaraffenland" — eine Schilderung des zersetzten Berlin W +— aber ohne Zolas soziales Pathos. Auch die Satire bedarf der +Liebe, um zeugen und gebären zu können, der Liebe zur armen, +irregehenden Menschheit oder zum neuen, reineren Ideal. "Ich glaube +nicht" — sagt Thomas Mann in den "Betrachtungen" — "daß +ohne Sympathie überhaupt Gestalt werden könne; die bloße Negation gibt +flächige Karikatur." Auch hier scheint die Literatur, nicht das Leben +— die Witzblätter scheinen Heinrich Mann die Gestalten und +Vorgänge zum "Professor Unrat" und "Untertan" gegeben zu haben: so +flächig und billig sind sie gezeichnet. Jede lebendige Gestalt muß +Monate unter dem Herzen getragen, muß mit Blut genährt sein.</p> + +<p>Nur e i n Roman ist Heinrich Mann gelungen, dem Wurzelboden und +Atmosphäre eigen: "Die kleine Stadt". Es ist bedeutsam, daß er in +Italien spielt: "Eine Zeitlang glaubte ich (dort) zu Hause zu sein." +Einmal hat Heinrich Mann einen erlebten Gehalt und mit ihm eigene Form +gefunden: dem immer bewegten Völkchen des Südens, den flackernden +Leidenschaften entspricht ein bewegter, farbiger, flirrender +Impressionismus des Stils. Diese italienischen Kleinbürger, die sich +heißblütig und beweglich an ihren Worten und Gebärden berauschen, alle +ein wenig Künstler, ein wenig Schauspieler, ein wenig d'Annunzio, sind +in ihrer Menschlichkeit und Kindlichkeit so liebenswürdig erlebt und +gestaltet, daß sie und ihr Schicksal zu menschlich-symbolischer +Bedeutung wachsen. Ihre Instinkte glimmen unter der Asche der täglichen +Eintönigkeit. Da zieht eine Schauspielertruppe in die Stadt und weht +sie nach allen Seiten zu Flammen auf. Sinnlichkeit und Liebe, +Eifersucht und Ehrgeiz, vergessene und noch schlummernde Leidenschaften +wirbeln knisternd hoch. Der Kampf zwischen Priester und Advokat, +Reaktion und Fortschritt teilt und erregt die Massen. Die Glocken der +Kirche und die Melodien der Oper streiten miteinander. Doch aus dem +Feuer der Leiden und Leidenschaften glüht die Blume der Versöhnung, der +Verbrüderung, der Liebe zu Volk und Menschheit auf: "Was sind wir!" +— fragt der Advokat beim Abzug der Schauspieler. — "Eine +kleine Stadt. Was haben uns jene gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch +— wir haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein +Stück vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit." Für kurze +Stunden, für eilende Seiten durchzuckt Heinrich Mann, den heimatlosen +Literaten, das Wesen und Glück des epischen Dichters: "Was macht diese +Dinge groß?" "Daß ein Volk sie mitfühlt, ein Volk! das wir lieben!" +"Ich habe ein Volk gesehen! Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein +Volk höre uns! Wir wecken seine Seele, wir... Und es gibt sie uns!"</p> + +<p>Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums — eines +patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums — in der +Grundstimmung verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf +von Keyserling (1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen, +so hat Kurland, Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am +längsten und reinsten behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen +Kriegsschicksal der baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am +Ende einer Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München +erlebt der Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet, +vom Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend +wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische, +gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die +Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen, +erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken, +keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen +Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser", +"Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu +einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer +Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden, +melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes +verdankt.</p> + +<p>Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die +naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das +Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den +Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze +hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun +vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und +Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und +-gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht +geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ", +sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren +kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl +dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner +Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht +nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht +um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst +die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt +zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser +Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen +kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter +zurück: "...Unsere Gesetze hier —" "Glauben Sie an diese +Gesetze?" "Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie +Thomas Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten +Ideale.</p> + +<p>Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer +unterstellen sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und +äußeren Leben die Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in +jede Tagesstunde bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein +Drama zu passen."</p> + +<p>Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die +Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den +Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der +Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine +berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und +wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen +Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die +Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt +durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum +Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte, +um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle +Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um +sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir +sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt."</p> + +<p>Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der +bäuerlichen Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam +gestaltet durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter +Roseggers "Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist +durch die wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren +Zersetzung, die da und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie +"Die Fahnenweihe", 1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit +der Natur, der Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene +Formenkräfte, die das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus +aufbauen und erneuern, wie sie Knut Hamsun im größten modernen +Bauernroman, einem wahrhaft altepischen Werke, dargestellt hat, im +"Segen der Erde". Unseren Bauerndichtern ist die Strenge und Größe +dieses Zusammenhanges kaum deutlich geworden. Ganghofer ist +oberflächlich und sentimental, auch Rosegger ist in aller +Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu unproblematisch im tieferen +Sinne — nur die "Schriften des Waldschulmeisters" und "Des +Gottsucher" ragen hervor —, Gustav Frenssens einst so berühmte +Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll landschaftlicher +Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des liberalen +protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in der +Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der Gesamtdarstellung +lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne Einheit der +inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas Bauernromane "Andreas +Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber naturalistisch gebunden. +Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur grübelnden Mystik seiner Bauern +die natürliche Fülle und plastische Kraft; er ist — wie alle +Romane dieses Ringenden — mehr reflektiert als gewachsen.</p> + +<p>Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die +Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen +Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben +wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads +Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers +Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist +in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums +zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal" +ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff +und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung +des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen.</p> + +<p>Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman +entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen +Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der +Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch +hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern. +Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen +von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung +stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu +können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie +"Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die +reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus +der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer +"Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit +ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll +tragischer Schönheit ist.</p> + +<p>Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen +Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas. +Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen +sind ihr Feld. Die Eiffellandschaft mit ihren wortkargen, düsteren +Menschen, die — einmal geweckt in ihren Leidenschaften — +furchtbar ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das +Weiberdorf", "Vom Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer +Beobachtung und sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme +von außen, mehr eine geschickte Schriftstellerin als formende +Künstlerin.</p> + +<p>Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus +führen die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches +Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und +durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche, +sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und +Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl +alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen +Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem +bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt +es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des +Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!" +singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche +Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist +die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben," +singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.</p> + +<p>Eine romantische Natur — so steht Ricarda Huch in Reflexion +und Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik +hätte sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter +Nietzsches, Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in +metaphysischer Glut zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück. +Das Leben wird ihr zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind +Kinder der Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und +Gegenbild: Kinder des Lebens.</p> + +<p>Metaphysisch klingt — nach den noch knospenhaften +"Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren" — die Musik von der +Schönheit und Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der +Triumphgasse", kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone". +Über diese metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die +historischen Romane zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren, +Festbeharrenden. "Die Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier +Italiens zur herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol +des Lebens, das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt. +Wie "ein tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der +Garibaldi-Romane klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri", +des dem Tode verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In +jenen hatte noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil +gewechselt, hier durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen.</p> + +<p>Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch +aus dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der +drei Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman, +sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste +Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen +Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches, +Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches, +Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in +gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen +auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel, +der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber +scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die +lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er +erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so +fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?"</p> + +<p>Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der +Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen. +—</p> + +<p>In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die +zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker +geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im +"Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die +Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen, +Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts +dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater +und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg +erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat, +das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer +Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft +dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen +Künftigen.</p> + +<p>— — — Gegenüber dem industrialisierten, von +Großstädten zersetzten Norden Deutschlands ist der Süden reicher an +Unmittelbarkeit, Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und +Hermann Hesse wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866) +hat sich Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und +Farmer vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und +Tatkraft hat er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid +und Krankheit niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit, +Liebe und Güte blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die +Wirklichkeit in festen, sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem +überirdischen Schimmer seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen +Schwaben, der das Schicksal überlisten will, der — da ihm die +eigene Frau keinen Erben schenkt — sich in schlauer Ausflucht an +die Magd heranmacht. Statt des Buben kommt aber ein Mädel, und Spott +und Lächerlichkeit umschwirren ihn. Gekränkt in seiner +Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit der Magd und dem Kind +heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler genarrt, geprellt, +geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er kleinlaut und +zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne Staunen, ohne +Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt, ihm das Kind +abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm widmet: eine +reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll Freiheit und +Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung dreier junger +Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und Verhältnisse sich in +tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und Wesensform selber schaffen und +sich im Wirkungskreis der Menschheit einen Platz erobern. Im "Nackten +Mann" geht er in die Vergangenheit seiner Heimat zurück, ohne die +Bedenken gegen den historischen Roman zu überwinden. In "Freund Hein" +und im "Spiegel" aber kommt hinter der herben Gegenständlichkeit seiner +Welt die tiefe Musik seiner Seele zum klingenden Ausdruck. In "Freund +Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in der Welt seiner musikalischen +Berufung lebt, an den unnachsichtigen Forderungen einer wesensfremden +Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie eine zarte Kammermusik +Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf, eine Lebensmusik von +ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit.</p> + +<p>Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto +weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation +zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen +Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp, +der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der +Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen +Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts +geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts +als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und +in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen +"paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung" +in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück. +In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den +Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige +stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie +lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen +teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, +daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und +Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind."</p> + +<p>So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und +Mensch als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und +Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen +Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und +"Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner +Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden +Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die +Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen, +daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln +leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der +sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie +sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es." +Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges +keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas +wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher +von ihnen starb an meiner Seite — denen war gefühlhaft die +Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an +die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele +waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht +dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in +sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben +wollte, um neu geboren werden zu können."</p> + + + + +<h3>DAS DRAMA</h3> + +<p>Das Wort Drama bedeutet Handlung, insonderheit Kulthandlung. Denn +das Drama entwickelte sich im alten Griechenland wie in den +christlichen Staaten Europas aus den Tiefen der religiösen +Weltanschauung und des Gottesdienstes. Sein letzter Grund ist die leid- +und geheimnisvolle Zweiheit, in die alles Leben zerspalten ist, in der +es fremd, kämpfend und doch sehnsüchtig sich gegenübersteht: der +Gegensatz von Gott und Welt, Geist und Natur, Idee und Sinnlichkeit, +All und Ich. Nur ein Gott, der vom Himmel herniedersteigt, der die Qual +und Zerrissenheit des Endlichen selber auf sich nimmt, Dionysos, +Christus, vermag in seinem Gottmenschentum diese Gegensätze zu einen +und zu lösen. Sein Leiden und sein Triumph wird zum Inhalt der ersten +Dramen: aus den dionysischen Dithyramben wächst die griechische +Tragödie, aus der Liturgie der katholischen Kirche das Weihnachts-, +Passions- und Osterspiel des Mittelalters. Mit der Renaissance wird an +Stelle der kirchlichen die philosophische Weltanschauung Unter- und +Hintergrund des europäischen Dramas. Wie die geheimnisvolle Zweiheit +und Gegensätzlichkeit des Lebens in den großen Systemen der Philosophen +sich darstellt und deutet, wie bald dieser, bald jener der beiden +Lebensgegensätze entwertet, dem anderen untergeordnet, so die Einheit +erzwungen wird, dann aber wieder beide zur vollen Macht erstarken und +in unausweichlichem, unerbittlichem Kampf sich gegenüberstehen: das +begleitet in unbewußter und bewußter Verbundenheit die +ideelle Entwicklung des deutschen Dramas. Lessings Dramen wachsen +aus Lebensgefühl und -deutung des Rationalismus, Schillers Dramen aus +Kant, Kleist teilt den Gegensatz der deutschen Gefühlsphilosophie gegen +Kant, um Hebbel braut die Atmosphäre Hegels, Richard Wagner findet sich +in Schopenhauer. Dann folgt der Zusammenbruch der großen +philosophischen Systeme, der Vormarsch der naturwissenschaftlichen, +materialistischen Weltanschauung in Deutschland. Über die Nachfahren +Schillers, über die Nachahmer des französischen Gesellschaftsstückes +hebt sich seit 1888 Gerhart Hauptmann (geb. 1862) mit einem Drama +neuen, eignen Stils. Aus welchen weltanschaulichen Zusammenhängen, +welchem Lebensgefühl war es gewachsen?</p> + +<p>Als 1885 die süßlich-leere Epigonenzeit unserer Dichtung durch die +literarische Revolution der Jungen abgelöst wurde, glaubten diese im +"Naturalismus" eine neue Lebens- und Kunstanschauung gefunden zu haben. +Wilhelm Scherer verkündete: "Die Weltanschauungen sind in Mißkredit +gekommen. ...Wir fragen: wo sind die Tatsachen? ...Wir verlangen +Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die +wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen +Maßstab haben wir von den Naturwissenschaften gelernt... Dieselbe +Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe +Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf; +sie gestaltet die Wissenschaften um; sie drückt der Poesie ihren +Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem +Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind." Arno Holz und +Johannes Schlaf glaubten dieser Weltanschauung, im "konsequenten +Naturalismus" die entsprechende Kunstanschauung erobert zu haben: "Die +Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach +Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren +Handhabung." In den drei Skizzen des "Papa Hamlet", dem Drama "Die +Familie Selicke" schufen sie ihrer Lehre die Leistung. "Papa Hamlet" +erschien unter dem Decknamen "Bjarne P. Holmsen". Ihm hat Gerhart +Hauptmann sein erstes Drama "Vor Sonnenaufgang" (1889) zugeeignet, als +"dem konsequentesten Naturalisten, in freudiger Anerkennung der durch +sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung".</p> + +<p>In Wirklichkeit war diese Anregung, war der ganze konsequente +Naturalismus weder für Gerhart Hauptmann, noch für irgendeinen Dichter +von "entscheidender" Bedeutung; seine Lebens- wie seine Kunstanschauung +war unhaltbar. Von einer rein beschreibenden Wissenschaft, wie der +Naturwissenschaft, kann man niemals zu einer Weltanschauung, zur Sinn- +und Wertsetzung, vom Sein niemals zum Sollen vordringen. Und +ebensowenig ist ein bloßes Abkonterfeien des Lebens durch eine +naturalistische Kunst möglich; schon der Erkenntnisprozeß ist — +hat Kant dargetan — kein passives Abbilden, sondern ein Formen +der Wirklichkeit; alle Kunst ist die Umsetzung der natürlichen in eine +von Geist und Gefühl des Künstlers stilisierte Welt.</p> + +<p>Mehr als die Formenwelt des Naturalismus, als seine unhaltbare +Kunstanschauung haben Ansätze zu einer Lebensanschauung aus der +Stoffwelt des Naturalismus Gerhart Hauptmann den Weg zu sich selber +frei gemacht. Dem Naturalismus der Form hatte sich fast überall der +Sozialismus des Stoffs verbunden und in ihm die Keime eines neuen +Gehalts: des sozialen Mitgefühls. Zu den ästhetischen waren ethische +Tendenzen getreten. Die Entwicklung der Industrie und der Großstadt, +die Einflüsse Zolas, Ibsens, Tolstois hatte sie geweckt. Von der +erstarrten und zersetzten Ideen- und Formenwelt des dritten Standes, +des Bürgertums, hatten sich die jungen Dichter in sozialem Mitleid zu +der ringenden formbedürftigen des vierten Standes, den Arbeitern, +gewandt. Und hier war der Weg, der Hauptmann in seine Tiefen führte.</p> + +<p>Schon seine erste veröffentlichte Dichtung, das Epos +"Promethidenlos" (1885), hatte sein soziales Verantwortungs- und +Mitgefühl bekundet. Ergriffen rief sie den Armen und Elenden zu: "So +laßt in eurem Schmutz mich hocken — Laßt mich mit euch, mit euch +im Elend sein." Und ein Gedicht von 1888 sprach die heilige +Leidverbundenheit des Künstlers und Menschen aus:</p> + +<blockquote> Ich bin ein Sänger jenes düstren Tales,</blockquote> +<blockquote> Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet. — — +—</blockquote> +<blockquote> Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,</blockquote> +<blockquote> Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht +beneiden!</blockquote> +<blockquote> Auf mich zuerst trifft jeder eurer Pfeile.</blockquote> + +<p>Daß diese Leidverbundenheit nicht nur sozialen, daß sie größeren: +metaphysischen Tiefen entwuchs, wurde der Urgrund des Dramatikers. +Obersalzbrunn, Hauptmanns Geburtsort, lag unweit der pietistischen +Urgemeinden Gnadenfrei und Herrnhut. Ihre christliche Innerlichkeit war +ihm daheim und mehr noch im Hause seines Oheims zu Striegau, das den +Sechzehnjährigen aufgenommen, zum Lebensgefühl geworden. In ihr fühlte +er sich dem Rationalismus und Materialismus, der leeren Kultur des +technischen Zeitalters fremd. Aus der Schein- und Außenwelt zog es ihn +zur wahren, inneren Welt: zur Welt der Seele. Die aber offenbarte sich +ihm nicht bei den Satten, Besitzenden, Hochmütig-Klügelnden, sondern +bei den Armen im Geiste, den Ringenden und Leidenden. In ihnen glühte +der ewige Funke, und sie eroberten und behaupteten ihn im Sturm und +Streit ihres Schicksals, nicht mindere Helden in diesem metaphysischen +Kampf als die Heroen der großen Tragödie. Ihnen fühlte sich der +Dramatiker Hauptmann verbunden, nicht sozial nur, wie der Epiker Zola +seinen Gestalten, sondern metaphysisch. In ihrem Leid stellte er das +Weltleid, in ihrem Kampf den Zwiespalt alles Lebens dar.</p> + +<p>Die Dramen, in denen so das Stoffliche des Naturalismus und +Sozialismus überwunden, in denen diese Weltanschauung Gestalt geworden +ist, sind "Die Weber" (1892), "Hanneles Himmelfahrt" (1893), "Fuhrmann +Henschel" (1898), "Rose Bernd" (1903).</p> + +<p>Der Aufstand der Weber im Jahre 1844 war Hauptmann aus Erzählungen +des eigenen Großvaters, der noch Weber gewesen, vertraut. Ein Buch +Alfred Zimmermanns "Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien" +(1885) gab den persönlichen Einzelheiten geschichtlichen Zusammenhang. +Den Antrieb gab die soziale Erregung der Zeit. Aber der Kampf der Weber +wurde Hauptmann zum erschütternden Abbild alles Menschheitskampfes.</p> + +<p>Wie hier die Fabrikanten und die Kreaturen der Fabrikanten bis zum +jüngsten Lehrling den hungernden, verhungernden Webern entgegenstehen, +hartherzig, hohnlachend, während die abgemergelten Kinder ohnmächtig zu +Boden schlagen, während die entkräfteten Greise verwirrt werden und in +Zungen reden, das bedeutet nicht mehr einen sozialen Zwiespalt, der mit +Geld und Brot geschlichtet werden könnte, es bedeutet die metaphysische +Einsamkeit alles Endlichen, das brückenlose Nichtverstehen und +Mißverstehen von Mensch zu Mensch. Und wenn nach not- und arbeitdumpfem +Leben, am Rande des Grabes die alten Weber in weinendem, verzweifeltem +Ingrimm ihre Knochenarme emporrecken: "Das muß anderscher wer'n, mir +leiden's ni mehr!", so ist das nicht der Kampfruf sozialer Rebellion, +so ist das die Anklage Karl Moors: "Menschen haben Menschheit vor mir +verborgen, da ich an Menschheit appellierte," so ist das der tragische +Aufschrei der Rütliszene:</p> + +<blockquote> Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht:</blockquote> +<blockquote> Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann +finden,</blockquote> +<blockquote> Wenn unerträglich wird die Last, greift er</blockquote> +<blockquote> Hinauf getrosten Mutes in den Himmel</blockquote> +<blockquote> Und holt herunter seine ewigen Rechte...</blockquote> +<blockquote> Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,</blockquote> +<blockquote> Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht...</blockquote> +<blockquote> Wie stehn für unsre Weiber, unsre Kinder!</blockquote> + +<p>Den Unterdrückten Schillers wird wenigstens das Wort zur Befreiung, +der Gedanke zur Erlösung. Hin ist die Kreatur in der ganzen Dumpfheit +und Gebundenheit des Endlichen. Und wenn sie anmarschieren gegen ihre +Peiniger: "Am liebsten wär ich abgestiegen und hätte glei jed'm a +Pulverle gegeben" — erzählt Chirurgus Schmidt, der vorüberfuhr +— "Da trottelt eener hinter'm andern her wie's graue Elend und +verfiehren ein Gesinge, daß een' fermlich a Magen umwend't"; und wenn +der greise Baumert als Rebell erscheint, von den paar Tropfen +ungewohnten Alkohols unsicher, einen geschlachteten Hahn als höchste +Siegestrophäe mitführend, und die Arme breitet: "Brie — derle +— mir sein alle Brieder!", so ist der trostlose Aufruhr der +Menschheit gegen das Schicksal, der tragische Sehnsuchts- und Liebesruf +aller Einsamen und Gehetzten niemals erschütternder symbolisiert.</p> + +<p>Zur höchsten dramatisch-metaphysischen Gipfelung aber steigt der +letzte Akt. Da wendet sich der alte, fromme Hilse an seinen Sohn, der +den Aufrührern zueilen will: nein, er wird sich nicht empören, auch am +Rande des Grabes nicht, er weiß, daß keine Hilfe und Erfüllung möglich +ist in der Welt des Irdischen: "Du hast hier deine Parte — ich +drieben in jener Welt. Und ich lass' mich vierteelen — ich hab' +ne Gewißheet. Es ist uns verheißen. Gericht wird gehalten, aber nich +mir sein Richter, sondern: mein ist die Rache, spricht der Herr unser +Gott." Gegen diesen Anwalt des Jenseits, der klaglos alle Leiden des +Diesseits auf sich nimmt, der — wie je ein Schillerscher Held +— "durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesses" die +Tragik des Lebens überwinden will, kehrt sich seine Schwiegertochter, +die unentwurzelbare, schicksalhafte Vertreterin des Diesseits: die +Mutter. Nie hat ein Held Schillers oder Hebbels die tragische Wucht und +Notwendigkeit seines Lebensgefühls gewaltiger dargetan: "Mit Euren +bigotten Räden... dadervon da is mir o noch nich amal a Kind satt +gewor'n. Derwegen ha'n se gelegen alle viere in Unflat und Lumpem. Da +wurde ooch noch nich amal a eenzichtes Winderle trocken. Ich will 'ne +Mutter sein; daß d's weeaß! und deswegen, daß 'd's weeaß, winsch ich a +Fabrikanten de Helle und de Pest in a Rachen 'nein. Ich bin ebens 'ne +Mutter. — Erhält ma' woll so a Wirml?! Ich hab' mehr geflennt wie +Oden geholt von dem Augenblicke an, wo aso a Hiperle uf de Welt kam, +bis d'r Tod und erbarmte sich drieber. Ihr babt euch an Teiwel +geschert. Ihr habt gebet't und gesungen, und ich hab' mir de Fieße +bluttig gelaufen nach ee'n eenzigten Neegl Puttermilch. Wie viel +hundert Nächte hab ich mir a Kopp zerklaubt, wie ich ok und ich keente +so a Kindl ok a eenzicb Mal um a Kirchhof 'rumpaschen. Was hat so a +Kindl verbrochen, hä? und muß so a elendigliches Ende nehmen — +und drieben bei Dittrichen, da wer'n se in Wein gebad't und mit Milch +gewaschen. Nee, nee: wenn's hie losgeht — ni zehn Pferde soll'n +mich zuricke halten. Und das sag ich: stirmen se Dittrichcns Gebäude +— ich bin de erschte — und Gnade jeden, der mich will +abhalten."</p> + +<p>Schiller hatte des überlieferten Stoffes und der überlieferten +dramatischen Form wegen im "Wilhelm Tell", seinem Drama der +Volkserhebung, drei Handlungen (Tell-, Rütli-, Rudenz-Handlung) +nebeneinander laufen lassen. Hauptmann wagt es, die Masse der Weber zum +dramatischen Helden zu machen und in einer gewaltigen Steigerung zum +Gipfel zu führe. Im üblichen Dramenbau wäre dies die Höhe des dritten +Aktes. Die "Peripetie" fehlt. Aber in der Seele des Zuschauers drängen +sich die zwei letzten, ungeschriebenen Akte: sie sieht und leidet +voraus, wie dieses Häuflein Menschheit umsonst gegen sein Schicksal +aufstand, wie es ein paar Stunden sich frei und erlöst fühlen darf, um +dann nur um so grausamer i de dumpfe, leidvolle Gebundenheit alles +Endlichen zurückgeworfen zu werden.</p> + +<p>Nur wenn Staub und Asche des Irdischen und Körperlichen verwehen, +wird der göttliche Funke der Seele frei: im Tode oder im Traume. Das +vierzehnjährige "Hannele", das vor seinem verkommenen brutalen Vater in +den vereisten Dorfteich flüchtet, das sich nur fürchtet vor dem Leben, +das so gern in den Himmel kommen möchte zur Mutter und zum lieben Herrn +Jesus, das im gespenstig-grotesken Elend des Armenhauses in +Fieberträumen sein Dasein erfüllt, ehe es zu Ende geht, wird zum +erschütternden und erlösenden Bild der Menschenseele. Wenig Dichtungen +sind so innerst musikalisch wie diese Traumdichtung, die zwischen der +Welt der Seele und der Wirklichkeit hin und her geht, unbehindert und +schöpferisch. Aus den gegebenen Elementen der kindlichen, dörflichen +Seele, der Bibel, dem Märchen, dem Vater, der Mutter, dem Lehrer, baut +sie eine Welt und Handlung auf, die alle tieferen Beziehungen, die den +metaphysischen Sinn des Lebens in sich schließt.</p> + +<p>In "Fuhrmann Henschel" geht das Gefühl von der dunklen Macht der +Umwelt bis zur vollen Passivität. Aber es ist nicht die Abhängigkeit +vom Einzelnen, Zufälligen — wie im Schicksalsdrama alten Stils +—, die den Fuhrmann erdrückt, es ist die unentrinnbare tragische +Verstrickung und Zwiespältigkeit alles Endlichen, die er dumpf erfühlt, +gegen die jeder Widerstand unnütz ist. Ein schlichter, hilfloser Mensch +starrt durch die Fenster seiner Kellerwohnung in den nächtlichen +Himmel, grübelt nach einer Schuld, die ihn zu Boden gerissen, und +findet keine, grübelt nach einem Sinn hinter den Geschehnissen, die ihn +fortdrängen, und findet keinen, und bäumt sich nicht auf und rächt sich +nicht und geht still ins Dunkel: "Ane Schlinge ward mir gelegt, und in +die Schlinge da trat ich halt nein... Meinswegen kann icb auch schuld +scin. Wer weeß 's?! Ich hätt't ja besser kenn'n Obacht geben. Der +Teifel ist eben gewitzter wie ich. Ich bin halt bloß immer grad'aus +gegangen."</p> + +<p>Hauptmann hat den "Fuhrmann Henschel" in der ersten Sammlung seiner +Werke unter die "Sozialen Dramen" eingereiht, obwohl dieser Titel +eigentlich nur das erste, noch tendenziöse seiner Dramen "Vor +Sonnenaufgang" trifft Henschel steht weder sozial sonderlich tief +— er ist Fuhrwerksbesitzer und hat einen Knecht unter sich +—, noch ist sein Schicksal durch seine soziale Stellung bedingt. +Auch "Rose Bernd" ist kein soziales Drama, wenngleich es so eingestellt +ist. Man möchte es in die Reihen der bürgerlichen Tragödien ordnen, zu +Schillers "Kabale und Liebe" und Hebbels "Maria Magdalene", zumal sich +die Gestalt des Vaters in allen verwandt geblieben. Und doch sprengt +die tragische Gewalt des Hauptmannschen Dramas auch die bürgerliche +Welt, ihre verhängnisvolle In-sich-Gebundenheit, und bricht zu den +letzten Tiefen des Metaphysischen durch. Aus naturhafter Frische und +Lebenslust wird ein Bauernmädchen aufgescheucht von den Begierden der +Männer, "verfolgt und gehetzt wie a Hund", in Schuld und Meineid +gejagt, bis es das Leben verneint und verflucht, bis es am Straßenrande +sein Kind in der Geburt mit eigenen Händen erwürgt, nicht aus Furcht +vor Schande: "'s sullde ni laba! Ich wullte 's ni!! 's sullde ni meinc +Martern derleida! 's sulldte duer bleib'n, wo's hiegehert." Die Natur, +das Leben selber verneint sich im tragisch-tödlichen Mitleid dieser +Mutter. In metaphysischer Einsamkeit und Größe ragt die Gefolterte +gegen den tragischen Himmel des Seins: "Das iis ane Welt... da sein Sie +versunka... da konn' Sie mer nischt nimeh antun dahier! O Jees, ei ee +kleen' Kämmerla lebt Ihr mit'nanderl Ihr wißt nischt, was außern der +Kammer geschieht! Ich wiß! ein Krämpfen hab ich's gelernt! Da is... ich +weeß ni.. all's von mir gewichen... als wie Mauer um Mauer immerzu +— und da stand ich drauß'n, im ganz'n Gewitter — und nischt +mehr war unter und ieber mir."</p> + +<p>Immer wieder bricht dieser tragische Aufschrei aus Hauptmanns +Dramen. "Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich?" — fragt +Michael Kramer am Sarge seines Sohnes. "Das kommt, weil sie lieben +müssen. Das drängt sich zur Einheit überall, und über uns liegt doch +der Fluch der Zerstreuung.</p> + +<p>Wir wollen uns nichts entgleiten lassen, und alles entgleitet doch, +wie es kommt!" Aber aus dem tragischen Leid wächst die tragische Liebe. +Über Gräbern und Leichen finden sich schmerzverkrampfte Hände. Der Tod +nimmt die Binde von den Augen, von den Herzen, ein milder Erlöser, "der +ewigen Liebe Meisterstück".</p> + +<p>Im "Glashüttenmärchen", "Und Pippa tanzt" (1906) ist die Sehnsucht +des Endlichen Melodie geworden: ein Schimmer aus der Heimat Tizians, +ein Blütenkelch aus den Glasöfen Venedigs, eine wehende Flamme: +Schönheit! Schönheit, nach der alle verlangend haschen, um die alle +tanzen und werben, die dumpf gebundene Kreatur, der alte Huhn, wie der +wissende, kühl- und hochentrückte, der greise Wann. Dem sie zu eigen +wird, Michel Hellriegel ist der reisende Handwerksbursche des deutschen +Märchens, der treuherzige, unbefangene, der Träumer und Dichter, eigen +erst als Schatten und Traum, ganz eigen erst dem Erblindeten, der die +Augen nach innen aufschlägt, unbeirrt vom Wirrsal der Welt.</p> + +<p>Einmal nur, im "Armen Heinrich" (1902), scheint die Liebe nicht erst +im Tode zu siegen. In Wahrheit ist auch hier mit dem Leben gezahlt: +Ottegebe, sein klein Gemahl, hat es zum Opfer gegeben für den Herrn und +Geliebten, ist zu Salern unter dem Messer des Arztes gelegen. Graf +Heinrich hat sein Leben dagegen gegeben, als er ihr Opfer zurückwies, +als er dem Messer des Arztes Einhalt bot. Da ist der reine, gerade, +ungebrochene Strom der Gottheit durch ihn hindurchgegangen, erlösend +und auflösend, hat im Wunder der Liebe den Aussatz des Lebens geheilt +und ihn aufgenommen "in das urewige Liebeselement".</p> + +<p>Vor der metaphysischen Leidens- und Liebestiefe solcher Werke müssen +alle Versuche Hauptmanns, auch zur Gestaltung sinnlicher, heidnisch +bejahender Lebenskräfte vorzudringen, unzulänglich bleiben, vom +Rautendelein der "Versunkenen Glocke" zu Gerusind, "Kaiser Karls +Geisel", bis zum "Ketzer von Soana". Ein Christusroman "Emanuel Quint. +Der Narr in Christo" (1910) ist die natürliche Frucht dieses +Weltgefühls. Ein Armer im Geiste, eines trunkenen Tischlers Stiefsohn, +in dem Christus mächtig wird und wiederkehrt in die gegenwärtige Welt, +um aufs neue verfolgt, verraten und gemartert zu werden. Alles +leidvolle Wissen, alle heilige Liebeskraft Hauptmanns ist in dessen +Christusroman eingegangen, aber in der Dumpfheit seiner Umwelt entringt +er sich nicht dem Sektierer- und Quäkerhaften, zur Höhe von +Dostojewskis "Idiot".</p> + +<p>Wie aber Kleist von der tragischen Unbedingtheit seines Lebens und +Schaffens ausruht in der sinnlichen Lebens- und Listenfülle des +Dorfrichters Adam, in der humorvollen Gestaltung eines parodistischen +Heldenkampfes, so ruht Hauptmann im freiem lächelnden Anteil an der +amoralischen, ungebundenen, ungebrochenen Natur der Waschfrau Wolff. An +Kraft und Geschlossenheit des Aufbaus steht die Diebskomödie "Der +Biberpelz" (1893) hinter dem "Zerbrochenen Krug" erheblich zurück; an +Kraft und Fülle ihrer Hauptgestalt ist sie ihm nahe verwandt.</p> + +<p>Mit "Pippa tanzt" (1906) beginnt die schöpferische Kraft Hauptmanns +zu versiegen. Alle späteren Dramen muten — wie auch die Erzählung +"Der Ketzer von Soana" — nicht mehr ursprünglich, sondern +literarisch an. Es ist bedeutsam, daß "Pippa tanzt" zugleich das letzte +Werk ist, das aus dem Boden der schlesischen Heimat wächst. Nie war ein +Dramatiker so tief, so schicksaltief der seelischen und sinnlichen +Atmosphäre seiner Heimat verbunden. Da er ihr entwächst in die Welt +seiner literarischen Erfolge und Interessen, der allgemeinen deutschen +und europäischen Geistigkeit, sterben seine tiefsten Wünsche ab. Schon +auf der Höhe seiner Kraft war ein großgeplanter Versuch mißlungen, eine +Tragödie statt aus der Natur, der seelisch-sinnlichen Natur seiner +Heimat, aus der Geschichte aufzubauen: "Florian Geyer" (1896), die +Tragödie des Bauernkrieges war trotz gewaltiger Einzelszenen in der +Überfülle des Stoffs und der Studien steckengeblieben. Jetzt sucht +Hauptmann in fränkischen, italienischen, griechischen, peruanischen +Sphären seine verlorene Lebens- und Schaffenskraft wieder — +vergebens: er empfängt nur Leben aus zweiter Hand.</p> + +<p>Hauptmanns gerader weltanschaulicher Gegensatz ist Frank Wedekind +(1864-1918). Ist Hauptmann der Anwalt der unterdrückten Seele, so ist +Wedekind der Anwalt des unterdrückten Leibes und Fleisches. Er wendet +sich gegen "die Geringschätzung und Entwürdigung" des Fleisches, gegen +jene, denen "der Geist das höhere Element, der absolute Herrscher" ist, +"der jede selbstherrliche, revolutionäre Äußerung des Fleisches aufs +unerbittlichste rächt und straft" ("Über Erotik"). In der +Kindertragödie: "Frühlings Erwachen" (1891) — neunzehn locker +gereihten, kurzen Szenen im Stile Lenz' und Büchners — gestaltet +er die dunklen Wirren und Leiden der Pubertät, der aufwachenden +sinnlichen Triebe, die von allen Seiten, von Eltern und Lehren, +verleugnet, verdächtigt und mißleitet werden, Gymnasiasten und +vierzehnjährige Schulmädel, die auf der gefährlichen Grenzscheide +zwischen Kindheit und Reife weglos allein gelassen, aller Unruhe und +allem Dunkel der neuen Lebensmächte preisgegeben und in Verbitterung, +Tod und Selbstmord hinausgedrängt werden, Kämpfer, die an der +Eingangspforte des Lebens fallen. Im "Erdgeist" (1895) formt er dann +die volle entfesselte Macht der Triebe. In Lulu zeichnet er die +"Urgestalt des Weibes" die schon in der Bibel, im Leben der +Kirchenväter und Heiligen immer wieder als das dämonische, +verführerische sinnliche Element des Lebens zerstörend auftaucht, die +Schlange, "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". "Sie ward +geschaffen, Unheil anzustiften, — Zu locken, zu verführen, zu +vergiften, — Zu morden, ohne daß es einer spürt". Lulu nennt sie +der eine, Nellie, Eva, Mignon der andere; sie hat keinen Namen, wie sie +keinen Vater hat: sie ist das Urelement der Schöpfung. Jeder sieht sie +anders, legt seine Sehnsucht, seine Seele in sie hinein, behängt sie +mit seinen Träumen und Phantasien. Sie aber bleibt "die seelenlose +Kreatur". Gleichgültig schreitet sie über das Leben der Männer hinweg, +die ihr zu Füßen stürzen, immer neue Opfer fordernd, in rastloser Gier +— bis sie demselben Dämon verfällt, der sie getrieben, und (im 2. +Teil der "Büchse der Pandora") unter dem Messer Jack des Aufschlitzers +endet.</p> + +<p>Es war nicht leicht für Wedekind, diesem weiblichen Urbild +sinnlicher Schönheit und Wildheit ein männliches zur Seite zu geben. +Mit der kulturellen Entwicklung ist die geistige Kraft zum eigentlichen +Wesen des Mannes geworden. Aber Wedekind ging in die Welt der +Zirkusmenschen und Hochstapler, der elastischen Abenteurer, die in +zäher Lebensgier durch Strom und Strudel jagen, untertauchen, nie +untersinken, immer wieder in die Höhe kommen. "Der Marquis von Keith" +(1900) ist Wedekinds dramatisch stärkste Gestaltung dieses Typus.</p> + +<p>In all diesen Dramen kann der Trieb, das Fleisch, nie gegen den +Geist kämpfen, da er ihn nicht begreifen, nicht übersehen kann. +Vertreter des Geistes, die gegen das Fleisch auftreten — wie +Lehrer und Pfarrer in "Frühlings Erwachen" —, sind bloße +Karikaturen. Immer kämpfen Triebe gegen Triebe. So kommt es nie zur +Klärung und Lösung, sondern nur zur Katastrophe. Der Aufstieg und +Absturz des Ideendramas zerfällt hier nach der Zahl der Akte in ebenso +viele parallele Krisen und Katastrophen. Auch die Szenen, die Dialoge +entwickeln sich eher in linearem Nebeneinander als in einem steigenden +In- und Miteinander. Denn diese triebhaften, "unbeseelten Kreaturen" +sind ganz in sich gebunden, in die Einsamkeit alles Sinnlichen. Sie +reden nicht zueinander, sie sprechen aneinander vorbei. Und so dunkelt +über dieser lebensverlangenden, lebensbejahenden Triebwelt die +heimliche Melancholie der unerlösten Kreatur, eine Tragik, die tiefer +gründet als die äußeren Kämpfe ihrer Instinkte.</p> + +<p>Die Bejahung und Verherrlichung des Fleisches, die dem jungen +Wedekind quellende Natur ist, wird dem alternden zur Lehre, die er +predig und verteidigt. All seinen späten Gestalten gibt er sie in den +Mund. Das widerspricht aber dem Wesen dieser triebhaften Gestalten, die +nicht über sich theoretisieren können. So zerfällt die durchaus +unnaturalistische, großumrissene, sinnenbunte Bildwelt Wedekinds in +graue fanatische Deklamationen.</p> + +<p>Zwischen den polar bestimmten Werten und Welten Hauptmanns und +Wedekinds schwankt die ungewisse Welt Arthur Schnitzlers (geb. 1862). +Die Wiener Kultur, schon in Grillparzer voll unsicherer +Selbstreflexion, ist ganz Ausgangskultur geworden: ihre Ideenwelt hat +den zwingenden Gehalt verloren, nur ihre Formen sind geblieben. Mit +ihnen drapiert und maskiert man sich, man spielt mit ihnen. Das Leben +selber wird zum Spiel. In lächelnder Skepsis ist man sich dieses Spiels +bewußt, sucht man es zu vervollkommnen und auszukosten. Aber die +Schwermut lauert über jenen Augenblicken, wo man des Spielens müde ist, +wo man auf festem Ideen- und Lebensgrund ruhen möchte und nur +erkennt:</p> + +<blockquote> Es fließen ineinander Traum und Wachen,</blockquote> +<blockquote> Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.</blockquote> +<blockquote> Wir wissen nichts von andern, nichts von +uns.</blockquote> +<blockquote> Wie spielen immer; wer es weiß, ist klug.</blockquote> + +<p>In den sieben graziösen Dialogen des "Anatol" (1894) ist diese +Skepsis und Müdigkeit, diese Selbstreflexion und weiche +Selbstverhätschelung zum erstenmal Wort und Gestalt geworden. Anatol, +der junge, verwöhnte Dichter, der "leichtsinnige Melancholiker" der in +tändelnden Abenteuern, in "zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis der +Treue" sein Leben verträumt, der nur in Stimmungen lebt und so viel +Mitleid mit sich selbst hat — keine moralische Forderung, kein +Schicksal dürfte an diese Welt klopfen: sie würde in Staub verwehen. +Aber da sie ganz in sich verbleibt, nehmen wir lächelnd Anteil an ihrem +weichen, morbiden Stimmungszauber, ihrer Liebenswürdigkeit und +Gebrechlichkeit.</p> + +<p>Die Melancholie, die aus dieser Welt steigt, kann sich nie zur +wahren Tragik härten. Auch aus den fröstelnden Schauern des "Einsamen +Wegs": "Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet — den Weg +hinab gehen wir alle allein", weht weniger Lebenstragik als +Lebemannstragik. Aber wenn in diese Welt ein Vorstadtmädel gerät mit +der ganzen frischen Innigkeit und Unbedingtheit seines Herzens, die +Liebe gibt und sucht in dieser Welt der "Liebelei", dann greift +einfache Tragik ans Herz. Christin', die blasse Violinspielerstochter, +die ihre Seele hingibt an den leichtsinnig-schwermütigen Menschen, der +ihr auch in der tiefsten Stunde wehrt: "Sprich nicht von Ewigkeit. Es +gibt vielleicht Augenblicke, die einen Duft von Ewigkeit um sich +sprühen... Das ist die einzige, die wir verstehen können, die einzige, +die uns gehört", wird zu einem holden Urbild, zu einem unvergeßlichen +Klang, daraus die Innigkeit und Traurigkeit eines Volksliedes weht.</p> + +<p>Die größeren Kompositionen Schnitzlers lehnen sich an fremde Stile, +an Ibsen oder Shakespeare, lösen sich in epische Episoden oder zergehen +in dialektische Konversationszenen, deren geistreich-schwermutvolle +Feinheit die Menschen mehr verschleiert und verwischt als gestaltet. +Nur im "Grünen Kakadu" wird Schnitzler die Ausgangswelt, ja der +Ausgangstag des ancien régime (der Tag des Bastillensturms) zum großen +historischen Spiegel des Wiener Ausgangs. Ein Irrspiel zwischen Sein +und Schein, das den Verfall aller Werte, die Zersetzung aller Seele in +grellen Blitzen gespenstig umleuchtet. In einer Pariser +Vorstadtspelunke improvisieren Schauspieler zur Aufpeitschung der +hochadligen Gäste Verbrecherszenen, die gruselig Spiel und Wahrheit +mischen. Wie verfolgt stürzt einer herein und berichtet von seinem +frische Taschendiebstahl, von einer Brandstiftung ein zweiter, einem +Morde ein dritter, bis Henri, der Genialste Truppe, vorstürmt und +aufschreit, er habe eben in der Garderobe den Herzog von Cadignan, den +Liebhaber seiner ihm gestern angetrauten Frau, niedergestochen. Die +Mitspieler halten es für Wahrheit, die Zuschauer für Komödie, einen +Augenblick glauben beide an Wahrheit — während es jäh darauf erst +Wahrheit werden soll: der Herzog tritt ein und Henri tötet ihn +wirklich. Und indes der Wirt wie allabendlich eben noch in aufreizendem +Spiel seine hochadligen Gäste als Schurken und Schweine begrüßt hat, +die das Volk hoffentlich nächstens umbringen werde, dringen plötzlich +die Bastillenstürmer ein und lassen an der Leiche des Herzogs die +Freiheit leben. Hier ist das Lebensgefühl des Ausgangs: "Wir spielen +immer; wer es weiß, ist klug", schicksalhaft vertieft, das +Schauspielertum des Lebens und der Bühne gespenstig gemischt. Mit +höchster künstlerischer Bewußtheit sind die Schauer und Wechsel dieses +Irrspiels in die straffe Handlung eines Einakters gebannt.</p> + +<p>Wenn für Schnitzler die Bedeutungslosigkeit der überkommenen Formen +noch Lebensschicksal ist, für Hugo von Hoffmannsthal (geb. 1874) ist +sie nur mehr literarisches Schicksal. Allein in den ersten Dramen "Der +Tor und der Tod", "Der Abenteurer und die Sängerin" schwingt noch ihr +Erlebnis: Schwermut und Sehnsucht. Das erste eine Dichtung des +Neunzehnjährigen: ein junger Mensch, der das Leben zum erstenmal ahnt, +da er es lassen muß:</p> + +<blockquote> Was weiß ich denn vom Menschenleben?</blockquote> +<blockquote> Bin freiliche scheinbar drin gestanden,</blockquote> +<blockquote> Aber ich habe es höchstens verstanden,</blockquote> +<blockquote> Konnte mich nie darein verweben...</blockquote> +<blockquote> Stets schleppt ich den rätselhaften Fluch,</blockquote> +<blockquote> Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt,</blockquote> +<blockquote> Mit kleinem Leid und schaler Lust</blockquote> +<blockquote> Mein Leben zu erleben wie ein Buch.</blockquote> + +<p>Aber, da er dem Tode, der ihn zu rufen kommt, entgegenhält: "Ich +habe nicht gelebt!" zeigt der ihm, was an Leben und Liebe sein gewesen: +unter den Geigenklängen des Todes schweben die Schatten der Mutter, des +jungen Mädchens, des Freundes vorüber, die einst in Sorge und Liebe +sich um ihn mühten, ohne daß er ihrer geachtet. Er war der +"Ewigspielende", "der keinem etwas war und keiner ihm". Erst der Tod +lehrt ihn das Leben sehen — die süße Schwermut eines +Frühlingsabends webt um diese jungen, goethisierenden Verse; aus +weich-verhangener Ferne träumt Musik. Im "Abenteurer und die Sängerin" +schimmern die Farben und Wunder Venedigs auf. Auch hier eine ausgelebte +Welt. Auch hier ein Ewigspielender: Casanova. Fünfzehn Jahre nach einem +seiner vielen Liebesabenteuer kreuzt dieser flüchtige Faltermensch die +Lagunenstadt und sieht die einst Geliebte, die er zum Leben erweckt, +die ihm glücklichste Stunden geschenkt, als Gattin eines anderen wieder +und neben ihr seinen Sohn. Wenige festliche Stunden, wenige in Traum, +Süße, Wehmut und Erinnerung aufschimmernde Worte. Und darüber die +Schatten des Alters und der Vergänglichkeit.</p> + +<p>Je mehr in den späteren Dramen Hoffmannsthals der Lebensgehalt +versickert, desto üppiger wuchert ihre Form. Die leere Lebensform des +ausgehenden Wien wird zur leeren literarischen Form, einer üppigen +barocken Form, die Leben aus zweiter Hand, aus Sophokles, Otway, +Molière überrankt. Der sittliche Gehalt der Sophokleischen Elektra, das +tragische Rächeramt der Kinder an der eigenen Mutter, des Vaters +Mörderin, wird — jenseits aller Weltanschauung — zu einer +dekorativen, schwelgerischen, brandroten Orgie in Haß, Blut und Rache. +Bedeutsam bleiben — wie bei d'Annunzio, dem er nahekommt — +die artistischen Werte Hofmannsthals: sein Anteil an der Entwicklung +deutscher Sprachkunst.</p> + +<p>Klingt bei Hofmannsthal Wortmusik, bei Richard Beer-Hofmann (geb. +1866), dem dritten und tiefsten der Wiener, klingt Seelenmusik. In +hinreißendem Adagio entquillt sie seinem ersten Drama, dem "Grafen von +Charolais" (1904), obgleich es einer alten englischen Vorlage +Massingers und Fields unglücklich verbunden ist, obgleich es daher in +zwei Teile zerbricht, obgleich die Requisiten des alten Stücks, +Leichen, Pfändung, Ehebruch, Mord, Selbstmord, sich peinlich häufen. Da +ist nicht mehr die Melancholie des Ästheten, da ist eine wehe Weisheit, +eine milde Güte, eine dunkel-goldene Traurigkeit, aus Tiefen, die seit +Gerhart Hauptmann keiner mehr durchmessen hat. Nur das Vorspiel zu +einem Dramenzyklus, zur "Historie von König David", ist seitdem +erschienen: "Jaákobs Traum" (1918), eine symphonische Dichtung von +einer seelischen und religiösen Gewalt, die sie hoch über die Zeit +emporträgt. Die Würde und Tragik der Berufung ist ihr Thema, Jaákobs +Ringen mit Gott auf dem Berge Beth-El ihr biblischer Stoff. Wenn der +musikalischen und metaphysischen Gewalt dieses Vorspiels die Kraft der +Menschengestaltung in der Trilogie entspricht, so wird Beer-Hofmann in +schöpferischer Erneuerung alttestamentlicher Symbole der deutschen +Dichtung das religiöse Drama erobern helfen.</p> + +<p>Hauptmann und in minderem Grade auch Wedekind, Schnitzler, +Beer-Hofmann erleben die Welt unmittelbar in weltanschaulichen +Gegensätzen und in Gestalten, die sie verkörpern und ausfechten. Fast +allen jüngeren Dramatikern ist dieses überpersönliche, weltgroße +Erlebnis fremd; sie erleben einseitig, subjektiv, nur vom Gefühl oder +vom Intellekt aus, und so kommt es nur zu lyrisch-balladesken oder +dialektischen Spannungen.</p> + +<p>Herbert Eulenberg (geb. 1876) bleibt ganz in dumpfen Gefühl +befangen. Seine Helden sind immer die gleichen Typen und leben nur im +Schwellen und Ausschwingen ihrer Gefühlsdurchbrüche. Er erlebt nur in +einer Richtung und nur in einem Menschen; die anderen Menschen sind +ohne eigene Lebens- und Gegenkraft für Eulenberg wie für seine Helden. +Einsam steht der Eulenbergsche Mensch im All; fremde Mächte werden in +ihm wach und jagen ihn in die dunkle Hölle seines Blutes und seiner +Träume; sie verfolgen und erfüllen ihn, wachsen, rasen und toben in +ihm, bis sie seine Form zersprengen oder in vernichtenden Taten den +Ausweg suchen. Von außen her dringt nichts in diesen Vorgang ein. "Ich +höre nichts außer mir", sagt einer der Helden; "ich brenne in mir ab", +ein anderer. Die Gegenspieler sind keine ursprünglichen Gestalten, sind +nur Blutbilder des eigenen Innern. So wird kein Drama, so kommt es nur +zu monologischen, lyrisch-balladesken Wirkungen, zu Farben und +Stimmungen.</p> + +<p>Der Gegenpol Eulenbergs ist Karl Sternheim (geb. 1881). Er geht ganz +vom Intellekt aus. Er erlebt nicht, er erkennt nur. Sein literarischer +Ehrgeiz will stilisieren, zu Typen vordringen. Aber einen Typus gewinnt +er nicht durch Fülle und Verdichtung des Persönlichen, sondern durch +Konstruktion und Illustration eines Begriffs. Kurze Zeit weiß seine +Beobachtung, seine literarische Erinnerung die Stilisierung +durchzuführen, dann entgleiten und brechen die Linien, die Personen +werden zu Karikaturen. Eine Komödie wie "Der Snob" ist in ihrer inneren +Unwahrheit, ihrer Literaten- und Theaterkunst, gar nicht so weit von +Blumenthal und Kadelburg; sie ist nur geistreicher und boshafter. +Seiner Menschen-wie seiner Weltanschauung fehlt der organische Anteil, +das Ethos, die Liebe. Es genügt nicht, die Welt lächerlich zu machen. +Humor, nicht Witz ist das Zeichen des Schöpfers. Jede Anschauung will +im Zusammenhang einer Weltanschauung, jede Eigenschaft im Zusammenhang +einer Seele, jede Verzerrung im Zusammenhang eines Ideals gedeutet und +gestaltet werden. Auch der Satiriker lacht und spottet nicht aus dem +Gefühl billiger Überlegenheit, sondern aus dem Gefühl der Verantwortung +und der Liebe.</p> + +<p>Über Wedekind und Sternheim führt der Weg Georg Kaisers, (geb. +1878). Auch er ist ein Intellektueller, ein ehrgeiziger Literat, ein +Formenkünstler. Ohne ein ursprüngliches Wesenszentrum überläßt er sich +den wechselnden Strömungen der Zeit. Von der Verherrlichung des +Fleisches à la Wedekind ("Rektor Kleist", 1905) gelangt er zum ideal +platonisierten Denkdrama "Die Rettung des Alkibiades" (1919). "König +Hahnrei" und die "Jüdische Witwe" stellen die tragischen Konflikte +Tristans oder Judiths in frecher Jongleurkunst auf den Kopf. "Die +Bürger von Calais" wissen klug errechnete tragische Situationen +rhetorisch auszukosten. "Die Koralle" und "Gas" diskutieren die +sozialen Probleme der Gegenwart. An artistischem Können ist Kaiser +Sternheim bald voraus; er ist reicher, beweglicher, energischer. Aber +es ist die Hast der Nerven, die Psychologie des Intellekts, die Technik +des Films. In den sozialen Dramen — der Sphäre der Massen und +Maschinen — werden der Bau mathematisch, die Menschen mechanisch, +die Sprache zum Telegramm. Ein Druck auf die Feder — und das Werk +läuft ab: Rede und Gegenrede, Bewegung und Gegenbewegung. Mit virtuoser +Technik wird die ganze soziale Stoffmasse in diesem Rädertreiben +zermahlen. — Und schließlich fallen in der "Rettung des +Alkibiades" auch die Schemen dieser Gestalten; in Anlehnung an den +platonischen Dialog wird das Menschenspiel zum Denkspiel, die Dramatik +zur Dialektik.</p> + +<p>Über diese Artisten ragt Paul Ernst (geb. 1866) an Ethos der Kunst- +und Weltanschauung, aber ihre intellektuelle Gebundenheit weiß er nur +ins Geistige, nicht ins Künstlerische zu lösen. Er kommt vom naiven +Naturalismus seines Freundes Holz und will mit Wilhelm von Scholz (geb. +1874), der von der Neuromantik und Mystik herkommt, einen +"neuklassischen" Stil im Drama begründen. Über Shakespeares +individuelle Gestalten und Probleme will er zur reinen Typik der +Griechen zurück. Aber er ist ein Kunstdenker, kein Kunstschöpfer; er +gibt geistige Grundrisse statt organischer Gestalten. Tiefer im +Lebensgrunde wurzelt Scholz, zumal in der zweiten Fassung seiner +Tragödie "Der Jude von Konstanz" (1913), die der Hauch Hebbelscher +Tragik durchweht.</p> + +<p>Ein großes Drama wächst nur aus einer großen, ursprünglichen +Weltanschauung. Wie die Lebensformen der Mutterboden der epischen, so +sind die Weltanschauungsformen der Wurzelgrund der dramatischen Kunst. +Mit dem Weltkrieg brachen die Lebens- und Anschauungsformen des +materialistischen und rationalistischen Zeitalters zusammen. Aus seinem +Chaos schrie die gemarterte Seele nach ihrem Recht. Jünglinge ballten +ihren Aufschrei zum "expressionistischen" Drama, Walter Hasenclever im +"Sohn", Richard Goering in der "Seeschlacht", am stärksten Fritz von +Unruh in "Ein Geschlecht". Lyrische Entladungen, Konfessionen, +Predigten und Prophetien gaben sich dramatisch. Des späten Strindbergs +unnachahmliches Traum- und Seelendrama ("Traumspiel", "Nach Damaskus") +wurde unbedenklich zum Vorbild genommen. Über den zerfallenen Formen +recke sich der befreite, von Urgefühlen trunkene Mensch empor, der +Mensch schlechthin, der sich eins weiß mit seinen Brüdern, nach Seele, +nach Gott, nach einer neuen wahren Gemeinschaft des Geistes. Aber +ekstatische Schreie, rauschvolle Aufrufe, die Auflösung aller +Lebensmächte in e i n trunkenes Urgefühl führen höchstens zur lyrischen +Grundform. Dies neue Menschheitsgefühl will erst in der Wirklichkeit +erhärtet, vertieft und geklärt, in Zwieklang seiner Gegenmächte +begrenzt und behauptet und in ursprünglichen Gestalten objektiviert +sein, ehe es zu einem neuen Drama fruchtet.</p> + + + + +<h3>DIE LYRIK</h3> + +<p>Die epische Dichtung hat bestimmte Lebensformen, die dramatische +bestimmte Weltanschauungsformen zum Unter- und Hintergrund. Der epische +Dichter kann die Lebensformen nicht selber schaffen — sie sind +die Voraussetzung seiner Kunst —, der dramatische kann die +Weltanschauungsformen höchstens mitschaffen, aus den gesamten ideellen +Mächten seiner Zeit heraus. Die Form der lyrischen Dichtung ist die +Form der Persönlichkeit. Der Lyriker ist unabhängig in seinem +Schöpferwillen, alles wird ihm Stoff zu sich selber, Welt und Leben +kristallisieren in seinem Ich. So kann in einer zersetzten Zeit, im +Kampf der Lebens- und Weltanschauungen der Lyriker zuerst zur reinen +Form gelangen, als der Vorposten der neuen Menschheit. Und dieses +Ringen um den neuen Menschen, um das Bürgerrecht einer neuen Menschheit +stellt die deutsche Lyrik der letzten Jahrzehnte dar.</p> + +<p>1885 erschienen die "Modernen Dichtercharaktere", eingeführt von den +Aufsätzen Hermann Conradis (1862-1890) "Unser Credo" und Karl Henckells +(geb. 1864) "Die neue Lyrik". Die Gedichtsammlung war die Absage an die +Epigonenlyrik Geibels und Heyses, an die "losen, leichtsinnigen +Schelmenlieder und unwahren Spielmannsweisen" Rudolf Baumbachs und +Julius Wolffs. Diese jungen Lyriker wollten "Hüter und Heger, Führer +und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Ärzte und Priester der +Menschen" werden. Hermann Conradi gibt 1887 in den "Liedern eines +Sünders" sein lyrisches Bild. Er war der Innerlichste unter den +Jüngeren, der Gärende, haltlos Ringende. Er fühlte sich berufen, "die +Gegensätze der Zeit in ihrer ganzen tragischen Wucht und Fülle, in +ihren herbsten Äußerungsmitteln zu empfinden" und "voll Inbrunst und +Hingebung die verschiedenen Stufen und Grade des Sichabfindens mit dem +ungeheueren Wirrwarr der Zeit schöpferisch zum Ausdruck zu bringen". +Übergang und Untergang sah er ringsum, sich selbst empfand und +gestaltete er in seinen Romanen "Phrasen" und "Adam Mensch" als den +Typus des Übergangsmenschen, in den eigenen Krämpfen spürte er die +Krämpfe der Zeit, deren Krisis er 1889 in "Wilhelm II. und die junge +Generation" ahnend kündete: "Die Zukunft, vielleicht schon die nächste +Zukunft: sie wird uns mit Kriegen und Revolutionen überschütten. Und +dann? Wir wissen nur: die Intelligenz wird um die Kultur, und die +Armut, das Elend, sie werden um den Besitz ringen. Und dann? Wir wissen +es nicht. Vielleicht brechen dann die Tage herein, wo das alte, +eingeborene germanische Kulturideal sich zu erfüllen beginnt. Vorher +jedoch wird diese Generation der Übergangsmenschen, der Statistiker und +Objektssklaven, der Nüchterlinge und Intelligenzplebejer, der Suchenden +und Ratlosen, der Verirrten und Verkommenen, der Unzufriedenen und +Unglücklichen — vorher wird sie mit ihrem roten Blute die +Schlachtfelder der Zukunft gedüngt haben — und unser junger +Kaiser hat sie in den Tod geführt. Eines ist gewiß: sie werden uns zu +Häupten ziehen in die geheimnisvollen Zonen dieser Zukunft hinein: die +Hohenzollern. Ob dann eine neue Zeit ihrer noch bedürfen wird? Das +wissen wir abermals nicht." Conradis Leben und Lyrik ist nie zur +persönlichen Form gedrungen. So tief er darum rang, die gärenden, +brodelnden Elemente seines Wesens zur Einheit zu binden: "Und ob die +Sehnsucht mir die Brust zerbrennt: — Auf irrer Spur — Läßt +mich die Stunde nur — Am einzelnen verbluten."</p> + +<p>Karl Henckell, der zweite Herausgeber der "Modernen +Dichtercharaktere", verlor sich vorläufig in die Stofflichkeiten des +Naturalismus und Sozialismus. Er sang "Das Lied des Steinklopfers", +"Das Lied vom Arbeiter", "Das Lied der Armen", besang "Das +Blumenmädchen", "Die Engelmacherin", "Die Näherin im Erker", "Die +Dirne", "Die kranke Proletarierin". Er zeichnete billige satirische +Gegenbilder im "Korpsbursch" im "Einjährig-Freiwilligen Bopf", im +"Leutnant Pump von Pumpsack" im "Polizeikommissar Fürchtegott Heinerich +Unerbittlich". Er feierte "das ideale Proletariat": "Heil dir +Retterheld der Erde — Siegfried Proletariat — leuchtend in +der Kraft des Schönen." Er empfand sich als die "Nachtigall am +Zukunftsmeer". Durch die jugendliche Rhetorik und stoffliche +Befangenheit brach die — sozialistisch gefärbte — +Überzeugung einer Zeitenwende, eines nahen Zusammenbruchs, einer neuen +Zukunft.</p> + +<p>Ärger noch in diese Stofflichkeit, in die nächsten Bilder und +Phrasen der Zeit verstrickt blieb Arno Holz (geb. 1863) in seinem "Buch +der Zeit", "Lieder eines Modernen" (1885). Er glaubte sich +schöpferisch, wenn er die Großstadt, das Großstadtelend, den +Großstadtmorgen, den Großstadtfrühling in wässerig strömende Reime und +Strophen zwang. Der "geheime Leierkasten", den er später aus jeder +Strophe zu hören glaubte, klingt überlaut aus diesen jugendlichen +Versifizierungen. Und es ist persönlich begreiflich, daß er 1899 +schließlich in seiner "Revolution der Lyrik" Reim, Strophe und festen +Rhythmus grundsätzlich verwarf und eine Lyrik proklamierte, "die auf +jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet, und die, rein +formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur durch d a +s lebt, was durch ihn zum Ausbruch ringt". Im "Phantasmus" schuf er +dementsprechende, eindringliche, duft- und farbenreiche Stimmungsbilder +und -bildchen.</p> + +<p>In Julius Hart, Bruno Wille, John Henri Mackay, dem Schüler +Stirners, und Ludwig Scharf ergänzte und steigerte sich die soziale +Lyrik. Richard Dehmel (1863-1920) vertiefte und beseelte sie. Er war +der Freund Detlev von Liliencrons (1844-1909), des "Blutlebendigen, +Lebensbeglückten", Erdursprünglichen, der zwar durch den "Naturalismus" +erst ganz zu sich selbst befreit wurde, aber stets reine, sinnenhafte +Natur war und blieb, dem Kampf der neuen Ideen fremd, ein voller +Ausklang der alten lyrischen Linie, der Droste, Kellers, Storms. +Liliencron kam der Entwicklung von Dehmels sinnlicher Anschauung zur +Hilfe, wie Uhland einst dem jungen Hebbel. Dehmel zerbrach die +Kunstanschauung des "Naturalismus": Nie ahmt der Künstler die Natur +nach. "Weder die sogenannte äußere Natur, die Welt der Dinge, noch auch +die innere, die Welt der Gefühle, will oder kann er zum zweitenmal, zum +immer wieder zweitenmal, in die bestehende Welt setzen, in diese Welt +der Wirklichkeiten. Er will überhaupt nicht nachahmen; er will +schaffen, immer wieder zum erstenmal. Er will einen Zuwachs an +Vorstellungen schaffen, Verknüpfungen von Gefühlen und Dingen, die +vorher auseinander lagen, in der werdenden Welt unserer Einbildungen." +Aus "chaotischen Lebenseindrücken" will er einen "planvollen Kosmos" +schaffen, "nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder +menschlichen Daseins und Wirkens," "überschauende Zeit-, Welt- und +Lebenssinnbilder". So wird in Richard Dehmel zuerst der moderne Lyriker +sich seiner Aufgabe bewußt, der sinkenden, zersetzenden Zeit neue +Formen zu erobern, in der Form seiner Persönlichkeit und in heiliger +Wirkung und Wechselwirkung, in immer weiteren Ringen über sie hinaus: +"Alle Kunstwirkung läuft schließlich auf das Wunder der Liebe hinaus, +das sich begrifflich nur umschreiben läßt als Ausgleichung des +Widerspruchs zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und +Selbstvergessenheit." Den Weg vom Ichgefühl, einem neuen, starken +Ichgefühl, zu neu bewußten und vertieften Allgefühl sucht Dehmels Leben +und Lyrik. Vom sozialen Gefühl der Zeit geht er aus. "Wie kann der +geistige Mensch zur Herrschaft kommen, wenn er umgeben bleibt von +Menschen, die nicht einmal der Pflege des Körpers freie Zeit genug +widmen können! Kann denn das geistige Dasein sich steigern, wenn +jedermanns Sinne voll geistiger Unlust sind? Und kann der Geist des +einzelnen wachsen, wenn kein geneinsamer Boden sich bildet, der seine +Seele zum Wachstum anreizt?" Aus dieser leidenden Bruderliebe, aus +diesem Wissen um das Verbundensein alles Volkslebens wachsen seine +sozialen Gedichte "Zu eng", "Vierter Klasse", "Der Märtyrer", "Jesus +der Künstler", "Bergpsalm":</p> + +<blockquote> Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd +Herz!</blockquote> +<blockquote> Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen</blockquote> +<blockquote> Nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein +Schmerz!</blockquote> +<blockquote> Nicht sickert einsam mehr von Brust zu +Brüsten</blockquote> +<blockquote> Wie einst die Sehnsucht, nur als stiller +Quell;</blockquote> +<blockquote> Hier stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und +grell,</blockquote> +<blockquote> Und du schwelgst noch in Wehmutslüsten?</blockquote> + +<p>Die beiden klassischen sozialen Lieder formen sich: "Erntefeld" ("Es +steht ein goldnes Garbenfeld") und "Der Arbeitsmann" ("Wir haben ein +Bett, wir haben ein Kind"). Über die Lebens- und Liebeseinheit des +eigenen Volkes, durch die es "dem hunderttausendfachen Bann" der +Lebensnot und -niedrigkeit entwächst, drängt Dehmels Traum und +Leidenschaft zur Menschheitsstunde: "Bis auch die Völker sich befrei'n +— Zum Volk! — m e i n Volk, wann wirst du sein?" Und über +die Menschheit hinaus stürmt sein Lebenswille ins Weltall: "Wir Welt!" +Das ist das letzte Ziel, die Durchdringung von Eins und All. Den Weg +führt uns die Liebe: "Wer so ruht an einem Menschenherzen — Ruht +am Herzen dieser ganzen Welt."</p> + +<p>Dieses Mysterium kündet der "Roman in Romanzen: Zwei Menschen" +dreimal 36 Gedichte und drei Vorsprüche zu je zwölf Zeilen, die +zusammen wieder 36 Zeilen ergeben. Alle Gedichte haben den gleichen +Aufbau: eine Naturschilderung als Einleitung, die Worte des Mannes, die +Worte der Frau, ein paar Schlußzeiten, die in neuer Einheit die +Seelenstimmung zusammenfassen. Diese Strenge der Gliederung schafft +architektonische Schönheit, aber hemmt und verbaut auch. Es kommt weder +zur reinen epischen Erzählung noch zum reinen lyrischen Ausströmen. +Überhaupt bleiben die epischen Elemente, die eigentliche Handlung, die +Fülle der Schauplätze, bedenklich stofflich. Hinreißend ist der +ekstatische Überschwung der Grundstimmung, der zwei Menschen aus ihrer +Einzelhaft, durch die Liebe, zur Verbundenheit mit der Natur, der +Menschheit, dem Weltall, zum "Weltglück" führt, bis selbst der Tod sie +nicht mehr schreckt:</p> + +<blockquote> Wir sind so innig eins mit aller Welt,</blockquote> +<blockquote> Daß wir im Tod nur neues Leben finden.</blockquote> + +<p>So wächst Dehmels Ich-Bewußtsein in immer weiteren Kreisen zum +Weltbewußtsein, nicht nur im Gefühlsrausch des Lyrikers, sondern im +menschheitlichen Vorkampf. Die Harmonien zwischen Mann und Weib +offenbaren sich ihm nur darum so machtvoll, weil er abgründige +Disharmonien durchlitten und durchschritten hat. Seelische Helle wächst +aus sinnlichem Dunkel. "Die Verwandlungen der Venus" zeichnen — +stofflich überlastet — diesen Weg der Läuterung: "Aus dumpfer +Sucht zur lichten Glut."</p> + +<p>Alle Menschheitsbeziehungen werden in ihrem Doppelspiel von Haß und +Liebe, von Selbstbehauptung und Hingabe neu zur Frage gestellt. Wie +Mann und Weib sich gegenüberstehen, so Vater und Sohn. Im Kampf der +Generationen, der alten und jungen Weltanschauung ruft er als Vater +— als erster Vater! — seinem Sohne zu:</p> + +<blockquote> Sei du! Sei du!</blockquote> +<blockquote> Und wenn dereinst von Sohnespflicht,</blockquote> +<blockquote> Mein Sohn, dein alter Vater spricht,</blockquote> +<blockquote> Gehorch' ihm nicht! Gehorch' ihm nicht!</blockquote> + +<p>Als der Weltkrieg ausbrach, da war es Dehmel, dessen tapferer +Lebensglaube stets gewesen, durch die Zeit hindurch zur neuen Zeit und +Form sich vorzuringen, Pflicht und Bedürfnis, als +einundfünfzigjähriger, ungedienter, gemeiner Soldat in das Heer zu +treten und den Entscheidungskampf der neuen Menschheit mitzufechten: +"Die Begleitumstände sind allerdings scheußlich, aber das Hauptziel des +Kampfes ist herrlich und heilig; denn wir wollen den Frieden auf Erden +schaffen, a l l e n Menschen zum Wohlgefallen... Etwas mehr +Himmelsluft wird sich doch nach diesem reinigenden Sturm ausbreiten, +bei uns selbst wie im ganzen Völkerverkehr. Und was war der Hauptgrund, +warum ich alternder Mann zur Waffe griff, nicht bloß aus +Vaterlandsliebe und Abenteurerlust; da mein Körper noch kräftig genug +dazu ist, muß ich ihn einsetzen für die geistige Zukunft." Als Soldat +der neuen Menschheit ist er gestorben, an einer Venenentzündung, die er +sich im Kriege zugezogen.</p> + +<p>Das Kämpferpathos Dehmels, das anfangs dem jungen Schiller nah ist, +bevorzugt die charakteristische vor der musikalischen Form. Jeder +Glätte in Bild, Rhythmus und Strophe setzt er herbe Eigenheiten +entgegen. Der vierzeiligen Strophe gibt er eine fünfte Zeile mit, ohne +Reim, von besonderem Rhythmus. Bild und Versform wirken oft geschmiedet +und gehämmert. Auch seine "impressionistischen" Naturbilder sind keine +nachgiebige Eindruckskunst, sind Umwandlung üblicher, erstarrter +Anschauungen in charakteristische, von innen bewegte Bilder.</p> + +<p>In der Herbheit der inneren und äußeren Form ist ihm Paul Zech (geb. +1881) verwandt. Soziales Ethos erfüllt und durchbebt sein +bäuerisch-westfälisches Blut. Einige seiner Väter schürften Kohle. Er +selber hat nach Vollendung seiner Studien in tiefster sozialer +Verbundenheit nicht nur als Dichter, sondern zwei Jahre auch als +Mensch, als Arbeiter, am Leben der Bergleute teilgenommen in Bottrop, +Radbod, Mons und Lens. In den Vers- und Novellenbüchern "Das schwarze +Revier", "Die eiserne Brücke", "Der schwarze Baal" zieht sein Ethos die +Machthaber, die Harthörigen und Verblendeten vor Gericht, Güte und +Menschlichkeit für alle zu fordern. Die Stoffwelt des jungen +Naturalismus kehrt wieder: Fabriken, Zechen, Sortiermädchen, Fräser, +aber durchseelt von einem Ethos und Pathos, das aus religiösen Tiefen, +aus Christi Herzen steigt und zur "Neuen Bergpredigt" berufen ist. +Dieser religiösen Menschheitsverbundenheit mußte der Weltkrieg, Welthaß +und -gemetzel, die Zech als ungedienter gemeiner Soldat in den +furchtbaren Kämpfen (Verdun und Somme) miterlebte, zum apokalyptischen +Grauen, zur Sünde wider den Heiligen Geist werden. Von den tausend +Kriegslyrikern hat Zech allein von Anfang an den Krieg in seiner +metaphysischen Bedeutung erlebt und gestaltet. Seine Gedichtbücher +"Golgatha" und "Das Terzett der Sterne" reißen den Krieg aus den +historisch-politischen Verknüpfungen vor das Angesicht Gottes.</p> + +<blockquote> Ewig sind wir Kain. Unser Dasein heißt: +vernichten!</blockquote> +<blockquote> Käme tausendmal noch Christi Wiederkehr:</blockquote> +<blockquote> Immer ständen Henker da, ihn hinzurichten.</blockquote> +<blockquote> Fluch der Welt ist, daß uns Abel kindlos +starb.</blockquote> + +<p>"Zweitausend Jahre noch nach Golgatha — Göttliche Jugend +blutig auf der Bahre!" "Und immer neue Mütter stießen ihre Knaben +— In immer helleren Scharen in das Feld — Als wär vernarrt +die ganze Welt — Den Mord hinfort als Hausaltar zu habe? +— ...Daß du, Gekreuzigter, nicht von dem Holz — +Herabsprangst und mit Geißeln auf die Menge hiebst — Und klein +zurück auf ihren Ursprung triebst." "Seit jenen Tagen braust durch das +verführte — Geschlecht ein schriller Ton — Wie ihn schon +einmal ausstieß der verlorene Sohn." Aber den wilden Lärm der +Schlachten überschwillt die Musik der Sterne, wenn im Dämmern der Nacht +Gott aus den Mauerflanken anderer Erden ein Orgelhaus erbaut; dann +lösen sich die erdengrauen Kämpfer aus Blut und Schlamm der +Schützengräben ins Licht und Lied der Sterne und singen mit dem +Brüderheer der Toten und den brausenden Stimmen der Wälder die große +Schöpferfuge:</p> + +<blockquote> Zuletzt ist Gott nur noch alleine</blockquote> +<blockquote> Zuckender Puls im All...</blockquote> +<blockquote> Weit über Wind und Wassern hämmert seine</blockquote> +<blockquote> Urewigkeit wie Flügel von Metall.</blockquote> + +<p>Ist Zechs Menschenglaube und -liebe von alttestamentlichem, +prophetischem Eifer der Klage, des Zorns, der Forderung, so ist Franz +Werfels (geb. 1890), des Pragers, Liebe zur Welt und Menschheit +weicher, inniger, mystischer. Er stellt des Laotse Wort vor seine +Gedichte: "Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf +Erden" und Dostojewskis Wort: "Was ist die Hölle! Ich glaube, sie ist +der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag." Immer tiefer +und reicher sprechen seine Gedichtsammlungen "Der Weltfreund", "Wir +sind", "Einander" "Der Gerichtstag" die Lebens- und Liebesverbundenheit +aller Kreaturen aus. Nur als Erscheinung sind wir getrennt, im Wesen +sind wir eins, eins in Gott. Noch im ärmlichsten Menschen, im +verachtetsten Tier und Ding ist Gott verborgen, ringt Gott nach +Offenbarung. Und diesen göttlichen Funken, diese göttliche Einheit +hinter aller getrennten Erscheinung, hinter Armut, Eiter und +Niedrigkeit zu suchen und zu lieben, ist unsere religiöse Aufgabe, ist +der Sinn unseres Lebens: "Wer sich noch nicht zerbrach — Sich +öffnend jeder Schmach — Ist Gottes noch nicht wach. — Erst +wenn der Mensch zerging — In jedem Tier und Ding — Zu +lieben er anfing."</p> + +<p>So fleht der Dichter aus der Dumpfheit und Einsamkeit irdischer +Gebundenheit: "O Herr, zerreiße mich!" so braust der Bittgesang der +neuen Menschheitsgemeinde:</p> + +<blockquote> Komm, Heiliger Geist, du schöpferisch!</blockquote> +<blockquote> Den Marmor unserer Form zerbrich!</blockquote> +<blockquote> Daß nicht mehr Mauer krank und hart</blockquote> +<blockquote> Den Brunnen dieser Welt umstarrt,</blockquote> +<blockquote> Daß wir gemeinsam und nach oben</blockquote> +<blockquote> Wie Flammen ineinander toben!</blockquote> +<blockquote> — — — — Daß nicht mehr fern und +unerreicht</blockquote> +<blockquote> Ein Wesen um das andere schleicht,</blockquote> +<blockquote> Daß jauchzend wir in Blick, Hand, Mund und +Haaren</blockquote> +<blockquote> Und in uns selbst dein Attribut erfahren.</blockquote> + +<p>Im Dichter wird dieses Gebet zuerst und zutiefst erfüllt: "In dieser +Welt der Gesandte, der Mittler, der Verschmähte zu sein, ist dein +Schicksal," kündet ihm der Erzengel — "Daß dein Reich von dieser +Welt nicht von dieser Welt ist," diese Erkenntnis, "ist, o Dichter, +dein Geburtstag". Und so offenbart und erlöst der Dichter hinter der +Welt der Erscheinung die wahre Welt. Von der Welt der Armen, der +Dienstboten, der Sträflinge, der Droschkengäule, der Nattern, Kröten +und des Aases zieht er den täuschenden Schleier der Erscheinung und +offenbart das Geheimnis Gottes. Er will nichts sein als "Flug und +Botengang" des Ewigen, "eine streichelnde Hand", die allen +einsam-ängstenden Kreaturen von der göttlichen Wärme und Liebe +mitteilt. Nicht die "Eitelkeit des Worts" nur die Reinheit und Güte der +Seele gibt ihm die Macht zur Offenbarung und Erlösung: "Der gute +Mensch" ist der Befreier der Welt:</p> + +<blockquote> Und wo er ist und sein Hände breitet...</blockquote> +<blockquote> Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung,</blockquote> +<blockquote> Und alle Dinge werden Gott und eins.</blockquote> + +<p>Nicht die Erscheinung zu fliehen und vor der Zeit abzustreifen, +sondern die Erscheinung zu durchseelen, zu vergöttlichen, ist der Sinn +der Schöpfung, nachdem sie einmal im Sündenfall der Vereinzelung von +Gott abgefallen ist. In der Welt will Gott offenbart und erlöst werden. +Ergreifend spricht sich das im "Zwiegespräch an der Mauer des +Paradieses" aus, wo Adam, müde des Erscheinungswandels, zur alten +paradiesischen Einheit in Gott zurückverlangt und ihn anfleht: "Höre +auf, mich zu beginnen!", Gott aber weist ihn zurück in die Welt:</p> + +<blockquote> Kind, wie ich dich mit meinem Blut erlöste,</blockquote> +<blockquote> So wart' ich weinend, daß du mich erlöst.</blockquote> + +<p>Werfel ist ursprünglich, innig, oft franziskanisch-kindlich in +seiner Religiosität; gerade, sicher und sehnend wächst seine Dichtung +zum Himmel auf, wie ein gotischer Turm (erst im "Gerichtstag" gewinnt +die Reflexion zersetzend Macht). Rainer Maria Rilkes, des älteren +Pragers (geb. 1875), religiöse Lyrik ist mehr die Zierart am Turm, die +Fülle und Unruhe der gotischen Skulpturen, der Heiligen, Tiere und +Ornamente. Sie hat keine ursprüngliche, eigenmächtige Strebe- und +Baukraft. Rilke ist der Ausgang eines alten Kärntner Adelsgeschlechtes, +verfeinert, müde, heimatlos. In steten Reisen wechselte er zwischen +Wien, München, Berlin, Rußland, Paris, Italien. Er lebt wie seine +Gestalten "am Leben hin" nicht ins Leben hinein, durchs Leben hindurch. +Die tiefsten Offenbarungen gibt ihm nicht das unmittelbare Leben, +sondern das mittelbare: die Kunst. Erst in den Worpsweder Malern und +ihrer Atmosphäre wird ihm die seelische Bedeutung der Landschaft, erst +in der Kunst und dem Künstler Rodin die religiöse Bedeutung des +Menschen Erlebnis. Rodin, bekennt er, habe ihn "alles gelehrt, was ich +vorher noch nicht wußte, geöffnet durch sein stilles, in unendlicher +Tiefe vor sich gehendes Dasein, durch seine sichere, durch nichts +erschütterte Einsamkeit, durch sein großes Versammeltsein um sich +selbst". Sein Buch über Rodin ist wohl sein tiefstes und reichstes +Werk. Wie Rodin, der Gotiker unter dem Bildnern, den menschlichen +Körper auflöst in Seele, so löst Rilkes "Stundenbuch" mit den drei +Büchern "Vom mönchischen Leben", "Von der Pilgerschaft" "Von der Armut +und vom Tode" die Körper und Dinge in Gott. "Es gab eine Zeit, wo die +Menschen Gott im Himmel begruben... Aber ein neuer Glaube begann... Der +Gott, der uns aus den Himmeln entfloh, aus der Erde wird er uns +wiederkommen." So offenbart Rilke Gott in den Kindern, den Mädchen, dem +Volk, den Armen, den Bauern, der Landschaft, und mehr als in den +Menschen in den Dingen: "Weil sie, die Gott am Herzen hingen — +Nicht von ihm fortgegangen sind." Aber diese Offenbarung wächst nicht +wie bei Werfel aus unmittelbarem Lebensanteil und -zwiespalt und +heiliger Gewißheit, sie wächst aus der Sehnsucht des heimatlosen +Zuschauers und Künstlers und aus dem Wissen um viele religiöse +Vorstellungen und Symbole. Ein russischer Mönch ist der Träger und +Schreiber des Stundenbuches, und der ganze Stimmungsreichtum russischer +Klöster, Kuppeln, Ikone, Gossudars wird genutzt. Anderen religiösen +Gedichtzyklen, wie den "Engelliedern" und den "Liedern der Mädchen an +Maria" werden präraffaelitische Erinnerungen zu Stimmungsträgern. Und +die "Neuen Gedichte", die in der Fülle ihrer Bilder die Beziehungen der +individuellen Erscheinungen zu den letzten Prozessen und Formen des +Daseins gestalten wollen, tun dies nicht aus der drängenden Einheit und +Tiefe eines ursprünglichen Weltgefühls, sondern im seelischen oder +gedanklichen Umkreisen eines Themas. Oft gestaltete, künstlerisch schon +reizvoll umspielte Themen locken Rilke besonders: Abisag, David vor +Saul, Pieta, Sankt Sebastian, Orpheus und Eurydike, Alkestis, Geburt +der Venus, Eranna an Sappho usw. In diesen Lebensbildern sucht und +schafft die Seele sich Heimat, der das Leben selber sich verschließt. +Und sie bringt ihnen all ihre menschliche und künstlerische +Feinfühligkeit und Bewußtheit als Gastgeschenk. Frühzeitig hat Rilke +sich seinen Sprachstil geschaffen von solcher Eigenheit, daß er die +Grenze der Manier streift. Unscheinbare Worte weiß er neu zu beseelen, +verbrauchte Bilder auf ihren Ursinn zurückzuführen, Gleichnisse preziös +auszubauen. Durch Assonanz, Binnenreim und Häufung des Endreims weiß er +der Sprache eine slawische Weichheit und Klangfülle zu geben. Im +letzten Gedichtbuch, der "Neuen Gedichte zweiter Teil", gewinnt jedoch +das Artistische bedenklich Raum.</p> + +<p>Die Neigung zur Mystik ist Gefahr und Flucht für eine Zeit, die die +Form der Persönlichkeit wiedergewinnen, nicht aufgeben soll. Nicht +ichflüchtig, sondern im tiefsten ichsüchtig mußte der Lyriker werden, +der zur Form der neuen Lyrik: zur Form des neuen Menschen vordringen +wollte. Und wenn niemand durch die Zeit hindurch zu ihr drang, wenn +selbst Richard Dehmel, dem stärksten Bildner, deren zersetzte Elemente +bröckelnd in den Händen blieben, so konnte nur der die reine Form der +Persönlichkeit, des neuen Menschen bilden, der es von Anfang an außer +der Zeit und gegen de Zeit unternahm. So ist die Persönlichkeit und +Dichtung Stefan Georges (geb. 1866) Form geworden.</p> + +<p>Der Wille zur Form war das Wesengesetz Georges von früh auf. Er +selbst weist darauf hin, daß ihm die Formkräfte des römischen +Imperiums, des Katholizismus, der rheinischen Landschaft im Blute +mitgegeben seien. Zuerst wurde dieser Formwille ästhetisch seiner +bewußt. Die "Blätter für die Kunst" die er 1892 gegründet, förderten +— beeinflußt von den Präraffaeliten und von französischen +Lyrikern, wie Baudelaire, Verlaine, Mallarmé, Villiers — eine +"Kunst für die Kunst", sahen "in jedem Ereignis, jedem Zeitalter nur +ein Mittel künstlerischer Erregung". Aber hinter diesem Willen zur +ästhetischen Form rang und schuf bei George — nicht bei seinen +Mitläufern — der Wille zu Lebens- und Wesensformen. Und weil er +diese in der eigenen Zeit nicht fand, weil aus deren zersetzten +Elementen auch keine reinen Formen zu bilden waren, floh seine Seele +"vorübergehend in andere Zeiten und Örtlichkeiten", um dort die +Urformen des Menschentums in ihrer Reinheit wieder zu suchen und +bildhaft zu erneuern. In Algabal, dem römischen Priesterkaiser, fand er +sein antikes Gegenbild: den Jüngling, den es verlangte, unabhängig von +einer zergehenden Um- und Außenwelt ein Leben und Reich reiner +Schönheit, reiner Formen zu schaffen:</p> + +<blockquote> Schöpfung, wo nur er geweckt und verwaltet,</blockquote> +<blockquote> Wo außer dem seinen keine Wille schaltet,</blockquote> +<blockquote> Und so er dem Wind und dem Wetter gebeut.</blockquote> + +<p>Der Schatten Ludwigs II. weht durch diese Strophen. Aber an der +Vermessenheit des Einsam-Überheblichen zerbricht diese Welt. Aus dem +Abseits und der Vereinzelung spätrömischen Herrschertums fliehen die +"Hirtengedichte" in die mythisch geläuterten Urformen naturhaft schönen +und reinen Menschentums, wie sie die Griechen zuerst gewahrt und +gebildet haben. Hier beginnt die tiefe Wesensverwandtschaft Georges mit +der Antike deutlich zu wurden. Das Christentum hatte in seiner +Weltflüchtigkeit, seiner metaphysischen Sehnsucht und Wertung +formsprengende Elemente in sich aufgenommen; nur im südlichen und +rheinischen Katholizismus waren Himmel und Erde in Lebensfreude und +Bildhaftigkeit eins geblieben. Georges reinem Formenwillen konnte nur +eine antikische Weltanschauung genugtun, in der Gott und Welt, Seele +und Leib sich restlos durchdrangen, und in der Schönheit der Gestalt +zur vollkommenen Form gelangen. "Den Leib vergotten und den Gott +verleiben", das war ihm der Sinn alles Weltgeschehens, darin Natur und +Kunst sich trafen. Für diese religiöse Aufgabe bedurfte die Dichtung +einer vollen Erneuerung ihrer Formsubstanz: der Sprache. Und von Anfang +an hatte George sich darum gemüht, die epigonenhaft verbrauchten +Elemente der deutschen Sprache neu zu schaffen. Er war in den Geist und +Klang von sieben fremden Sprachen eingedrungen. In unermüdlichen +Übersetzungen hatte er die deutsche Sprache bereichert, durchglüht und +gehämmert. Im "Algabal" war ihm die Sprache ganz zu eigen geworden; es +waren keine übernommenen und verbrauchten Elemente mehr in ihr, sie war +wieder ursprünglich, war imstande, seinen neuen reinen. Wesens- und +Lebensformen in reiner Sprachform Gehalt zu geben.</p> + +<p>Nun war George stark genug, von seiner Flucht in die Welt der +Geschichte zurückzukehren, nicht mehr Urbilder vergangener Zeiten zu +erneuern, sondern Urkräfte zu bannen. Im "Jahr der Seele" (1897) +offenbart er Urformen der Natur.</p> + +<p>Die Natur ist ihm kein Gegensatz zum Geist oder zur Seele, ist ihm +die Lebenseinheit beider, ursprünglich und ewig wie die Antike, die +keine entgötterte und entseelte Natur kannte. So erschienen im "Jahr +der Seele" die Urformen der Natur, die Jahreszeiten, in Bildern von +räumlicher Gegenständlichkeit und Farbigkeit und zugleich tiefster +Seelenhaftigkeit. Die Seele sucht hier nicht — wie bei Goethe +— die Natur, um an ihr sich zu finden und auszusprechen; beide +sprechen sich in ursprünglicher, kosmischer Einheit aus. Urformen der +Natur offenbaren sich als Urformen der Seele, Urformen der Seele als +Urformen der Landschaft. So sind es keine Stimmungs-, sondern +Schicksalsbilder, die diese Gedichte schaffen. Die Fülle des Herbsttags +hebt an, die reife Ernteruhe und -klarheit, der Friede der Erfüllung, +den doch der Vers Hebbels schon ahnend durchschauert: "So weit im Leben +ist zu nah am Tod." Wie sind Seele und Landschaft eins in solchem +Gedicht:</p> + +<blockquote> Wir schreiten auf und ab im reichen Flitter</blockquote> +<blockquote> Des Buchenganges beinah bis zum Tore</blockquote> +<blockquote> Und sehen außen in dem Feld von Gitter</blockquote> +<blockquote> Den Mandelbaum zum zweitenmal im Flore.</blockquote> + +<blockquote> Wir suchen nach den schattenfreien Bänken,</blockquote> +<blockquote> Dort, wo uns niemals fremde Stimmen +scheuchten,</blockquote> +<blockquote> In Träumen unsre Arme sich verschränken,</blockquote> +<blockquote> Wir laben uns am langen, milden Leuchten.</blockquote> + +<blockquote> Wir fühlen dankbar, wie zu leisem Brausen</blockquote> +<blockquote> Von Wipfeln Strahlenspuren aus uns tropfen,</blockquote> +<blockquote> Und blicken nur und horchen, wenn in Pausen</blockquote> +<blockquote> Die reifen Früchte an den Boden klopfen.</blockquote> + +<p>Erst nachdem George die Urformen der Geschichte und der Natur +erlebt, erneuert und gebannt, ist er geläutert und gestählt zur Weihe +der Berufung. Jetzt erscheint ihm der Engel des "Vorspiels": "Das +schöne Leben sendet mich an Dich — Als Boten." Der Geist des +Lebens erscheint ihm jetzt, des "schönen Lebens", dem alles Dasein +reine Einheit ist und klare Form. Der hebt ihn zu sich auf die heilige +Höhe der Sendung. Die reinen Formen, die er bisher nur erfahren und +erneuert — jetzt darf er sie am Urquell mit schauen und +-schaffen; ein Leben der Weihe wartet seiner, in dem jede Stunde sich +sinnvoll einordnen, schöpferisch rechtfertigen will. Aber die Gnade der +Berufung fordert das Opfer, die Hingabe, den ausschließlichen Dienst +des Berufenen. Aus irdischem Glück und menschlicher Wärme schreitet er +zur Gipfelhöhe, Gipfeleinsamkeit, Gipfeleisigkeit.</p> + +<p>"Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten +Geheiß, das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens +zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und +keinen, sondern aus dem einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich, +dann gilt es dadurch den anderen; und was ihn ruft, weckt auf die +Ohren, die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte +und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. S i c h +gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und +das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eigenen +Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des +Lebens... und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form +fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er, was an der Zeit +war. Dantes Gesetz hieß: Schaue i Gott... Goethes: Werde Welt... +Georges: Gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten +dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis +zur Vollendung." (Gundolf.)</p> + +<p>Erst der also Geweihte vermag aus dem Geist des Lebens den "Teppich +des Lebens" (1900) zu zeichnen: die geistigen Urbilder des Menschentums +in Natur und Geschichte, "das Kräftereich europäisch-deutscher +Menschenbildung in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen +Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genius". (Gundolf.) Wie +"ein Epos des Erdgeistes" beginnt die Reihe mit dem mütterlichen Grunde +alles Menschentums, der "Urlandschaft", in der Mensch, Tier und Erde +noch unbewußt und einig sind: "Erzvater grub, Erzmutter molk, — +Das Schicksal nährend für ein ganzes Volk."</p> + +<p>Zum erstenmal in dieser epischen Bilderfolge taucht in Georges Werk +das Volk als Urform des Menschentums auf und als Urform seines +Menschentums das deutsche Volk. Im Vorspiel hatte der Geist des Lebens +ihn aus den magischen Landschaften des Südens zu "den einfachen +Gefilden", der "strengen Linienkunst" der heimischen, rheinischen +Landschaft geführt:</p> + +<blockquote> Schon lockt nicht mehr das Wunder der +Lagunen,</blockquote> +<blockquote> Das allumworbene, trümmergroße Rom,</blockquote> +<blockquote> Wie herber Eichen Duft und Rebenblüten,</blockquote> +<blockquote> Wie sie, die deines Volkes Hort behüten +—</blockquote> +<blockquote> Wie deine Wogen — lebensgrüner Strom!</blockquote> + +<p>Jetzt ist ihm das Volk als Urform deutlich geworden, die ihn selber +umfaßt, die Wesens- und Geschichtskräfte des deutschen Volkes. Seine +Sendung ist zur deutschen Sendung geworden: Indem er die reinen Kräfte +des deutschen Volkes in sich zur Gestalt bildet, wird er auch der +Bildner seines Volkes sein. — —</p> + +<p>"Den Leib vergotten und den Gott verleiben": die Einheit von Welt +und Gott, Natur und Geist, Leib und Seele war Georges Weltanschauung +und -aufgabe. Sie sollte und mußte er erleben, erschauen, erschaffen. +Das höchste Symbol dieser Einheit ist der Gott-Mensch. Und wenn je die +Menschheit dieses Symbols bedurfte zu ihrer Vollendung — George +konnte sich nicht begnügen, seine Weltanschauung in zerstreuten Bildern +zu schauen und zu schaffen; sie mußte sich ihm in einer Gestalt +verdichten. Das war die höchste Möglichkeit seiner Weltanschauung. Und +seinem Formsehnen und -willen war die höchste Möglichkeit auch die +höchste Notwendigkeit. So schaute und schuf er in Maximin, der +geliebten Gestalt eines schönen, früh gestorbenen Jünglings und +Jüngers, das Bild des Gott-Menschen, darin die Welt vollkommen ward.</p> + +<p>"Wir gingen", heißt es in Georges Maximin-Rede, "einer entstellten +und erkalteten Menschheit entgegen, die sich mit ihren vielspältigen +Eingenschaften und verästelten Empfindungen brüstete, indessen die +große Tat und die große Liebe am Entschwinden war. Massen schufen Gebot +und Regel und erstickten mit dem Lug flacher Auslegung die Zungen der +Rufer, die ehemals der Mord gelinder beseitigte: unreine Hände wühlten +in eincm Haufen von Flitterstücken, worein die wahren Edelsteine +wahllos geworten wurden. Zerlegender Dünkel verdeckte ratlose Ohnmacht, +und dreistes Lachen verkündete den Untergang des Heiligtums." Da +erschien in Maximin der göttlich einfsch schöne Mensch, "Einer, der von +den einfachen Geschehnissen ergriffen wurde und uns die Dinge zeigte, +wie die Augen der Götter sie sehen." In ihm ward der erstarrten Zeit +der Erlöser:</p> + +<blockquote> Die starre Erde pocht,</blockquote> +<blockquote> Neu durch ein heilig Herz.</blockquote> + +<p>Die Gedichte auf das Leben und den Tod Maximins, seine Feier, +Verklärung und Wirkung bilden die Gipfelhöhe des "Siebenten Rings" +(1907). Von ihr aus sind die "Gestalten" geschaut, der zweite Zyklus +des Werkes, "der Aufruf der letzten gotteshaltigen oder +gottesmörderischen Urwesen zur Wende der Gesamtmenschheit". (Gundolf.) +Im Vor- und Aufblick zu ihr ist in den "Zeitgedichten" die Gegenwart zu +Gericht gerufen, verworfen in ihrer Fäulnis und Finsternis, gesegnet in +den einsam ragenden Lichtgestalten, den Vorbildern: Nietzsche, Böcklin, +Leo XIII., denen Dante, Goethe, Karl August, die alten deutschen Kaiser +sich in ewiger Lebendigkeit zugesellen: Urformen höheren Menschentums, +wie Held und Herrscher, Priester, Seher und Dichter usw. Hier wird +George Gewissen und Stimme der Zeit.</p> + +<p>Im "Stern des Bundes" (1914) wird die Zeitschau, die in den +"Zeitgedichten" nur aus der Ahnung des Göttlichen geschah, aus seinem +Schauen und Wissen gegeben. Hier wächst George zum gewaltigen Richter +und Propheten der Zeit empor. Ein paar Monate vor Beginn des +Weltkrieges hat er hier aus heiligen Höhen den chaotischen Untergang +der zersetzten Zeit gesichtet und gerichtet:</p> + +<blockquote> Aus Purpurgluten sprach des Himmels Zorn:</blockquote> +<blockquote> Mein Blick ist abgewandt von diesem Volk.</blockquote> +<blockquote> Siech ist der Geist! Tot ist die Tat!</blockquote> + +<p>In einer ungeheuren Vision sieht und hört er in gewitternden Lüften +schreitende Scharen, klirrende Waffen, jubelnd drohende Rufe: den +"letzten Aufruf der Götter über diesem Land". Er sieht den maß- und +haltlosen Bau der Zeit wanken und zusammenstürzen. Er fühlt die +furchtbare Gewißheit:</p> + +<blockquote> Zehntausend muß der heilige Wahnsinn +schlagen,</blockquote> +<blockquote> Zehntausend muß die heilige Sache raffen,</blockquote> +<blockquote> Zehntausende der heilige Krieg.</blockquote> + +<p>Er hört sein Prophetenwort, seinen Schrei zur Umkehr verhallen, als +wäre nichts geschehen. Und im letzten, flammenden Gesicht sieht er den +Herrn des Gerichtes:</p> + +<blockquote> Weltabend lohte...wieder ging der Herr</blockquote> +<blockquote> Hinein zur reichen Stadt mit Tor und +Tempel,</blockquote> +<blockquote> Er arm, verlacht, der all dies stürzen +wird,</blockquote> +<blockquote> Er wußte: kein gefügter Stein darf stehn,</blockquote> +<blockquote> Wenn nicht der Grund, das Ganze sinken +soll.</blockquote> +<blockquote> Die sich bestritten, nach dem Gleichen +trachtend:</blockquote> +<blockquote> Unzahl von Händen rührte sich und Unzahl</blockquote> +<blockquote> Gewichtiger Worte fiel und eins war not.</blockquote> +<blockquote> Weltabend lohte...rings war Spiel und Sang,</blockquote> +<blockquote> Sie alle sahen rechts — nur er sah +links.</blockquote> + +<p>Und als die Vision Wahrheit geworden, das Weltverhängnis +niedergebrocben war, als immer noch "In beiden Lagern kein Gedanke +— Wittrung — Um was es geht", als aller Augen immer noch +nur das strategische Hin und Her anstarrten, da kündete er in seinem +Gedicht "Der Krieg" (1917):</p> + +<blockquote> Der alte Gott der Schlachten ist nicht +mehr.</blockquote> +<blockquote> Erkrankte Welten fiebern sich zu Ende</blockquote> +<blockquote> In dem Getob.</blockquote> +<blockquote> — — —</blockquote> +<blockquote> Zu jubeln ziemt nicht: kein Triumpf wird +sein.</blockquote> +<blockquote> Nur viele Untergänge ohne Würde.</blockquote> +<blockquote> — — —</blockquote> +<blockquote> Keiner, der heute ruft und meint zu führen,</blockquote> +<blockquote> Merkt, wie er tastet im Verhängnis, keiner</blockquote> +<blockquote> Erspäht ein blasses Glüh'n vom Morgenrot.</blockquote> +<blockquote> Weit minder wundert es, daß so viel +sterben,</blockquote> +<blockquote> Als daß so viel zu leben wagt.</blockquote> +<blockquote> — — —</blockquote> +<blockquote> Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot +sind.</blockquote> + +<p>Aber eben weil George von heiligen Höhen über die Zeit hinwegsah, +sah er auch weiter, über den Zerfall und Untergang hinaus, mündete sein +Kassandraruf in die heilig-liebende deutsche Verheißung:</p> + +<blockquote> Doch endet nicht mit Fluch der Sang. Manch +Ohr</blockquote> +<blockquote> Verstand schon meinen Preis auf Stoff und +Stamm,</blockquote> +<blockquote> Auf Kern und Keim...schon seh' ich manche +Hände</blockquote> +<blockquote> Entgegen mit gestreckt, sag' ich: O Land,</blockquote> +<blockquote> Zu schön, als daß ich dich fremder Tritt +verheere:</blockquote> +<blockquote> Wo Flöte aus dem Weidicht töne, aus Halmen</blockquote> +<blockquote> Windharfen rauschen, wo der Traum noch webt</blockquote> +<blockquote> Untilgbar durch die jeweils trünnigen +Erben...</blockquote> +<blockquote> Wo die allbühende Mutter der verwildert</blockquote> +<blockquote> Zerfallnen weißen Art zuerst enthüllte</blockquote> +<blockquote> Ihr echtes Antlitz...Land, dem viel +Verheißung</blockquote> +<blockquote> Noch innewohnt — das drum nicht untergeht, +— — —</blockquote> +<blockquote> Die ruft die Götter auf.</blockquote> + +<p>Der "Geist der heiligen Jugend unseres Volkes", der — in +Maximin göttliche Gestalt geworden — schon im "Stern des Bundes" +verkündet und in Lehre und Liebe dort unterwiesen war, wird in +Frommheit und Würde, Zucht und Opfer, Größe und Schöne die zerfallene +Welt erneuern.</p> + +<p>Als einziger einer zersetzten Zeit hat Stefan George seine Wesenheit +in Leben und Lyrik zur reinen Form geläutert, urbildlich erhöht und +vollkommen gestaltet. Mag das Gesetz seines Wesens wenigen gemäß sein +— er ragt in die Zeit als Standbild des in sich Vollendeten, ein +Vorbild jedem, das Gesetz seines eigenen Wesens zu ergründen, zu leben, +zu formen und im eigenen göttlichen Keim die Kraft Gottes im +entgötterten Europa zu befreien.</p> + + + + +<h2><a name="mus">DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART<br>VON PAUL BEKKER</a></h2> + +<p>Was ist das: deutsche Musik? Fragt man einen Franzosen nach +französischer, einen Italiener nach italienischer, selbst den Engländer +nach englischer, den Amerikaner nach amerikanischer Musik, so wird die +Antwort ohne jegliches Zaudern und Besinnen folgen. Der Russe wird +vielleicht einige Unterscheidungen machen zwischen rein nationaler und +aus westeuropäischen Quellen befruchteter Kunst, aber auch er wird +nicht zögern, etwa Tschaikowski trotz dessen Abhängigkeit von +außernationalen Anregungen als Vertreter russischer Musik anzusprechen. +Und nun stelle man vielleicht in einer deutschen Musikzeitschrift die +Frage: Was ist deutsche Musik, welches sind ihre Vertreter! Man wird +ebensoviel einander widersprechende Antworten erhalten, wie die Erde +Nationalitäten zählt. Unter den Lebenden zum mindesten ist kaum einer, +dessen Musik von allen Seiten als einwandfrei "deutsch" anerkannt +würde. Strauß, der den deutschen Namen am stärksten nach außen getragen +hat, wird von den Bayreuther Siegelbewahrern in einem beträchtlichen +Teil seines Schaffens als "undeutsch" abgelehnt, Pfitzners Musik wurde +während des Krieges von Berlin aus als "undeutsch, weil zukunftsarm" +gekennzeichnet, Reger gilt als verworren, Mahler und Schönberg sind +Juden, also nicht diskussionsfähig, von Schreker in solchem +Zusammenhange auch nur zu sprechen, wäre Lästerung. Jeder dieser +Komponisten hat seine eigene Anhängergruppe, ihre Hauptaufgabe ist, die +Minderwertigkeit der anderen ihrem Idol gegenüber festzustellen, und +die Worte "deutsch" und "undeutsch" spielen dabei die ausschlaggebende +Rolle.</p> + +<p>Man könnte sagen, daß eine Nation, die nicht vermag, +verschiedenartige individuelle Eigenschaften ihrer eigenen +Schöpferpersönlichkeiten in ihren Kulturbezirk einzuordnen, sehr +enggefaßte Begriffe von ihren eigenen Fähigkeiten haben muß. Man sieht +schließlich, daß auf diesem Wege eine Erkenntnis überhaupt nicht +möglich ist, daß es sich vielmehr bei solchen Streitereien um einen +schmählichen Mißbrauch des Wortes und Begriffes "deutsch" handelt. Eine +Zusammenfassung, eine Einigung aller verschiedenartigen, aus einem +Stamme erwachsenen Erscheinungen sollte es sein, ein trennendes +Kampfmittel subjektiv kritischer Wertung ist es gegenwärtig geworden. +Gegen solche Mißdeutung eines kulturellen Sammelbegriffes zu einseitig +parteiischer Nutzanwendung ist von vornherein Einspruch zu erheben, +wenn ernsthaft und sachlich von deutscher Musik gesprochen werden soll. +Als deutsch gilt uns nicht diese oder jene subjektive Eigenheit des +Künstlers, diese oder jene stilkritische Beschaffenheit des Werkes, +auch nicht Gesinnung oder gar Tendenz des Schaffens. Als deutsch gilt +uns alles, was dem Kreise der deutschen Kultur entwachsen ist, in ihm +seinen geistigen Nährboden gefunden, ihm eigene Früchte zugetragen hat +und so seiner Erscheinung in der Welt neue Geltung, neue Form gewinnt. +Dieser Begriff des Deutschtums ist nichts unveränderlich Feststehendes, +kein gegebenes Maß, dem alles unterworfen wird. Es ist ein stetig +Wechselndes. Eben an dieser Fähigkeit des Wechselns der Erscheinung +offenbart sich die innere Produktionskraft der nationalen Kultur. Wie +das Deutschtum Luthers ein anderes war als das Goethes und dieses +wieder ein anderes als das Wagners oder Bismarcks, und jede dieser +großen Kundgebungen deutschen Geistes verzerrt würde, wollte man sie +mit dem Maß der anderen messen, so gilt auch für unsere Zeit keine +Norm, sondern zunächst nur der Wert der Erscheinungen. Erst aus +aufmerksamer Betrachtung ihrer Vielfältigkeit und vorurteilsfreier +Zusammenfassung aller Strömungen vermögen wir das Deutschtum der +Gegenwart zu erkennen, über sein Wollen und Können Klarheit zu +gewinnen.</p> + +<p>Der Franzose, der Italiener, der Engländer weiß dies, der Deutsche +muß es noch lernen. Daß wir gegenwärtig gerade in der Musik im Kampfe +miteinander stehen um diese Grundkenntnis, ist ein bedeutsamer Zug +unseres kulturellen Lebens. Es mag hier unerörtert bleiben, wie weit +politische Erbitterung zu solcher Trennung der Geister beigetragen hat, +obschon die Tatsache, daß politische Momente überhaupt auf +künstlerische Fragen Einfluß gewinnen konnten, als Symptom bedeutsam +erscheint. In Wirklichkeit ist die politische Abirrung nur +Begleiterscheinung eines Kunstlebens, das nach irgendwelchen geistigen +Richtpunkten sucht, weil es sich von seinen natürlichen Nährquellen +abgeschnitten fühlt, weil es den tiefen ethischen Antrieb des +Kunstwillens verloren hat. Dieser Antrieb kommt aus dem Volk, aus dem +Verlangen nach Formung der schöpferischen Kräfte des Volkes im Symbol +des Kunstwerkes. Solche Formung geschah, als Bach die Matthäuspassion, +als Mozart die Zauberflöte, als Beethoven seine Sinfonien schrieb. Aus +dem Wunsch nach solchem Einklang von Volk und Künstler träumte sich der +Romantiker Wagner in den Mythos der Vorzeit zurück, baute er Bayreuth, +um dort sein "Volk" zu sammeln. Dieses Bayreuth an sich war schon ein +Zeichen, daß die Gesamtheit des Volkes nicht so auf den Künstler hörte, +wie er es wünschte, daß es ihn in wesentlichem mißverstand und er, um +sich nach seinem Willen vernehmbar zu machen, eine Auslese aufrufen +mußte. Rastlose Sehnsucht und gewaltige Tatkraft ermöglichten das +Gelingen, das Kunstwerk wurde noch einmal zur Darstellung stärksten +geistigen Gemeinschaftslebens, nicht mehr aus naiver Unbewußtheit, aber +doch in imposanter Willensspannung und ohne Inanspruchnahme +außerkünstlerischer Mittel. Seit dieser letzten zusammenfassenden Tat +aber ist der Riß zwischen Volksgemeinschaft und Künstler scheinbar +unüberbrückbar geworden. Die heutige Verwirrung der Geister, der Streit +um deutsche und undeutsche Musik, der Versuch, die Teilnahme an der +Kunst durch Entfachung politischer Leidenschaften zu steigern, ist +nichts als Bekenntnis der Ohnmacht, durch die Kunst selbst unmittelbar +an die Seele des Volkes zu gelangen. Statt des Volkes, statt der +Gemeinschaft bietet sich dem Musiker die Öffentlichkeit. Sie ist nicht +imstande, aus sich heraus Impulse zu geben, sie ist nichts als eine +Verbrauchsgenossenschaft. Sie verlangt interessiert zu werden, die +Wertung besorgt eine eigens dafür bestellte Fachkritik in den +Sprechorganen der Öffentlichkeit: den Zeitungen. So ist die Musik aus +einer Gemeinschafts-eine Fachangelegenheit geworden, für die nur der +fachlich Interessierte verpflichtende Teilnahme hegt. So wird die +Basis, auf der das Werk des Künstlers ruht, verhängnisvoll eingeengt +und gleichzeitig das von seinen Musikern verlassene Volk zur +Befriedigung seines Musikverlangens dem Gassenhauer zugedrängt.</p> + +<p>Man muß, um einen Blickpunkt für das Gesamtbild der heutigen +deutschen Musik zu gewinnen, sich dieser Lage bewußt werden. Es kommt +zunächst nicht darauf an, zu untersuchen, welche Ursachen dieses +Ergebnis herbeiführten. Es kommt darauf an, den Sachverhalt selbst +deutlich zu erkennen. Erst von dieser Erkenntnis aus ist es möglich, +die heut tätigen Kräfte richtig zu sehen und zu werten, ohne dabei dem +persönlichen Geschmacksurteil die Entscheidung zu überlassen. Dieses +ist hier Nebensache. Eine Bestandaufnahme der gegenwärtigen +schöpferischen Kräfte, eine Aussage über "deutsche Musik der Gegenwart" +kann nicht die Aufzählung einer Reihe subjektiver Meinungsäußerungen +über einzelne namhafte Komponisten erstreben. Sie muß fragen: Wie steht +die heutige Musik zu unserem Volkstum, welchen Beitrag bietet sie zum +Kulturleben der Nation und damit der Menschheit? Wo und wie lebt in der +Musikerschaft der Drang, über die spezialisierte Fachkunst hinaus zur +prophetischen Erfassung und Deutung seelischer Grundkräfte, über die +Wirkung auf die Öffentlichkeit hinweg wieder zum Organ des Volkes, zur +Künderin von Gemeinschaftsideen emporzuwachsen?</p> + +<p>Wie aber ist das Kriterium hierfür zu finden? Wollte man sämtliche +deutsche Komponisten und Musikästhetiker der Gegenwart befragen, ob +ihnen nicht ein solches Ziel als erstrebenswert gilt und vorschwebt, so +würde die Antwort zweifellos von allen Seiten bedingungslos bejahend +lauten. Und dies trotz der tiefgreifenden Wesensverschiedenheiten von +Menschen, die einander hassen, verfolgen, verächtlich machen. So +verheerend wirkt im Deutschen das Subjektivistische der romantischen +Lebens- und Weltidee, daß kein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, +keine Erkenntnis des Gemeinschaftszieles die Begrenztheit des +Individuellen zu überwinden, die Notwendigkeit verschieden gerichteter +Willenskräfte achten zu lehren vermag. In dieser Unfähigkeit, die +Möglichkeit mehrerer gleichzeitiger und doch gegensätzlicher Lösungen +einzusehen, liegt eine verhängnisvolle Erschwerung der Annäherung von +Künstler und Volk. Sie treibt den Schaffenden naturgemäß zu immer +stärkerer Betonung persönlicher Einseitigkeit, sie verengt seinen +Blick, sie läßt ihn den Begriff des Volkes nicht in der vollen +Erfassung aller Kräfte, aller Lebensenergien, sondern in bewußt +einseitiger Betonung individueller Wünsche, in gewollt ausschließlicher +Hervorhebung besonderer Absichten suchen. Diese fanatische Übertreibung +des Subjektivistischen, diese Verkennung der natürlichen Bedingtheiten +des Persönlichen ist die Hauptursache nicht nur der gegenwärtigen +Zersplitterung der Kräfte, auch der Entfremdung der Kunst gegenüber dem +Volke, ihrer allmählichen Entwurzelung. Die Masse hat im Grunde kein +Verständnis, sie hat — mit Recht — auch keine Teilnahme für +die Kämpfe, die ausgefochten werden um Spezialfragen und über die nur +die Studierten mitreden können. Das Volk fragt ebensowenig nach den +Prinzipien der Kunstauffassungen, wie es nach dogmatischen Einzelheiten +der Religionen fragt. Es hängt der Religion an, die ihm Botschaft +bringt vom Übersinnlichen, es verlangt nach der Musik, die an seine +Seele greift und seinem Geiste Aufschwung gibt. Das Theologengezänk +aber der "Richtungen" ist ihm gleichgültig, und wenn solches übergreift +auf die Produktion, macht es ihm diese verächtlich. Was nützt +demgegenüber der gute Wille, die wohlmeinende Absicht der Künstler, die +bekehren und demonstrieren wollen, statt glauben zu machen! Ihr Eifer +ist nicht rein, denn es steht der Ehrgeiz der Propagandisten dahinter, +ihre Kunst ist nicht überzeugend, denn ihr fehlt die Naivität des +Absichtslosen.</p> + +<p>Diese Naivität, diese Absichtslosigkeit, diese vorbehaltlose +Überzeugungskraft des Naturnotwendigen ist das Kriterium für die +Bedeutung des Kunstwerkes, für die Echtheit des Schöpferwillens. Erst +oberhalb solcher Voraussetzungen kann subjektive Wertung beginnen, die +dann Frage des Geschmackes ist, an die entscheidenden Grundbedingungen +aber nicht rührt. Wenn wir die Kräfte der Gegenwart erforschen wollen +auf ihr Verhältnis zum Volkstum, auf ihre Fähigkeit prophetischer +Deutung seelischer Grundkräfte, auf ihre Berufung zur Kündung von +Gemeinschaftsideen, so werden wir nicht nach ihrem ästhetischen +Programm fragen, nicht nach ihren erzieherischen Tendenzen, auch nicht +nach ihren stilkritischen Kennzeichen. Wir werden fragen, wo und wie +sich über diese persönlichen Merkmale hinaus ein schöpferischer Urtrieb +betätigt, der, alles willensmäßig Bewußte weit hinter sich lassend, aus +tiefstem Zwang des Müssens in absichtsloser Wahrhaftigkeit schafft und +dadurch zum Wecker elementarer Gefühlskräfte wird. Was solcher +Fragestellung standzuhalten vermag aus dem großen Bereich deutschen +Kulturgebiete, das ist deutsch, und das vermag entscheidende Auskunft +zu geben darüber, wie sich deutscher Geist der Gegenwart in der Musik +darstellt.</p> + +<p>Religiöse Grundlagen sind die einfachsten, für die Erfassung +weitreichender Wirkungen sichersten Stützen des Kunstwerkes. Sie +umspannen Ideenkomplexe, die jeder ernsthaften Natur vertraut und +zugänglich sind, mit denen zu beschäftigen immer das Verlangen der +besten Menschen ist, und die zudem allen Graden persönlicher Bildung +zugänglich sind. Zeiten, in denen die Kirche den religiösen Drang zu +befriedigen und in lebendige Kultformen zu fassen wußte, sind daher für +jede Kunst, insbesondere für die Musik, stets Zeiten der Hochblüte +gewesen. Der Gregorianische Choral, das Werk der Niederländer, der +alten Italiener mit Palestrina, in Deutschland der protestantische +Choral, die Zeit der großen Kirchenkomponisten bis Bach sind Denkmäler +dieses Zusammenwirkens von Kirche und Kunst. Die unabmeßbare Kraft der +Musik Bachs beruht zum nicht geringen Teil darauf, daß in ihr kirchlich +religiöse Kultformen Grundriß, Aufbau und innere Führung der +künstlerischen Schöpfung mitbestimmt haben. Gewiß ist es richtig, das +einzig das Genie Bachs eine solche Steigerung der gegebenen Kultformen +ermöglicht hat, denn zahllose andere Musiker, die sich vor, neben und +nach ihm ähnlich betätigten, sind heut vergessen. Gewiß ist es +ebenfalls richtig, daß wir heut auch Bachs kirchliche Musik nicht mehr +aus der Gefühlseinstellung der konfessionell gläubigen Gemeinde +aufnehmen. Aber weder die Erkenntnis der Einzigartigkeit von Bachs +Genie, noch der Hinfälligkeit der für ihn grundlegenden Kultformen +verringert die Bedeutung der Tatsache, daß hier Genie und Kultus in +gegenseitiger Durchdringung zu einem zeitlosen Ganzen emporgewachsen +sind. So unrichtig es wäre, Bach in seinen Passionen, Kantaten, Messen, +Chorälen, Motetten etwa nur als Interpreten kirchlicher Formideen +anzusehen, so falsch wäre es, die lebenspendende Kraft dieser Formen zu +unterschätzen und die Dauer dieser Werke ausschließlich als subjektive +Leistung Bachs anzusehen. Hier hatte ein starkes Gemeinschaftsgefühl +aus der Kultur einer Zeit Voraussetzungen geschaffen, die nun der große +Künstler erst recht erkannte und bis auf ihre höchste Tragkraft zu +überbauen wußte.</p> + +<p>Den Menschen der nachfolgenden Zeit fehlte diese feste Bindung. Wohl +blieb das religiöse Verlangen, aber die vereinheitlichende +Zusammenfassung durch die Kirche, die lebendige kultische Form ging +verloren. An Stelle der kirchlich gläubigen Erfassung religiöser Werte +trat unter dem Doppeldruck der Aufklärung wie der idealistischen +Philosophie und Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts kritisch +gesinnte Ethik. Sie gab der Musik die neue Fähigkeit der Leidenschart, +des Sturmes, des individuellen Erlebens, der Beichte. Sie stellte sie +unter den Zwang der Gefühlskritik, gab ihr zur Aufgabe die +unerbittliche Auseinandersetzung mit menschlichstem Geschehen, setzte +als Ziel die Gewinnung und Erkennung des Menschen. Mozarts Opern zeigen +dieses Ziel in stofflicher Symbolisierung. Darüber hinaus aber ist die +seelische Voraussetzung aller Musik dieser Zeit mit ihrer +Hauptschöpfung: dem Formbau der Sonate Gestaltung kritischer +Gefühlsauseinandersetzung und -erkenntnis. In ihr liegt das religiöse +Grundmotiv des Idealismus. Beethovens Werke in ihrer Gesamtheit sind +musikalische Kulthandlungen. In den verinnerlichten Formen der +Kammermusik, in den über die Kirche hinausstrebenden Messen, selbst in +der Oper, am stärksten zusammenfassend aber in den Sinfonien lebt als +treibende Urkraft der ethische Erkenntnis- und Bekenntnisdrang des +deutschen Idealismus, die Religiosität, die nicht mehr Kirche, nicht +mehr Dogma ist, sondern die Offenbarung des Göttlichen nur aus der +Gefühlskraft der menschlichen Seele empfängt. Diese ethische +Religiosität war ebenso Eigentum aller geistigen Menschen des +ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie Bachs kirchliche Gläubigkeit das +seiner Zeitgenossen. Der Idealismus schuf seine musikalische Kultform +im Konzert mit allen Verschiedenheiten seiner Formgattungen, gab +gleichzeitig der bis dahin auf Luxus- oder niedrig volkstümliche +Wirkungen begrenzten Oper den weiten Horizont allmenschlichen +Geschehens. Aus vorher unbekannten Bezirken des Fühlens und Erlebens +hatten sich neue Gemeinschaften der Menschen geformt, der religiöse +Trieb hatte eine äußerlich dem Kirchlichen schroff abgewandte, der +geistigen Schwungkraft nach aber höchster Glaubensfähigkeit ebenbürtige +Gestaltung gefunden.</p> + +<p>Dieser emporflammende Auftrieb der entdogmatisierten und doch +tiefgläubigen Seele brach zusammen in der Romantik. Es ist das +entscheidende Kennzeichen der den größten Teil des 19. Jahrhunderts +beherrschenden romantischen Bewegung, daß sie sich nicht fähig erwies, +dem religiösen Problem eine neue, eigenkräftige Gestaltung zu geben. +Der religiöse Impuls der Romantik äußerte sich zunächst in einseitiger +Weiterführung des kritischen Elementes, dem gegenüber der seelische +Anschwung des Idealismus mehr und mehr erlahmte. Das Ergebnis war teils +eine sich in Einzelheiten materialistischer Art zerfasernde +wissenschaftliche Empirie der Beobachtung, teils eine dieser +Nüchternheit abgewandte, auf religiöse Symbole der Vergangenheit +zurückgreifende Mystik. Naturalismus und Mystizismus sind +dementsprechend die geistigen und seelischen Grundlagen auch der +romantischen Musik. Zu organischer Einheit zusammengefaßt erscheinen +sie im Gesamtwerk Richard Wagners, in dieser Kunst der Synthese, die +einer religionssuchenden, doch innerlich glaubensunfähigen Zeit statt +des Gemeinschaftserlebnisses den Gemeinschaftsrausch gibt und sich +dafür der Kultform des religiösen Dramas in ästhetischer Verkleidung +bedient. Der Romantik mit ihrem Mangel eigener Kraft des Schauens und +Bauens geht die Naivität ursprünglichen Schöpfertums verloren. In die +Vergangenheit zurücktaumelnd, greift sie deren absichtslos geformte +Symbole auf und verwendet sie in bewußter Reizsteigerung zu Mitteln +absichtsvoller, durch reflektive Kunst planmäßig gestalteter Wirkungen. +Was Nietzsche zuerst als das Dionysische, später als das +Schauspielerische an Wagners Kunst empfand, war in Wahrheit ihr +Rauschhaftes, das ihn anfangs hinriß, dann abstieß. Aus der +instinktiven Abwehr gegen diesen Rauschtrank entsprang alle Opposition +gegen Wagner. Und doch war dieser Rausch der Wagnerschen Kunst nichts +von der älteren und gleichzeitigen Romantik grundsätzlich +Verschiedenes, nur ihre äußerste Steigerung. Alle romantische Kunst, +"Freischütz" nicht minder als "Tristan" ruht auf der Grundwirkung der +Hypnose, der Suggestion, auf der Idee des Traumes. Sie setzt die +Unwirklichkeit als Grundlage des Geschehens voraus, bedient sich aber +in der äußeren Gestaltung mit nachdrücklicher Betonung einer +naturalistischen Logik des Geschehens. In solcher Auffassung der +künstlerischen Welt als einer Welt bewußten Scheines, absichtlicher +Sinnestäuschung lag ein tiefer Widerspruch zur Kunst des Idealismus. +Für diesen war die Kunst Steigerung, schwunghafte Erhöhung des realen +Seins, kein Gegensatz, sondern durch geistige Hochspannung gewonnene +Sphäre vervielfachter Lebensenergie. Die idealistische Kunstauffassung +war Ergebnis einer im tiefsten Grunde bejahenden, den Mächten des +Lebens innerlich überlegenen Weltanschauung. Der Romantik fehlt diese +Überlegenheit. Sie ist pessimistisch, weil sie sich dem Leben nicht +gewachsen fühlt, sie bedarf des Traumes, um der Wirklichkeit zu +entfliehen. Die Kunst ist ihr das Narkotikum, das den Traum +heraufzaubert, und weil diese Kunst als Surrogat des Lebens dient, so +muß sie mit allen Mitteln der Sinnestäuschung illusionistischen Zwecken +dienstbar gemacht werden. Illusionistisch ist die Bühne der Romantik, +ist die Faktur ihrer Technik. Die Psychologie wird in den Dienst des +Kunstwerks gestellt, das Prinzip des Leitmotives ist das stärkste +Kunstmittel einer illusionistisch gerichteten Phantasie. Der +bestimmende Einfluß poetisch programmatischer Vorstellungen auf das +sinfonische und instrumentale Schaffen beruht gleichfalls auf dem +Streben nach Übertragung real glaubhafter Vorgänge in künstlerische +Wirkungen. Das Leben sinkt für den Romantiker immer mehr zur Unterlage +der Kunst herab, diese selbst wird ihm zum Inbegriff eigentlichen +Lebens und damit auch zur Religion. Unvermögend, das reale Sein zu +zwingen, flüchtet der romantische Künstler in die Traumwelt des +künstlerischen Scheins, gestaltet sie mit allen Mitteln der Kunst zum +Abbild einer gewünschten Wirklichkeit und gewinnt aus der Anbetung +dieses selbstgeschaffenen Idols Befriedigung seiner weltlichen und +überweltlichen Sehnsucht.</p> + +<p>Damit hatte die Musik, namentlich die dramatische Musik, scheinbar +über alles Frühere hinaus eine noch nie erreichte Steigerung religiöser +Bedeutsamkeit erreicht. Sie war nicht nur, wie bei Bach, künstlerische +Verklärung gegebener Kultformen, sie stellte nicht nur, wie in der Zeit +des Idealismus, die Übertragung ethischer Erkenntniskritik in +unkirchliche Formen beseelter Geistigkeit dar. Sie war jetzt selbst +Erkenntnis, selbst Religion geworden. Diese Steigerung war indessen nur +scheinbar. Was die Kunst an Selbstherrlichkeit gewann, büßte sie an +umfassender Kraft und seelischer Wahrhaftigkeit ein. Diese zur bewußten +künstlerischen Wirkung sterilisierte Religiosität trug in sich weder +die überzeugende Ursprünglichkeit des menschlichen Glaubenserlebnisses +noch den emporreißenden seelischen Aufschwung des entkirchlichten und +doch gottesahnenden Idealismus. Die romantische Religiosität war zu +einer Angelegenheit der Ästhetik geworden, ihre Abwendung vom Leben +entzog ihr die fließenden Kräfte dieses Lebens. Wagner glaubte, das +Volk zu suchen, er fand den Bayreuther Patronatsverein. Er fand das +gebildete Publikum, daß sich am Rausch seiner Ekstasen religiös zu +erbauen meinte und nicht fähig war, zu erkennen, daß hier Symbole einer +entseelten Religiosität zu dekorativer Schaustellung arrangiert +waren.</p> + +<p>Auf der deutschen Gegenwart lastet das Erbe der Romantik. Der +Rauschtrank der romantischen Kunst hat die Geister verwirrt und +seelisch niedergebrochen. Einige meinen, er müsse immer wieder erneuert +werden, sie glauben in der Fortführung der Hypnose, in der +Aufrechterhaltung der Kunst als des Narkotikums den einzigen Weg zu +sehen. Sie teilen mit der Vergangenheit die Scheu vor dem Leben, die +Realität erscheint ihnen sinnlos und schlecht. Es ist die Gruppe jener +Künstler, die neuerdings in Hans Pfitzner ihren Wortführer gefunden +hat. Man darf, will man die symptomatische Bedeutung solcher +Erscheinungen nicht verkennen und unterschätzen, ihren Worten nicht +unmittelbare Widerrede, ihren Taten keine absolute Kritik +entgegensetzen. Sie sind Opfer einer Vergangenheit, deren Blendkraft +Generationen getäuscht und zermürbt hat. Ihre Hysterie ist ein Teil +unserer eigenen Schwäche, weit entfernt, uns zu unfruchtbarem +Widerspruch aufzureizen, zeigt sie uns die zersetzende Nachwirkung der +romantischen Lüge an dem erschütternden Beispiel entnervter Talente. +Ein heißer Drang zum Glauben, ein bedingungsloser Fanatismus sucht +Erfüllung von der Kraft einer Theatersonne, unfähig zu erkennen, daß +dieses künstliche Licht nur geschaffen ist, um zu täuschen, eine Welt +des Scheines zu erhellen, eine Gemeinschaft der Lebensflüchtlinge +anzulocken. Aber diese hingebungsvolle Bewunderung, diese +selbstvergessene Anbetung des großen Scheines, dieser Traum von der +Herrlichkeit des Vergangenen ist ein tiefer Wesenszug des deutschen +Charakters. Je ärmer und reizloser die Kunst dieser Männer wird, je +mehr sie sich in schemenhafte Phantasterei und mystischen Dunst +verliert, um so mehr erkennen wir hier ein ursprünglich werthaltiges +Gut deutscher Art: die Verehrung des erdhaft Heimischen, des +geschichtlichen Werdens. Es liegt ein religiöser Zug verborgen in der +bedingunglosen Anbetung des Blutes, der Art, der Gesinnung, und so +wenig solche Verherrlichung des Gewesenen geeignet ist, Erkenntnis zu +schaffen, dem Blick die Kraft wahrhaften Durchdringens zu geben, so +wenig kann man sie aus dem Charakter des Deutschtums streichen. Als +Kunstbekenntnis ist sie der leichtesten Eingänglichkeit sicher, sie +erspart selbständiges Denken, bietet nichts Eigenes, verlangt nur +Anerkennung des historisch Gegebenen. Diese Religion der Haus- und +Nationalgötter, deren Heiligkeit bedingt wird durch ihre Herkunft, +gehört zu den populärsten Bekenntnissen im heutigen Deutschland und +zählt eine große Gemeinde. Es ist eine an sich durchaus unreligiös +Religion, aber sie gibt den suchenden Menschen ein Etwas, an das sie +glauben können, sei dieses Etwas auch nur ein Fetisch.</p> + +<p>Dieses Suchen, dieses Glaubenwollen, dieses starke Durchbrechen des +religiösen Bedürfnisses ist das auffallendste Kennzeichen der Gegenwart +im Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit. Es zeigt sich nicht +nur an dem Versuch, dem künstlerischen Nationalismus religiöse +Bedeutung zu geben, es zeigt sich auch an der Entwicklung anderer +Geistesrichtungen innerhalb der gegenwärtigen Musik. Aus der +illusionistischen Tendenz der romantischen Musikauffassung hatte sich +allmählich ein intellektuell hochstehender Naturalismus entwickelt, +sein talentmäßig stärkster Repräsentant ist Richard Strauß, die +lebendigste und bewegungskräftigste deutsche Musikbegabung seit Wagner. +Bei Strauß ist bis zu den Werken seiner besten Manneszeit, +"Heldenleben" "Domestika" und "Rosenkavalier", der Sinn nur auf +intellektuelle Gemeinschaft, auf die Überzeugungskraft der richtigen +Beobachtung, auf die Freude an der Selbstsicherheit der +naturalistischen Darstellung gerichtet. Aus der Kraft des Wurfes, mit +der hier die materialistische Wirkung der Kunst erfaßt wurde, ergab +sich die Unmittelbarkeit des Eindruckes. Der Rausch kam nicht mehr, wie +bei der älteren Romantik Wagners, aus der Ekstase eines +Scheinerlebnisses. Er war lediglich Freude an der hinreißenden +Beherrschung der illusionistischen Darstellungskunst, deren Objekt im +Hinblick auf seine Anregungskraft für das Talent des Künstlers gewählt +wurde.</p> + +<p>Dieser Naturalismus, der mehr und mehr zur deskriptiven Virtuosität +herabsank, hat neuerdings versucht, sich durch Anlehnung an die +Symbolik des Idealismus einen ethischen Anschwung zu geben. Vom +"Rosenkavalier" an über "Ariadne" und "Josefslegende" bis zur "Frau +ohne Schatten" tritt in Stoffwahl und künstlerischer Behandlung bei +Strauß eine unverkennbare Bezugnahme auf Mozart zutage, eine +Bezugnahme, die freilich nirgends über die Bedeutung der +archaisierenden Stilanlehnung hinausgelangt, weil die Straußsche Kunst +ihrer An der Gefühlserfassung nach unlösbar verwurzelt ist in den Boden +der Romantik. Auch diese Lebensäußerung deutschen Geistes in der +gegenwärtigen Musik ist nicht zu unterschätzen. Sie zeigt die +Beweglichkeit, den spekulativen Unternehmungssinn, die technische +Phantasie eines expansiv gerichteten, auf äußere Aktivität gestellten +Willens. Ihrer bekenntnismäßigen Bedeutung nach erscheint sie freilich +vorwiegend Ausdruck eines Materialismus, der seine religiös ethische +Schwäche unter dem Reichtum äußerlich reizvoller Bilder zu verbergen +sucht und dabei doch mehr und mehr der Skepsis des Ästhetentumes +verfällt.</p> + +<p>Der Traum als Mittel der Vergangenheitserinnerung war das Ziel auch +jener Kunst, die im Anschluß an die ältere Romantik durch Vertiefung +des gemütvoll Innigen, durch strengen Ernst und beschauliche Sammlung +der Gefühlskräfte das Rauschharte der theatralischen Gebärde Wagners zu +vermeiden suchte. Brahms ist die eigenkräftigste, durch Festigkeit und +herbe Geschlossenheit des Willens imposanteste Erscheinung dieser Art, +Reger ihr unruhvollst bewegter problematischer Ausklang. Es ergab sich +aus der inneren Willensrichtung dieser Kunst, daß sie sich +ausschließlich konzertmäßigen Formen zuwenden und diese unter bewußter +Betonung ihres formalistischen Charakters einer gesteigerten Intimität +des Gefühlslebens, damit zugleich einer Verengung ihres äußeren +Wirkungskreises zuführen mußte. Der Wesenscharakter dieser Kunst dräng +zur Hausmusik. Er enthüllt sich am freiesten in der Kammermusik und der +auf intern begrenzte Wirkungen berechneten Vokallyrik. Wo er dem +Monumentalen zustrebte, näherte er sich dem akademischen Formalismus, +der schematisch konstruierten, nicht frei gewachsenen Form. Das +Positive lag in der inneren Bezugnahme auf die wertvollen Kräfte eines +konservativ beschaulichen Gefühlslebens, das sich nicht zu erweitern, +nur zu bewahren strebt. Die Schwäche war bedingt durch bewußt +rückschauende Tendenz, durch stille, aber hartnäckige Abwehr gegenüber +allen Versuchen, neue Grundlagen, neue Ausgangspunkte seelischen +Gemeinschaftslebens zu finden.</p> + +<p>Solche neuen Grundlagen und neuen Ausgangspunkte des Seelischen +treten dagegen mit überraschender Bestimmtheit zutage in der Musik +Anton Bruckners. Ähnlich wie Brahms steht auch Bruckner in naher +innerer Beziehung zum Volkstum. Nur ruht diese Beziehung nicht auf +bewußter Archaisierung, traumhafter Zurückführung der Gefühlsart auf +eine innerlich als altertümlich empfundene Art der Ausdrucksgestaltung. +Sie ergibt sich aus natürlich freier, menschlich spontaner +Unmittelbarkeit, ist reines Erlebnis ohne irgendwelche stilistische +Bewußtheit. Als individuelle Erscheinung ist Bruckner in seiner +Weltfremdheit, seiner Mischung von Bauer und Mönch eine fast +mittelalterliche Natur, als Künstler stellt er unter allen anderen +Typen seiner Zeit die erste im wahrhaften Sinne modern gerichtete +Persönlichkeit dar. Er steht der Wagner-Nachfolge sowohl in ihrem +krampfhaften Verlangen nach weltfeindlicher Hypnose wie in ihrer +ästhetenhaften Symbolspielerei ebenso fern wie der versonnen +rückblickenden Vergangenheitsträumerei der formalistisch akademischen +Romantik. Er ist ein gläubiger Mensch, dessen unkomplizierte +Religiosität sich an dem weihevollen Glanz und der Autorität eines +unkritisch empfangenen Katholizismus zur Erhabenheit aufrichtet. +Gläubigkeit ist für ihn kein Rausch, keine Sehnsucht, kein Spiel, sie +ist eine unerschütterliche, jenseits aller Zweifel stehende Tatsache. +Sie gibt ihm Naivität und Kraft der großen Form, gibt ihm die Fähigkeit +der Gemeinschaftsbildung, die hier wieder aus der Wucht des +wahrhaftigen Erlebnisses erwächst. In Bruckners Musik tritt zum +erstenmal seit dem Verblassen des Idealismus der wirkliche Mensch mit +seinem Drang zur nicht künstlich vorgetäuschten lebendigen Wirklichkeit +hervor. Der Traum als Ziel der Kunst wird überwunden, ein starkes +Gefühl ist wieder erwacht, das den Erscheinungen der Realität gewachsen +und fähig ist, sie formend zu gestalten. Die Quellen dieses Gefühles +weisen wieder zurück auf die Kirche: Orgelklang, Hochamtsfeier, +liturgisches Zeremoniell sind die Grundlagen für Bruckners +Phantasieleben. Man könnte an eine gewaltig hervorbrechende Nachblüte +spezifisch katholischer Kunst denken. Aber hier tritt gleichzeitig ein +so kerniges, bei aller Gebundenheit persönlich gerichtetes Menschentum +zutage, daß die kirchliche Bezugnahme nur Fundament und innere +Richtlinie bleibt für eine kühn und frei in die Welt des Erdhaften +hinausgebaute Kunst.</p> + +<p>Was Bruckner von der Basis einer strenggläubigen, durch inbrünstige +seelische Erfassung und urwüchsige Einfalt bezwingenden volkstümlichen +Kirchlichkeit aus begann, das vollendete Mahler. Bruckner wie Mahler +entstammten dem Traumlande der Romantik, in ihnen vollzog sich das +Erwachen der Seele zu einer neuen Lebensgestaltung aus der Kraft eines +neuen Lebenswillens, eines positiv gerichteten Aktivitätsdranges. +Empfing Bruckner noch die innere Anregung und Beschwingung seiner +Phantasie aus der frommen Erfassung katholischer Glaubenssymbole, so +drang Mahler aus der konfessionell umschriebenen Gedankenwelt vor in +die Sphäre der reinen Naturanbetung. Das Blühen und Werden, das Keimen +und Vergehen alles Seienden, das Wunder der zeugenden und schaffenden +Liebe, das Geheimnis des Lebens und Sterbens der Natur, alles, was +gleichnishaft in den Symbolen der kirchlichen Lehre dargestellt war, +erschien jetzt wieder in unmittelbarer Anschauung gespiegelt, nur in +das Symbol des Kunstwerkes übersetzt. Eine Welt glaubenstiefer und doch +unkirchlicher Religiosität tat sich auf, ähnlich wie einst bei den +Künstlern der idealistischen Zeit und doch ganz anders erschaut. +Nicht mehr Erkenntnis ist das Ziel, nicht mehr Kritik weist den Weg. +Der individualistische Hang, der Trieb zur Befreiung der Persönlichkeit +und ihrer Werte, der die individualistische Bewegung getragen und im +subjektivistischen Traumbild geendet hatte, ist erloschen. Jetzt +wechselt er in das Streben nach Überwindung der individuellen +Begrenztheit, nach Eingliederung des einzelnen in das Ganze. Die Natur +in der unbemessenen Vielheit ihrer Erscheinungen wird zum höchsten +Sinnbild der Totalerfassung schöpferischer Kräfte. Der Mensch, nicht +mehr kritisches Geistwesen, sondern vegetabilisches Naturwesen, steht +inmitten dieses Ganzen, nur ein Teilchen davon, pflanzenhaft +erdgebunden und doch wieder Unsterbliches in sich tragend, höchste +Inkarnation göttlicher Urkraft, soweit er sich kosmisch zu empfinden +und zu erkennen vermag. Die Gemeinschaft wird auch künstlerisch wieder +zur Quelle einer neuen Formidee: die Gemeinschaft nicht der Gläubigen, +nicht der Erkennenden, nicht der vom romantischen Zaubertraum +Berauschten, auch nicht der nationalistisch Gesinnten, ästhetenhaft +Interessierten oder der Vergangenheitsträumer. Es ist eine höhere +Gemeinschaft, die alle: Gläubige, Idealisten und Romantiker umfaßt, von +allen ein Teil in sich trägt und es mit den übrigen zu neuer Gesamtheit +einigt. Es ist die Gemeinschaft der Menschen als Geschöpfe einer +Gottheit der Liebe, aus deren ahnender Erfassung alles Problematische +sich löst, alles Individuelle verschwindet, alles Schicksalhafte +überwunden wird. In dieser Verkündung der Liebe als der höchsten +schaffenden Macht, in dieser Anschauung des Menschen nur als Teiles +eines sozial bedingten Ganzen lag die neue religiöse Botschaft, lag die +neue aktive Gestaltung tief drängenden Menschheitsverlangens, lag die +befreiende Tat, die aus der Traumsphäre der Romantik hinausführte in +die Wirklichkeit lebendigen Lebens, sie bejahend und in der Kunst zu +formbewußter Gestaltung zwingend.</p> + +<p>Es war ein deutscher Musiker, der diese Tat vollbrachte und damit +der deutschen Musik wieder ein hohes Ziel stellte, ihr einen neuen +Gefühlsgehalt gab. Neu freilich nur im Hinblick auf die innerer +Begründung. Dem Ergebnis nach deckte sich diese kosmische Religiosität +mit der christlichen Gemeinschaftsidee wie mit der Menschheitsliebe der +idealistischen Humanitätszeit. Alle drei sind Auseinandersetzungen mit +dem Gemeinschaftsproblem, verschiedenartig in der Begründung, +übereinstimmend aber im Resultat der Bejahung des Lebens in der +Gemeinschaft, der Überwindung des Individuellen, der tätigen +Zusammenfassung aller Kräfte. Mit dem erneuten Durchbruch zu diesem +Ziel hatte die deutsche Musik wiederum ihre Berufung und Fähigkeit zur +Weltmacht erwiesen, ihre Stellung als Künderin höchster +Menschheitsideen bestätigt.</p> + +<blockquote><center> * +*</center></blockquote> +<blockquote><center> *</center></blockquote> + +<p>Zum zweitenmal wurde die sinfonische Form Gefäß der gestaltenden +Idee, jetzt nicht wie bei Beethoven vorwiegend auf die abstrakt +instrumentale Sprache beschränkt, sondern stark durchsetzt, zum Teil +beherrscht vom vokalen Ausdruck. Die Sphäre des Geschehens war dem +sinnlich faßbaren Erlebnis nähergerückt, die Vorstellungswelt dieser +Kunst lag mehr im Bereich des irdisch Erkennbaren, Gleichnishaften. +Dagegen war sie ferngerückt dem Naturalismus und Illusionismus der +Romantik, und darin lag der tiefe Wesensunterschied sowohl gegenüber +der gleichzeitigen Programmusik als auch der Oper. Die Oper war ihrem +Ursprung nach dem unbefangensten, kindlich buntesten Sinnenspiel +zugewandt. Im Gegensatz zu den auf andächtig religiöse Vereinigung +gerichteten musikeigenen Formen war sie der Verherrlichung der Freude +gewidmet, das Fest des Dionysos und des Eros. Künstliches Erzeugnis +bewußten Luxustriebes, als Formerscheinung abhängig von den +Bedingtheiten verschiedenartigster, organisch unverbundener +Wirkungsmittel, unterworfen dem gesellschaftlichen Einfluß der +Verbraucher, war sie die unrealste, durch willkürliche Mischung der +Gestaltungselemente zwitterhafteste musikalische Kunstgattung. Sie hat +in den verschiedenen Ländern verschiedenartige Ausprägung erfahren, hat +in Italien eine Entwicklung nach der musikhaft sinnlichen, in +Frankreich nach der schauspielhaft bühnenmäßigen, in Deutschland nach +der gedanklich dramatischen Seite hin genommen. Aber sie ist stets +Erzeugnis und Spiegelung des Luxuswillens, der Laune, der +phantastischen Willkür geblieben. Das bedeutet keineswegs Verkennung +oder Unterschätzung ihres Kunstwertes. Man kann die Oper gewiß nicht +streichen aus der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte, sie ist +die bezeichnendste Auswirkung des Spieltriebes. Aber nur als solche +kann sie erfaßt werden, im Gegensatz zum gesprochenen Drama, dessen +äußere Form sie spielend nachahmt, wie sie jede andere der an ihr +beteiligten Künste: Gesang, Instrumentalmusik, szenische und figürliche +Darstellung gewissermaßen in eine absolut unlogische Sphäre überträgt. +Je reiner sie diesen Charakter des phantastisch parodistischen Spieles +wahrt, um so vollkommener wird sie als Kunstwerk wirken. Der +unvergängliche Zauber der Oper Mozarts ruht in der tiefen +Übereinstimmung, aus der hier Sinnenfreude, Spieltrieb, jeglicher +Realität abgewandte Phantastik zur tiefsten Erfassung menschlicher +Lebenstriebe und Willenskräfte gelangen. Die irrationale Form wird zur +Spiegelung eines irrationalen Seins außerhalb aller Bedingtheiten der +Wirklichkeit. Nicht nur die stofflichen Erscheinungen der Oper Mozarts: +Handlung, Charaktere, äußere Aneinanderreihung der Begebenheiten sind +dem illusionistisch gerichteten Verstande unfaßbar. Die musikalische +Formung vor allem: das Ausströmen des Gefühles durch die +monodramatische Gesangsarie, das gleichzeitige Ineinanderweben der +Stimmen im Ensemble, die vielgliedrigen, lediglich aus Kontrast- und +Steigerungswirkung des musikalischen Ausdruckes entwickelten +Finalebauten — dies alles zusammen ergab eine Kunst, der +gegenüber jede rationalistische Forderung zum Spott werden mußte. Hier +war denkbar höchste Freiheit des gestaltenden Geistes, restlose +Überwindung der stofflichen Materie, reine Anschauung des Spieles +freier Phantasiekräfte, eine vollkommene idealistische Welt als +verklärtes Symbol der realen. So konnten hier die großen bewegenden +Ideen der damaligen Menschheit: die Probleme der Befreiung der +Persönlichkeit dargestellt werden an menschlichen Elementartypen der +Figaro-, Don-Juan-, Cosi fan tutte-Sphäre. So konnte in der Zauberflöte +im Rahmen eines Kinderspieles das Ziel aller humanitären Kultur: die +Menschheitsvereinigung durch Freundschaft, Liebe und Weisheit zu +herrlichster Erfüllung in der Kunst gebracht werden.</p> + +<p>Die nachfolgende Zeit hat niemals die einzigartige Musikernatur +Mozarts verkannt. Niemand hat für den Genius Mozart tieferes Gefühl und +Verehrung gehabt als Wagner. Aber die Form der Mozartschen Oper, diese +freieste Gestaltung des Unwirklichen, Unwahrscheinlichen, erschien ihm +unvollkommen, mußte ihm unvollkommen erscheinen — gerade der +Eigenschaften wegen, die über die Würdigung von Mozarts bloßem +Musikertum hinaus die kulturelle Größe seiner Künstlerschaft bestimmen. +Die Romantik glaubt sich über die Urbestimmung der Oper, über die +artbestimmenden Grundlagen der Gattung hinwegsetzen zu können. Sie +versuchte der Oper das zu nehmen, worin ihr Wesen wurzelte: den +Charakter des Spieles. Sie versuchte, dieser auf heiterster +Sinnenspannung, auf lebhaftestem Reiz der Bilder, auf schmeichelnder +Phantastik der Gefühlserregung beruhenden Kunstform das zu geben, was +ihr niemals innerhalb ihres unmittelbaren Wirkungsbezirkes eigen +gewesen war: die religiöse Weihe des großen Dramas. Das Wesen der Oper +als dramatischer Erscheinung beruht auf bewußter Unwahrscheinlichkeit, +auf parodistischer Einstellung gegenüber allen Realitäten. Selbst die +Reformen Glucks, zu Unrecht als Vorarbeiten für Wagner angesehen, +ließen den Grundcharakter der Oper als Gattung unberührt. Sie bezogen +sich lediglich auf die stärkere Hervorhebung der lyrisch musikalischen +Wirkungen gegenüber gesanglich virtuosen Effekten. Ob ernste oder +heitere, ob tragische oder komische Oper, dies war gleichgültig für die +Auffassung des Typs, aus dem die Oper Mozarts als ideale +Zusammenfassung aller Kräfte hervorwuchs. Dieses lyrisch phantastische +Erosspiel war in allen Bedingtheiten seines Wesens Erzeugnis der +Renaissance, weitergebildet von Menschen, deren sinnlich empfindsame +und erfindungsreiche Natur hier ein neues Feld für ihren +sensualistischen Spieltrieb fand. Der Versuch, von dieser Spielgattung +aus den Weg zu bahnen zum kultischen Drama der Antike, bedeutete nicht +nur eine neue Mißdeutung der Antike, entstellender noch als der +klassisch geglättete Antikenbegriff des Idealismus. Er bedeutete die +unwahrhaftige Theatralisierung kultischer Dinge, ihre Herabsetzung zu +Requisiten opernhafter Wirkungen und, damit verbunden, die falsche +Überhöhung einer in sich organisch geschlossenen Kunstgattung durch das +steigernde Pathos des dramatischen Affektes.</p> + +<p>Die romantische Form des musikalischen Dramas, wie es sich in der +Theorie darstellt, ist im Hinblick auf das Wesen der Gattung, das +vollendet in der Oper Mozarts erscheint, eine Abirrung der Oper auf +Gebiete, die außerhalb des Charakters der Gattung liegen, und auf denen +sie nie Wurzel fassen konnte. Soweit Werke solcher Art in die Breite +wirken wie bei Wagner, beruht die Wirkung in Wahrheit doch auf dem +Spielcharakter der Oper. Er ist auch im musikalischen Drama nur +scheinbar überwunden und lebt da weiter, wo es die lebendige Wirkung +zeugt. Aber er lebt unter falschem Namen und falscher Einschätzung +seines Wesens. In dieser Vortäuschung unwahrer Werte liegt die Gefahr +des Erbes der romantischen Oper für die Gegenwart. Es gilt zunächst, +die Unmöglichkeit der Oper als Form bewußt kultischer Dramatik klar zu +erkennen. Es gilt gleichzeitig, die falsche Geringschätzung des +Spieltriebes als eines gleichsam im höheren Sinne nicht vollwertigen +Schaffensimpulses abzutun, zu erkennen, daß dieser Spieltrieb, sofern +er vermeidet, sich aus falschem Ehrgeiz dramatisch zu maskieren, aus +sich selbst heraus zur Erreichung wahrhaftigerer Ziele befähigt ist, +als das höchstgeschraubte dramatische Pathos sie zugänglich macht. Es +gilt, formelhaft gesprochen, in der Oper Mozarts nicht nur die geniale +Musiker-, sondern gerade die geniale Künstlernatur zu erkennen. Nicht +nur in der Oper Mozarts, sondern in der Oper überhaupt die Idealgattung +des Phantasiespieles, das, frei von allen dogmatisch ethisierenden +Nebenabsichten, aus lebendigstem Widerschein buntester Lebensfarben und +Sinnesreize den ins Märchenhafte überspiegelten Abglanz des Realen, +Bewußten, Gewollten gibt.</p> + +<p>Es ist lehrreich, zu beobachten, wie sich andere Völker mit diesem +Problem der Oper abgefunden haben. Der romantischen Rauschsuggestion, +der dramatisch zugespitzten Illusionsoper zunächst ebenso unterworfen +wie die Deutschen, haben Italiener und Franzosen die Gefahr einer +bewußten Überbetonung der dramatischen Zweckhaftigkeit der Oper zu +vermeiden gewußt. Bei beiden Nationen ist in der äußeren Anlage, +namentlich des Textes, ein auffallend realistisch naturalistischer Zug +bemerkbar. Er beeinflußt auch die Art der musikalischen +Gefühlseinstellung und normalen Faktur. Bizets "Carmen" ist das Muster +der psychologischen Oper, Verdis derbe Sinnlichkeit saugt sich fest an +der Unmittelbarkeit elementar erfaßter Bühnenvorgänge und überträgt +diese Emotionen mit naiver Drastik in seine Musik. Bei beiden größten +Opernkomponisten ihrer Nationen aber bleibt die dramatische Einkleidung +stets Mittel zum Zwecke des Musizierens. Das Drama gewinnt weder in der +Theorie noch in der Praxis die Vorherrschaft. Der Musiktrieb als der +eigentliche und wahrhafte Spieltrieb dominiert, und selbst den +Nachfolgern Verdis ist die veristische Fassung des Dramas nur ein +Mittel, ihre kurzatmige Musikbegabung schnell und durchgreifend zur +Geltung zu bringen. Bei Gounod, Massenet, Saint Saëns ist der normale +Sinn von vornherein in viel zu hohem Maße konventionell beeinflußt, um +die Wahl zwischen Oper und musikalischem Drama je ernsthaft zweifelhaft +zu machen, und auch der ins bewußt Ästhetenhafte abschweifenden +jungfranzösischen Schule ist trotz der literarischen +Geschmacksverfeinerung die Oper stets die primär musikalische +Kunstform.</p> + +<p>Nur in Deutschland hat sich unter der gewaltigen Nachwirkung von +Wagners Theorien eine seltsame moralästhetische Auffassung vom Wesen +des musikalischen Dramas herangebildet. Auf ihre tieferliegenden, +innerorganischen Ursachen betrachtet, ist sie das Zeichen nachlassenden +Produktionsvermögens. Als Lehre aber hat sie schweren Schaden gestiftet +durch Verkennung und Herabsetzung kunsteigener Grundwerte der Oper +zugunsten eingebildeter religiös ethischer Qualitäten des musikalischen +Dramas. Das eigentlich Belastende und Schädigende dieser Geistes- und +Urteilswendung lag nicht in der Tatsache, daß eine große Anzahl +schwacher oder mittlerer Talente sich getrieben fühlte, Musikdramen zu +schreiben. Es lag auch nicht nur in der ästhetischen +Begriffsverwirrung, die den Blick für wesentliche Vorzüge der +Kunstgattung und damit für die Schöpfungen ganzer Epochen trübte, dafür +künstlerischen Belanglosigkeiten hohe sittliche Wertung angedeihen +ließ. Dies wären zunächst Schädigungen gewesen, die nur die Kunst als +solche betrafen. Der verhängnisvollste, in die allgemeine Volkskultur +übergreifende Nachteil war, daß hier die auf Täuschung, Spiel, Schein, +im sittlichen Sinne auf bewußter Unwahrhaftigkeit beruhende Welt des +Theaters als wahr, echt, lebendig, als Trägerin und Künderin der +höchsten ethischen Norm ausgegeben wurde. Das Gefühlsleben der Menschen +orientierte sich innerlich an diesen Erscheinungen einer +vorgespiegelten Lebenswahrheit. Es mußte unecht, unwahrhaftig werden, +weil es sich zum Sklaven seines eigenen Phantasieerzeugnisses machte +und von diesem Gesetze empfing, statt, wie es der ursprüngliche +Spielcharakter der Gattung forderte, sie ihm zu erteilen. Das +theatralisch Komödiantische, das so vielfach in der deutschen +Öffentlichkeit der letzten fünfzig Jahre sich bemerkbar macht, die +Neigung zu falschem Pathos und schlechter Rhetorik sind nicht zum +mindesten Nachwirkungen einer Lebensauffassung, die ihre Gesetze aus +der Oper empfängt.</p> + +<p>Wir stehen heut der Romantik fern genug, um die Größe ihrer +künstlerischen Leistungen unbefangen würdigen zu können. Was uns von +ihr trennt und zur Kritik zwingt, ist nicht diese oder jene Einzelheit +im fachlich entwicklungsmäßigen Sinne, ist auch nicht Widerspruch gegen +individuelle Begabungen. Es ist grundsätzlich die durchaus +entgegengesetzte Auffassung vom ethischen Charakter des Kunstwerkes. +Die Romantik übertrug ihn in den Stoff, in die Form, in das +künstlerische Sujet selbst. Mit allen Mitteln genialer Beharrlichkeit +und Tatkraft materialisierte sie ihn, unterwarf ihn dadurch allen +Hemmungen und Täuschungen der Materie, erhob ihn selbst zum bewußten +Träger der künstlerischen Idee. In diesem Gegensatz von absichtsvoller +Ethik des Stofflichen und zwanglos unbewußtem Ethos des idealistischen +Spieles wurzelt der Kontrast Wagner-Mozart, wurzelt der Widerspruch der +heutigen Generation gegen die tendenziöse Kunstauffassung und -lehre +Wagners, wurzelt die Abwendung vom kultischen Musikdrama, die erneute +Neigung zum Erosspiel der Oper.</p> + +<p>Es gibt gegenwärtig drei deutsche Opernkomponisten, in deren +Schaffen der Widerstreit der Meinungen klar zutage tritt: Hans +Pfitzner, Richard Strauß, Franz Schreker. Pfitzner ist der +bedingungslose Anhänger von Wagners Lehre, deren spekulative Züge er in +seinen drei Musikdramen "Der arme Heinrich", "Die Rose vom +Liebesgarten" und "Palestrina" in fanatischer Einseitigkeit zu den +äußersten Konsequenzen geführt hat. Die Vorherrschaft der stofflichen +Ethik, die bei dem großen Bühnenpraktiker Wagner ungeachtet aller +Theorien doch stets im Rahmen des bühnensinnlich Wirksamen bleibt, +greift bei Pfitzner schließlich auch das organische Leben des Dramas +an, das aus vorsätzlicher Askese immer theaterfremder wirkt. Es ist +bezeichnend, daß in "Palestrina" keine einzige Frauenfigur erscheint. +Das Mönchtum dieser Kunst geht bis zur Verbannung des Eros von der +Bühne. Unbemerkt bleibt der grausame Widerspruch, daß eine scheinbar +alle profanen Bedingtheiten überwindende Kunst sich der Mittel einer +Gattung bedient, deren Wesen der wechselvollsten Sinnlichkeit der Form +unlösbar verhaftet ist. Richard Strauß ist sich der Theaternatur der +Oper wohl bewußt. Sein Schaffen ist auf stilkünstlerischen Ausgleich +von Drama und Oper gerichtet unter allmählich immer stärker betonter +Annäherung an den älteren Formtyp. Soweit ein Problem dieser Art die +Lösung auf experimentellem Wege zuließ, ist sie ihm in mehreren Fällen, +nie einheitlich, wohl aber für beträchtliche Teile innerhalb eines +Werkes, geglückt. Das lebhafte, temperamentbeschwingte Musiziertalent +Straußens, seine hinreißende, aus starkem Augenblicksimpuls schöpfende +Überredungsgabe, die unmittelbare Gegenständlichkeit seiner Tonsprache, +dies alles, verbunden mit außergewöhnlicher, treffsicherer +Formgewandtheit, macht seine großen Erfolge erklärlich und berechtigt. +In einer Zeit allgemeiner Geschmacksunsicherheit und Talentarmut war er +der einzige, der sich mit unbekümmerter Frische und reflexionsloser +Begabungskraft dem musikalischen Naturalismus zuwandte und als echtes +Weltkind dem Geist der Zeit stets zu geben wußte, was dieser bedurfte. +Solche in allem Technischen und Artistischen meisterliche +Anpassungsgabe konnte allerdings immer nur zu Augenblickslösungen, zu +Gegenwartserfolgen gelangen. Sie konnte in ihrer allerseits +verbindlichen Art niemals zu einer im Wesenhaften eigenen und neuen +Erfassung des Opernproblems gelangen. Die stilistischen +Verkleidungs- und Verwandlungskünste auch des stärksten Formtalentes +waren günstigstenfalls nur geeignet, zu erreichen, daß die romantische +Auffassung der Oper als des kultischen Dramas keine Gefolgschaft mehr +fand, keine innere Werbekraft mehr übte, ohne daß es gelungen wäre, ihr +einen selbständigen neuen Operntyp entgegenzustellen.</p> + +<p>Erst mit dem Auftreten Franz Schrekers hat sich hier eine Wandlung +vollzogen. Das Bemerkenswerte der Erscheinung Schrekers liegt nicht in +Einzelzügen seiner Musikerbegabung, so sicher und stark sich diese aus +konventionellen Anfängen zur Erringung individueller Eigenwerte +durchzusetzen vermochte. Es liegt auch keineswegs in auffallenden +Besonderheiten stilistischer Art, an denen Bezugnahme auf die +jungromanische Kunst namentlich in Melodik und Harmonik auffällt, +gesteigert durch üppige koloristische Phantasie und großlinige +architektonische Gestaltungsgabe. Aber mit all diesen Eigenschaften +wäre Schreker nur einer unter mehreren. Seine Ausnahmestellung ergibt +sich aus anderem. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist hier eine Reihe +von Werken geschaffen, die jenseits aller Tendenzmacherei und +spekulativen Theorie, jenseits auch jeglicher Stilkünstelei und +jeglichen Formexperimentes steht. Erwachsen ist sie aus gänzlich +vorbehaltloser, naiver Erfassung der Oper als eines Spielstückes für +eine ungebunden schweifende Phantasie, der als Richtlinie lediglich ein +kühner, naturhaft elementarer Theaterinstinkt dient. Schreker sieht die +Bühne nicht als Kanzel, auch nicht als Ort geistreicher Unterhaltung. +Er sieht sie mit der Unbefangenheit des Kindes, dem sich hier eine Welt +zauberhaftester Unwahrscheinlichkeiten, unbegrenzter Möglichkeiten des +Unmöglichen öffnet, die nur von Künstlers Gnaden ihr Sein empfangen und +um so stärker reizen, je lebensferner sie sind. Schreker sieht die +Opernbühne wieder mit dem Auge des irrational empfindenden +Phantasiemenschen.</p> + +<p>Aus dieser Grundeinstellung ergibt sich der Unterschied nicht nur +gegenüber der doktrinären Ideenoper Pfitzners oder der intellektuell +bedingten Geschmackskunst Straußens. Auch andere zeitgenössische Kunst, +wie die Eugen d'Alberts oder neuerdings die Opernmusik des jungen Erich +Wolfgang Korngold steht im Gegensatz zur Theorie des Wagnerschen Dramas +und zielt auf den Theatereffekt. Aber hier ist dieser mit bewußter +Methodik als Wirkungsfaktor herangezogen. Es werden wieder +periodisierte Melodien und geschlossene Formen geschrieben, weil das +Prinzip des Leitmotives und des deklamatorischen Stiles verbraucht +erscheint. Schreker ist gegenüber diesen auf das Praktische im Sinne +der Lebensklugheit und des Erfolges zielenden Begabungen eine +naturwüchsige Kraft. Seine Beziehung zur Bühne ruht nicht auf +irgendwelchen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sie ist elementaren +Ursprunges. Seine vier Opern "Der ferne Klang", "Das Spielwerk", "Die +Gezeichneten", "Der Schatzgräber" sind Erfolge nicht nur im Sinne des +Kassenberichtes einer Spielzeit, sondern der geistigen Bewegung. Sie +geben der Musik auf der Bühne wieder ihr ursprüngliches, durch +keinerlei Dienstbarkeit gegenüber dramatischen Absichten behindertes +Recht des freien Phantasiespieles. Sie gewinnen ihr damit das im Laufe +des 19. Jahrhunderts verlorene Heimatgebiet zurück und führen so die +Ausdrucksmittel der Oper wieder ihrer natürlichen Bestimmung zu. Es ist +denkbar und nicht unbegreiflich, daß manche Menschen einer vorwiegend +auf kritisch intellektuelle Bildung erzogenen Generation solche Kunst +als für ihre Begriffe von Kultur nicht ausreichend ablehnen. Damit wäre +sachlich nichts bewiesen, nur die Zuverlässigkeit dieses +Kulturbegriffes in Frage gestellt. Vom Standpunkt einer abstinenten +Geschmacksbildung aus wird die Oper wegen der unorganischen Vielheit +ihrer Mittel stets ein nicht ganz vollwertiges Kunstgebilde sein. +Einheitlichkeit gewinnen kann sie nur durch den Musiker, der diese +Buntheit der Mittel als natürliche Quellen seiner Phantasie empfindet +und fruchtbar macht, nicht aber das Ganze durch</p> + +<p>Prinzipien und Theorien regelt oder stilisiert. Solcherart ist +Schrekers Musik. Als dramatische Gebilde bedeuten seine Opern das +Gegenteil dessen, was etwa dem gesprochenen Drama notwendig und +wesenseigentümlich ist. Der Musik aber öffnen sie den Bezirk, auf dem +sie sich als Element der Bühnenwirkung entwickeln kann, ohne von ihrem +ureigenen Wesen etwas aufzugeben, ohne sich selbst zugunsten eines +anderen Zweckes opfern oder begrenzen zu müssen.</p> + +<p>Dieses ureigene Wesen der Musik ist das Beziehungslose, das +verstandesmäßig Unfaßbare, nicht zu Greifende. Will man das Verhältnis +der Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit, zum 19. Jahrhundert kurz +kennzeichnen, so kann man es nennen den Kampf gegen den Rationalismus +der Romantik. Der Rationalismus war bedingt durch das +Illusionsbedürfnis der Romantik und dieses wiederum durch ihre +Resignation gegenüber dem Leben, aus der die Auffassung der Kunst als +des Gegensatzes zum Leben, als des großen Täuschungsmittels, als des +Lebenssurrogates erwuchs. Solche Auffassung mußte notwendig in der +Theorie zur Kunstideologie, in der Praxis zur Wirklichkeits-Imitation +führen. Das Unbeziehbare des klanglichen Erlebnisses wurde in allerlei +Beziehungen gesetzt: die Oper mußte predigen, philosophieren, +moralisieren, zum mindesten psychologischen Anschauungsunterricht +geben. Die Sinfonie wurde der freien Poesie gewidmet, sie stellte dar, +wobei es im Wollen und Ergebnis gleichgültig war, ob das Dargestellte +ein direkt bezeichneter dichterischer Vorwurf war oder eine bewußt +erfaßte formalistische Idee. Wie es aber der Oper und der Sinfonie +erging, so auch den intimeren Gestaltungsformen der Vokal- und +Instrumentalmusik: dem Lied, dem Chorgesang, der Solo- und Kammermusik +verschiedenster Art. Das Lied, durch Schubert aus zopfiger Beengtheit +zur freiesten Spiegelung individuell erfaßten seelischen +Gemütsgeschehens erhoben, wurde durch Schumann, Jensen, Franz zur +Stimmungsschilderung abgeschwächt. Bei Brahms erscheint es unter +Neigung zu volkstümlich vereinfachender Formung, bei Hugo Wolf und +seinen neudeutschen Nachkommen wird es zur psychologischen Kleinstudie +— ohne daß Komponisten und Hörern die damit verbundene Entseelung +des Lyrischen zum Bewußtsein gekommen wäre. Das Vernunftgemäße, auch in +künstlerischer Fassung stets irgendwie dem rein logischen Begreifen +Zugängliche war unausgesprochene Voraussetzung für die Anerkennung des +Kunstwerkes. Dieses selbst blieb nur Dokument des Talentes, etwas durch +Musik auszudrücken, was dem Inhalt nach ein Andersbegabter ebenso oder +ähnlich auf anderem Wege gesagt hätte. So zerfloß hier, wie in der +Sinfonie und der Oper, das Musikeigene. Das Interesse wurde fachlich +begrenzt, vorwiegend auf das Wie der Darstellung hingelenkt. Die +Kammermusik der Romantik einschließlich ihres gehaltvollsten Teiles: +der Brahmsschen Kammermusik bestätigt dies. Formalistischer Bau, Faktur +des musikalischen Satzes, klanglich koloristische Fassung, Art und +Entwicklung der Gefühlsdarstellung sind gegeben durch die klassischen +Vorbilder, das äußerlich Strukturelle vorwiegend durch Beethoven, das +lyrisch Empfindungsmäßige mehr durch Schubert. Dieses Erbe wird nun in +kleine Individualitätsgebiete aufgeteilt. Die gegebenen Grundmaße +ästhetischer, musikalischer Art bedeuten gewissermaßen ein festes, +geistiges Wirtschaftsgut, das nun aus dem Bereich des Urschöpferischen, +wo jene großen Geister es gefunden, in die kleine, irdisch bewegte Welt +als fertige Tatsache übernommen und verarbeitet wird.</p> + +<p>Entwicklungsmäßig gesehen ist solcher Verlauf natürlich und richtig, +sein Wert und seine Bedeutung liegt in der allmählichen +Zugänglichmachung und Durchdringung der Ideen primär schaffender +Künstler. Wenn wir etwa die gesamte Kammermusik nach Beethoven bis zur +folgenden Jahrhundertwende auffassen als Mittel, durch variierende +Einzelausführung die gewaltige Masse der Hinterlassenschaft Beethovens +zunächst stofflich zu zerlegen und zu konsumieren, um dadurch den +Zugang zu ihrer höheren Geistessphäre allmählich zu gewinnen, so wäre +mit solcher Auffassung etwa die geschichtliche Mission der romantischen +Kammermusik bezeichnet. Damit ist aber zugleich gesagt, daß ihr selbst +die urzeugende Kraft abgeht, ja eigentlich mit Bewußtsein außerhalb +ihres künstlerischen Wollens gehalten wird, und daß sie, unter +Vermeidung eigener Stellungnahme und Auseinandersetzung mit den +Grundproblemen musikalisch schöpferischer Gestaltung, den gegebenen +Darstellungsapparat materialisierte, ihn als Schema im technischen +Sinne behandelte und ausbaute. Auf diese Art konnte bei ausreichendem +Einfühlungs- und Anpassungstalent noch manches an sich recht +beachtliche Musikstück entstehen. Die Gebiete, die Beethoven und +Schubert in ihrem Ideenflug abgesteckt hatten, boten Raum genug für +Sondersiedlungen. Aber das eigentlich Wertschaffende: die Kraft und der +elementare Zwang, aus dem heraus die idealistisch klassische Kunst +überhaupt erst die Regel ihrer Gestaltungsart gefunden hatte, mußte bei +den Nachfolgenden notwendigerweise fehlen. Die Gesetzlichkeit einer +bestimmten Ausdruckstechnik, der der schöpferische Gedanke noch vor +seiner Geburt untergeordnet war, die Einspannung des Gefühlsablaufes in +feste Normen unterstellt auch auf diesem Gebiet Gefühl und Phantasie +den Forderungen des Verstandes und des erklärungfordernden Bewußtseins. +Bezeichnend dafür ist Pfitzners Schaffenstheorie. Nach ihr zerfällt die +Entstehung des Musikstückes in die Empfängnis des thematischen +Einfalles und in dessen handwerklich formale Verarbeitung. Solche +Theorie ist nur möglich bei Auffassung der Form als eines gegebenen +Schemas, bei Verkennung des organischen Eigenlebens der Form aus dem +Zwang selbständigen Gestaltungstriebes, bei freiwilliger Beschränkung +der Schaffenstätigkeit auf individuelle Variierung als unveränderlich +genommener Typen. Das Primäre der musikalischen Konzeption wird auf den +melodisch thematischen Brocken des Einfalles beschränkt, der dann das +Objekt rationalistischer "Durchführung" bildet — eine Auffassung +des Schaffensvorganges, die nicht nur Erzeugnis spekulativer Phantasie +ist, sondern wahrhaftige Charakteristik einer bis in die Gegenwart +hinein üblichen und anerkannten Praxis.</p> + +<p>Wie nun in der großen sinfonischen Form ein zeiteigenes religiöses +Gemeinschaftsgefühl als neue Grundlage gewonnen wurde, wie in der Oper +an Stelle bewußter ethisch dramatischer Tendenz der irrationale +Spieltrieb wieder hervordrängte, so hat dieser Zug zum +Außervernunftmäßigen, zum ursprünglich Musikhaften der Musik, zur +reinen Gefühlskundgebung auch die Elemente der Tonsprache ergriffen, +aus denen sich Vokal- und Kammermusik formen. Er hat hier, auf dem +geistigsten, intimsten Ausdrucksgebiet die radikalste Umwälzung +hervorgerufen, zeigt am schärfsten oppositionelle Haltung gegenüber der +unmittelbaren Vergangenheit, ist in den Ergebnissen einstweilen +erheblich problematischer als in der Sinfonie und Oper. Er läßt aber +gleichzeitig die entscheidenden Grundfragen der künstlerischen +Wesensrichtung in klarster Eindeutigkeit hervortreten und gibt damit +eigentlich die letzte Auskunft über die Gegensätzlichkeit der +Anschauungen, den Wechsel der Zielsetzung. Sinfonie und Oper sind in +stärkerem Maße stoffgebunden. Wirken auch in ihnen die gleichen +Probleme, so sind sie doch von der begrifflichen Seite her leichter zu +fassen. In der Kammermusik fallen alle Bindungen nach außen fort. Es +bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem zu innerst Wesenhaften der +Musik, wie es hier in Klang, Stil und Form zutage tritt.</p> + +<p>In diesen eigentlichen Elementen der Musik aber ist mehr und anderes +lebendig, als die Fachästhetik gemeinhin gelten läßt. In ihnen wirkt +und aus ihnen spricht die geistige Grundkraft der Zeit überhaupt, der +sie angehören, und aus deren innerstem Gefühlstrieb sie ihre Gesetze +empfangen.</p> + +<blockquote><center> * +*</center></blockquote> +<blockquote><center> *</center></blockquote> + +<p>Wenn wir die in den beiden letztvergangenen Jahrhunderten +zurückgelegten Wege der musikalischen Gestaltungsart überblicken, so +zeigen sich zwei große, deutlich getrennte Entwicklungsgebiete: das des +polyphonen und das des homophonen Ausdruckes. Die Gegensätze sind dem +Prinzip nach nicht neu, sie waren schon im Mittelalter vorhanden, wenn +auch im einzelnen anders geformt. Allgemein gesprochen, ohne damit +bestimmte historische Umgrenzungen festlegen zu wollen, kann man sagen, +daß Zeiten mit vorwiegend religiös gerichtetem Geistesleben in der +Musik der Polyphonie, solche mit verweltlichter Interessenrichtung der +Homophonie zuneigen werden. Die letzte große polyphone Kunst der +Neuzeit war die Musik Bachs. Die Polyphonie — Vielstimmigkeit +— ist eine Kunst der linear bewegten Fläche. Das artistische +Problem liegt in der Vereinigung von organischer Selbständigkeit der +Einzelstimme mit strenger Gebundenheit des Ganzen. An dieser +zusammenfassenden Kraft, an dieser Fähigkeit, die reichste +Mannigfaltigkeit linearer Sonderbewegung in einen großen Totalkomplex +zu vereinen, bewährt sich die polyphone Kunst des Meisters. Was er +schafft ist entstanden aus der Vorstellung der Gesamtheitswirkung, ist +bestimmt, ohne Verlust seiner Eigenheit sich zu überindividueller +Erscheinung zusammenzuschließen. Der Unterschied der stimmlichen +Einzelwesen ist lediglich Unterschied der Lage, des Klanges, der +Bewegungsschnelligkeit, dem Charakter nach sind alle gleich, gehören +alle der gleichen Gefühlsdimension an, sind sie Linien, die sich nach +dem Gesetz des Bewegungsimpulses ineinanderschlingen, schneiden, zum +Ornament formen, ohne je die reale Sinnlichkeit der Linie, die +Festigkeit des individuellen Seins zu verlieren. Als Sprachmittel ist +die Orgel mit der reichgegliederten und doch im Charakter gleichartigen +Fülle ihrer Klangschichtungen das typische instrumentale, der +vielstimmige Chor mit seinen artverwandten Stimmindividuen das vokale +Ausdruckselement der Polyphonie.</p> + +<p>Die homophone Kunst, die schon zu Bachs Zeit und dann immer +mächtiger empordrängt, hebt die Gebundenheit der Vielheit, hebt die +Wirkung durch Zusammenwachsen der Organismen zur überindividuellen +Erscheinung auf. Alle Kraft, aller Wille, alles Leben konzentriert sich +auf eine Einzelstimme, die Führung nimmt, das Typenhafte abstreift und +subjektive Bestimmtheit erhält. Die Flächenhaftigkeit der +nebeneinandergelagerten Linien verschwindet, da nur noch eine +dominiert. Unter dieser aber bildet sich ein magischer Raum, eine neue +Dimension der Tiefe, gewonnen durch Schichtung geheimnisvoll +beziehungsreicher Tonstufen: die Harmonie. Die mit jedem Ton +gleichzeitig erklingenden Obertöne werden als seine Ergänzung empfunden +und festgehalten, diese vertikale Tonreihe gibt jetzt der gestaltenden +Phantasie entscheidende Anregung. Der Klang gliedert sich in Hauptton +und Nebentöne, jener als Leitpunkt der Melodie, diese als begleitender +harmonischer Untergrund. An Stelle des geometrisch flächigen tritt das +akustisch räumliche Tonsystem, an Stelle der Linienbewegung die durch +Wechsel der Tiefenbewegung wirkende Harmonie. Mit dieser Veränderung +der Tonvorstellung zugleich vollzieht sich eine entsprechende +Umgestaltung des Klangempfindens. Der Unterschied von melodischem +Hauptton und harmonischen Begleittönen bedingt auch ein anderes System +der Klanggruppierung. Der farbige Reiz des Klanges kommt zu +selbständiger Geltung. Gegenüber dem Streben nach Zusammenfassung +möglichst gleichartiger Charaktere in der polyphonen Musik herrscht +jetzt der Drang nach Gleichzeitigkeit heterogener Klangelemente, deren +verschiedenartig abgestufte Lichtwirkungen die Vorstellung des +räumlichen Übereinander steigern. In gleichem Maße und aus gleichem +Bedürfnis erhält die bis dahin vorwiegend auf einfache, primitive +Kontraste gestellte Dynamik lebendig bewegte Durchbildung. Das +Orchester, diese Vielheit des Ungleichartigen, wird das wichtigste +Instrument der melodisch homophonen Kunst, soweit andere Sprachmittel +herangezogen werden, geschieht es stets unter Mischung +verschiedenartiger Klangcharaktere. Im Streichquartett, der reinsten +Klangeinheit der homophonen Kunst, ist zunächst die dominierende +Stellung der Oberstimme, die begleitende, lediglich harmonisch füllende +Funktion der übrigen selbstverständlich und wird erst in den späteren +Quartetten Beethovens zu gesteigerter Subjektivierung und klanglicher +Gegensätzlichkeit der Einzelstimmen umgewandelt.</p> + +<p>Den Anfang dieser großen, mit den tiefsten Regungen der zeitlichen +Geistesgeschichte unmittelbar verbundenen Umwälzung bildet das +Generalbaß-Zeitalter, so genannt nach der Gewohnheit, nur die +melodische Linie und die Baßstimme aufzuzeichnen, während die +erforderlichen harmonischen Füllstimmen durch Ziffern angedeutet und +bei der Aufführung improvisatorisch hinzugesetzt wurden. Man kann diese +Methode, deren naive Praxis deutlich die Unterscheidung zwischen +Wichtigem und minder Wichtigem spiegelt, gewissermaßen als Beginn der +musikalischen Aufklärung bezeichnen. Zeitlich ist sie schon vor Bach +vorhanden, wird auch von ihm selbst verwendet, erlangt aber +vorherrschende Bedeutung erst mit dem endgültigen Durchbruch des +homophonen Stiles, als Vorbereitung und Übergang zur Gewinnung der +harmonischen Vorstellungsart. Diese ist das eigentliche Ausdrucksgebiet +der Zeit des klassischen Idealismus. Hier hat die melodische Oberstimme +unumschränkte Freiheit, reichste Bewegungskraft, vollendeten +Persönlichkeitswert gewonnen. Keine Gebundenheit mehr, keine vorbewußte +Bezugnahme auf ein überindividuelles Ganzes ist vorhanden die +typenhafte Einzelformung hat sich zu schärfster Subjektivierung +gesteigert. Es herrscht die Melodie, als unmittelbare Spiegelung des +Persönlichkeitsbewußtseins, periodisch umgrenzt, physiognomisch von +äußerster Bestimmtheit des Schnittes. Diese Melodie ist empfangen aus +dem Vorgefühl der Harmonie. Die innere Bewegung der Harmonie, ihr +gesetzmäßiger Ablauf gibt die inneren Richtpunkte für die Melodie, +ähnlich und doch ganz anders wie in der Polyphonie die konstruktive +Idee der Gesamtform den Wuchs des thematischen Gedankens beeinflußte. +Dieser thematische Gedanke der polyphonen Musik war bei allem Eigenwert +ein Partialgedanke, die Melodie dagegen, namentlich der frühklassischen +Zeit bis zu Mozart, ist in sich geschlossen, fertig, ein lebendiges, +organisch gegliedertes, selbständiges Wesen. So offenkundig ihre +Gestaltung aus der Einbeziehung des Harmoniegefühles mitbedingt ist, so +zweifellos ist doch der bestimmende Zug des rein melodischen Impulses, +die Unterordnung der Harmonie vorzugsweise zur Stützung und +Bekräftigung der melodischen Erscheinung.</p> + +<p>Melodie im Sinne der großen klassischen Kunst, wie sie am reinsten +bei Mozart, vorbereitend bei Haydn, abschließend bei Beethoven und +Schubert erklingt, ist das musikalische Symbol der freien +Persönlichkeit, die künstlerische Formung höchsten +Individualitätsbewußtseins. Man kann die Gesetze. ihres Baues +durchforschen, man kann sie stilistisch kopieren. Aber keine noch so +starke melodische Erfindungsgabe einer späteren Zeit kann ihre Wirkung +annähernd erreichen, weil ihr Geheimnis nicht in spezifisch +musikalischen Gesetzen liegt, sondern in der Gewalt des Ethos, dem sie +entsprungen ist. Dieses Ethos zwang die Harmonie zur Dienstbarkeit +gegenüber der melodischen Individualität. Sie blieb Trägerin der Kraft, +sie durchdrang in der Hochblüte der klassischen Kunst den harmonischen +Unterbau bis in die feinsten Verästelungen, so daß in den späteren +Quartetten Beethovens die harmonische Fügung der Stimmen durch freieste +melodische Auflockerung fast bis zur Polyphonie gesteigert wird, ja +teilweise zu deren Formenbau zurückkehrt: in Mozarts Jupiter-Sinfonie +und "Zauberflöte"-Ouvertüre, in Beethovens Ouvertüre "Weihe des Hauses" +im Finale der Neunten Sinfonie, vor allem in den drei großen +B-Dur-Fugen: der Sonate op. 106, des Credo der "Missa", des +Streichquartetts op. 130. Doch ist diese Übereinstimmung der melodisch +homophonen mit der polyphonen Kunst nur äußerlich stilistischer Art. +Aus einer ins Grandiose gesteigerten melodischen Phantasiekraft heraus +wird die Linienkunst der alten Polyphonie hier dem harmonischen +Bewußtsein dienstbar gemacht, aus der Flächendimension in die +Tiefendimension übertragen, auf solche Art diese mit konstruktiver +Klarheit füllend: Kundgebung höchstgesteigerter Persönlichkeitskraft, +deren melodischer Wille Höhe und Tiefe der Klangwelt durchdringt und +mit tätiger Schaffensenergie nach seinem Bilde gestaltet.</p> + +<p>Linear sich entfaltende Polyphonie mit dem Ziel flächenhafter +Ausbreitung und Zusammenfassung, melodische Homophonie, gestützt auf +den imaginären Unterbau der harmonisch räumlichen Tiefe waren zwei in +sich grundverschiedene Arten der Klanggestaltung, schöpferische +Kundgebungen zweier in sich selbständiger, mit eigener Kraft des +Schauens und Formens begabter Zeitalter. Der Romantik fehlt diese +Fähigheit eigenschöpferischen Bildens. Wie hinsichtlich der +Stoffbehandlung, wie hinsichtlich der geistigen Problemstellung, ist +sie auch in bezug auf spezifisch klangmusikalische Formung eine +Niederbruchserscheinung im Gefolge des Klassizismus. Die beherrschende +melodische Kunst, dieses Siegelzeichen der festen Persönlichkeit, geht +ihr verloren. Wohl bleibt ihr Musikempfinden melodisch orientiert, aber +die Melodie verliert die feste, in sich ruhende Geschlossenheit der +klassischen Melodik. Der Schwerpunkt sinkt unter die melodische +Oberfläche in die Harmonik, diese trägt jetzt den Bewegungsantrieb in +sich. Bei den Klassikern erscheint das ganze musikalische Gebilde in +unmittelbarer plastischer Gegenständlichkeit, Melodik als +formbestimmender Umriß, Harmonik als füllende Körperhaftigkeit. Nun +wird die Harmonik zur innerlich führenden Kraft, und die Melodie zeigt +in ihrem Verlauf mehr und mehr nur den Wellenschlag der harmonischen +Innenbewegung, Wagners Begriff der "unendlichen Melodie", die "mit +einer einzigen harmonischen Wendung den Ausdruck auf das Ergreifendste +umstimmen kann," ist die natürliche und richtige Kennzeichnung einer +Musikempfindung, deren Zentrum in der Vorstellung und Betonung der +harmonischen Wirkung liegt, deren Melodik daher mehr und mehr zur +Verknüpfung der Harmonien wird. Nicht nur bei Wagner und Liszt, auch +bei Schumann, Spohr, Marschner, Weber, selbst bei dem klassizistisch +eklektischen Mendelssohn ist diese Gestaltung der Melodie aus dem +Willen der Harmonie erkennbar. Sie steigert sich bei Brahms, den +Wagner- und Liszt-Epigonen bis zur völligen Abhängigkeit des mehr und +mehr zur Andeutung verflüchtigten melodischen Gedankens voll der +dominierenden harmonischen Konzeption. Es bedarf kaum des Hinweises, +daß, gerade wie sich bei Bach in Einzelfällen bereits häufig Beispiele +melodischer Homophonie finden, so auch bei den Klassikern, namentlich +bei Beethoven und dem innerlich bereits stark romantisierten Schubert, +die Harmonie gelegentlich führend und ausdrucksbestimmend hervortritt. +Aber abgesehen davon, daß solche Fälle im Hinblick auf das Gesamtwerk +Ausnahmen bedeuten, zeigt sich auch bei genauer Betrachtung, daß selbst +hier der bestimmende Grundimpuls melodischer Natur ist. Die +Klangvorstellung, aus der die Musiker des klassischen Idealismus +schöpfen, läßt sich bezeichnen als harmonisierte Melodik, die der +Romantiker als melodisierte Harmonik.</p> + +<p>In solcher Gegenüberstellung liegt zunächst keine Wertung. Sie +ergibt sich erst, wenn man Sinn und Folge dieser Wendung betrachtet. +Der Sinn war der gleiche wie in der romantischen Bewegung überhaupt: +Abkehr von der Realität, von der Gegenständlichkeit des Fühlens, wie +sie sich in der Formung der selbsteigenen, geschlossenen Melodie +aussprach, Flucht in die Unwirklichkeit, in die magische Phantastik des +harmonischen Raumes, dessen Unbestimmtheit durch die zu ständigem +Wechsel, plötzlicher Umstellung und Überraschung führende Chromatik +noch gesteigert wurde. Die Harmonie, die sich nicht, wie in der +polyphonen Kunst, als sekundäre Folge ergibt, auch nicht, wie in der +klassischen Homophonie, dienender Unterbau der melodischen Gestalt, +sondern Herrin und Führerin ist, bedeutet als ästhetisches Phänomen die +Verlegung des Gefühlszentrums in eine spekulative Sphäre. Belebt wurde +sie durch eine allmählich bis ins kleinste sich erstreckende motivische +Gliederung, aus deren sinnvollem Ineinandergreifen sich ein künstlich +organisches Gegenbild der Wirklichkeit ergab. Wagner macht sich +Schopenhauers romantische Musikästhetik zu eigen: die Musik ist +Spiegelung aller Objektivierungen des Willens, von der niedersten bis +zur höchsten Stufe. Alles ist innerlich aufeinander bezogen durch die +Harmonie, und oben schwebt als letzte Bindung der einigende melodische +Faden. Schopenhauer exemplifiziert zwar nicht auf Wagner, auch nicht +auf die Klassiker, sondern auf Rossini. Seine Betonung der primären +Bedeutung der Melodie zeigt seine Herkunft vom Idealismus, in seiner +Auffassung vom Wesen der Harmonie aber ist er durchaus der an die +Vorstellung des imaginären musikalischen Raumes und seines +innerorganischen Lebens gebundene Romantiker.</p> + +<p>Dies ist der Sinn der romantischen Wendung zur melodisierten +Harmonik: die Gewinnung der musikalischen Raumvorstellung zum Aufbau +einer illusionistisch bewegten Klangwelt als Widerspiel und Korrektiv +der Realität. Die Folge war eine ständig zunehmende Überschätzung des +Wesens und der Bedeutung der Harmonie, die für den Romantiker +schließlich der Inbegriff des Wesens der Musik überhaupt wurde. In +seiner Schrift "Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz" gibt Hans +Pfitzner eine entwicklungsphilosophische musikgeschichtliche Skizze, in +der er eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen der Zeit, wo Musik nur +Wissenschaft gewesen, und der Zeit, wo sie Kunst geworden sei. Als +Kennzeichen des Übergangs von der Wissenschaft zur Kunst wird genannt +der Augenblick, in dem "der Geist der Musik endlich das so lange +vorenthaltene Kleinod" herausgab, "den Teil seines Wesens, in dessen +Besitz die Musik zum erstenmal in der Welt als selbstherrliche Kunst +auftreten konnte: die Welt der Harmonie". Es ist hinzuzusetzen, daß +Pfitzner den Beginn der harmonischen Musikauffassung wesentlich früher +ansetzt, als es hier geschieht, nämlich schon im späten Mittelalter, +daß er also Unterschiede zwischen polyphoner, melodisch homophoner und +harmonischer Musikempfindung nicht annimmt. Indessen handelt es sich +nicht darum, über Notwendigkeit und Berechtigung dieser Abgrenzungen zu +sprechen. Bezeichnend ist lediglich die Tatsache, daß der Epigone der +Romantik in der Harmonie schlechthin das Wesenhafte der Musik erblickt, +daß es ihm "äußerst schwer, wenn nicht unmöglich ist, sich eine +wahrhafte homophone Tongestalt vorzustellen", daß bei ihm eben +jegliches Musikempfinden an die bewußt oder unbewußt mitschwingende +Harmonie gebunden ist. Das ist als subjektives Bekenntnis zweifellos +wahr und richtig und erklärt alle weiteren Folgerungen, die Pfitzner +aus seiner ästhetischen Grundanschauung zieht. Falsch daran ist nichts +als die These selbst von der Harmonie als dem Urwesen der Musik, falsch +in bezug auf die Bezeichnung der frühmittelalterlichen Musik als bloßer +Wissenschaft und das Nichtvorstellbare einer homophonen Tongestalt: +gäbe es kein anderes Denkmal der musikalischen Frühzeit als den +Gregorianischen Choral, so wäre der unwiderlegliche Gegenbeweis +erbracht. Aber auch in der Neuzeit ist die harmonische Musikvorstellung +als richtunggebende Empfindungsart erst zuletzt mit allen Symptomen +einer Nachblüte zur Geltung gekommen. Wer in ihr das Wesenhafte der +Musik überhaupt erkennt, der freilich muß unvermeidlich, selbst wenn es +heute keine andersgerichtete Musik gäbe, wenn also eine Opposition gar +nicht in Frage käme, zur ästhetischen Erkenntnis eines Unterganges +kommen. Denn wirklich: diese Welt der Harmonie, dieses kunstvolle, +praktisch und theoretisch zur vollkommensten Organik entwickelte +Phantom einer musikalischen Raumvorstellung, dieses Illusionsgebilde, +dessen imaginäre Realität Verstand und Spekulation zu denkbar höchster +rationaler Gesetzmäßigkeit ausgebaut haben — es geht wahrhaft +unter, geradeso, wie die Romantik untergeht, deren merkwürdigste und +eigentümlichste Schöpfung es ist.</p> + +<p>Die Welt der Harmonie geht unter — aber die Welt der Musik +bleibt bestehen. Beide sind nicht identisch, und die Zeit der +harmonischen Musikempfindung ist im Ablauf des geistigen Werdens nur +eine Episode der Musikgeschichte, nicht einmal eine selbständige, +sondern eine Ableitung, eine Wucherung der melodisch homophonen Musik. +Was sie der Romantik innerlich zugehörend und konform erwies, war der +starke spekulative Anreiz, den ihr Ausbau dem Verstande bot, war der +Grundzug rationeller Vernünftigkeit, der ihr nicht nur äußerlich, +sondern rein gefühlsmäßig aufgeprägt war und ebendarum schematisch +formalistische Bildungen außerordentlich begünstigte, ja ihnen noch den +Charakter besonderer Ehrwürdigkeit und Tugend gab. An und in diesen +Bildungen ist nun die Welt der Harmonie erstarrt. Sie vermag sich nicht +mehr aus ihnen zu lösen, weil sie in Wahrheit gar keine Welt ist oder +war, sondern nur eine Insel in der Welt, deren Umkreis nun erkannt ist +und deren Geheimnisse durchforscht sind. Auf dieser Insel stehen wir +heut und spähen in die Weite, um den Weg zu neuen Küsten und Ländern zu +erforschen. Der Kompaß, der dahin führen soll, ist das Bewußtsein der +irrationalen Natur der Musik. Aus diesem Bewußtsein erwächst die +Abwendung von der Harmonie als Grundlage der Klangempfindung. Diese +Harmonie hatte in ihrer Entwicklung die Verbindung mit dem +gefühlsmäßigen Quell musikalischen Lebens verloren, sie hatte sich zu +einer Massenhäufung von "Systemen" verhärtet — keine Art der +Klanganschauung hat eine solche, fast unübersehbare Menge von Systemen +hervorgebracht, hat die Denkart der Menschen derart auf dogmatische +Gebiete abgeleitet. Es gilt nun, diese lebendige Dogmatik der +Harmonielehren als Lehren nicht etwa nur des technischen Satzes, +sondern vor allem als Zwangsschienen des Empfindungsvermögens +abzustreifen. Es gilt, darüber hinaus den Weg zu einer neuen, dem +Verlangen nach außervernunftmäßiger Klanganschauung und -gestaltung +entsprechenden Kunst zu finden.</p> + +<p>Hier stehen wir gegenwärtig, und in der gekennzeichneten Aufgabe, +der Gewinnung einer im Wesen neuen Art der Musikanschauung überhaupt +liegt alles beschlossen, was die Musik an Teilproblemen anderer Art +bietet. Gemeinschaftsgefühl, religiöses Bewußtsein, Symbolik des +Spieles, alles dies sind ins Begriffliche gewendete Ausstrahlungen des +zutiefst musikeigenen Problems unserer Gefühlsauffassung der Musik. Die +Fragen des Stiles, der Form, der klanglichen Fassung sind gleichfalls +an sich nicht primärer, entscheidender Art. Auch ihre Lösung ist +bedingt durch die Art, wie wir Musik als Phänomen an sich empfinden, +aus welcher Einstellung des Gefühles wir sie erfassen.</p> + +<p>Wir sind Suchende. In dieser Tatsache des Suchens mag mancher im +[sic] Zeichen zeitlicher Schwäche sehen. "Alles Neue und Originelle +gebieret sich von selbst, ohne daß man danach suchet", hat Beethoven +gesagt. Es war zweifellos richtig — für Beethoven, und wir +dürfen, ohne uns zu schämen, zugestehen, daß unter uns gegenwärtig kein +Beethoven lebt. Aber wir dürfen auch hinzusetzen, daß Kolumbus Amerika +nicht entdeckt hätte, ohne es zu suchen. Wir dürfen sogar weiter sagen, +daß er eigentlich etwas Ganz anderes suchte als Amerika, daß er von +diesem Erdteil gar nichts wußte, ja daß er ihn in Wirklichkeit auch +nicht entdeckt hat, sondern einer Täuschung verfiel — und daß er +doch die kühnste Entdeckernatur war, vor deren Namen und Tat die +Geschichte innehält. Was ihn trieb, war der Zwang zur neuen Welt. In +der Kraft, mit der er dieses Muß des Zwanges zur Tat wandelte, lag das +Entscheidende seiner Größe, nicht im unmittelbaren realen Ergebnis. Wir +sind in der Lage der Kolumbuszeit.</p> + +<p>Die Säfte der alten Welt sind vertrocknet, sie stirbt, ihre +gläubigen Einwohner sagen es selbst, und wir müssen einsehen, daß sie +recht haben. Aber wir hängen nicht so an ihr, wir fühlen uns ihr nicht +so verbunden, daß wir mit ihr sterben wollen. Im Gegenteil, wir sind +der Meinung, daß sie wohl tut, zu sterben, weil ihre Zeit um ist und +wir den Glauben haben an die neue Welt, obwohl wir sie noch nicht +sehen. In der Tatsache dieses Glaubens an das Unbekannte liegt etwas, +das mehr ist als lediglich negative Opposition gegen das Bestehende, +etwas, das der bisherigen Zeit fremd war, uns ihr überlegen macht und +uns die Überzeugung gibt, daß die Fahrt sein muß, weil eben der Glaube +es befiehlt. Ob wir nun Indien auf dem andern Wege um die Welt +erreichen, oder vielleicht ein ganz neues Land, das können wir nicht +sagen. Wir wissen nur, daß wir fahren müssen, nicht aus Abenteurerlust, +sondern unter dem Gebot der inneren Verheißung. In der Erfüllung dieses +Gebotes liegt unsere Sendung.</p> + +<p>So verlassen wir die alte romantische Welt der Harmonie. Der Blick +wendet sich zurück auf das, was vor ihr war. Die schöne Idealwelt des +Klassizismus erkennen und verehren wir in all ihrer Hoheit, die +Sinfonien Haydns, die Opern Mozarts, die Quartette Beethovens sind +Bestandteile unsres Menschentums, die wir nicht hergeben könnten, ohne +uns selbst zu vernichten. Aber diese Welt ist fertig. Sie hat die freie +Persönlichkeit, die große Melodie der Menschen gebracht. Was darüber +hinaus lebendig und triebkräftig an ihr war, hat auf eben den Weg +geführt, den wir jetzt verlassen. Der Mensch als Einzelwesen hat als +Objekt der Kunst alles gegeben, wag er zu geben vermochte, von der +reinen Zusammenfassung stärkster Schwungkräfte des Geistes bis zur +leidvollen Selbstzersetzung. Psychische und akustische Vorgänge +entsprechen einander: die Harmonie, diese merkwürdige Auseinanderlegung +des Haupttones in die gleichzeitig klingenden Nebentöne ist als +Klangphänomen eine Zersetzungserscheinung, die die plastische Kraft der +Melodik von innen her zerstört. Dieser Zerstörungskeim lag in der +klassischen Kunst der melodischen Homophonie eingeschlossen, ähnlich +wie die immer höher gesteigerte Individualbelebung schließlich zur +Auflösung der Polyphonie geführt hatte. Nun haben wir den Kreis des +Einzelwesens umschritten und ausgeforscht, das Individuum als solches +ist wieder einmal im Lauf der Menschheitsgeschichte erkannt. Es hat von +sich allein aus nicht mehr viel oder gar nichts mehr zu geben auf lange +Zeit hinaus, wir haben kein Interesse mehr an ihm, seinen Gesetzen, +seinen Intimitäten. Die Gattung, der Typus, die Gesamtheit rückt wieder +vor, das menschlich Gemeinsame tritt an die Stelle des persönlich +Besonderen, die Wage des Gefühles senkt sich wieder nach der anderen +Seite: vom melodisch harmonischen Individualismus zum polyphonen +Kollektivismus. Freilich zielt diese Umschaltung nicht auf +Wiederaufnahme der alten polyphonen Kunst. In diesem Fall wäre sie +nichts anderes als ebenfalls romantische Stilkünstelei, die nur statt +auf Mozart auf Bach Bezug nimmt. Es handelt sich vielmehr um einen +neuen, elementar bedingten Durchbruch der polyphonen Musikauffassung, +die als solche der vorklassischen Zeit nähersteht als der klassischen, +im übrigen ihrer stilgesetzlichen Besonderheit nach von der Polyphonie +Bachs mindestens ebenso weit entfernt ist wie diese etwa von der +polyphonen Kunst des Mittelalters. Die zwischen zwei derartigen +geistesartlich verwandten Epochen liegenden Erlebnisse und Ausblicke +sind Erfahrungen, die nicht vergessen werden können. So sicher der +subjektivistische Auflösungsprozeß der harmonischen Empfindungsart +nicht mehr im Mittelpunkt des musikalischen Fühlens steht, so bedeutsam +wirken doch seine Ergebnisse auf die sich neu heranbildende Art der +Musikauffassung nach.</p> + +<p>Das hier angeschlagene Problem ist keines einer einzelnen Nation, +sondern der Menschheit. Die große Krise, in der wir stehen, die +Erkenntnis der Notwendigkeit einer Änderung unserer Gefühlseinstellung +gegenüber allen Erscheinungen des Seins, der Überwindung des +Individuums, der Erfassung von Leben und Welt aus einem Mittelpunkt +außerhalb unsrer selbst ist eine Aufgabe, die schon ihrer Natur nach +nicht auf nur ein Volk beschränkt bleiben kann. Wir sehen auch überall +gerade in der Musik der Völker alter und neuer Kultur Ansätze zu einer +Entwicklung im angedeuteten Sinn. Wir sehen sie aber in der deutschen +Musik besonders auffallend. Sicherlich nicht nur, weil wir ihr am +nächsten stehen. Kein Volk hat das Erlebnis der Romantik mit so +starker, gläubiger Intensität in sich aufgenommen, keines ist so bis +auf die tiefsten Wurzeln seines Wesens davon ergriffen worden. Keines +hat dieser Entwicklung zum Individualismus und Subjektivismus so +mannigfaltige, reiche Früchte abgewonnen und — bei keinem hat der +geistige Zersetzungsprozeß, die Krankheitserscheinung der Romantik so +verheerende Folgen gehabt. Es ist begreiflich, daß daher auch gerade aus +der deutschen Musik der erste und stärkste Vorstoß gegen die +romantische Kunst erfolgte, der ihn in gedanklichem Phantasiespiel +vorbereitete, ist der Deutsch-Italiener Busoni, der ihn führte, ist +Arnold Schönberg. Gleich Mahler und Schreker ist auch Schönberg ein +Abkömmling der Romantik, der in seinen Anfangswerken mit vollem +Bewußtsein die vielleicht reichste, phantasievollste Harmoniewelt der +Epigonenzeit aufbaute. Aber eben diese Leichtigkeit der Weiterbildung +überkommener Gesetzmäßigkeiten hat in ihm früh den kritischen Trieb +geweckt, hat die Erkenntnis geschärft für das konventionell Gebundene +dieser Kunst. Was Mahler durch seine vorwiegend ethisch religiöse, +Schreker durch die elementare Triebhaftigkeit seiner sinnlichen +Phantasie fand, das erreichte Schönberg durch die unerbittliche Schärfe +und fanatische Härte seiner kritischen Fragestellung. Der kühnste, +rücksichtsloseste Intellekt der Nachromantik erkannte die +intellektuelle Bedingtheit dieser Kunstart. Auf dem Gebiet +vernunftmäßig geregelten Musizierens floh er in das Bereich der +beziehungslosen, rein phantastisch bewegten Musik, die aus der +Übersteigerung des Subjektivismus diesen überwindet, aus der +spekulativen Zerfaserung der Harmonie diese aufhebt, aus der +atomisierenden Auflösung des Einzelnen, Besonderen wieder zur Erfassung +des Allgemeingültigen, Typischen, Menschlichen gelangt. Es ist das, was +nach Abstreifung des Individuellen übrigbleibt, im Gegensatz zu der +älteren Typenauffassung, vor der das Persönliche als eigenberechtigt +noch gar nicht bestand. Dementsprechend ist Schönbergs Musik im +Vergleich zu der visuell flächenhaft empfundenen, wuchtig klaren +Ornamentik der Bachschen Polyphonie auf Erfassung des seelisch +Essentiellen gerichtet, mehr Gefühlsvibration als -darstellung. Das +Polyphone an ihr ist mehr Mittel als Zweck. Es ergibt sich nicht aus +dem Willen des Zusammenschlusses, sondern des irregulären +Nebeneinander, das die Harmonie nicht mehr kennt und die Stimmen aus +der räumlichen Tiefe wieder in die lineare Parallele zu bringen sucht. +Das Ziel aber, die Idee der Einigung, ist nicht eigentlich +kollektivistischer Art, es ist nicht Vielstimmigkeit im Sinne der +alten, organisch gebauten Polyphonie. Es ist vielmehr eine +Einstimmigkeit im absoluten Sinne, entharmonisierte Melodik freiester +Art, Projizierung aller Bewegungskräfte des Gefühls in eine einzige +Linie, die polyphone Mannigfaltigkeit des Stimmklangs, +individualisierende melodische Geschlossenheit und harmonisches +Raumgefühl in einem vereinigt.</p> + +<p>Die verwirrende, scheinbar mißtönende Polyphonie des Schönbergischen +Satzes ist in Wahrheit nichts anderes als das Suchen nach dieser +Einstimmigkeit höchster Art, als der Versuch, den Klang immer mehr auf +das Urwesenhafte zu beschränken, ihn aller einengenden Subjektivismen +zu entkleiden, ihn lediglich zum Symbol des auch formal im +Verstandessinne Unfaßbaren, des psychologisch nicht Deutbaren, des +Irrationalen zu machen. Damit gelangt die Musik durch das Mittel der +Polyphonie wieder zu einer Homophonie zurück, von der der romantische +Musikästhetiker meint, daß man sie sich in Wahrheit überhaupt nicht +vorstellen könnte. Und doch liegt in der Aufgabe, diese +Vorstellungsgabe zu gewinnen, der Kern der musikalischen Probleme +unserer Zeit. Je mehr wir erkennen, daß die Kurve der musikalischen +Bewegung tatsächlich dauernd in absteigender Linie läuft, daß alles, +was uns das 19. Jahrhundert gebracht hat, Produkt ständig zunehmender +Materialisierung, Steigerung der Mittel unter Vergessen oder +theatralischer Vortäuschung der seelischen Grundkräfte bedeutet, um so +stärker wird der Drang nach Abstreifung all dieser artifiziellen +Auswüchse, nach Vereinfachung, nach Rückgewinnung der ursprünglichen +Naturkraft des musikalischen Klanges. Solche Vereinfachung ist nicht zu +finden durch Reduzierung der üblichen Mittel, nicht durch eigensinniges +Festhalten an einem gegebenen historischen Schema, auch nicht durch +stilistische Verkleidungskünste. Sie setzt voraus völlige Umstellung +der seelischen Grundkräfte, aus denen die Musik erwächst, Wille und +Fähigkeit, Musik überhaupt außerhalb aller Konvention als Formung +elementarer Gefühlskraft, als Naturlaut zu erkennen. Um zu solcher +reinen Homophonie zu gelangen, müssen wir fähig werden, die absolute +Linie nicht als Teilornament eines polyphonen Gewebes, nicht als +Führerin oder abgrenzende Umkleidung der harmonischen Bewegung, sondern +als selbständige Ausdrucksgestaltung höchst potenzierter Kraft zu +empfinden. Dies ist wohl die Richtung, in die Schönbergs Schaffen +deutet. Wenn wir überhaupt an die Möglichkeit des Weiterlebens der +Musik oberhalb der blöden Gewohnheit und des gedankenlosen Betriebes +glauben, so können wir es nur in der Richtung der prophetischen Kunst +Schönbergs für denkbar halten.</p> + +<blockquote><center> * +*</center></blockquote> +<blockquote><center> *</center></blockquote> + +<p>Man pflegt in Deutschland den Deutschen im allgemeinen als +musikalisch hervorragend begabt und das deutsche Volk als auf +musikalischem Gebiet vor allen anderen ausgezeichnet anzusehen. Wie +weit solche Ansicht der Wirklichkeit entspricht, wäre genau wohl nur +durch vergleichende Statistik festzustellen. Zunächst ist die Tatsache +unzweifelhaft, daß Franzosen und Italiener eine sehr hochstehende +geschichtliche Musikkultur, die Russen eine außerordentlich +eigentümliche Kirchen- und Volksmusik aufzuweisen haben, und daß der +Durchschnittstyp des Italieners, Tschechen, Russen an natürlicher +Musikalität dem Deutschen mindestens gleichkommt. Dem Talent und der +produktiven Veranlagung nach dürfte es vielleicht schwerfallen, den +Vorrang der Deutschen zu beweisen. In einer Beziehung aber scheinen sie +sich gegenüber anderen, ähnlich begabten Völkern hervorzutun: in der +Art nämlich, wie ihre Musik zum unmittelbaren Abbild ihrer +Geistesgeschichte wird, wie sie alle Wandlungen der Volksseele in sich +aufnimmt, sie widerspiegelt, ja aus ihnen eigentlich die Impulse ihres +Seins empfängt. Die Musik anderer Völker ist wohl ebenfalls Wandlungen +unterworfen, aber dies sind Wandlungen des Geschmackes, und so +mannigfache Verschiedenheiten es etwa innerhalb der italienischen oder +französischen Oper der beiden letzten Jahrhunderte gibt, so sind dies +im Grunde genommen nur Unterschiede des Zeitstiles, der Einkleidung. +Gleich bleibt sich stets die durch nationales Temperament bedingte +Auffassung der Musik als unmittelbarer Sprache der Sinne, des Blutes, +des Formwillens. Für den Deutschen dagegen ist die Musik angewandte +Metaphysik. Dies gilt nicht nur für den betrachtenden Beobachter, es +gilt für den Schaffenden wie für den Aufnehmenden, es gilt für jeden +Deutschen. Diese metaphysische Einstellung zur Musik ist eine der +grundlegenden, logisch nicht zu erklärenden Eigenschaften des +Volkscharakters oder der Volksseele. Sie wird ebenso offenbar am +einfachsten Lied wie an der kompliziertesten Kunstmusik, und sie ist +es, nicht irgendwelche konventionelle Eigenheit der Faktur, die der +deutschen Musik ihr eigentümliches Gepräge, ihre Sonderstellung +innerhalb der Kunst aller Völker gibt. An sinnlicher Wärme des Blutes +wird uns stets der Italiener, an Klarheit und logischer Beherrschtheit +der Gestaltung stets der Franzose überlegen sein. Das +Übersinnlich-Unaussprechbare, der Wille zum Transzendenten, die +Verwebung feinster Probleme des Geisteslebens mit den Gesetzen der +Klangformung, die Empfindung des Klanges überhaupt als metaphysischen +Symboles ist die bezeichnende Eigenheit der deutschen Musik.</p> + +<p>Schon daraus ergibt sich ihr Angewiesensein auf Zuflüsse von außen. +Es ist nie zu befürchten, daß solche Zuflüsse sie schädigen, ihrer +Originalität berauben könnten. Abgesehen davon, daß es eine schwache +Originalität wäre, die sich nur durch gewaltsame Absperrung zu halten +vermag, wird die deutsche Musik niemals ernstlich fähig sein, +fremdländische Muster wirklich zu kopieren. Sie kann gar nicht anders, +als die ihr zugetragenen Gefühls- und Formanregungen aus der ihr +eigentümlichen metaphysischen Grundeinstellung erfassen, sie also in +eine völlig andersgeartete Vorstellungs- und Empfindungssphäre +übertragen. Andererseits macht gerade diese Art der Grundeinstellung +steten Zufluß blut- und formgebender Kräfte von außen her erforderlich. +Wir sind auch als musikalische Kulturträger kein Volk der +Selbsterzeuger, wir sind ein Volk der Verarbeiter. Wo je im Lauf der +gesamten Geschichte die deutsche Musik einen Höhepunkt erreicht hat, da +hatte sie auf fremdvölkischem Material aufgebaut. Wegen dieses +außernationalen Ursprunges und wegen der metaphysischen +Steigerungskraft der deutschen Musik sind solche Höhepunkte zugleich +Höhepunkte der musikalischen Kunst überhaupt geworden. Wo aber die +deutsche Musik durch den Gang der Ereignisse nach außen abgeschlossen +wurde, da ist sie blaß und schwach geworden, ihre Metaphysik hat der +Unterlage einer lebendigen Physis entbehrt.</p> + +<p>So ist die deutsche Musik unmittelbar dem deutschen Geistesleben im +tiefsten Sinne verknüpft und spiegelt dessen Wandlungen ihrer +metaphysischen Natur nach in unerbittlich genauer Schärfe. Zur Führung +berufen, der letzten Abklärung fähig und zugewandt, vermag sie zu +diesen höchsten Eigenschaften ihres Wesens nur im Durchgang durch +andere zu gelangen. National bedingt, ist sie nach Gesinnung und +Auswirkung eine europäische Kunst, in ihr leben und kämpfen die +Probleme des europäischen oder schlechthin des Menschentums überhaupt. +Der große Niederbruch hat sie gepackt und mitgerissen wie kaum eine +andere Zeiterscheinung der Geistesgeschichte. Was im heutigen +musikalischen Leben Deutschlands vor sich geht, ist das getreue, im +einzelnen ins Groteske verzerrte Abbild unseres allgemeinen Lebens. Es +wird gekämpft nicht nur um Überzeugungen und Urteile, es wird gekämpft +um Gesinnung und Macht, es wird gekämpft nicht mit Einsichten und +Gründen, sondern mit Terror und Lüge, es wird gekämpft nicht um +sachliche Werte, sondern um persönliche Interessen, und das Was und Wie +all dieser Kämpfe ist eine grobe Karikatur der Dinge, deren reiner Name +mißbraucht wird.</p> + +<p>Aber in dieser Musik lebt hinter allen Trugmasken, heut noch fern +dem Tage, Erkenntnis der tiefsten Notwendigkeit geistiger Erneuerung. +Es lebt der Glaube an das Kommende, das andere, das mit Namen nicht zu +nennen ist, und dessen Dasein doch innerlichst erspürt wird. Es lebt +die Idee, daß nicht nur Untergang, sondern auch Aufgang bevorsteht, es +lebt die Vorstellung des unbekannten Gottes. Gerade in der deutschen +Musik ist sie lebendig, zieht sie ihre starken Spuren, wirkt sie mit +wachsender prophetischer Kraft. Sie hat uns die Fähigkeit des Glaubens, +de Überzeugung von der Notwendigkeit dieses Glaubens als seelischer +Voraussetzung aller Offenbarung gebracht. Das ist ihre stärkste +Leistung. Der Erfüllung müssen wir noch harren, bis wir selbst ihrer +fähig sind.</p> + + + + +<h2><a name="phi">DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART<br>VON MAX SCHELER</a></h2> + +<p>Vom "Volksverband der Bücherfreunde" und dem Herausgeber +aufgefordert, auf engem Raum ein Bild zu geben von der gegenwärtigen +deutschen Philosophie, ist der Verfasser sich bewußt, daß der +Gegenstand mehr wie je als ein im Werden befindlicher betrachtet werden +muß. Die Tendenz auf Zersprengung vorhandener, lange bewährter Formen, +die in den Sphären des sozialen Lebens, der Kunst (Expressionismus) und +der Wissenschaft (Relativitätslehre) mit seltsamer Gleichzeitigkeit +auftritt, ist auch in der Philosophie der Gegenwart weit größer, als es +der erste Augenschein lehrt. Die besondere Absicht, die der sonst +solchen Zusammenfassungen wenig geneigte Verfasser mit diesen Zeilen +verbindet, ist, einem größeren Bildungskreise die Möglichkeit zu geben, +sich durch eigene Gedankenarbeit in diejenigen Leistungen der +gegenwärtigen Philosophie tiefer einzuarbeiten, die er nach eigenem +philosophischen Urteil für die triebkräftigsten und zukunftsreichsten +hält. Die menschliche und nationale Selbstbesinnung nach dem +tiefgreifenden Zusammenbruch unseres Staates und unserer bisherigen +gesellschaftlichen Ordnungen vollzieht sich in der Philosophie in der +höchsten und durchgeistigtsten Form. Richtungen und Wege zu ihr mögen +daher indirekt auch auf diesen Blättern mitbezeichnet werden. Es wird +dem Verständnis dienlich sein, wenn der Verfasser schon hier am Anfange +in vager Weise die formale Gestalt der Art von Philosophie bezeichnet, +auf die hin das Beste der gegenwärtigen Arbeit zielt. Insofern +behauptet er: Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht +gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren +terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S a c h +philosophie, die auch die metaphysischen Weltanschauungsfragen in den +Grenzen, in denen es Philosophie im Unterschied zur Religion allein +vermag, in kritischer und vorsichtiger Weise wieder einer Lösung +zuzuführen sucht, beginnt sich unter der methodischen Leitung des +Satzes vom Primat des Seins vor dem Erkennen in der Gegenwart von den +verschiedensten Seiten her aufzuarbeiten. Der Subjektivismus, +erkenntnistheoretische Idealismus, Relativismus, Sensualismus, +Empirismus und Naturalismus wird im Aufbau dieser Philosophie langsam ü +b e r w u n d e n, und es wird wie von selbst eine Wiederanknüpfung der +Philosophie stattfinden an die großen Traditionen jenes objektiven +Ideenidealismus, der etwa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts das +europäisch-christliche Denken immer noch notdürftig zusammenhielt +— eine Wiederanknüpfung, die um so wertvoller sein dürfte, als +sie ungewollt und aus der schlichten Untersuchung der Sachprobleme der +Philosophie selbst sich ergibt: gleichzeitig aber das neue positive +Wissen, das die Einzelwissenschaften erarbeitet haben, in sich +aufnimmt. Diese Philosophie wird nicht sein wollen die D e s p o t i n +der Einzelwissenschaften, wie in der sogenannten "klassischen" Epoche +der deutschen Spekulation (z. B. Hegel), noch bloße D i e n e r i n +der Einzelwissenschaften (als Erkenntnistheorie und Methodologie), +sondern wird in dem daseinsfreien "W e s e n" aller Seinsgebiete der +Welt einen selbständigen, n u r der Philosophie zugänglichen G e g e n +s t a n d besitzen, den sie mit eigenen Methoden zu erkennen +unternimmt.</p> + +<p>Will man die Philosophie der Gegenwart verstehen, so wird man sie +auf den größeren Hintergrund der Philosophie des 19. Jahrhunderts mit +ihren Phasen projizieren müssen. Die Merkmale der G e s a m t g e s t a +l t der Philosophie des 19. Jahrhunderts sind gegenüber der +Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts die folgenden:</p> + +<p>Die Philosophie des 19. Jahrhunderts zeigt erstens eine weitgehende +n a t i o n a l e Verengung. Der Denkverkehr der europäischen +Nationen, wie er uns etwa in einer Figur wie Leibniz gegenwärtig ist, +wird durch die steigende Ausbildung des nationalen Selbstbewußtseins +und des nationalen Mythos erheblich geschwächt. Besonders in +Deutschland wird mit Kant, obzwar dieser große Geist sich selbst noch +vollständig als Bürger der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik fühlt, +eine Denkrichtung angebahnt, die die deutsche Philosophie in starkem +Maße aus der christlich-europäischen Tradition herauslöst und ihr einen +national-partikularistischen Charakter auf viele Jahrzehnte hin +erteilt.</p> + +<p>Ein zweites Merkmal ist die wachsende V i e l h e i t der +philosophischen Standpunkte, Schulen, Sekten. Indem die Philosophie in +der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen vorwiegend geschlossenen S +y s t e m charakter annimmt und damit weit mehr als früher persönlich +gebundener wird ("Romane der Denker" nannte es Sophie Germaine), in der +zweiten Hälfte aber umgekehrt sich in Einzelwissenschaften aufzulösen +oder als deren bloße Dienerin zu konstituieren suchte, geht beidemal +der Gedanke "einer" s e l b s t ä n d i g e n Philosophie, an der +Generationen und Völker g e m e i n s a m zu bauen haben, verloren.</p> + +<p>Ein drittes Merkmal, das für die d e u t s c h e Philosophie +besonders aufdringlich ist, ist die diskontinuierliche antithetische +Entwicklung. Während sich die Philosophie der Neuzeit bis zum 19. +Jahrhundert im großen Ganzen, um wenige Grundfragen bemüht, +kontinuierlich entfaltete, ist das 19. Jahrhundert von Diskontinuität, +Abbruch, plötzlicher Wiederanknüpfung an ältere Gedankenrichtungen +durchzogen. Der Zusammenbruch der deutschen Spekulation nach Hegels +Tod, die zeitweise Herrschaft des Materialismus in den Jahren von 1840 +bis 1860, die Wiederanknüpfung an Kant (Neukantianismus), an Thomas von +Aquin (Neuthomismus), später an Fichte und Hegel sind dafür nur die +sichtbarsten Beispiele dieser Diskontinuität. Die Reaktions- und +Restaurationsphilosophie der Romantik versuchte mit ganz +subjektivistischen und unmittelalterlichen Methoden mittelalterliche I +n h a l t e und W e r t e wiederzugewinnen, um auf diese Weise rein +antithetisch und reaktiv die gewaltige zusammenhängende Vernunfts- und +Menschheitskultur des 18. Jahrhunderts zu überwinden. Bis zu +Schopenhauer, Nietzsche, E. Rohde, J. Burckhardt, E. von Hartmann, ja +bis zu O. Spengler hat die romantische Bewegung einen tiefgehenden Z w +i e s p a l t in das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts +hineingelegt, der bis heute unüberbrückt ist. Aller gegenwärtige +"Irrationalismus" (Bergson, Theosophie usw.) knüpft wieder an sie an. +Aus der Verbindung von Ausläufern der romantischen Bewegung mit der +durch die Kenntnis des Sanskrit (in Deutschland zuerst verbreitet durch +W. von Humboldt) erschlossenen Weisheit des Ostens (insbesondere +Indiens) ist auch das gegenüber der Philosophie des 17. und 18. +Jahrhunderts gänzlich n e u e Element des metaphysischen, ethischen und +geschichtsphilosophischen P e s s i m i s m u s (Schopenhauer, E. von +Hartmann, Mainländer, Spir, in anderer Richtung Nietzsche in seiner +ersten Phase) hervorgegangen. Auch der zuerst im Pessimismus erfolgende +Eintritt der Philosophie des O s t e n s in die Geschichte des +europäischen Denkens (in Deutschland besonders durch Paul Deußens +"Geschichte der indischen Philosophie" verbreitet), ist ein s p e z i +f i s c h e s Merkmal des 19. Jahrhunderts. Durch die im Krieg +erfolgte stärkere Berührung der deutschen Bevölkerung mit dem Osten ist +diese Bewegung noch gewaltig gefördert worden (Neubuddhismus, +Theosophie, Anthroposophie); auch die Überwindung des "Europäismus" in +der Geschichtsauffassung (der Hegel und Comte noch gemeinsam ist), das +heißt der Methode, an die ganze Entwicklung der Weltgeschichte +europäische Maßstäbe und geschichtliche Bewegungsformen anzulegen, ist +in dieser Bewegung stark in Frage gesetzt worden. Indem die Romantik +ferner das Studium der positiven Religionen in die Sphäre der +allgemeinen Bildung hineintrug, hat sie auch die konfessionellen +Bindungen des philosophischen Denkens gegenüber dem 18. Jahrhundert +wieder bedeutend verstärkt. Sie hat ferner auf viele Jahrzehnte hin die +philosophische Arbeit so einseitig auf das Studium der Geschichte der +Philosophie hingerichtet, daß ein Mann wie Kuno Fischer sagen konnte: +"Geschichte der Philosophie treiben heißt selbst philosophieren." +Während Kant noch meinte, das "wäre ein armseliger Kopf, dem die +Geschichte der Philosophie seine Philosophie ist", hat der historische +R e l a t i v i s m u s in der Philosophie bis in die achtziger Jahre +des vorigen Jahrhunderts hinein die philosophische Arbeit aufs stärkste +niedergehalten. Erst die Philosophie der letzten beiden Jahrzehnte ging +daran, diesen Historismus zu überwinden. Freilich nur in maßvoller +Weise: denn auch in den Forschern, bei denen sich die Philosophie, +abgesehen von Erkenntnistheorie, in bloße Weltanschauungs l e h r e +auflöst, d. h. in Typologie und Psychologie der Weltanschauung (W. +Dilthey, M. Weber, K. Jaspers, H. Gomperz, O. Spengler) ist der aus der +Romantik entsprungene Historismus noch stark gegenwärtig. Und nur in +anderer, naturalistischerer Form erscheint er wieder bei den +Neupositivisten (E. Mach, Levy-Brühl und anderen), die selbst die +Denkformen und Denkgesetze soziologisch aus Traditionen und Erblichkeit +herleiten wollen.</p> + +<p>Ein letztes Merkmal der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist es, daß +sie aus Biologie, Geisteswissenschaften und der seit Fechner in die +Philosophie eingegangenen Disziplin der experimentellen Psychologie +weit stärkere Antriebe empfangen hat als die Philosophie des 17. und +18. Jahrhunderts, deren Probleme überaus einseitig durch die +mathematischen Naturwissenschaften Galileis und Newtons gebunden und +bestimmt waren.</p> + +<p>Auf diesem allgemeinen Hintergrund der Gestaltung der Philosophie +des 19. Jahrhunderts überhaupt gewinnt die gegenwärtige Philosophie +Deutschlands ein um so größeres Interesse, als ihre bedeutsamsten +Erscheinungen, obzwar weitgehend genährt durch das gesamte Gedankengut +der Philosophie des 19. Jahrhunderts, sich in vieler Hinsicht in +scharfem Gegensatz zu dieser Gestaltung befinden. Die Philosophie der +Gegenwart strebt danach, den mehr oder weniger a n a r c h i s c h e n + Zustand zu überwinden, der — diese Merkmale zusammengeschaut +— das allgemeinste unterscheidende Moment der Philosophie des 19. +Jahrhunderts ausmacht. Dies wird die folgende Darstellung genauer +erhellen.</p> + +<p>Wir behandeln im folgenden nur die deutsche Philosophie der +Gegenwart. Um so mehr müssen wir uns klarmachen, daß die deutsche +Philosophie das Übergewicht, das sie vor hundert Jahren in der Welt +besaß, längst verloren hatte. Der größte internationale Einfluß ist, +wie K. Österreich in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart" I/6, 3. Auflage, +treffend bemerkt, von der französischen Philosophie in den letzten +Jahrzehnten ausgegangen. Der Einfluß Bergsons und der Einfluß W. James' +läßt sich mit keinem Einfluß eines Deutschen vergleichen. Andererseits +wirkt die ältere deutsche Spekulation, insbesondere Hegel, im Ausland +(besonders England, Amerika, Rußland, Italien) auch heute noch stärker +als irgendein nachhegelscher deutscher Denker — mit Ausnahme +vielleicht Nietzsches. Trotzdem waren die internationalen Beziehungen +der deutschen Philosophie zum Auslande vor dem Krieg in starker Zunahme +begriffen, und es ist aus manchen Anzeichen zu erhoffen, daß sie sich +auch bald wiederherstellen werden.</p> + +<p>Will man die gegenwärtige deutsche Philosophie zur ersten Übersicht +in gewisse G r u p p e n ordnen und zugleich einige ihrer allgemeinen +Charakterzüge hervorheben, so sind es vor allem d r e i Gegensätze, +nach denen man diese Gruppierung vollziehen kann.</p> + +<p>Der erste ist der höchst unerfreuliche Gegensatz einer nur engste +Kreise berührenden streng wissenschaftlichen Fach- und +Universitätsphilosophie und einer unmethodischen, wenig strengen, mehr +oder weniger aphoristischen, aber weiteste Bildungskreise suggestiv in +Bann haltenden "philosophischen Literatur". Im Gegensatz zur +Philosophie des 18. Jahrhunderts, zum Zeitalter Kants und Hegels, aber +auch noch im Gegensatz zum Zeitalter Fechners und Lotzes, vermochte die +akademische Philosophie das geistige Interesse größerer Bildungskreise +bis vor kurzem n i c h t zu gewinnen. Um so mehr vermochte das aber +eine philosophierende Literatur, deren Hauptexponent und Vorbild +Nietzsche gewesen ist, eine Literatur, die ohne Verbindung mit der +strengen Wissenschaft unmethodisch und weit unter der Niveauhöhe der +großen Philosophie der Vergangenheit, in subjektiv persönlicher Form +Meinungen und Werturteil ausspricht. Hierher gehören z. B. +Erscheinungen wie R. Steiner, Johannes Müller, O. Spengler, W. +Rathenau, Graf Keyserling, H. Blüher, die philosophierenden Mitglieder +des George-Kreises und andere mehr. Dieser Z e r f a l l in zwei so +gänzlich verschiedenartige Gattungen von "Philosophie" steht in +scharfem Gegensatz zu allen philosophisch p r o d u k t i v e n +Zeiten, und er muß vor allem aufgehoben werden, wenn die deutsche +Philosophie sich aus der Anarchie des 19. Jahrhunderts wieder erheben +soll. Das ist nur möglich, wenn zwei Arten von akademischer Philosophie +langsam in den Hintergrund treten, die bisher an den deutschen +Universitäten noch stark in Herrschaft sind.</p> + +<p>1. Die traditionalistischen Standpunkts- und Schulphilosophien. Sie +machen sich alle dadurch kenntlich, daß sie ihre eigene Namengebung mit +dem Worte "Neu" beginnen (z. B. Neukantianer, Neuthomisten, +Neufichteaner, Neuhegelianer), als wollten sie nach dem Gesetz: Lucus a +non lucendo damit sagen, daß das, was sie lehren, etwas altes ist. +Eigen ist diesen philosophisch-akademischen Richtungen das, was das +Wesen jeder "Scholastik" ausmacht: daß man sowohl in der Arbeit an den +Sachproblemen in Übereinstimmung mit einer historischen A u t o r i t ä +t (wenigstens im "wesentlichen") zu bleiben sucht, andererseits aber +die Meinung dieser Autorität immer so interpretiert, daß man noch sagen +kann, die eigenen Sachforschungen stimmten mit ihrer Meinung überein. +Diese fortgesetzte Angleichung von Sachforschung und +historisch-philologisch interpretierter Meinung eines Philosophen h i n +d e r t aber ebensowohl echte und reine Sacherkenntnis wie echtes +historisches Verständnis. Am weitesten in dieser "scholastischen" +Methode sind heute merkwürdigerweise nicht die sogenannten +"Neuscholastiker" gegangen, sondern die Neukantianer, deren +Sachforschungen wie geschichtliche Leistungen (besonders H. Cohen, P. +Natorp, E. Cassirer) trotz ihrer mannigfachen Anregungskraft diesen +Charakterzug durchgehends verraten. Eng verbindet sich Schulerstarrung, +Anschauungs- und Wirklichkeitsfremdheit und eine geheime verzwickte +Terminologie (die alle großen Philosophen der Geschichte n i c h t +gekannt haben, und die schon von vornherein eine dicke Wand zwischen +Philosophie und Bildung setzt) mit dem bezeichneten "scholastischen" +Charakter. Erst mit Edm. Husserls "Logischen Untersuchungen" hat eine +standpunkt f r e i e, nicht traditionalistische S a c h philosophie +wieder in breiterem Maße eingesetzt, wenn auch Männer wie Franz +Brentano, Rehmke, Driesch, B. Erdmann, Stumpf auch schon vor Husserls +Auftreten die Philosophie in diese Richtung geleitet haben.</p> + +<p>Ein zweiter Grund für das Auseinanderfallen der deutschen +Philosophie in methodisch strenge Sachphilosophie und "philosophische +Literatur" ist in der Tatsache zu sehen, daß die gegenwärtige deutsche +Philosophie jahrzehntelang, wie Lotze sich ausdrückte, nur "die Messer +zu wetzen pflegte, ohne zu schneiden", daß sie, herausgewachsen aus dem +sogenannten Neukantianismus (Otto Liebmann, Albert Lange, H. Cohen, P. +Natorp), der nach dem Zusammenbruch der deutschen Spekulation die +Philosophie zuerst wieder an deutschen Hochschulen möglich machte, sich +aufs einseitigste, auf Erkenntnistheorie und Methodologie beschränkte +und sich dabei im Grunde nur als Dienerin der Einzelwissenschaften +fühlte. So übertrug sich der Fachcharakter auch auf die Philosophie, +deren Wesen es doch gerade ausschließt, ein "Fach" n e b e n anderen zu +sein. So gab sie nicht nur ihre zentralste und ihre wesentlichste +Disziplin, die Metaphysik, meist völlig preis, sondern hatte außerdem +zu dem übrigen geistigen Leben der Nation, zu den Problemen des +Staates, der Gesellschaft, zu Kunst und Dichtung, zur Religion und zum +Problem der Gestaltung und Bildung der geistigen Persönlichkeit kaum +irgendeinen Zugang mehr. Die Übernahme einer großen Anzahl von +Lehrstühlen durch Vertreter der "jungen experimentellen Psychologie" +befestigten diesen Zustand noch mehr, zumal diese junge und +verheißungsvolle neue Wissenschaft sich erst in den letzten Jahren +ihrer Entwicklung auch den höheren geistigen Funktionen zuwendete oder +doch durch gewisse, in ihr erwachsene Probleme, z. B. durch das +Gestaltproblem, wieder stärkeren Anschluß an die philosophischen Fragen +gewann. Auf seiten der "philosophischen Literatur" aber wurde der +echten Philosophie nicht minder Abbruch getan: einmal dadurch, daß man +in ganz unsachlicher und subjektivistischer Weise seinen Einfällen die +Zügel schießen ließ, das Geistreiche und Blendende an die Stelle des +Wahren, die Suggestion an die Stelle der Überzeugung im sokratischen +Sinne setzte; ferner dadurch, daß man in mehr oder weniger gnostischer, +die Selbständigkeit der Religion und der Mystik gegenüber der +Philosophie total verkennender Weise die Philosophie von aller strengen + W i s s e n s c h a f t loslöste und sie zu einer Sache von S e k t e +n machte, die, im Gegensatz zu den akademischen Schul- und +Standpunktsphilosophien, sich um das rein persönliche, echte oder +scheinbare Charisma einer starken Natur gruppierten. So entstanden +Sekten aller Art, die besonders zu nennen nicht notwendig ist. So ist +es auch verständlich, daß das im 19. Jahrhundert fast verloren +gegangene W e s e n der Philosophie in der Gegenwart erst wieder +aufgesucht werden mußte (siehe E. Husserl: "Philosophie als strenge +Wissenschaft", Logos Bd. I, Heft I; siehe auch M. Scheler: "Vom Ewigen +im Menschen", Bd. I, "Vom Wesen der Philosophie").</p> + +<p>Ein zweiter Gegensatz durchquert die gegenwärtige Philosophie in d e +r Richtung, ob sie in ihren Problemen mehr geistes- oder +naturwissenschaftlich orientiert ist. Das wird in der folgenden +Darstellung scharf hervortreten im Gegensatz sowohl der neukantischen +und der südwestdeutschen Schule als in den Gegensätzen der einzelnen +selbständigen Sachdenker. Auch dieser Gegensatz ist ein Zeichen dafür, +daß wir eine u n i v e r s a l e Philosophie noch nicht besitzen: +denn eine solche muß b e i d e n großen Daseinsgebieten, und zwar durch +Vermittelung des selbständigen Sachgebietes der inneren und äußeren B +i o l o g i e, ihr gleichmäßiges Interesse zuwenden und darf sich nicht +als bloße "ancilla scientiae" zum einseitigen Vorspann e i n e r dieser +Teile der Wissenschaften machen. Überhaupt ist nichts der Philosophie +abträglicher als die bis vor kurzem in unserem Lande immer wieder +erneuten Versuche, von den Gegebenheiten und Grundbegriffen einer +Einzelwissenschaft her, das g a n z e Weltproblem lösen zu wollen. +Solches geschah z. B. im sogenannten Psychologismus durch eine gänzlich +unberechtigte Ausdehnung der Begriffe, "psychisch" oder "Bewußtsein": +in der Energetik Ostwalds durch eine Verabsolutierung des +Energiebegriffes, im Empfindungsmonismus Ernst Machs durch eine falsche +Verabsolutierung des Empfindungsbegriffes; in gewissen Richtungen der +"Lebensphilosophie" in einer falschen Ausdehnung und Verabsolutierung +des Begriffes Leben, in der neukantischen Marburger Schule in einer +falschen Verengung des Erkenntnisbegriffes auf mathematische +Naturwissenschaft. Die Philosophie hat, von einer Lehre über die +Grundarten der G e g e n s t ä n d e ausgehend und von dem Satze, daß +sich alle Methoden nach der Natur, der Gegenstände zu richten haben +(und nicht die Gegenstände nach Methoden), einen wahren Ausgleich +zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Interessenrichtungen und +methodischen Denkrichtungen herbeizuführen, die Wissenschaften auf dem +Boden einer selbständigen philosophischen und allseitigen +Erkenntnistheorie zu ordnen und in gegenseitige fruchtbare Beziehung zu +setzen. Sie hat nach wie vor zwar nicht eine die Einzelwissenschaften +erdrückende Despotin wie zur Zeit Hegels zu sein, noch weniger aber +ihre Dienerin, sondern "Königin" in jenem legitimen letzten Sinn, der +die wohlerworbenen Rechte der Fachwissenschaften von einem eigenen, +eben nur philosophischen Standpunkt aus s e l b s t ä n d i g würdigt +und achtet und sie für das Ganze unseres Weltbegriffes und unserer +Weltanschauung fruchtbar macht. Die Philosophie des 17. und 18. +Jahrhunderts, die Philosophie des Descartes und Leibniz vermochte +gerade darum so häufig auch den Einzelwissenschaften R i c h t u n g zu +geben und ihnen fruchtbare Anregung zu erteilen, weil sie im engen +Konnex mit den Wissenschaften (und nicht losgelöst von ihnen, wie +unsere Literatenphilosophie) sich nicht einseitig damit zufrieden gab, +bloß zu formulieren, was die "Voraussetzungen der Einzelwissenschaften" +seien und welche Methoden sie selbst anwenden. Die gegenwärtige +Überwindung der Galilei-Newtonschen Naturansicht durch die vier großen +naturwissenschaftlichen philosophischen Fermente unserer Zeit die +Elektronentheorie, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Plancksche +Quantentheorie und die positiv-wissenschaftlichen und neuvitalistischen +Versuche, den Organismus mit übermechanischen Agenzien zu erklären, +sollten J e d e m zeigen, was aus einer Philosophie werden muß, die +nur objektiv logische Voraussetzungen einer fälschlich verabsolutierten +Wissenschaftsstufe zu suchen pflegt. Sie hört mit der Überwindung +dieser Wissenschaftsstufe eben auf, irgendeine Bedeutung zu haben. Nur +dann, wenn die Philosophie einen e i g e n e n G e g e n s t a n d +und eine e i g e n e Methode besitzt allen einzelnen Seinsgebieten +gegenüber, die als solche auch die positiven Wissenschaften erforschen, +wird sie mehr sein können als die bloße Eule der Minerva der positiven +Wissenschaft; und nur, wenn sie die S a c h e n selbst, nicht nur die +Wissenschaft über die Sachen als bloße "Erkenntnislehre" sich zum +Gegenstand setzt (freilich mit Einschränkung auf ihr daseinsfreies +Wesen, ihre e s s e n t i a), kann sie der positiven Wissenschaft auch +geben, anstatt bloß von ihr zu nehmen.</p> + +<p>In Hinsicht auf einen dritten Gegensatz, der auch die gegenwärtige +Philosophie noch unabhängig von einzelnen Sachproblemen bestimmt, +nämlich dem Gegensatz der religiösen Traditionen (katholische und +protestantische Philosophie), ist das Erfreuliche zu vermelden, daß +dieser Gegensatz, der streng genommen in der Philosophie überhaupt +keinerlei Rolle zu spielen hätte, auch tatsächlich stark zurückgetreten +ist. Kant und seine von der Theologie ausgegangenen spekulativen +Nachfolger hatten der deutschen Philosophie einen, geschichtlich +gesehen, einseitigst protestantischen Charakter erteilt. Die +katholische Philosophie oder, besser gesagt, die Philosophie des +katholischen Kulturkreises ging, abgesehen von ganz wenigen +Erscheinungen der Romantik (z. B. Franz Baader, Deutinger, +Froschammer), ihre Wege völlig für sich, und es bestand bis vor kurzem +keinerlei tiefere Berührung zwischen den Forschergruppen beider +Konfessionen. Der von der Enzyklika "Aeterni patris" im Jahre 1897 von +Leo XIII. angeregte Neuthomismus, der durch die Löwener Schule des +belgischen. Kardinals Mercier auch eine für die modernen +wissenschaftlichen Probleme etwas geöffnetere Form erhielt, hat den +Gegensatz der philosophischen Richtungen beider Kulturkreise für viele +Jahre hin noch erheblich gesteigert. Und je mehr die deutsche +Philosophie sich durch Kant einseitig bestimmt erwies und die Weisungen +Leos XIII. (der wohl an erster Stelle an eine einheitliche +philosophische Unterweisung der P r i e st e r gedacht hat und, wie er +selbst auf die Frage der Franziskaner versicherte, keineswegs das +thomistische System zur allverbindlichen Norm für alle philosophischen +Studien erheben wollte) gegen die Absichten des großen Papstes wie eine +Art Dogmatisierung der thomistischen Philosophie interpretiert wurden, +desto schärfer und unüberbrückbarer wurde der Gegensatz. Von den +älteren deutschen Philosophen vermochten nur H e r b a r t in seiner +Schule gläubige Anhänger beider Konfessionen zu vereinigen (z. B. Otto +Willmann). Dieser Zustand hat sich in der Gegenwart weitgehend +verändert. Besonders durch die direkten und indirekten Einflüsse Franz +Brentanos und des von E. Husserl wiederentdeckten großen Logikers +Bolzano, die beide noch in starker geistiger Kontinuität mit den großen +Geistern der Scholastik philosophierten; ferner durch Husserl und die +von ihm angeregten Forscher; endlich auch durch den starken Abbau des +erkenntnistheoretischen Idealismus und durch das Wiedererwachen des +erkenntnistheoretischen Realismus ist ein erfreulicher Denkverkehr +zwischen den Philosophen der beiden Konfessionen in Gang gesetzt +worden. Auch der Einfluß der österreichischen Philosophie (besonders +Martys, Meinongs) auf die deutsche hat in den letzten Jahrzehnten stark +zugenommen. Über die stärkere und lebendigere Berührung der Philosophen +beider Konfessionen auf metaphysischem und religionsphilosophischem +Gebiet wird im einzelnen später noch zu berichten sein. Dagegen hat der +Einfluß der naturalistischen und freidenkerischen Weltanschauungsformen +auf die Philosophie (die ja nicht minder wie Katholizismus und +Protestantismus im 19. Jahrhundert längst "Tradition" geworden sind) in +der Philosophie der Gegenwart stark abgenommen. Haeckels und seiner +Gesinnungsgenossen Philosophie hat in Deutschland nur in den M a s s e +n, nie unter den eigentlichen Philosophen irgendwelche Bedeutung +erlangt. Aber auch weit höher gerichtete und freiere Formen der +naturalistischen Philosophie haben heute an Bedeutung stark verloren. +Die Ostwaldsche Energetik, die in ihrem naturwissenschaftlichen Teile +durch die moderne Atomistik wieder vollständig verdrängt ist, hatte für +die theoretische Philosophie bedeutende Folgen nicht entwickelt. Der +Positivismus, der aus Frankreich und England in gewissen Ausläufern +auch zu uns gekommen war (E. Mach, Avenarius, Ziehen), zählt noch +einige Anhänger, auf die wir später zurückkommen; er mußte aber der +erkenntnistheoretischen realistischen Lehre und der dem Sensualismus +und der Assoziationspsychologie ganz entgegengesetzten +Entwicklungsrichtung der modernen Psychologie mehr und mehr weichen.</p> + +<p>Die gegenwärtige Philosophie enthält zu einem großen Teile die +Entwicklungsstadien des 19. Jahrhunderts noch als gegenwärtige +Schichten in sich. Das gilt an erster Stelle von den Nachwirkungen +älterer philosophischer S y s t e m e. Wir wollen, von den ältesten +Schichten beginnend, die gegenwärtige Philosophie nunmehr betrachten, +um, von ihnen fortschreitend, bei den neuesten Versuchen zu endigen.</p> + +<p>Eines geringen Anhangs und einer steigend geringen Achtung auch bei +der heute philosophierenden Jugend erfreut sich der naturalistische +Monismus, der geschichtlich an die Zeit von Ludwig Büchners "Kraft und +Stoff" (das von 1854 bis 1904 21 Auflagen erlebte) anknüpft. Gleichwohl +muß dieses System hier genannt werden, nicht um seiner inneren +Bedeutung willen, sondern weil es durch seine kaum abzuschätzende +Verbreitung weniger in der deutschen Arbeiterschaft als im kleinen +Mittelstand eine große Wirkung auf das deutsche Geistesleben gehabt +hat. E r n s t H a e c k e l s "Welträtsel" waren bereits in den +Jahren 1899 bis 1914 in mehr als 300 000 Exemplaren verbreitet und in +24 Sprachen übersetzt. Der deutsche Geist war im Ausbau der +naturalistischen Philosophie zu allen Zeiten wenig produktiv; während +in Frankreich und England die naturalistische Philosophie mit +schärfstem Geist und der Form nach in strenger wissenschaftlicher +Methode von Männern vertreten wurde, die, meist auf der Höhe der +sozialen Stufenleiter stehend, sie in weltmännischer Form und nicht +unbedeutendem Stil vertraten, ist der deutsche Materialismus und +Monismus meist überaus grob, borniert und unwissenschaftlich gewesen. +Seine Vertreter waren meist (wie schon Karl Marx bemerkt hat) +"kleinbürgerliche", in Stil und Lebensform untergeordnete, +philosophisch dilettierende Ärzte und Naturforscher, die ohne Kenntnis +der Geschichte des europäischen Denkens und ohne Überschau über den +Kosmos der Wissenschaften, aus der Ecke ihrer zufälligen Interessen +herauß sogenannte "Konsequenzen der Naturwissenschaft" zogen. Diese +Charakteristik gilt auch für den wirksamsten Vertreter dieser Richtung, +Ernst Haeckel (geb. 1834). Seine "Welträtsel" (1899) und seine +"Lebenswunder", zuletzt sein Buch über Kristallseelen sind +philosophisch so gut wie wertlose Erzeugnisse. Mit Recht sagte Fr. +Paulsen in einer Rezension der "Welträtsel", die in den "Preuß. +Jahrbüchern" erschien: "Ich habe mit brennender Scham dieses Buch +gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der +philosophischen Bildung unseres Volkes." Nicht minder scharf war das +Urteil, das E. Adikes mit den Worten fällte: "Haeckel ist eben durch +und durch Dogmatiker; darin steht er mit Büchner auf einer Stufe; als +Naturforscher überragt er ihn weit, als Philosophen sind beide völlige +Nullen." Der russische Physiker Chwolson zeigte in einer besonderen +Schrift, wie völlig unfähig Haeckel war, auch nur den Sinn der +einfachsten Grundsätze der theoretischen Physik, wie z. B. des Satzes +von der Erhaltung der Energie oder gar des zweiten Wärmesatzes (den er +einfach "verwirft") zu verstehen. Der bekannte Ameisenforscher Wasmann +hat in einer besonderen Schrift, "Haeckel als Kulturgefahr", auch seine +entwicklungstheoretischen Leistungen genügsam gekennzeichnet.</p> + +<p>Über den sachlichen Inhalt seiner Philosophie hier noch einmal zu +sprechen, fehlt jeder Anlaß[1].</p> + +<blockquote> [1] Vgl. neben den genannten kritischen Werken O. +Külpe:</blockquote> +<blockquote> "Philosophie der Gegenwart", 6. Aufl., und A. +Messner:</blockquote> +<blockquote> "Philosophie der Gegenwart" (1918).</blockquote> + +<p>In Form eines Versuches der Zurückführung alles Wirklichen mit +Einschluß des organischen Lebens, des Seelenlebens und der geistigen +Tätigkeiten auf letzte qualitative Grundarten der E n e r g i e und +ihre Umwandlungsformen vertrat Wilhelm Ostwald (geb. 1855), Professor +der physikalischen Chemie, den naturalistischen Monismus. Seine +Vorlesungen über "Naturphilosophie" waren, soweit es sich um die +Philosophie der anorganischen Natur handelt, überaus anregend. Ostwald +versuchte, den Begriff der Materie völlig auszuschalten. Die Masse der +Mechanik ist ihm nur ein Kapazitätsfaktor der mechanischen Energie, der +gleichgeordnet eine Wärme, ein Licht, eine Gestalt, eine magnetische +und elektrische, eine chemische und psychische Energie zur Seite +stehen. Diese Energie a r t e n sind nicht, wie es die +atomistisch-mechanische Naturansicht wollte, aufeinander +zurückzuführen; sie sind ähnlich wie in der qualitativen Elementarlehre +des Aristoteles letzte Gegebenheiten, die nur in formal quantitativen +Austauschbeziehungen zueinander stehen. "Alles, was wir Materie nennen, +ist Energie; denn sie erweist sich als ein Komplex von Schwereenergie, +Form und Volumenenergien, sowie chemischen Energien, denen Wärme- und +elektrische Energien in veränderlicher Weise anhaften." Trotzdem +verfiel Ostwald in den Irrtum, die Energie, einen bloßen dynamisch +interpretierten Beziehungsbegriff, selbst zu einer Substanz zu +hypostasieren. Nicht minder war es vollständig unbegründet, auch das +Psychische in die Energiearten einzureihen, obgleich ihm die +Grundvoraussetzung, als natürliche Energieart zu gelten, die +Meßbarkeit, fehlt und der ichartige monarchische Aufbau der +Bewußtseinserscheinungen im Widerspruch zu dieser Auffassung steht. +Völlig ungelöst blieb auch das Problem des organischen Lebens, ebenso +ungelöst wie innerhalb der mechanischen Lebenslehre. Aber auch +innerhalb des Anorganischen bewährte sich die Energetik auf die Dauer +nicht. Die Kritik, die insbesondere Boltzmann und W. Wundt an den +"Vorlesungen" geübt haben, ist durch die Entwicklung der +Naturwissenschaften, insbesondere durch den glänzenden Sieg der +Atomistik und der mechanischen Wärmelehre durchaus bestätigt worden. +Ganz und gar unzureichend aber sind de Versuche Ostwalds gewesen (s. +bes. "Philosophie der Werte"), die Probleme der Ethik, der +Gesellschaft, der Zivilisation und Geschichte auf dem Boden der +"Energetik" zu verstehen. Daß an die Stelle des kategorischen +Imperativs der [sic] energetische Imperativ: "Vergeude keine Energie, +verwerte sie" treten soll, mutet fast wie ein schlechter Scherz an. Und +nicht minder mutet so an eine Erklärung, die Ostwald auf dem Hamburger +Monistenkongreß von 1911 gibt, in der es heißt: "Denn alles, was die +Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in den +Begriff /Gott/ zusammengedrängt hatte, wird uns von der Wissenschaft +erfüllt." Ostwalds rein technologische Betrachtung der Weltgeschichte, +die, der deutschen Organisationssucht ein philosophisches Mäntelchen +umhängend, jede geschichtliche Aufgabe zu einer "Organisationsaufgabe" +macht, ist so kindlich, daß sie eine Kritik kaum verdient; nicht minder +seine Meinung, das ästhetische Gefühl und die Kunst hätten nur soweit +Bedeutung, als sie der wissenschaftlichen Arbeit Pionierdienste +leisten, und es werde darum bei reifender Wissenschaft die Kunst einmal +völlig aus der Welt verschwinden. In der Soziologie hat Ostwald einen +ernsten Schüler gehabt, de noch stark in die Gegenwart hineinwirkt. Es +ist der Wiener Soziologe und Vorsitzende des Österreichischen +Monistenbundes R u d o l f G o l d s c h e i d. Sein Werk über +"Höherentwicklung" und "Menschenökonomie" hat sowohl der +Bevölkerungslehre wie der Sozialpolitik reiche und wertvolle Anregungen +vermittelt, wenn auch sein einseitig durchgeführter Versuch, den +Menschen selbst (ähnlich wie in der Sklavenwirtschaft) rechnungsmäßig +als bloßen Wirtschaftswert einzustellen und eine möglichst sparsame +Verwendung dieses "Wertes" zu fordern, soziologisch unhaltbar ist. Eine +Auflösung der Ethik in Ökonomie hat Goldscheid nie versucht. Ein +bedeutender Vertreter des Monismus, der auch in der Gründung und +Entwicklung des Monistenbundes eine große Rolle gespielt hat, war der +kürzlich verstorbene Wiener Psychologe und Ethiker Friedrich Jodl. +Sowohl sein "Lehrbuch der Psychologie" wie vor allem seine +großangelegte "Geschichte der Ethik" sind wertvolle und anregende +Bücher, wenn sie auch in einseitiger Weise allen freidenkerischen und +antikirchlichen Bestrebungen einen ihnen auch wissenschaftlich nicht +zukommenden überragenden Wert beilegen. Wie sehr die ganze +philosophische Richtung des Monismus von p o l i t i s c h e n, d. h. +außerphilosophischen Tendenzen beherrscht ist, beweist ihr am 1. Januar +1906 erfolgter Zusammenschluß zu der Organisation des "Deutschen +Monistenbundes". Ostwald schloß den ersten Hamburger Kongreß mit dem +Satze: "Ich eröffne das monistische Jahrhundert"; sein +Ehrenvorsitzender war E. Haeckel, sein Vorsitzender der Bremer Pastor +Albert Kalthoff, der, stark von Nietzsche angeregt, an den +Junghegelianer Bruno Bauer anknüpfend, die historische Existenz Christi +in seinen Schriften geleugnet hatte, und in loser Berührung mit den +linksliberalen Pastoren Jatho und Traub den christlichen Kirchen eine +scharfe Kampfansage stellte. Wider den Monismus gründete [sic] dann im +Jahre 1907 der Kieler Naturforscher J. Reinke und E. Dennert den +sogenannten "Keplerbund", der sich umgekehrt die Aufgabe setzte, die +Vereinbarkeit der modernen Naturwissenschaft mit der theistischen +Weltanschauung zu erweisen. Sehr mit Unrecht ist die Verbreitung der +monistischen Weltanschauung häufig der Sozialdemokratie und ihren +Führern zugeschrieben worden. Geistesgeschichtlich ist diese Auffassung +grundfalsch. Die Führer des Monismus standen politisch zumeist den +nationalliberalen Anschauungen sehr nahe (z. B. Haeckel selbst), und +bei vielen von ihnen findet sich sogar eine ausgeprägte alldeutsche +Tonart. Wie tief Karl Marx und Engels auf den Materialismus des +deutschen Kleinbürgertums herabblickten, ist aus ihren Äußerungen +genugsam bekannt.</p> + +<p>Während die monistische naturalistische Denkrichtung eigentlich nur +kulturhistorisches und für die deutsche Mentalität vor dem Kriege +bestimmendes Interesse bietet, sind die anderen heute noch lebendigen +philosophischen Systeme auch rein philosophisch von Bedeutung. Das gilt +gleich sehr von der Wirkung Fichtes, Hegels und Schellings wie von +jener Lotzes, Fechners, E. von Hartmanns, R. Euckens und W. Wundts. +Diese Systeme können hier nicht geschildert werden: nur was sie für die + g e g e n w ä r t i g e Philosophie als mitbestimmende Momente noch +bedeuten, sei kurz erwähnt. Die geringste Wirkung von all den Genannten +hatte merkwürdigerweise in Deutschland der zeitlich nächste letzte +große Systematiker der deutschen Philosophie, Wilhelm Wundt. Als +Darstellungen seines Systems sind empfehlenswert O. Külpe in der +"Philosophie der Gegenwart", E. König: "W. Wundt", 1909 und R. Eisler: +"Wundts Philosophie und Psychologie", 1902. Ein Grund für die geringe +Wirkung des ausgezeichneten Forschers und Gelehrten in der Philosophie +mag darin gelegen sein, daß seine Erkenntnistheorie und seine +Metaphysik beiderseits an großer Vagheit und Unbestimmtheit leiden, das +Ganze seiner Philosophie aber trotz seiner Überladenheit mit +Gelehrsamkeit etwas überaus Farbloses und Blutloses besitzt. Auch ein +häufiges Schwanken (z. B. zwischen Idealismus und Realismus in der +Erkenntnistheorie, zwischen psychophysischem Parallelismus als +metaphysischer Hypothese und methodologischer Maxime, zwischen +Relativismus und Absolutismus in der Ethik, Theismus und +Willenspantheismus in der Lehre vom Weltgrund) mag gleichfalls zu +dieser Unwirksamkeit beigetragen haben.</p> + +<p>R u d o l f E u c k e n, der schon an der Grenze steht zwischen +wissenschaftlicher Philosophie und jener früher charakterisierten +philosophischen Erbauungsliteratur, hat eine weit stärkere Wirkung als +Wundt entfaltet sowohl in Deutschland, wie im Auslande; ein deutliches +Zeichen davon ist in letzterer Hinsicht der Nobelpreis. Dieser Denker +ist von gleichbedeutenden Kritikern sehr verschieden beurteilt worden. +Die einen sehen in der Verbindung von Prediger, Metaphysiker und +Forscher, von homo religiosus und Denker, die Eucken darstellt, etwas +besonders Wertvolles und weisen hin auf den reichen intuitiven Gehalt +seines Werkes; die anderen beklagen den Mangel an Anatomie in seinen +Gedanken, die Unverbundenheit seiner Philosophie mit den +Wissenschaften, die unmethodische Art seines Denkens und die große +Unbestimmtheit und Vagheit des eigenartigen persönlichen Stiles seiner +Darstellung. Mögen beide in gewissem Maße recht haben, so kommt Eucken +vor allem das entschiedene V e r d i e n s t zu, in einer Zeit, da +die Philosophie zu einer bloßen Anmerkung zu den positiven +Fachwissenschaften zu werden drohte, ihre Ansprüche festgehalten zu +haben, eine Metaphysik und gleichzeitig eine den Menschen formende +Lebensanschauung zu geben. Ausgegangen von F. A. Trendelenburg (gest. +1872), eine Zeitlang auch Schüler Lotzes, hat Eucken mit starker +Anknüpfung an Fichtes Tatidealismus seinen "Idealismus des +Geisteslebens" zu begründen unternommem. Sein bedeutendstes Werk +(leider am wenigsten gelesen) ist das 1888 erschienene "Die Einheit des +Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit" in dem er seine +personalistisch-theistische Philosophie nicht durch Sachuntersuchungen +der philosophischen Probleme, sondern aus einer Kritik des Panlogismus +Hegels und des Naturalismus hervorwachsen läßt. In den +"Lebensanschauungen der großen Denker" und der "Geistigen Strömungen +der Gegenwart" (ursprünglich "Grundbegriffe der Gegenwart"), die der +wissenschaftlichen Philosophie noch am nächsten stehen, nimmt er aus +der Geschichte der Philosophie das wesentlich "Lebensanschauliche" +heraus und legt es im Sinne seiner Philosophie aus. Die Bücher "Der +Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", "Der Wahrheitsgehalt der +Religion", "Erkenntnis und Leben" und "Grundlinien einer neuen +Lebensanschauung" wiederholen in immer neuen Wendungen dieselben +Grundgedanken. Das Wertvolle dieser Gedanken ist weniger in ihrer sehr +mangelhaften theoretischen Begründung gelegen als in ihrer das +Bewußtsein der Selbständigkeit des Geistes trotz aller tiefempfundenen +und in der endlichen Erfahrung unlösbaren Konflikte des menschlichen +Daseins energisch aufweckenden Kraft. Eucken war in einem überwiegend +praktisch-materialistischen Zeitalter einer der stärksten S e e l e n e +r w e c k e r, die Deutschland besessen hat. Reinsten germanischen +Blutes (Friese), besitzt er in seltener Weise Vorzüge und Fehler des +germanischen Geistes: eine ahnungsvolle Intuition übersinnlicher +Realitäten, ein energisches Festhalten dieser Realitäten inmitten +tiefst empfundener Widerstände der "Welt" gegen die Verwirklichung der +geistigen Forderungen; aber auch alle Vagheit und Nebelhaftigkeit, +Unbestimmtheit und Dunkelheit nordischen Geistes. Das "Geistesleben", +das bei ihm zwischen historischer Realität und metaphysischer Potenz +eigenartig in der Mitte schwebt, wird von dem natürlichen Seelenleben, +das der Mensch mit dem Tiere teilen soll, scharf unterschieden. Es soll +in "noologischer Methode" (eine eigentümliche Erweiterung der Methode +Kants) nicht durch Introspektion, sondern an seinen W e r k e n und +Systemen des Lebens ("Syntagmen") studiert werden. Es soll nicht nur in +jeder Einzelseele, sondern auch in den großen kollektiven Gruppen der +Geschichte als selbständig tätig aufgefaßt werden. Trotzdem soll es in +scharfem Gegensatz zum Hegelschen Panlogismus nur durch tätige +Ergreifung des Einzelmenschen diesen zur "Persönlichkeit" und zur +"Wesensbildung" erhöben. So ist Eucken im letzten Grunde mehr +theistischer Personalist als Pantheist, obgleich eine starke +pantheistische Ader seine Philosophie durchzieht. Mit Methoden, die +denen Pascals in den "Pensées" ähnlich sind, sucht Eucken mit starker +Heranziehung dessen, was er für den relativen Wahrheitsgehalt der +naturalistischen und pessimistischen Systeme hält, zu zeigen, daß +dieses "Geistesleben" in der Welt verloren und in letzter Linie +bedeutungslos ist, wenn es nicht aus einem geistigen W e l t g r u n d +e immer neu schöpferisch herströmend und in die Menschenseelen +einquellend verstanden und geschaut wird. Während die ältere +Philosophie die Vernunft des Menschen zum Reiche der "Natur" rechnete +und ihr das Reich der "Übernatur", der "Gnade" entgegensetzte, wird die +zum Geistesleben erweiterte Vernunft des Menschen bei Eucken selbst +etwas "Übernatürliches". Das macht den g n o s t i s c h e n +Charakter der Euckenschen Philosophie aus, die Religion und Metaphysik +in einem für sie beide unstatthaften Sinne vermischt.</p> + +<p>Die Philosophie Fechners, der durch seine Begründung der +Psychophysik neben Wundt als der eigentliche Begründer der +Experimentalpsychologie gelten muß, hat auf die gegenwärtige +Philosophie eine nur geringe Wirkung ausgeübt. Sein Versuch, die +Empfindung als psychische Größe nachzuweisen und sie durch die Einheit +des eben merklichen Empfindungsunterschiedes zu messen, ist sowohl nach +seinen methodologischen Voraussetzungen als nach seiner psychologischen +Voraussetzung hin (man könne die Empfindung unabhängig von den +Aufmerksamkeitsschwankungen überhaupt im Bewußtsein vorfinden) fast +allgemein zurückgewiesen worden. Stark wirkte zeitweise seine Lehre vom +psychophysischen Parallelismus, die, wie wir noch sehen werden, +freilich in der Gegenwart gleichfalls an Einfluß stark verloren hat. +Seine eigentliche Metaphysik der "Tagesansicht" und der Allbeseelung +hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die ihr meines +Erachtens innewohnt. Auch die nächststehenden Forscher, wie Ebbinghaus +und Wundt, haben diese Seiten seiner Philosophie meist als bloße +"Poesie" und Begriffsdichtung abgelehnt. Was allein bis heute einen +Einfluß ausübt, ist der auch von E. von Hartmann aufgenommene Gedanke +einer "induktiven Metaphysik". Sie beruht bei Fechner auf den beiden +Grundsätzen, daß, was in einem Teile der Welt als unauflösbare Grundart +des Seienden enthalten ist, auch im Ganzen enthalten sein müsse +(Mikrokosmos- und Makrokosmoslehre), und daß wir vermittels der Analogie +in der Lage seien, unser Wissen über das unmittelbar und mittelbar in +der Erfahrung Gegebene kontinuierlich zu erweitern. Diesen Gedanken +haben auch viele moderne Metaphysiker, so Külpe, Driesch, Stern, +Becher, Scheler und andere, aufgenommen. Eine starke Wirkung hatte +Fechners teleologische Ganzheitsbetrachtung der E r d e als des +besonderen Leibes und Ausdrucksfeldes einer Erdseele in der modernen +Geographie. In diesem Sinne sind Ratzels Arbeiten und noch mehr die +gegenwärtigen Arbeiten des Wiener Kulturgeographen Hanslick stark von +Fechner beeinflußt. Wie immer man über Fechners Resultate urteilen mag, +es muß als eine recht unerfreuliche Tatsache bezeichnet werden, daß die +stets tiefsinnigen und sinnreichen Betrachtungen dieses seltenen +Geistes, die dazu in Stil und Ausdruck für weitere Kreise der +Gebildeten geschrieben sind, so sehr wenig gelesen werden. Daß ein +Haeckel so viel und ein Fechner so wenig in Deutschland gelesen wurde, +ist eine für die Mentalität des deutschen Volkes vor dem Kriege recht +charakteristische Tatsache.</p> + +<p>Hermann Lotze (1817-1881) wirkt in die Gegenwart insbesondere nach +zwei Richtungen herein: einmal durch seine "Logik" (auch in der +"Philosophischen Bibliothek" erschienen 1912), deren Kapitel "Über die +platonische Ideenlehre" auf die neukantischen Schulen und auch auf +Husserl stark gewirkt hat, und durch seine Lehre von der +psychophysischen Wechselwirkung. Außer diesen beiden Bestandteilen +seiner Philosophie und abgesehen von seinen Wirkungen auf die +Psychologie (besonders seine Theorie der Lokalzeichen) hat nur noch der +metaphysische Gedanke Lotzes eine stärkere Wirkung geäußert, daß eine +Wechselwirkung zwischen einer Vielheit von Dingen nur möglich sei, wenn +ein und dasselbe ganze, aber von ihnen unterschiedene Seiende, in allen +gemeinsam tätig und von allen gemeinsam reizbar sei. Diesen Gedanken +hat z. B. auch Driesch in seine "Wirklichkeitslehre" aufgenommen. +Lotzes großes geschichtsphilosophisches Werk "Mikrokosmos" (5. Auflage +1909) hat wohl wegen seines allzu gewundenen ziselierten und koketten +Stiles nicht die Wirkung geübt, die ihm vermöge seines Gedankengehaltes +zugekommen wäre. Für den Fortschritt einer Philosophie der Biologie +waren Lotzes Artikel über "Lebenskraft" und über "Seele und +Seelenleben" in Wagners "Handwörterbuch der Physiologie" in denen er +für Physiologie und Biologie eine strenge Durchführung der +mechanistischen Methode fordert (um dann erst dem Ganzen des +Weltmechanismus hinterher eine ideale und teleologische Bedeutung zu +geben), nach meiner Ansicht starke Hindernisse. Sie gaben der in +unserem Lande besonders stark verbreiteten mechanistischen +Lebensauffassung, besonders bei den Naturforschern, ein gutes Gewissen +— das eine aufrichtige und genaue Betrachtung der Tatsachen nicht +im entferntesten gerechtfertigt hätte. Die stark kokette und süßliche +Christlichkeit Lotzes konnte in religiöser und theologischer Hinsicht +tiefere Geister nicht gewinnen. Immerhin haben insbesondere seine Lehre +von Wert und Werturteil auf die Ritschlsche Theologie und Dogmatik +stark eingewirkt, wenn sie sich freilich hier auch meist mit +neukantischen und positivistischen Voraussetzungen verbanden. In der +Ästhetik endlich wurde Lotze durch seine Lehre von der "Einfühlung" +auch auf die letzten bedeutenden Einfühlungsästhetiker der Gegenwart, +auf Lipps und Volkelt, erheblich wirksam.</p> + +<p>Die einzige Persönlichkeit, deren geistige Spannweite alle +philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfaßte und dazu alle +Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr +System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden +inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der einseitigen +Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht hat, war E d u a +r d v o n H a r t m a n n (1842-1906). Es ist eine der merkwürdigsten +Tatsachen in der deutschen Geistesgeschichte, daß dieses reifste, +durchdachteste, alle Wissensgebiete und die Religion umfassendste +Gedankensystem, welches die zweite Hälfte des Jahrhunderts überhaupt +hervorbrachte, nach anfänglichem Tageserfolg der "Philosophie des +Unbewußten" (1869) auf die wissenschaftliche Philosophie zunächst kaum +eine Wirkung ausgeübt hat. Der große Denker versuchte vergebens, einen +Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten. Gewiß besteht der Grund +nicht nur in der allgemeinen Metaphysikscheu der Zeit und der +einseitigen Herrschaft neukantischer und positivistischer Richtungen; +ein Teil der Gründe liegt auch in der Eigenart der Philosophie +Hartmanns und der Persönlichkeit ihres Urhebers selbst. Bei aller Kraft +logischer Organisation großer Stoffmassen, bei all seinem ungeheueren +Wissen und seiner Gelehrsamkeit gebrach dem Forscher ein unmittelbares +originäres Verhältnis zur Welt. Seine Philosophie ist mehr eine überaus +kunstvolle Verbindung von philosophischen Gegebenheiten (Schelling, +Hegel, Schopenhauer, Lotze, moderne Naturwissenschaft und Psychologie) +als ein neues Wort. Darin bildet er den größten Gegensatz zu +Schopenhauer, der an logisch-synthetischer Kraft ihm weit unterlegen +ist, aber, wie er selbst an seinen Verleger schrieb, den unmittelbaren +"Eindruck", den die Welt auf ihn gemacht, in seiner Philosophie schon +als Jüngling wiedergab. Auf Hartmanns System kann hier nicht +eingegangen werden. Sein in Karlsruhe lehrender Schüler Arthur Drews +hat die beste Darstellung von ihm gegeben: die bekannten, von Hartmann +selbst verfaßten "Grundrisse" führen am besten in es ein. Um so +merkwürdiger ist es nun aber, daß die g e g e n w ä r t i g e +Philosophie begonnen hat, die großen Werte auszuschöpfen, die in seinem +Werke zweifellos vorhanden sind. Abgesehen von den bedeutenden +Leistungen seines Schülers A. Drews und einigen Antrieben, die er dem +vielversprechenden Leopold Ziegler gegeben hat (vor kurzem hat sich +dieser freilich in einer kritischen Schrift, "Hartmanns Weltbild", ganz +von Hartmann abgewandt, indem er, ohne dem Denker gerecht zu werden, +seine Lehre sehr einseitig an den Ansichten Rickerts mißt), hat sich W. +Windelband für die Bedeutung Hartmanns eingesetzt. Besonders ist es +seine "K a t e g o r i e n l e h r e", sein subtilstes und gewaltigstes +Werk, das sowohl auf Windelband als auf Rickerts Schüler, E. Lask, +stark gewirkt hat. Die Unterscheidung der "Reflexionskategorien" von +den "Spekulativen Kategorien" die Unterscheidung ferner der drei +Wirklichkeitssphären, der phänomenalen, objektiv realen und +metaphysischen Sphäre, die Auffassung, daß die Relationskategorie der +Ausgangspunkt der Ableitung a l l e r Kategorien sein müsse, die +Ansicht, daß die Kategorien die Ergebnisse unterbewußter synthetischer +Kategorialfunktionen seien, die nur in ihrem Ergebnis in das Bewußtsein +hereinfallen (ihr hat sich auch G. Simmel in seinem Kantbuch +angeschlossen), hat stark auf die Kategorienlehre der Gegenwart +eingewirkt. Ferner erscheint Hartmann als einer der ersten Vorkämpfer +des nunmehr siegreich vordringenden erkenntnistheoretischen R e a l i s +m u s gegenüber allen Formen des Bewußtseinsidealismus. Hier war es +besonders J. Volkelt, der in seinen Arbeiten "Über Erfahrung und +Denken" und "Die Probleme menschlicher Gewißheit" die Hartmannsche +Auffassung übernommen hat, daß unsere überall diskontinuierliche und +durchbrochene, rein passive Bewußtseinswelt durch die Realsetzung einer +außerbewußten Natur und die Setzung unter- und unbewußter psychischer +Seins- und Wirksphären gedanklich ergänzt werden müsse, um einen +rationellen Zusammenhang zu bilden. So wenig ich diese Richtung der +Begründung des Realismus für aussichtsreich halte, scheint mir der +gegenwärtige Gang zum Realismus doch von diesen Vorkämpfern stark +abhängig. Auf den heute ungemein wirksamen Denker Hans Driesch hat E. +von Hartmann in mehreren Richtungen eingewirkt: 1. mit durch Volkelts +Vermittlung in erkenntnistheoretischer Hinsicht; 2. in der Auffassung, +daß es keine b e w u ß t e n "Akte und Tätigkeiten" gebe, diese +vielmehr zu dem rein passiven Bewußtseinsinhalt erst hinzu erschlossen +seien (siehe Driesch: "Erkennen und Denken"); 3. in der Lösung des +Problems der möglichen Koexistenz der mechanischen Zentralkräfte und +Gesetze mit Gestalt und Richtung bestimmenden, mechanischen, unbewußten +Oberkräften, durch deren Annahme der gewöhnliche Naturbegriff zwecks +Erklärung der Lebenserscheinungen eine Erweiterung erfährt; 4. auch +Hartmanns Lehre, daß es einen Parallelismus zwischen bewußten +seelischen Erscheinungen, erschlossenen seelischen Tätigkeiten und den +die organischen Formen und die Bewegungsreaktion der Organismen +bestimmenden Tätigkeiten der vitalen Oberkräfte gebe, ist von Driesch +und in einiger Modifikation auch von dem Referenten übernommen worden. +Auch die gegenwärtige starke Bewegung zu einer r e a l i s t i s c h e +n P s y c h o l o g i e im Unterschiede von bloßer +Bewußtseinspsychologie (Külpe, Scheler, M. Geiger, Driesch, in gewissem +Sinne auch S. Freud, W. Stern) ist zuerst in E. von Hartmanns Lehre in +die Erscheinung getreten. Wesentliches von Hartmann übernommen hat +ferner auch W. Stern in seinen originellen und zukunftsreichen Arbeiten +"Person und Sache" und "Die menschliche Persönlichkeit". Besonders in +der Annahme psychophysisch indifferenter zieltätiger Kausalfaktoren, +die sich gleichzeitig in den physiologischen Vorgängen und Reaktionen, +wie in den Bewußtseinsprozessen auswirken, steht Stern Hartmann nahe. +Die methodische Auffassung der Metaphysik als induktiver und nur +wahrscheinlichen Erkenntnis, die nur gradweise über die Realsetzungen +der positiven Wissenschaften hinausgeht und das falsche Idol, gegen das +Kant kämpft, das Idol einer absolut gewissen und apriorischen +Begriffsmetaphysik, verwirft, hat unter den gegenwärtigen Metaphysikern +viele Anhänger. Die naturphilosophischen Lehren Hartmanns, besonders +soweit sie sich auf die anorganische Welt beziehen, sind dem heutigen +Wissensstande der Physik nicht mehr angepaßt; was aber nicht +ausschließt, daß seine Kraftzentrenhypothese, nach der aller Stoff nur +eine bewußtseinsideale Erscheinung ist, in modifizierter Form wieder zu +Ehren kommt. In der Religionsphilosophie hat Hartmann den sogenannten +"konkreten Monismus" vertreten, der dem substanzialen Weltgrund ein +logisches und alogisch-dynamisches Attribut zuschreibt, aus deren +Kooperation und Widerstreit der gesamte Weltprozeß erklärt werden soll. +Durch A. Drews sind diese Gedanken auch in die allgemeine m o n i s t i +s c h e Bewegung eingeflossen. Den Wert dieser pessimistischen, Hegel, +Schopenhauer und den späten Schelling verknüpfenden Metaphysik können +wir ebensowenig als zukunftsreich erachten, als die willkürlichen +geschichtsphilosophischen Konstruktionen Hartmanns, nach denen Paulus +der Stifter des Christentums gewesen sei, und nicht in der +Persönlichkeit Christi, sondern in den pantheistisch ausgedeuteten I d +e e n d e r Gottmenschheit und der Erlösung das eigentliche Wesen des +Christentums getroffen sei. A. Drews ist in seiner "Christusmythe" von +diesen Anregungen Hartmanns her dazu gekommen, das Christentum als eine +Schöpfung der allgemeinen Religionsgeschichte verstehen zu wollen und +die historische Existenz Jesu ganz zu leugnen.</p> + +<p>Die zweitälteste Schicht der gegenwärtigen Philosophie besteht in +den an K a n t anknüpfenden erkenntnistheoretischen Denkrichtungen. So +sehr sich nach meiner Ansicht diese Denkrichtungen in unaufhaltsamem +Niedergang befinden, nehmen sie, dem Gesetz der historischen Trägheit +folgend, doch noch einen sehr erheblichen Raum in der deutschen +akademischen Philosophie ein. Mit Ausnahme der jüngsten, der durch +Nelson erfolgten Wiedererweckung der Philosophie des Jenenser Physikers +und Philosophen Jakob-Friedrich Fries, stammen sie alle aus der Zeit, +da die deutsche Philosophie in den sechziger Jahren des vorigen +Jahrhunderts durch den Rückgang auf Kant (zuerst O. Liebmann "Zurück zu +Kant") sich wieder ein akademisches Existenzrecht zu erwerben suchte. +Es sind v i e r Hauptgruppen kantianisierenden Denkens, die unter uns +noch lebendig sind. Der neukritizistische Realismus ist besonders von +Alois Riehl vertreten worden in seinem Werk "Der philosophische +Kritizismus" und in seiner schönen und klaren "Einleitung in die +Philosophie der Gegenwart". Das "Ding an sich", das die Marburger und +Badener Schule vollständig ausscheiden, wird von Riehl als kausativer +Faktor, auf dem die Materie der Empfindung beruhen soll, festgehalten. +Unser Verstand erzeugt nicht das Sein der Gegenstände, sondern gibt nur +ihrem Gegenstandsein die apriorische Form. Die logisch-synthetische +Einheit des Bewußtseins ist nach Riehl die oberste Voraussetzung für +die Gegenstände der Erfahrung. Ihm entspricht das synthetische +Identitätsprinzip, von dem auch die Kausalität (ähnlich wie bei Herbart +und Lipps) nur eine bestimmte Anwendung auf zeitliche Geschehnisse sein +soll. Die Zeit- und Raumlehre Kants sucht Riehl mit den modernen +empiristischen Theorien der Entstehung des Zeit und Raumbewußtseins zu +versöhnen. Die O r d n u n g e n des zeitlichen und räumlichen +Auseinander und Nacheinander werden nach ihm nicht durch die +Anschauungsformen von Raum und Zeit, sondern durch die Dinge an sich +selbst bestimmt.</p> + +<p>Neben der theoretischen Philosophie, die hier ausschließlich auf +Erkenntnistheorie und Logik der exakten Wissenschaften beschränkt +erscheint, gibt es noch eine Philosophie als "Weisheits- und +Weltbegriff" die dem Menschen ein sittliches Ideal vor die Seele +stellt. Aus der praktischen Philosophie Kants hebt Riehl ausschließlich +die Autonomie der Persönlichkeit hervor, verwirft aber den +kategorischen Imperativ; nicht minder verwirft er die gesamt religiöse +Glaubens- und Postulatentheorie Kants. Metaphysisch nennt sich auch +Riehl "Monist" (kritischer Monismus), indem er annimmt, daß das +Psychische und Physische nur zwei Betrachtungsweisen ein und derselben +Wirklichkeit sind, die uns in ihrem Wesen unerkennbar ist und durch die +Religionen nur auf Grund verschiedener sittlicher Lebenserfahrungen +verschiedenartig ausgewertet wird. Riehl wirkt in der gegenwärtigen +Philosophie nur wenig mehr. Angeregt von ihm sind Hönigswald und E. +Spranger.</p> + +<p>Die weitaus w i r k s a m s t e, an bedeutenden Persönlichkeiten +reichste und vielseitigste neukantische Richtung ist auch gegenwärtig +noch die von Hermann Cohen gegründete Schule von Marburg. Hermann Cohen +(1842-1918) hat sich durch eine Reihe kanthistorischer und +kantphilologischer Schriften hindurch erst sehr langsam zu einem +eigenen, großangelegten System hindurchgearbeitet, mit dem er in seinen +drei Werken: "Logik der reinen Erkenntnis", "Ethik des reinen Willens" +und "Ästhetik des reinen Gefühls" wenige Jahre vor seinem Tode +hervorgetreten ist. Zweifellos ist Cohen der herrschende Geist der +Schule, freilich darum nicht auch derjenige, der am meisten in die +Breite gewirkt hat. Seltsame Vorzüge und Fehler vereinigte er in sich. +Auf dem Hintergrund einer patriarchalischen, ehrfurchtgebietenden +Denkerwürde, durch die allein schon er den Schüler leicht mit der +Überzeugung erfüllte, daß der Weltlogos in ihm selber und in jedem, der +ihm folge, tätig sei, hebt sich sein philosophisches Werk ab. +Talmudischen Scharfsinn verbindet er mit einer seltsamen Dunkelheit, ja +häufigen Abstrusität der Darstellung, auch in diesem Punkte dem stark +auf seine Auffassung des Ding-an-sich-Begriffes wirksamen Moses Maimon +nicht unähnlich. Aber diese beiden Eigenschaften sind nicht die +stärksten und wesentlichsten seiner Natur. Was ihn vor allen anderen +Mitgliedern der Schule auszeichnete, das war eine freilich nur +stellenweise in Vortrag und Werken hervorbrechende, Kant wahrhaft +kongeniale Plastik des geistigen Schauens und der Darstellung; eben der +Zug an Kant, der Goethe bei Lektüre der "Kritik der Urteilskraft" +veranlaßt haben mag, zu sagen, "man trete in ein helles Zimmer", wenn +man Kant lese. Dazu ging ein mächtiges, echtes und ernstes, sittliches +Pathos von ihm aus. Wenige erkannten so wie er die Niedergangszeichen +des Wilhelminischen Zeitalters, die Vergötzung von Macht und Geld, von +Nation und Staat. Die ganze Reinheit und Klarheit der Denkweise des +Kantianismus der Männer der Befreiungskriege schien in ihm, lebendig +geworden und in seiner Person vor der Zeit anklagend zu stehen. Diese +Denkweise verband sich aber merkwürdigerweise bei ihm mit einem sehr +bewußten Judaismus. Freilich mit einem Judaismus, der, auf dem Ethos +der Propheten des Alten Bundes beruhend, nicht nur alle ritualistischen +und nomistischen Elemente des Judentums, nicht nur alle mystischen und +pantheisierenden kabbalistischen Elemente die sich ihm später +ansetzten, sondern auch den historisch gegebenen Theismus von ihm +abstreiften. Die Gottesidee war Cohen nur der Garant der "Einheit der +Menschheit" und gleichzeitig ein notwendiges sittliches Vernunftideal. +Von Karl Marx und den deutschen sozialistischen Theoretikern hatte er, +ähnlich wie schon A. Lange (s. s. "Arbeiterfrage"), eine Reihe +Grundsätze in sein ethisches und soziales System aufgenommen; besonders +den von ihm aus dem Nationalen ins menschheitlich Abstrakte erhobenen +jüdischen Messianismus, nach dem alles geschichtlich Gegebene nur von +einem sittlichen Zukunftsideal her aufgefaßt und beurteilt werden kann; +das verband ihn mit Marx, der diesen Messianismus nur unter seiner +dogmatischen ökonomischen Geschichtsauffassung verhüllt hatte. Nur so +ist es zu verstehen, daß auf dem Boden des Marburger Kantianismus auch +eine neue theoretische Fassung des Sozialismus erwuchs, die besonders +von Eduard Bernstein (Revisionismus), von Paul Natorp, von Vorländer +und in manchen Kreisen der "Sozialistischen Monatshefte" vertreten +wurde. An H. Cohen schloß sich Paul Natorp an, der in seinen Schriften +die neukantische Lehre zwar weit klarer und für eine philosophische +Schulbildung eindeutiger und systematisierter vertrat als der Meister, +aber weder dessen Tiefe noch dessen Schwung nahekam. Als dritter +bedeutendster Vertreter der Schule ist Ernst Cassirer zu nennen, der in +seinen geschichtlichen und systematischen Werken der neukantischen +Lehre vielleicht den schärfsten, präzisesten und gegenwärtig +wirksamsten Ausdruck gegeben hat.</p> + +<p>Der Marburger Kantianismus weicht von dem historischen Kant in sehr +weitgehendem Maße ab. Vollständig wird verworfen die Realsetzung eines +Dinges an sich. Cohen interpretiert Kant dahin, das Ding an sich sei +bei Kant nur eine didaktische Anpassung an den naiven Realismus des +Lesers; in Wirklichkeit bedeute diese Wortverbindung nur einen +"Grenzbegriff unserer Erkenntnis" nämlich das Fernziel eines +unendlichen Erkenntnisprogresses. Diese Auffassung ist der von Maimon +sehr ähnlich. Daß sie historisch als Kantinterpretation falsch ist, +duldet heute keinen Zweifel. Indem so eine transzendente Wirklichkeit +nicht nur nach ihrer Erkennbarkeit, sondern auch nach ihrem Dasein +geleugnet wird, wird der Boden frei für einen neuen E r k e n n t n i s +- und W a h r h e i t s b e g r i f f, den nach der Marburger Lehre +Kant aufgestellt habe. Erkennen bedeute nicht Abbildung, aber auch +nicht zeichenartiges Bestimmen einer vorhandenen Gegenständlichkeit und +Realität, sondern es bedeutet ideales "Erzeugen und Formen des +Gegenstandes" selbst. Der Gegenstand sei nicht gegeben, sondern seine +Erzeugung sei unserem Verstande nach den ihm einwohnenden Gesetzen +aufgegeben. Die Naturgegenständlichkeit ist hiernach also ein +ausschließliches Werk, freilich ein endlich nie vollendbares Werk, des +denkenden Verstandes. Gegenständlichsein und Realsein heiße für einen +Inhalt nichts anderes, als gesetzlich gedacht sein und im System der +Gedanken und ihrer Relationen eine bestimmte Stelle haben. Aber von +welcher Gegebenheit ausgehend, erzeugt so der Verstand die +Naturgegenstände? Nach dem historischen Kant, auch nach Riehl und der +südwestdeutschen Schule, ist ein anschaulicher Gehalt, die "Materie der +Empfindung", gegeben. Anders nach H. Cohen. Er erklärt: "Wir fangen mit +dem Denken an"; nichts darf dem Verstande gegeben sein, wenn er alles +durch sich selbst erst bestimmen und erzeugen soll. "Empfindung" sei +ein Ausdruck, der selbst erst mit Hilfe der Kausalrelation und des +Reizgedankens zu definieren sei als dasjenige, was an unserem +Wahrnehmungsgehalt reizbedingt sei; also können Empfindungen nicht +gegeben sein; auch sie sind ein gesuchtes X, ein "Problem des +Verstandes". Soll damit gesagt sein, daß der Verstand, so etwa wie bei +Hegel, rein aus sich heraus die ganze Welt erzeuge? Das ist kaum die +Meinung H. Cohens. Einmal gibt auch er zu, daß in der natürlichen +Weltanschauung Dinge, Ereignisse, Raum, Zeit und Kausalität irgendwie +gegeben seien, und zwar als bewußtseinsjenseitig; aber das macht das +Eigentümliche der neukantischen Lehre aus, daß im Unterschiede zum +historischen Kant die Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und die +wissenschaftliche Erfahrung s c h r o f f getrennt und +auseinandergerissen werden. Die Wissenschaft hat hiernach dem Gehalt +der natürlichen Weltanschauung gar nichts zu entnehmen, auch nicht die +Daseins f o r m e n und Strukturen dieser natürlichen Wirklichkeit, +geschweige ihren Gehalt. Umgekehrt muß vielmehr die natürliche +Weltanschauung und ihr Inhalt ihrerseits durch die Wissenschaft als +physiologisches, psychologisches resp. biologisch zweckmäßiges +Gesamtprodukt aus ursprünglichen Denksetzungen erklärt werden, die ihr +— konsequent — also nicht entnommen sein können. Ferner +kommt es zu dem zweideutigen Satze H. Cohens: "Nichts ist dem Denken +gegeben," und das Denken erzeuge erst im Urteil des infinitesimalen +Ursprungs die Realität nur dadurch, daß Cohen Existieren eines +Gegenstandes, Gegenstandsein eines Seienden, Gegebensein und +Bestimmtsein einander gleichsetzt. Das Apriori Kants soll, das wahr der +ursprüngliche Wurzelpunkt der Marburger Lehre, nur im +"transzendentalen" Sinne genommen werden, d. h. hier freilich nicht nur +als objektiv logische Voraussetzung für die Möglichkeit der +mathematischen Naturwissenschaft und ihrer Gegenstände, sondern +wenigstens nach der Auslegung des späteren Systems auch als eine Grund +l e g u n g, die unser Denken immer neu zu legen tätig ist. Die +"Grundlage" wird also hier zur "Grundlegung". Auch die "Kategorien" +sind nach der Marburger Lehre nicht etwa feste, auf einer Tafel ein für +allemal zu bestimmende Schienen, in denen unser Denken laufen muß, +sondern sie selbst sind eine prinzipiell unabgeschlossene Reihe reiner +Denk e r z e u g u n g e n zum Ziele, je nach der gegebenen +Problemlage, den unendlichen Prozeß der Wissenschaft fortzufahren. +Nicht nur Ding an sich und Empfindungsgegebenheit fallen hier im +Gegensatz zum historischen Kant weg, sondern auch die +"Anschauungsformen" sowie die kantische Scheidung von formaler Logik, +transzendentaler Logik und Theorie des Wahrnehmungs- und +Erfahrungsurteils. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit werden für +Cohen und Natorp Denkkategorien; sie lösen sich in einer an Leibnizer +Lehre gemahnenden Weise in ein System idealer Relationen auf, und die +gesamte Mathematik soll, von Funktionentheorie und Algebra angefangen +bis zur Geometrie, streng kontinuierlich ohne Heranziehung von +intuitiven Minima, ausschließlich als strenges apriorisches +Denkerzeugnis betrachtet werden. Ferner fällt nach den Lehren der +Marburger Schule der Unterschied zwischen Realwissenschaften und +Idealwissenschaften vollständig dahin. Auch die theoretische Physik +erscheint hier vollständig formalisiert (nicht minder in anderer +Richtung Rechtsphilosophie und Kunstphilosophie). Der ganze +Erkenntnisprozeß der "Wissenschaft" — ein Begriff, der hier aufs +einseitigste und noch einseitiger bei Kant an der mathematischen +Naturwissenschaft orientiert ist, und zwar an der mathematischen +Naturwissenschaft des newtonschen Zeitalters — wird hier in +anschauungsfreies Denken, und zwar in erzeugendes Denken aufgelöst. +Alle Gegenstands- und Seinsprobleme werden künstlich in M e t h o d e n +p r o b l e m e verwandelt. So auch der Unterschied des Psychischen +und Physischen. Ein nicht zu übertreffender Scientivismus, der an die +Stelle der Weltbegreifung ausschließlich die Begreifung der einen +zusammenhängenden, den Kosmos aus dem Chaos erst e r z e u g e n d e n +Wissenschaft rückt, ist eines der Hauptmerkmale der Marburger +Philosophie. Die Rechtsphilosophie hat sich z. B. nicht direkt mit dem +Rechte, die Kunstphilosophie nicht direkt mit der Kunst zu +beschäftigen, sondern mit der Möglichkeit der Rechts- und Kunst w i s s +e n s c h a f t. Die Wissenschaft selbst, die, wie Cohen sagt, in +"gedruckten Büchern" vorliegt, ist also allein das für den Philosophen +Urgegebene; sie erscheint hier wie vom Himmel gefallen. Auf die Art, +wie von diesem Standpunkt aus das System der Kategorien hergeleitet +wird, kann hier nicht ein gegangen werden. Die genannten Cohenschen +Grundideen haben N a t o r p und C a s s i r e r sowie die übrige große +Schülerschaft weiterentwickelt. Ein zweifelhafter Vorzug der Schule ist +der Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer Interessen. Sie übertrifft +hierin weit die übrigen Kantschulen. Natorp hat die Idee Cohens, +zunächst in erkenntnistheoretischer Hinsicht, besonders in drei +Richtungen weiterentwickelt: 1. in bezug auf die Theorie der +mathematischen Naturwissenschaft, besonders in seinem Buche "Die +Grundlagen der exakten Naturwissenschaft"; 2. in seiner, einer +erkenntnistheoretischen Fundierung der Psychologie dienenden +"Allgemeine Psychologie"; 3. in der Richtung der Ethik und +Sozialpädagogik. Eine kurze geschickte Zusammenfassung seiner Ansichten +hat er gegeben in den "Wegen zur Philosophie" unter dem Titel +"Philosophie" 1918. Eine Art Geschichtsphilosophie des deutschen Volkes +entwickelte er während des Krieges in seinem Buche "Deutscher +Weltberuf". Ferner hat Natorp in seinem Werke über Platon versucht, die +platonische Lehre mit Abstreifung alles dessen, was er bei Platon für +"mythisch" hält, so zu deuten, daß an den "Ideen" Platons jeder +dingliche Charakter verschwindet und sie als bloße "Gesetze", die unser +denkender Geist selbst zur Grundlegung des Wirklichen hervorbringt, +erscheinen. Schon mit diesem Werke, aber in vielleicht noch höherem +Maße in den großen historischen Werken Ernst Cassirers über Leibniz und +über "Geschichte der neueren Erkenntnistheorie" (in 3 Bänden) hat die +Marburger Schule einen Weg beschritten, dessen fast einzigartig +konsequente Verfolgung zwar ihrem eigenen System einen mächtigen +geschichtlichen Halt zu geben scheint, der sich aber für eine objektive +geschichtliche Auffassung der Philosophiegeschichte nach meiner Ansicht +als geradezu ruinös erwiesen hat. Diese geschichtliche Auffassung der +Philosophiegeschichte ist geleitet von der an Hegel gemahnenden Idee, +daß die Geschichte der philosophischen Ideen eine strenge logische K o +n t i n u i t ä t und einen streng logischen Sachfortschritt darstelle, +bei dem die philosophierenden Personen, ihr ursprüngliches +charakterologisches Verhältnis zur Welt, ferner Religion, soziale +Formen und Klassen, Interessen und Leidenschaften überhaupt keinerlei +Rolle spielen. Abgesehen von dieser rein fiktiven unerwiesenen +Voraussetzung werden in den geschichtlichen Werken der Marburger Schule +die behandelten Denker fast ausschließlich nach ihrer logischen und +erkenntnistheoretischen Seite hin gewürdigt. Dies tritt in Natorps +Platonbuch wie in Cassirers Leibnizbuch mit ganz unsagbarer +Einseitigkeit hervor. Die Leibnizsche Metaphysik, die genau so der +Ausgangspunkt seiner Logik, wie die Metaphysik des Aristoteles der +Ausgangspunkt des "Organon" gewesen ist, wird von ihm so gut wie +hinweginterpretiert. Und genau so ergeht z. B. Descartes in der +"Geschichte des Erkenntnisproblems". Mit vollem Recht hat jüngst Ernst +von Aster in seiner kürzlich erschienenen "Geschichte der +Erkenntnistheorie" (1921), die ein wahres und objektives Bild der Dinge +an Stelle der Marburger Konstruktionen zu geben sucht, diesen Marburger +Vergewaltigungsversuchen der Geschichte zugunsten ihres Systemes +scharfen Widerstand entgegengesetzt. Das erkenntnistheoretische +Hauptwerk Cassirers heißt "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" +(1910). Es enthält eine Erkenntnistheorie der Mathematik, theoretischen +Physik und Chemie und soll zeigen, wie an Stelle der Herrschaft der +Substanzkategorie und der begrifflichen Umfangsverhältnisse in der +Entwicklung der neueren Wissenschaften mehr und mehr eine Denkweise +getreten sei, die alle Substanzen als bloße hypothetische und nie +endgültig zu bestimmende Ansatzpunkte zuerst erfaßter funktioneller +Abhängigkeiten ansieht und eine Logik der Relationen an Stelle der +Aristotelischen Subsumptionslogik setzt. Schöne, zum Teil auch wahre +und tiefe allgemeine Bildungsbücher hat ferner Cassirer während des +Krieges uns geschenkt in seinen Arbeiten "Freiheit und Form" und "Idee +und Gestalt", in denen die Entwicklung der deutschen Dichtung in einige +ihrer Hauptgestalten (Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist) nach der +Einheit ihrer Struktur und Form mit der philosophischen Entwicklung des +deutschen Geistes betrachtet werden (siehe besonders den wertvollen +Aufsatz "Goethe und die mathematische Naturwissenschaft"). In der +Rechtsphilosophie hat R u d o l f S t a m m l e r in seinen Büchern +"Wirtschaft und Recht" und "Das richtige Recht" den neukantischen +Gedanken Ausdruck gegeben, ferner hat auch der Österreicher Jurist +Kelsen diese Philosophie zur Grundlage seiner Arbeiten gemacht. Eine +bekannte Kritik Max Webers von Stammlers Wirtschaft und Recht (siehe +"Zeitschrift für Sozialpolitik") und ein eben erschienenes Buch des +Bonner Juristen Kaufmann haben die ungemeinen Schwächen dieser +Rechtstheorie treffend aufgedeckt (siehe E. Kaufmann, "Kritik der +neukantischen Rechtsphilosophie", 1921). Die Biologie suchte N. +Hartmann in einer Sonderschrift den neukantischen Grundsätzen zu +unterwerfen, ein sehr zukunftsreicher Forscher, der sich aber +neuerdings von der Marburger Schule weit abgewandt und einer mehr +ontologischen Denkrichtung zugewendet hat, die er nicht ohne Einfluß +der Phänomenologie genommen haben dürfte.</p> + +<p>Jünger unter den gegenwärtigen Kantschulen ist die "Badische" oder +auch "Südwestdeutsche Schule". Sie ist begründet von W. Windelband, +fand ihren größten und wirksamsten Systematiker in Heinrich Rickert, +als dessen wichtigster Schüler, aber auch in gewissem Sinne schon +Überwinder, der im Kriege zum Leide der deutschen Philosophie gefallene +zukunftsreiche Emil Lask gelten muß. Nahe stehen dieser Schule vermöge +ihres gemeinsamen Ausgangspunktes von J. G. Fichte auch Paul Hensel und +der auch von Hegel stark beeinflußte Jonas Cohn; in etwas weiterer +Entfernung aber der erheblich selbständige, an der Harvard-Universität +in Amerika lehrende, während des Krieges gestorbene Hugo Münsterberg. Z +w e i Dinge unterscheiden diese Schule scharf von jener Marburgs. +Während die Marburger Schule sich aufs einseitigste an der +mathematischen Naturwissenschaft zu orientieren suchte, sind es die +historischen und Kulturwissenschaften, die den Interessenkreis dieser +Schule vor allem beherrschen. Die Geschichte ist Rickert das "Organon +der Philosophie". Zweitens ist es ein bereits durch J. G. Fichte +hindurchgesehener Kant, dessen Lehren hier weiterentwickelt werden. Das +erste Moment hat seinen Hauptgrund darin, daß der Schöpfer dieser +Schule, W. Windelband, an erster Stelle Philosophiehistoriker war. Auf +diesem Boden hatte Windelband bedeutende Leistungen aufzuweisen, die +freilich auch weitgehender Kritik offenstehen und ihr zum Teil auch +wirklich verfielen. In seinem Platonbuche z. B. gibt er nach meiner +Meinung dem Ideal des Guten bei Platon eine Deutung, die durchaus +fichteisch und kantisch und das gerade Gegenteil von platonisch ist. +Fast überall, wo er über mittelalterliche Philosophie sprach, verfällt +er, wie Baeumker und seine Schüler zeigten, tiefgreifenden Irrtümern. +Systematisch ist Windelband zuerst hervorgetreten mit seiner +Doktordissertation "Über den Zufall", ferner mit seiner Rektoratsrede +"Über nomothetische und ideographische Wissenschaften", die den +Ausgangspunkt für Rickerts Geschichtstheorie in seinem Buche über +"Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" gebildet hat, +ferner in seinen zwei Bänden "Präludien" in seiner "Einleitung in die +Philosophie", in Arbeiten zur Kategorienlehre und in seinem Buche "Über +Willensfreiheit". In seiner Schrift über den Zufall findet sich noch +der französische Philosoph und Mathematiker Cournot zitiert, der meines +Erachtens zuerst die Behauptung aufgebracht hat, daß es objektives, +aber in gesetzmäßige Beziehungen unauflösbares Wirkliches gebe, das +zwar dem Kausalprinzip, sofern es konkrete Kausalität fordere, nicht +aber dem Gesetzesprinzip unterworfen sei; ferner, daß es die Geschichte +mit diesem, objektiv zufälligen Sein, im Unterschiede von allem +gesetzmäßigen Sein und Geschehen zu tun habe. Derselbe Gedanke findet +sich übrigens v o r jener Rede Windelbands auch bereits bei Harms und +ferner in Hermann Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte". Streng +systematisch zu begründen versuchte ihn aber erst H. Rickert in dem +obengenannten Werke. Rickert ging dabei aus von einer bestimmten +Theorie der Begriffsbildung, die er in kritischer Auseinandersetzung +mit dem Logiker Sigwart gewann. Diese Begriffstheorie ist streng +nominalistisch und hat mit jener der Positivisten, z. B. E. Machs, eine +große Ähnlichkeit. Der Begriff soll sein eine "Überwindung der +extensiven und intensiven unendlich reichen Mannigfaltigkeit", die +jeder noch so einfache Teil des unmittelbar erlebten Wirklichen +enthalte. Den auf diese Weise gebildeten Begriffen und nicht minder den +analog gebildeten Gesetztsrelationen, in die sich in letzter Linie auch +die Begriffe sollen auflösen lassen, kommt "Geltung" zu, nicht aber +Wirklichkeit oder Realität. Neben dieser Betrachtungsart ein und +desselben, unter die Kategorie der "Gegebenheit" ursprünglich gefaßten +formfreien "Stoffes der unmittelbaren Erlebnisse" soll es aber noch +eine prinzipiell entgegengesetzte Richtung der Betrachtung und des +Denkens geben. Sie sucht nicht die Mannigfaltigkeit durch +Allgemeinbegriffe zu überwinden, sondern diese Mannigfaltigkeit durch +Bildung von Individualbegriffen immer genauer als "Individuum" und als +Ganzes und Teil zu bestimmen. Individuum und Allgemeines sollen also +das Ergebnis von zwei entgegengesetzt gerichteten Formungen und +Betrachtungsweisen ein und derselben Materie der Erfahrung sein, +freilich so, daß die kategoriale Form des Individuums (Rickert führt +sie als eine neue Kategorie in das Kategoriensystem Kants ein) "k o n s +t i t u t i v e" Bedeutung für dc Wirklichkeit besitze, während der +Gesetzeskategorie nur "regulative" Bedeutung zukomme. Die letzte Wurzel +des Unterschiedes von Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften +soll nun ausschließlich in diesen zwei Betrachtungsweisen gelegen sein. +Man muß wohl beachten, daß die Betrachtungsweisen nicht k o o r d i n i +e r t sind. Da die Kategorie des Individuums konstitutiv ist (und mit +ihr auch die Kategorie der konkreten Kausalität), ist die +Weltwirklichkeit p r i m ä r nicht "Natur", sondern "Geschichte". Und +was wir "Natur" nennen, ist in letzter Linie nur ein allgemein +abstrakter Auszug aus dieser konkreten einmaligen Wirklichkeit, der +nicht notwendig wäre, wenn unser Geist so umfassend wäre, a l l e s +individuell Wirkliche im g a n z e n Reichtum seiner Mannigfaltigkeit +erfassen zu können. Dadurch erhält die Geschichtswissenschaft einen +metaphysischen Vorzug vor der Naturwissenschaft. Diese philosophisch +ganz unbegründete Behauptung ist nur eine ganz willkürliche logische +Scheinrechtfertigung einer aus allen Äußerungen dieser Schule +hervorgehenden primären geringen Wertung der Naturwissenschaft und +insbesondere aller Natur p h i l o s o p h i e. Diesem Begriff der +Naturwissenschaft wird von Rickert außerdem die von ihm ganz unkritisch +rein mechanisch sensualistisch aufgefaßte Psychologie eingeordnet.</p> + +<p>Ein zweites Merkmal des historischen Gegenstandes soll außer der +individualisierenden Betrachtung des Wirklichen nach Rickert die +Beziehung dieses Wirklichen auf ein System allgemein gültiger Werte +sein. Erst diese Beziehung soll aus der unermeßlichen Fülle des +individuell Wirklichen dasjenige auswählen, was — sei es in +positiver oder in negativer Wertrichtung — "kulturell bedeutsam" +ist. Die allgemeingültigen Werte werden durch die Philosophie +festgestellt; ja, die Philosophie wird bei Windelband und Rickert +geradezu als die "Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten" +definiert. Gegen diese neue "Logik der Geschichte", an deren +Erweiterung, Kritik und Ausbau sich auch G. Simmel und H. Maier, ferner +Troeltsch und Max Weber beteiligt haben, sind die eingehendsten und +meiner Meinung nach treffendsten kritischen Einwände von Erich Becher +in seinem Buche "Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" (1921) +erhoben worden. Auch F. Krüger hat in seinem wertvollen Buche "Über +Entwicklungspsychologie" (1915) viel Treffendes gegen Rickerts Begriff +der Psychologie gesagt. Beide angegebenen Merkmale können den +geschichtlichen Gegenstand nicht umgrenzen. Auch die Naturwissenschaft +muß, z. B. in der Geographie, in der Mondkunde, vor allem aber im +ganzen Gebiet der Naturkunde überhaupt, individualisierend vorgehen, +und auch in den verschiedenen geschichtlichen und historischen +Geisteswissenschaften gibt es weitgehend Gesetzlichkeit und typische +Entwicklungsabfolge von Erscheinungsreihen. Nur wenn man ferner mit +Rickert die mechanische Naturansicht mit Einschluß des Biologischen und +einer ausschließlichen sensualistischen Assoziationspsychologie als die +einzig wahre Naturwissenschaft bereits willkürlich voraussetzt, auf +geistesgeschichtlichem Boden aber alle Versuche, neben der verstehenden +Geschichte auch eine erklärende und zugleich phasengesetzliche +Geschichtserkenntnis zu geben, völlig verwirft, kann man auf Rickerts +Meinung kommen. Weder läßt sich der ontische Gegensatz des +geistig-psychischen Seins und der äußeren Naturtatsachen, der übrigens +durch die e i g e n g e s e t z l i c h e n Erscheinungen des +organischen Lebens vermittelt wird, in einen bloßen Unterschied von +"Betrachtungsweisen" verwandeln; noch läßt sich mit Fug behaupten, die +Psychologie habe für die Geschichte keine Bedeutung (siehe hierüber +Krüger). Auch die Wertbezogenheit ist nicht w e s e n t l i c h für +das geschichtlich "Bedeutsame"; es genügt dazu die Größe der +Wirkungsfähigkeit eines Tatbestandes. Die eigentlichen Probleme der +Geschichtserkenntnis, die Frage nach den mannigfaltigen Erkenntnisarten +und Realsetzungsgründen fremden Bewußtseins und das von W. Dilthey so +tief aufgenommene, von E. Spranger und von dem Schreiber dieser Zeilen +weitergeführte Problem des geschichtlichen "Verstehens" sind durch +Rickert gar nicht ernstlich berührt. Die Erkenntnistheorie der +Südwestdeutschen Schule hat ihr Hauptwerk in Rickerts "Gegenstand der +Erkenntnis" (3. Auflage, Tübingen 1915). In ihrem Mittelpunkt steht ein +erkenntnistheoretischer Idealismus, der aber nicht extremer +Rationalismus und Logizismus wie jener der Marburger ist, sondern +zugleich die alogischen und arationalen Fundamente gegebener +Erlebniswirklichkeit anerkennt. Der erkenntnistheoretische Realismus +wird am Anfang mit den denkbar billigsten Mitteln in den drei Formen +des Kausalschlusses, des Interpolations- und des voluntativen Realismus +(Dilthey, Frischeisen-Köhler) zu widerlegen gesucht. Alles Seiende und +Gegenständliche soll seinen anschaulichen Fundamenten nach "Inhalt +eines Bewußtseins überhaupt" sein, das Rickert durch ein negatives +Verfahren, durch das er den natürlichen Ichbegriff (pssychophysisches +Subjekt, psychologisches Subjekt, erkenntnistheoretisches Subjekt) +immer weiter zu beschränken sucht, gewinnt. Die Fehler dieses +Verfahrens können hier nicht aufgewiesen werden; auch der Widersinn +nicht, ein sogenanntes "überindividuelles Ich", das weder eine +Außenwelt, noch ein Du, noch einen Leib sich gegenüber hat, anzunehmen. +Der eigentliche "Gegenstand der Erkenntnis" soll nun weder bestehen in +einem bewußtseinsjenseitigen Seienden noch in einem +bewußtseinsimmanenten Gehalt der anschauenden Akte; vielmehr soll das, +was wir "Gegenstand" nennen, auf ein "transzendentes Sollen", d. h. auf +die Forderungen zurückgeführt werden, über das Bewußtseinsgegebene +bestimmte Arten von U r t e i l e n zu fällen und es in diesen Akten +mit kategorialen Formen zu umkleiden. Dieser Gedanke ist von Fichte +übernommen, der ja auch das "Sollen" dem Sein, das Gewissen dem Wissen, +die sittliche Forderung der theoretischen Erkenntnis vorhergehen läßt. +In seinem letzten Werk "System der Philosophie" (1. Band) hat Rickert +nichts wesentlich Neues seinen früheren Arbeiten hinzugefügt.</p> + +<p>Übersieht man das Ganze dieser Schule, so kommt ihr gegenüber der +Marburger Philosophie nur e i n zweifelloser Vorzug zu. Sie erkennt g e +g e b e n e Bestände überhaupt an; sie macht nicht den Versuch, die +ganze Welt in reine Denkbestimmungen aufzulösen; aber sie tut dies +leider auch unter weitgehender Preisgabe der Rechte des Denkens und +verfällt so in einen "Nominalismus", der sich von dem Nominalismus etwa +E. Machs und der Positivisten nur der Färbung der Darstellung nach +unterscheidet. In jeder anderen Hinsicht ist die Schule der Marburger +Lehre weit unterlegen. An Stelle des ungemeinen Reichtums und einer +bewunderungswürdigen Vielseitigkeit der Marburger Gedankenwelt treten +hier einförmige schematisierende Wiederholungen von ein paar überaus +ärmlichen und dürren Grundgedanken, die sich, verbunden mit der +aufgeblähten, von J. G. Fichte ererbten, Icharroganz dem gesamten +Universum gegenüber vergeblich bemühen, eine ganze Philosophie zu +tragen. Der sogenannten "Kultur" (selbst die Religion wird hier auf ein +fadenscheiniges "Norm- und Kulturbewußtsein" in letzter Linie +zurückgeführt) wird eine Rolle und eine Bedeutung im Ganzen des +Weltgetriebes zugesprochen, sie ihr nicht im entferntesten zukommt. +Eine Naturphilosophie ernst zu nehmender Art, eine tiefere Fundierung +der Psychologie oder irgendwelche Leistungen auf diesem Gebiet besitzt +die Schule überhaupt nicht und kann sie gar nicht besitzen, da sie +ihren Jünger von vornherein mit tiefster Verachtung gegen die Wunder +der Natur erfüllt. Natur ist hier genau wie bei Fichte im Grunde nur +"Material" für ein leeres Kulturgetue, das seinen letzten Sinn haben +soll in frei in der Luft schwebenden rein formalen "Werten" und +"Geltungen". Die falsche Meinung, es ließe sich der Wertbegriff auf ein +Sollen zurückführen und "Wahr" und "Falsch" seien nur Werte n e b e n +anderen, ist von Meinong, dem Verfasser (siehe "Formalismus in der +Ethik", 2. Auflage), und zum Teil auch von E. Lask, der eben starb, als +er die grobmaschigen Schematismen seiner Lehrer zu überwinden anfing, +widerlegt worden. Es muß geradezu als ein kulturpsychologisches Problem +gelten, wie diese l e e r s t e der deutschen Kantschulen in unserem +Lande so starke Verbreitung finden konnte. Ich sehe seine Lösung vor +allem darin, daß sie der herkömmlichen historischen Richtung in der +deutschen Geschichtswissenschaft das philosophische R e c h t ihrer +Existenz immer neu bestätigte und jedes satte Genügen an den +herkömmlichen Methoden "philosophisch" rechtfertigte; ferner darin, daß +die Aneignung jener paar Formeln über Wert und Sein und +generalisierende und individualisierende Betrachtung mit Ausscheidung +aller echt philosophischen Probleme der Metaphysik, der +Naturphilosophie, der Psychologie, der Ethik und Ästhetik nur ein +Minimum von Denkarbeit kostete und doch gleichzeitig den Adepten mit +dem Bewußtsein erfüllte, nun ein ganzer Philosoph zu sein. (Vgl. auch +hierzu W. Windelband: "Die Philosophie im deutschen Geistesleben des +19. Jahrhunderts", 1909.) Weit tiefer faßte die Probleme der Weltlehre +und der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der +Geisteswissenschaften der gleichfalls von Fichte ausgegangene Hugo +Münsterberg in seinen "Grundzügen der Psychologie" und in seiner +"Philosophie der Werte". Er versuchte aus rein erkenntnistheoretischen +und methodologischen Forderungen heraus (freilich überkonstruktiv und +mit fichteischer Gewalttätigkeit) eine strenge Assoziationspsychologie +zu versöhnen mit der Anerkennung einer primär nur gewerteten +"Lebenswirklichkeit" (der eigentlichen metaphysischen Sphäre), die nur +zu gewissen methodischen Zwecken technischer Daseinsbeherrschung in +einen äußeren Naturmechanismus "umgedacht" werde. Von diesem +Mechanismus müsse in der erklärenden Philosophie auch das Psychische +als abhängig gedacht werden. Von ihr verschieden ist jedoch eine +subjektivierende Aktpsychologie, die Grundlage der +Geisteswissenschaften sei.</p> + +<p>In einem loseren Verbande mit beiden Kantschulen stand auch Georg +Simmel, der sich von einer anfänglich mehr positivistisch eingestellten +Denkrichtung über die Problematik Kants hinweg schließlich zu einer +"Lebensphilosophie" durchrang, deren Ergebnis er in dem nach seinem +Tode im Nachlaß erschienenen Werke "Lebensanschauung, vier +metaphysische Kapitel" darstellte. Der Aufsatz "Über den Tod" ist das +Tiefste und Reifste, was dieser eigenartige und weit über die deutschen +Grenzen hinaus anregende Denker geschrieben hat. Auch sein Aufsatz über +"Das individuelle Gesetz", in dem er ähnlich wie Schleiermacher und der +Verfasser in seiner "Ethik" neben "allgemeingültigen moralischen +Werten" auch "individualgültige", d. h. eine je individuell sittliche +Bestimmung des Menschen darzutun sucht, hat die Ethik bedeutend +gefördert. Seiner durch Bergson angeregten letzten "Lebensphilosophie" +die dunkel, unbestimmt und verworren bleibt, kann ein gleicher Beifall +nicht gezollt werden.</p> + +<p>Die vierte von Leonhard Nelson begründete Kantschule, die einen +reichen Kreis von Forschern aller Disziplinen unter sich vereinigt, hat +ihre Ansichten besonders in den zahlreichen Werken ihres Begründers und +in den "Abhandlungen zur friesischen Schule" dargelegt. In scharfem +Gegensatz zur "transzendentalen" Auffassung des kantischen Apriori, von +dem Cohen ausging, wird hier die Lehre vertreten, daß wir nur auf dem +Wege anthropologischer Selbstbesinnung mit Hilfe eines Verfahrens der +Reduktion der gegebenen Wissenschaften die obersten Grundsätze der +Vernunft feststellen können. Von einem "Vertrauen in die Vernunft" +ausgehend, das ein rein subjektiver Akt bleibt, müssen die obersten +evidenten Einsichten, nach denen wir das Gegebene in mittelbarem, +Denken bearbeiten, nicht "erzeugt", sondern nur als ursprünglicher +Besitz unseres Geistes enthüllt werden. Die Voraussetzung dieser Schule +ist die Existenz einer unmittelbar anschauenden Vernunft, deren +Grundsätze teils anschaulich (mathematische Grundsätze), teils +unanschaulich (z. B. Kausalprinzip) evident sind, und die durch das +reduktive Verfahren weder "deduziert" noch "konstruiert" sondern allein +für die Selbstbesinnung als evident enthüllt werden müssen. So muß der +apriorische Besitz unseres Geistes nicht auf apriorische, sondern auf +aposteriorische Weise gefunden und entdeckt werden. Eine +"Erkenntnistheorie" im üblichen Sinne, sofern sie die "Möglichkeit der +Erkenntnis" erst aufweisen will, ist nach Nelson ein sinnloses +Unternehmen; denn nur auf Grund schon gewonnener evidenter Erkenntnis +können wir anderweitige Erkenntnis einer Prüfung und Kritik +unterwerfen. Von dieser an Fries anknüpfenden theoretischen Basis aus +hat die Schule eine überaus rege und, wie auch derjenige, der ihr +fernesteht, sagen muß, s e h r wertvolle, sowohl positiv schöpferische +als kritische Tätigkeit entfaltet. Sie hat die Theologie stark +befruchtet (siehe Bousset und vor allem Rudolf Otto, dessen +ausgezeichnetes Werk über "Das Heilige" von der Schule stark bestimmt +ist). Sie hat auf dem Boden der Philosophie, der Mathematik und der +exakten Naturwissenschaft eine sehr rege Tätigkeit entfaltet; sie hat +in Kronfeld einen Vertreter gefunden, der nach ihren Grundsätzen die +Erkenntnislehre der Psychiatrie eingehend bearbeitet und gefördert hat. +Vor allem aber hat ihr charaktervoller und geradsinniger Urheber L. +Nelson auf dem Boden der Rechts- und Sozialphilosophie achtungswerte +Werke hervorgebracht (siehe besonders "Die Rechtswissenschaft ohne +Recht"). In überaus scharfsinniger, freilich allzusehr im Formalismus +Kants steckenbleibender Art und Weise wird hier mit Reinheit und Mut +die Majestät des Rechtsgedankens auf Grund evidenter Vernunfteinsichten +gegen alle Verdunkelungen durch Rechtspositivismus und der in der +Jurisprudenz stark herkömmlichen Machtlehre vertreten. Auch das große +Werk Nelsons "Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik" ist besonders +in seinen kritischen Teilen von großem Scharfsinn. Gegenüber Kant wird +neben dem "Pflichtgemäßen" ein "Verdienstliches" anerkannt, und die +Liebe und das Ideal der "schönen Seele" freilich mehr als ästhetischer +denn ethischer Wert in die Grundkategorien des menschlich Wertvollen +eingefügt. In ihrer politischen Tendenz vertritt die Schule einen +radikalen Liberalismus der geistigen Individualität, den sie gerne auch +an die konfuzianische Weisheit des chinesischen Ostens anzulehnen +sucht.</p> + +<p>Überblickt man das Ganze dieser vier Kantschulen, wird man mit +Verwunderung vor der Tatsache stehen, die Kantianer immer noch über den +Sinn der Lehre ihre Meisters streiten, und noch mehr darüber, daß so +grundverschiedene Geistesarten auf demselben Boden des Kantianismus +überhaupt möglich sind. Daß aus der Starrheit dieser Schulkreise heraus +d i e Philosophie, wie wir sie oben als erstrebenswert bezeichnet +hatten, hervorwachsen werde, glauben wir bei allem Wertvollen, das +besonders die Marburger und die Friesschule geleistet haben, nicht. Die +ungeheuren Literaturmassen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit +Interpretation, Fortführung, Neugestaltung der kantischen Philosophie +beschäftigt haben, stehen auf alle Fälle zu den Förderungen, welche die +Philosophie durch sie erhielt, in gar keinem sinnvollen Verhältnis. +Wenn man dazu erwägt, daß die Grundpositionen Kants (ich rechne dazu +seinen Ausgangspunkt von der newtonschen Naturlehre, seine Lehre, das +Gegebene sei nur ein "Chaos von Empfindungen" und alles, was Ordnung +und Beziehung, Einheitsform und Gestalt am Gegenstand der Erfahrung +sei, müsse durch funktionsgesetzlich geregelte Verstandestätigkeiten in +den Gegenstand erst hineingekommen sein, ferner seine Annahme der +prinzipiellen Erklärbarkeit der Natur auf Grund der Prinzipe der +Mechanik) heute der schärfsten und nach meiner Meinung der strengsten +Widerlegung verfallen sind, so wird man nur von einer neuen +untradionalistischen S a c h philosophie — einer Philosophie, die +nicht von einer historischen Autorität ausgeht, sondern höchstens +retrospektiv auf Grund ihrer gewonnenen Erkenntnisse sich auch einer +philosophiegeschichtlichen Tradition eingeordnet weiß, Wertvolles und +Dauerndes erwarten dürfen.</p> + +<p>Einen weit geringeren Einfluß als die kantische Philosophie übt auf +die Philosophie der Gegenwart der Positivismus und sein neuester +Ableger, der von den Amerikanern Peirce und W. James und dem Engländer +Schiller, in gewissem Sinne auch von Fr. Nietzsche (siehe besonders +"Der Wille zur Macht") angeregte, für das engere Gebiet der +naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie auch von Henri Bergson +angenommene sogenannte "Pragmatismus" aus[1]. Der</p> + +<blockquote> [1] W. James: "Der Pragmatismus" +(Philosophisch-Soziologische</blockquote> +<blockquote> Bücherei Bd. 1): F. C. S. Schillers "Humanismus" +(derselben</blockquote> +<blockquote> Sammlung, Bd. 25); ferner W. James: "Das +pluralistische</blockquote> +<blockquote> Universum", übersetzt von J. Goldstein (Bd. +33).</blockquote> + +<p>europäische Positivismus hat seinen Ursprung und Hauptsitz in +Westeuropa; Bacon, D. Hume, D'Alembert, Condorcet, A. Comte, J. St. +Mill, H. Spencer, Taine und Buckle waren seine bedeutendsten geistigen +Väter. In der gegenwärtigen deutschen Philosophie hat er so wenig wie +in der deutschen Philosophie überhaupt eine allseitige, alle Gebiete +der Philosophie umfassende Vertretung gefunden. Als strengere +Positivisten können unter den Älteren für die Erkenntnistheorie nur E. +Mach und Avenarius, in der unmittelbaren Gegenwart der aus der +Psychiatrie zur Philosophie gekommene selbständige und originelle +Forscher Theodor Ziehen gelten. Eine größere Anzahl von Forschern sind +stärker von ihm beeinflußt, so z. B. der kürzlich verstorbene Benno +Erdmann (siehe besonders seine "Logik", 1. Band, 2. Auflage). In seinen +älteren Arbeiten ist auch A. Riehl, ferner Hans Cornelius, der Humesche +und Machsche Gedankengänge mit Kants Erfahrungstheorie eigenartig +verquickt hat (siehe Cornelius: "Transzendentale Systematik", 1916), +vom Positivismus bestimmt. Als ein dem Pragmatismus, freilich mit mehr +Nietzschescher als angelsächsischer Färbung, näherstehendes Werk muß +die "Philosophie des Als-ob" von H. Vaihinger angesehen werden. Unter +den jüngsten Erkenntnistheoretikern steht Moritz Schlick ("Allgemeine +Erkenntnislehre", 1918) freilich mit realistischem Einschlag dem +Positivismus vermöge seines extremen Nominalismus (Erkennen sei nur +"eindeutiges Bezeichnen und Ordnen der Gegenstände") nahe. In der Ethik +und Religionsphilosophie lehrte Jodl einen monistisch modifizierten +Positivismus. In der Soziologie und Geschichtsphilosophie steht ihm +Müller-Lyer, L. von Wiese, W. Jerusalem (siehe "Die Phasen der Kultur", +"Einleitung in die Philosophie") und R. Goldscheid nahe. Wesentlichste +Basis des deutschen Positivismus ist eine sensualistische +Erkenntnistheorie und ein Versuch, die Denkkategorien psychologisch +oder soziologisch geschichtlich herzuleiten. Die Auffassung, daß die +kategorialen Formen nicht Seinsformen, die Denkgesetze nicht +Seinsgesetze seien, teilt der Positivismus mit den Kantianern. Während +aber jene die apriorische Struktur unseres Denkens nur auffinden oder, +wie die Marburger, immer neu aus ursprünglicher Denkfunktion rein +erzeugen wollen, bemüht sich der Positivismus nach humeschem Muster, +sie auf dem Boden einer beschreibenden (oder bei manchen selbst +genetischen) Psychologie und Soziologie zu verstehen. Die +sensualistische Auffassung, daß der gesamte Inhalt der natürlichen und +wissenschaftlichen Erfahrung auf Sensationen und deren Residuen, resp. +auf die Verknüpfung dieser Residuen nach den Assoziationsgesetzen +zurückführbar sei, das Denken aber auf Zeichengebung und Abfolge +ähnlicher Vorstellungsbilder in letzter Linie beruhe, macht die +eigentliche erkenntnistheoretische These des Positivismus aus. Ihr +entspricht dann die F o r d e r u n g, aus der Wissenschaft alles das +auszuscheiden, was über aufweisbare Empfindungselemente und über die +Funktionalbeziehungen von deren Komplexen hinausgehe. Jeder asensuelle +und übersensuelle u r s p r ü n g l i c h e Bestand im Gegebenen der +Erfahrung, der nur durch ein ursprüngliches, von Bildern nicht +ableitbares eigengesetzmäßiges D e n k e n (oder andere geistige +Funktionen, wie Intuition, kognitives Fühlen usw.) zu erfassen wäre, +wird bestritten. Alle "Substanzen" und "Kräfte" und alle sinnlich nicht +aufweisbaren Inhalte und Realsetzungen solcher müssen aus der +Wissenschaft in letzter Linie ausgeschieden werden: sofern man aber mit +Substanz- und Kraftbegriffen in ihr operiert, kommt diesen Operationen +genau so wie den in der Wissenschaft verwandten allgemeinen Begriffen +und Gesetzen nur die ökonomische Bedeutung zu, mit Bildvorstellungen zu +sparen ("Prinzip der Denkökonomie"). Mit dieser Auffassung verbindet +sich eine streng nominalistische Lehre vom begrifflichen Denken, die in +Deutschland am schärfsten durch H. Cornelius ("Einleitung in die +Psychologie"), E. von Aster und neuerdings von Schlich durchgeführt +worden ist (zur Kritik dieser Lehre vergleiche E. Husserl: "Logische +Untersuchungen", Band 2). In der Realitätsfrage hat sich der deutsche +Positivismus (mit Ausnahme von Schlick) im Unterschied von jenem +Spencers im wesentlichen ablehnend verhalten. Die Existenz der Welt ist +ihm nur der "geordnete Inbegriff ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten". +Avenarius hatte die Gegenstände, Bewußtsein, Seele, Ich auf eine +ursprüngliche Täuschung zurückgeführt, die durch Introjektion eines +Umgebungsbestandteils (z. B. wahrgenommener Baum) in den Mitmenschen +(als "immaterielles Abbild" des Baumes) und erst sekundär auch in das +erkennende Ausgangssubjekt noch einmal "hineinverlegt" worden sei (s. +Avenarius: "Der natürliche Weltbegriff"). E. Mach, der mehr von +idealistischer Seite her kam, nahm letzte qualitative Seinselemente an +(blau, rot, hart, Ton usw.), die, wenn sie in ihrem gegenseitigen +Zusammenhang und in den Abhängigkeiten ihrer möglichen +Komplexveränderungen untereinander betrachtet werden, "Natur" heißen; +"Empfindungen" aber, wenn sie und ihre Komplexänderungen betrachtet +werden in Abhängigheit von den physiologischen Vorgängen des +Organismus. Auch das "Ich" ist ihm nur ein solcher relativ konstanter +Komplex von Seinselementen. Eine vorzügliche Kritik dieser "Ich"-lehre +gibt K. Österreich in seinem Buch "Phänomenologie des Ich". Der +Unterschied von Psychisch und Physisch soll hiernach kein Unterschied +der Materie und der Gegenstände sein, sondern nur ein Unterschied in +der Betrachtung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den +Seinselementen. Mach hat diese Lehre in seinen großen Werken zur +Geschichte der Naturwissenschaft (Geschichte der Mechanik, des Satzes +von der Erhaltung der Arbeit, der Wärmelehre) und in seinem letzten, +sehr wertvollen und lehrreichen Werke "Erkenntnis und Irrtum" auch +geschichtlich zu unterbauen gesucht. Die moderne mechanische +Naturansicht hat nach seiner Meinung nur in dem historischen Z u f a l +l ihren Grund, daß man die Bewegungserscheinungen fester Körper +zeitlich zuerst studierte (Galilei), um dann, nach dem Prinzip: +Erklären heiße nur "relativ Unbekanntes auf zuvor Bekanntes" +zurückzuführen, auch die übrigen Naturerscheinungen auf +Bewegungsgesetze fester Dinge zurückzuführen. Tatsächlich aber bestehe +kein Seinsunterschied zwischen "primären" und "sekundären" Qualitäten. +Besonders die Bedeutung denkökonomischer A n a l o g i e n und Bilder +für den wissenschaftlichen Fortschritt hob er nach dem Vorgang +englischer Physiker (Maxwell, Lord Kelorn, Clifford) in seinen +geschichtlichen Werken und in "Erkenntnis und Irrtum" stark hervor. +Aber alle diese "Bilder" müssen zugunsten strenger, rein mathematisch +formulierter Funktionsgesetze eines Tages wieder aus der Wissenschaft +ausgeschieden werden, wenn sie den neuen Beobachtungen nicht mehr +genügen. Auch der modernen Relativitätstheorie Einsteins hat E. Mach +durch seine Kritik Newtons, besonders seiner Lehre von der absoluten +Bewegung vorgearbeitet (siehe Geschichte der Mechanik). Diese +Auffassung der Arbeit der Naturwissenschaft ist in neuester Zeit von +Planck ("Einheit des physikalischen Weltbildes"), Stumpf, Külpe, ferner +von allen realistischen und kantischen Schulen mit Recht scharf +bekämpft worden (siehe besonders C. Stumpfs Akademieabhandlung: "Zur +Einteilung der Wissenschaften", 1906). Vor allem aber war es Ed. +Husserl, der die nominalistischen Begriffstheorien des Positivismus in +den "Logischen Untersuchungen", Band 2, einer überaus einschneidenden +Kritik unterzog. Die ernstesten Versuche, die Gegner des Nominalismus +und Sensualismus, die heute den Positivismus immer mehr zurückgedrängt +haben, zu widerlegen, haben von diesem Standort aus Ziehen in seiner +"Psychophysiologichen Erkenntnistheorie" und seinem kürzlich +erschienenen sehr wertvollen "Lehrbuch der Logik" (1920) und E. von +Aster unternommen. Daß es ihnen aber geglückt sei, die positivistischen +Positionen zu halten, glaubten wir nicht. Der schärfste Gegner ist dem +Positivismus neuerdings entstanden in der "Phänomenologie", obzwar +diese Denkrichtung mit ihm das Gemeinsame hat, den Aufweis aller +Begriffe in letztfundierenden Anschauungsgegebenheiten zu fordern. Aber +eben dabei erwies es sich, daß der Gehalt des originär Anschaubaren +unvergleichlich r e i c h e r ist als dasjenige, was durch sensuelle +Inhalte und ihr Derivate (und deren fernere psychische Verarbeitung) an +ihm denkbar sein mag. Zu welchen gewagten Annahmen und immer +verwickelter werdenden Hypothesen der Positivismus greifen muß, um +seine Lehre durchzuführen, zeigt auch das letzte scharfsinnige Werk +Benno Erdmanns über "Grundzüge der Reproduktionspsychologie" (1920).</p> + +<p>Wenn der Positivismus im Erkennen nur ein zweckmäßiges mäßiges +Bezeichnen gegebener Sachen sieht, so geht der P r a g m a t i s m u s +von einer etwas anderen Auffassung aus. Er behauptet, daß alles +Erkennen nur die Bedeutung habe, ein Bild der Dinge zu geben, so +geartet, daß seine "Folgen" uns zu Handlungen führen, die bestimmte +praktische Bedürfnisse befriedigen. Der "Sinn" eines Gedankens falle +zusammen mit dem Inbegriff aller möglichen praktischen +Verhaltungsweisen, die er "leiten" und "führen" könne; und "wahr" sei +ein Gedankengebilde dann, wenn diese Reaktionen gattungsnützlich seien +und uns in der praktischen Beherrschung der Dinge weiterführen. Peirces +"Erkenntnis" wird hier ähnlich wie bei den Marburgern selbst zu einem +"Formen" und "Gestalten" einer zunächst völlig indifferenten +chaotischen Masse von Gegebenheiten (James, Schiller). Der letzte +Beweis z. B. für den Wahrheitswert der Naturwissenschaft ist die M a c +h t, die sie uns über die Natur gibt, also Technik und Industrie; die +Arbeit an den Dingen gehe überall der Erkenntnis vorher und die +Erkenntnis zeige in letzter Linie nur die R e g e l n auf, nach denen +unsere Bearbeitung der Welt praktisch reüssiere. In Deutschland ist +diese völlig unhaltbare, allen Wahrheitsernst untergrabende +amerikanistische Theorie — besonders widerlich, wenn sie zur +Rechtfertigung des Daseins Gottes und der Religion angewandt wird, wie +sie in W. James' "Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung" — +mit einer eigenartigen Modifikation, die von Nietzsche herrührt (siehe +besonders "Wille zur Macht"), von Hans Vaihinger vertreten wurde. Die +"Modifikation" besteht in folgendem: Während die angelsächsische +Theorie des "Pragmatismus" die Lautverbindung "wahr" geradezu als +"praktisch brauchbar" definiert, hält Vaihinger im Grunde den a l t e n +Wahrheitsbegriff fest, schränkt aber das unmittelbar "Wahre" ein auf +das, was an einer Wortintention nur in reinen Empfindungen gedeckt ist. +Alles, was darüber hinausragt — seien es Kategorien, +Grenzbegriffe (z. B. ideales Gas, Adam Smiths "eigensüchtiges +Wirtschaftssubjekt" usw.), seien es unanschauliche theoretische +Setzungen (z. B. Äther, aber auch Gott, unsterbliche Seele), das heißt +das denkbar Verschiedenartigste und logisch Verschiedenwertigste +— faßt Vaihinger unter den Begriff "Fiktion" zusammen; so ergibt +sich in letzter Linie die Lehre, daß die F i k t i o n sozusagen der +tragende Grund und Sinn der Welt selber sei, und daß zwischen +Erkenntnis und Dichtung (Vaihinger war von A. Lange ausgegangen und +erweitert im Grunde nur dessen an Fr. Schillers philosophischen +Gedichten gewonnene "Begriffsdichtungs" gedanken von der Metaphysik auch +auf die exakte Wissenschaft) im letzten Grunde nur der einzige +Unterschied sei, daß die e i n e Fiktion praktisch brauchbar sei, die +andere nicht und nur der Betrachtung und dem ästhetischen Genusse +diene. Dazu trat, wie gesagt, der Einfluß Nietzsches. Dies ist der +einzige konstatierbare Einfluß, den Nietzsche, der ja auch den "Wert +der Wahrheit" in Frage gezogen hatte (siehe schon "Unzeitgemäße +Betrachtungen") und im Willen zur Wahrheit nur eine Abart des "Willens +zur Macht" sah, auf die rein theoretische Philosophie in Deutschland +ausgeübt hat. In einzelnen wissenschaftstheoretischen Ausführungen ist +Vaihingers Werk sehr anregend. Die Art, wie es die bekannten kantischen +Als-ob-Wendungen und insbesondere die religionsphilosophische +Postulatenlehre Kants interpretiert, halten wir mit W. Windelband für +historisch grundirrig. Nach unserer Meinung haben diese Wendungen (z. +B. man solle auf den kategorischen Imperativ hören, "als ob" er ein +göttliches Gebot wäre) nur den Sinn, die sittlich praktische M o t i v +i e r u n g der Realsetzung Gottes von Motivierung durch theoretische +Begründung scharf zu unterscheiden. Die Realsetzung selbst ist aber auf +diesem Wege bei Kant genau so ernst gemeint wie die Realsetzungen durch +theoretische Erkenntnis; ja noch ernster — nämlich im Sinne von +metaphysischer, nicht nur empirischer Realität; der Gedanke der +"Fiktion" oder gar bewußter Fiktion liegt unseres Erachtens Kant völlig +fern. Als Ganzes stellt nach unserer Meinung das Werk Vaihingers den +größten Mißgriff dar, den die deutsche Philosophie in den letzten +Jahrzehnten getan hat. Um so interessanter ist seine starke Verbreitung +— ein wenig erfreulicher Ausdruck für die Mentalität weiter +Kreise.</p> + +<p>Den neukantischen und positivistischen Schulen hat sich in den +letzten Jahren eine im Wachsen befindliche r e a l i s t i s c h e +erkenntnistheoretische Richtung entgegengestellt, die zugleich den +Übergang bildet zu einer Reihe höchst bedeutsamer Versuche der W i e d +e r e r w e c k u n g d e r M e t a p h y s i k (siehe dazu Peter +Wust: "die Auferstehung der Metaphysik"). Diese Erscheinung ist nicht +nur auf Deutschland beschränkt; auch in Frankreich, England und Amerika +sieht sich der erkenntnistheoretische Idealismus und der +positivistische Sensualismus immer mehr in den H i n t e r g r u n d +gedrängt. (Vgl. dazu K. Oesterreich [sic]: "Die philosophischen +Strömungen der Gegenwart".) Die neurealistischen Richtungen (einen +Übergang zu ihnen bilden Riehl, Volkelt und E. v. Hartmann) gehen in +ihrer Art der Begründung des Realismus freilich noch weit auseinander. +Im großen ganzen lassen sich unterscheiden die Formen des +altscholastischcn Realismus, des kritischen Realismus und des +intuitiven und voluntativen Realismus. Gerade die historisch älteste +dieser realistischen Formen, der scholastische Realismus, gewinnt in +gewissem Sinne gegenwärtig wieder neues Interesse. Wie ich schon sagte, +ist es ein eigentümliches Zeichen der letzten Philosophie, daß +überhaupt die scholastische Philosophie in lebendigen Denkverkehr mit +der modernen Philosophie getreten ist. Ein Grund dafür ist, daß die +moderne Philosophie auf ganz verschiedenen Punkten rein aus sich selbst +heraus auf manche scholastische Positionen gekommen ist. So gleicht zL. +B. der Versuch Bergsons, in seinem Buche "Gedächtnis und Materie" zu +zeigen, wie ein ursprünglich unmittelbar gegebenes S e i n in die +Menschenerfahrung erst eingeht, um in ihr nach einer Reihe von +Richtungen deformiert zu werden; gleichen ferner die amerikanischen +neurealistischen Versuche (F. J. E. Woodbridge, E. B. Mc Gilvary u. a.) +methodisch dem altscholastischen Vorgehen, die Erkenntnis ihrem Wesen +nach auf ein Seinsverhältnis, d. h. die Teilnahme eines Seienden an +einem anderen, zurückzuführen. Bergsons und anderer Versuche (auch +Meinong und H. Schwarz in seinem Buche "Die Umwälzung der +Wahrnehmungshypothesen" wären hier zu nennen), die Lehre von der O b j +e k t i v i t ä t der Sinnesqualitäten wieder neu zu begründen, haben +gleichfalls erkenntnistheoretisch in die Nähe der scholastischen +Positionen geführt. H. Driesch kam durch seine modifizierte +Wiedereinführung des aristotelischen Entelechiebegriffs in der +Bearbeitung der Probleme des organischen Lebens gleichfalls der +Scholastik weit entgegen. Andererseits hat die scholastische +Philosophie in den letzten Jahren auch in unserem Lande Vertreter +gefunden, die es wohl verstanden, sich der modernen Probleme von ihrem +Standort aus scharfsinnig zu bemächtigen. Abgesehen von den neuen +Erschließungen und Interpretationen bisher unbekannter Teile der +mittelalterlichen Philosophie, die wir an erster Stelle Grabmann (siehe +besonders seine höchst wertvolle "Geschichte der scholastiscben +Methode" und seine Neueditionen) und den Forschungen Baeumkers und +Baumgartens und dieser beider Schüler verdanken, sind auch +selbständigere systematische Denker auf scholastischem Boden neuerdings +hervorgetreten, so z. B. der verdiente E. L. Fischer, ferner Lehmen und +besonders J. Geyser, der in seinen der Psychologie, der Logik, der +Erkenntnistheorie und der Metaphysik gewidmeten Arbeiten, ferner in +seinem Buche über Husserl und eine Verknüpfung ("Neue und alte Wege der +Philosophie") der scholastischen Lehre mit der modernen Philosophie +anstrebt. Das große psychologische Sammelwerk von Fröbes und die +Arbeiten des aus der Külpeschen Schule hervorgegangenen +Experimentalpsychologen Lindworsky (besonders "Das schlußfolgernde +Denken", 1916, "Experimentelle Psychologie", 1921) haben ferner die +scholastischen Positionen mit der ganzen Experimentalpsychologie eng +verknüpft. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind freilich die +Neuscholastiker in Deutschland mehr dem sogenannten "kritischen +Realismus", der eine reale Welt erst mittels schließender Denkakte +gewinnen will, zugeneigt, als dem altscholastischen Standpunkt, der +schon in der Sinneswahrnehmung eine unmittelbare Erfassung realer +Gegenstände erblickt und der überdies auf das Problem der modernen +Philosophie: "Wie kommen wir zu einer realen Außenwelt?" von seinem +Ausgangspunkte im Grunde gar nicht kommen kann, da er im Gegensatz zur +modernen Philosophie (seit Descartes) von der primären Gegebenheit +eines Seienden ausgeht und von ihm auch erst durch die Scheidung das +ens reale vom ens intentionale die Möglichkeit von Bewußtsein und +Erkenntnis verständlich machen möchte. Aber auch der altscholastische +Realismus hat gegenwärtig eine alle wesentlichen Tatsachen der +Sinnesphysiologie und Sinnespsychologie und alle bisher für die +sogenannte sekundäre Natur aller oder einiger Sinnesqualitäten +vorgebrachten Argumente berücksichtigende, sehr scharfsinnige und +beachtenswerte Darstellung gefunden in Josef Gredts beiden Büchern: "De +cognitione sensuum externorum", Rom 1913, und in deutscher Sprache in +dem kürzlich erschienenen "Unsere Außenwelt, eine Untersuchung über den +gegenständlichen Wert unserer Sinneserkenntnis" (1921). Der vom +Verfasser vertretenen realistisch gerichteten Phänomenolgie ist trotz +verschiedenen Ausgangspunktes der Standpunkt Gredts, nach dem auch der +kritische Realismus, wenn er einmal die Gegenständlichkeit und Realität +der unmittelbaren Sinneserkenntnis leugnet, notwendig in die +Konsequenzen des vollständigen Idealismus getrieben werde, ähnlicher +als der sogenannte "kritische Realismus" vieler Neuscholastiker (z. B. +Mercier, Hertling und Geyser). Schon Otto Liebmann hatte einmal +bemerkt, daß alle Ergebnisse der Naturforschung im Begriffssystem der +aristotelischtn Metaphysik und Erkenntnislehre Platz hätten. Und in der +Tat ist es ein großes Vorurteil, zu meinen, die Fortschritte einer +ihrer Grenzen eingedenken positiven Wissenschaft könnten o h n e +Zuhilfenahme rein philosophischer Wesenuntersuchungen über +metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen überhaupt etwas Letztes +entscheiden. Der ausgezeichnete französische mathematische Physiker und +Historiker der theoretischen Physik, Pierre Duhem (sein Werk: +"Geschichte der physikalischen Theorien", ist mit einer Vorrede von E. +Mach auch in deutscher Sprache erschienen), hat Liebmanns Gedanken +gewissermaßen in großem Maßstabe ausgeführt. Duhem suchte zu zeigen, +daß gerade bei einer strengen mathematischen Formalisierung der +theoretischen Physik die aristotelische Metaphysik mit der modernen +Physik wohl vereinbar sei. Er hat stark auf den auch philosophisch bei +uns wirksamen französischen Mathematiker H. Poincaré gewirkt +("Wissenschaft und Hypothese", "Der Wert der Wissenschaft"), ist aber, +mit ihm verglichen, der weitaus tiefere erkenntnistheoretische +Denker.</p> + +<p>Den k r i t i s c h e n Realismus haben mit sehr verschiedenartiger +Begründung in neuester Zeit eine große Reihe von deutschen Forschern +neu zu begründen gesucht. Es seien hier genannt B. Erdmann, Meinong, +Stumpf, Dürr, Oesterreich [sic], Messer, Störring, Freytag, Schlick, +Becher, Troeltsch und vor allem O. Külpe in seinem zweibändigen (der +zweite Band ist 1920 aus dem Nachlaß von Messer herausgegeben worden) +Werke "Die Realisierung, ein Beitrag zur Grundlegung der +Realwissenschaften"; ein dritter Band steht noch in Aussicht. Der +Külpesche Versuch ist ohne Zweifel der ausgedehnteste, eingehendste und +strengste, der seitens der kritischen Realisten zur Begründung ihrer +These unternommen worden ist. Külpe gliedert die Hauptfrage in vier +Unterfragen, deren Beantwortung er je einen Band widmen wollte: 1. Ist +eine Setzung von Realem möglich? 2. Wie ist eine Setzung von Realem +möglich? 3. Ist eine Bestimmung von Realem möglich? 4. Wie ist eine +Bestimmung von Realem möglich? Nach einer ausgezeichneten und +tiefdringenden kritischen Durchmusterung und Widerlegung der +verschiedenen Formen des erkenntnistheoretischen Idealismus und +positivistischen "Wirklichkeitsstandpunktes" im ersten Band untersucht +Külpe im zweiten Band die in der Wahrnehmung und die in rationalen +Grundsätzen und ihrer denkenden Anwendung gelegenen Gründe und endlich +die "gemischten Gründe" für die Setzung einer Realität. De Prüfung der +sechs rationalen Gründe ergibt deren Insuffizienz. Man kann weder von +der induktiven Regelmäßigkeitsvoraussetzung (wie z. B. Becher), noch +durch Schluß auf eine transzendente Ursache unserer Wahrnehmung, noch +vom Ich auf ein vermeintlich begrifflich notwendig dazugehöriges +Nichtich, noch von der bloßen (gegen Berkeley und W. Schuppe +festgehaltenen) Widerspruchslosigkeit des Gedankens einer +bewußtseinsunabhängigen Welt, noch vor dem Transzendenzbewußtsein +unserer Denkakte (z. B. auch Erinnerungsakte) aus (wie es W. Freytag +versuchte), noch von der ökonomischen Zweckmäßigkeit der Annahme einer +realen Außenwelt auf deren Existenz schließen. Auch die in der +Wahrnehmung im Unterschiede zu den "Vorstellungen" gelegenen immanenten +Merkmale lassen nicht ohne weiteres eine reale Welt annehmen (wie es +der altscholastische Realismus will); erst die "gemischten Gründe" +sollen zum Ziel führen. Die Außenwelt müsse gesetzt werden: erstens als +"Bedingung des von dem psychophysischen Subjekt in der Wahrnehmung +Unabhängigen und als das Substrat der vorgefundenen selbständigen +Gesetzlichkeit der Wahrnehmungen". Külpes Versuch bezieht sich nicht +nur auf die Realität der Natursetzung, sondern umfaßt auch das Problem +einer von der Beschreibung der Bewußtseinserlebnisse verschiedenen +Realpsychologie, ferner auch das Problem der Realität des +Vergangenheits- und Fremdbewußtseins und damit auch des +Realitätsproblems in den Geisteswissenschaften. Wie immer man zu Külpes +Werk im einzelnen stehen mag (der Verfasser kann sich nicht überzeugen, +daß, wenn w e d e r in der Wahrnehmung für sich noch im Denken für sich +Gründe zur Annahme einer realen Welt gelegen sind, sie in einer bloßen +"Mischung" beider Momente gelegen sein könne), so verdient die +ausgezeichnete Arbeit des vortrefflichen, für die Wissenschaft viel zu +früh heimgegangenen Forschers doch die allerernsteste Beachtung und +Würdigung.</p> + +<p>Der Richtung des intuitiven Realismus ist zuzuzählen vor allem die +auch in Deutschland stark wirksame Philosophie H. Bergsons, ferner der +in dem Buche "Die Grundlegung des Intuitivismus" niedergelegte +Standpunkt des beachtenswerten russischen Philosophen Losskij. Obgleich +der Realismus in der Weise dieser beiden Forscher aus dem Grunde nicht +durchführbar sein dürfte, da uns Intuition, soweit es eine solche neben +mittelbarem Denken und Sinneswahrnehmung gibt, nur d a s e i n s f r e +i e s W e s e n (und Wesenszusammenhänge) geben kann, verdienen doch +auch ihre Lehren ernstlichste Beachtung. Für die Existenz des fremden +Bewußtseins überhaupt ohne Existenzsetzung eines bestimmten so oder +anders beschaffenen Ichs nahmen neuerdings auch Scheler (siehe +"Formalismus in der Ethik" und sein Buch "Über Sympathiegefühle", +Anhang) und in etwas anders gefärbter Weise J. Volkel (siehe sein Buch +"Über das ästhetische Bewußtsein") intuitive Evidenz in Anspruch. Für +die Begründung einer R e a l p y s c h o l o g i e traten außer Külpe +auch ein Scheler (siehe "Idole der Selbsterkenntnis" in "Abhandlungen +und Aufsätze"), M. Geiger und H. Driesch ("Fragment über den Begriff +des Unbewußten und die psychische Realität", 1921).</p> + +<p>Die Richtung des v o l u n t a t i v e n R e a l i s m u s ist +vor allem — ich sehe hier ab von ihren historischen Vorformen bei +Maine de Biran, Bouterweek und Schopenhauer — in neuester Zeit in +einer Akademieabhandlung von Dilthey, Frischeisen-Köhler (siehe +"Wissenschaft und Wirklichkeit", 1912), Scheler und E. Jaensch ("Über +die Wahrnehmung des Raumes", Anhang) vertreten worden. Nach dieser +Auffassung führt erst das unmittelbare Widerstandserlebnis +irgendwelcher Gegenstände als wirklicher und möglicher "Widerstände" +zur Setzung einer Realität überhaupt. Erst die Zuweisung eines in +seinem Sosein schon bestimmten Gegenstandes in die zuvor schon gegebene +S p h ä r e d e s R e a l e n ist von der Einreihbarkeit des +Gegenstandes in gesetzliche Beziehungszusammenhänge (je nach dem Wesen +der Gegenstände verschiedener Artung) abhängig. Analog sind nach +Scheler die fünf Sphären: "Außenwelt", "Innenwelt", "Leib", +"Fremdbewußtsein", "Gottheit", in de ein bestimmtes Reales +hineingesetzt wird, als Sphären jedem endlichen Bewußtsein "vor" jeder +bestimmten Erfüllung mit Inhalten unmittelbar anschaulich gegeben.</p> + +<p>Dem Denken kommt nur die Rolle zu, die Daseinsbestimmung einer +bestimmten Realität vorzunehmen, soweit solche über die unmittelbare +Erfahrung hinausgeht.</p> + +<p>Viel zu wenig beachtet ist nach Meinung des Verfassers innerhalb der +engeren Philosophenkreise die ungemeine Befruchtung, die für alle +Gebiete der Philosophie von der g e g e n w ä r t i g e n Psychologie +mit Einschluß der Experimentalpsychologie auszugehen vermöchte, wenn +ein tieferes Verständnis und eine größere gegenseitige Beachtung ihrer +Arbeiten zwischen Philosophen und Psychologen stattfände. Dieselbe +Forderung stellten neuerdings E. Jaensch, Krüger, Marbe, ferner die +Schulen von C. Stumpf und Külpe. Die moderne Psychologie begann ihr +Werk mit einseitiger Untersuchung der Empfindungstatsachen und mit +Problemen der Größenmessung. Da diese Art der älteren +Experimentalpsychologie sich bald eine Reihe philosophischer Lehrstühle +anzueignen wußte, entstand in den engeren Philosophenkreisen ein +gewisser Arger und, damit verbunden, auch eine weitgehende +Nichtbeachtung ihrer Arbeiten. Man sagte: Diese neue Psychologie ist +eine Spezialdisziplin der Naturwissenschaft; sie sei der Medizin und +Sinnespsychologie zuzuweisen und habe mit Philosophie gar nichts zu tun +oder doch nicht mehr wie irgendeine andere Spezialwissenschaft; darum +gebührten ihr auch keine philosophischen Lehrstühle. Am schärfsten und +im anmaßendsten Tone haben die Vertreter der Südwestdeutschen Schule +dieser Meinung häufig Ausdruck gegeben. (Vgl. hierzu die treffenden +Schilderungen dieser Dinge bei Fr. Krüger, "Über +Entwicklungspsychologie", 1918.) Die zeitweise Herrschaft einer +sogenannten "Psychologie ohne Seele" und einer strengen +sensitivistischen und assoziationspsychologischen Auffassung der +seelischen Tatsachen (die z. B. noch wesentliche Grundlage ist den in +der Einzelbeobachtung ausgezeichneten Arbeiten über "Das Gedächtnis" +von G. E. Müller in seinem großen Werke über "Das Gedächtnis") schien +eine Zeitlang dieser Haltung neue Gründe zuzuführen. Dazu blieben die +langwierigen, philosophischen Streitigkeiten über "psychophysischen +Parallelismus" und "Wechselwirkung", die nur von allgemeinsten +"Prinzipien", sei es der Erkenntnistheorie, sei es neugefundener +physikalischer Wahrheiten ausgingen, (z. B. Vereinbarkeit des seit den +Arbeiten von Rubner und Atwater auch für den organischen Austausch von +Nahrung und Arbeit nachgewiesenen Satzes von der Erhaltung mit einer +psychophysischen Wechselwirkung) nicht nur überaus unfruchtbar, +sondern, was noch weit schlimmer war, ohne jeden fühlbaren Anschluß an +die T a t s a c h e n f o r s c h u n g der empirischen und +experimentellen Psychologie. Nun haben sich aber diese Verhältnisse mit +der Zeit so g r u n d s ä t z l i c h und t i e f gewandelt, daß die +antipsychologische Haltung vieler Philosophen jeder sinnvollen +Grundlage entbehrt. Der sogenannte "Psychologismus", der für die +Philosophie eine Zeitlang eine Gefahr scheinen mochte, ist beute +grundsätzlich abgetan. Die Entwicklung zeigte ferner, daß, wie auch B. +Erdmann in seiner "Reproduktionspsychologie" treffend betont hat, eine +wirklich vollständige Ablösung der Psychologie von der Philosophie gar +nicht möglich ist. Selbst bei den elementarsten Untersuchungen über +Empfindungstatsachen (siehe z. B. den besonders von Köhler geförderten +Streit über die Existenz "unbemerkter Empfindungen"), ferner in allen +Fragen, welche nicht aufeinander zurückführbaren G r u n d a r t e n +s e e l i s c h e r V e r k n ü p f u n g e n es überhaupt gebe, +läßt sich die Philosophie gar nicht ausschalten. Auch die Meinung, es +ließe sich eine empirische Psychologie errichten ohne bestimmte, +erkenntnistheoretische oder metaphysische Überzeugungen über das "Ich", +und sein reales Substrat hat sich gerade durch die Arbeiten der +gegenwärtigen Philosophie und Psychologie als ganz falsch erwiesen. Die +"Psychologie ohne Seele" gehört heute bereits der Geschichte an und +nicht minder die Herrschaft der Meinung, die Psychologie könne sich mit +der Schilderung bloßer Bewußtseinserscheinungen begnügen, und es könne +zwischen diesen selbst ein reales kausales Band aufgefunden werden. Da +ferner die moderne Psychologie sich längst von der einseitigen +Empfindungsforschung abgewandt hat und mit unter Anregung der +Husserlschen logischen Arbeiten sich der experimentell unterstützten +systematischen Selbstbeobachtung (bei der nicht der Versuchsleiter, +sondern die psychologisch geschulte Versuchsperson die psychologische +Beobachtung und Erkenntnis vollzieht im Gegensatz etwa zu bloßen +sogenannten Reaktionsversuchen) auch der höheren psychischen Funktionen +des Wollens (N. Ach, Lindvorsky) und des Denkens (Külpe, Bühler, +Störring, Lindworsky, Selz, Grünbaum) zugewandt hat, besteht nicht der +mindeste Grund mehr, die Experimentalpsychologie etwa der +Sinnespsychologie oder der Medizin oder überhaupt der +"Naturwissenschaft" zuzuweisen. Die von Dilthey, ferner von der +Phänomenologie und von K. Jaspers (siehe seine "Psychopathologie" und +sein neuestes Werk über "Psychologie der Weltanschauungen") auch mit in +de Psychiatrie hineingetragene Frage, wie sich die "Sinnzusammenhänge" +des Seelenlebens von den "psychophysischen Kausalzusammenhängen" +unterscheiden, und welche der beiden Arten von Psychologie (verstehende +oder erklärende Psychologie) Grundlage für die Geisteswissenschaften +sei, hat die Psychologie wieder in allerengste Verbindung mit der +Philosophie geführt. Die von Chr. Ehrenfels und Cornelius auf dem Boden +einer philosophischen Psychologie angeregten Probleme einer autonomen G +e s t a l t g e s e t z l i c h k e i t der ursprünglichsten +psychischen Gegebenheiten sind von Külpe, Bühler, Wertheimer, Koffka, +Benussi, Gelb, Köhler und anderen in überaus wertvollen und für de +Philosophie überaus wichtigen experimentellen Arbeiten so intensiv +gefördert worden, daß die Philosophie sehr übel daran täte, wollte sie +sich um diese Dinge nicht ernsthaft kümmern. Wie sehr die hier +neuaufgedeckten Tatsachen und Probleme auch für die philosophische +Klärung des Problems von Körper und Seele wichtig sind, zeigt die auf +seinen Bewegungsarbeiten ursprünglich fußende neue Theorie von +Wertheimer, daß als gehirnphysiologische Grundlage auch jeder +einfachsten Wahrnehmung (die stets durch einen Aufmerksamkeitsfaktor +mitbedingt und, nach ihrem Inhalt hin betrachtet, nie bloß "reine +Empfindung", sondern immer schon "Gestalt" ist), ein sogenannter +"Querprozeß" zwischen den gereizten Nervenenden der Gehirnrinde +notwendig sei. Als eine neue sehr zu begrüßende Sammelstelle der neuen +gestaltpsychologischen Richtung erscheint jetzt die eben gegründete +Zeitschrift "Psychologische Forschung" (Springer 1921), besonders von +Koffka, Köhler, Wertheimer, Goldstein, Gruhle, Köhler, der den Fragen +der Relations- und Gestalterfassung auch auf dem Boden der +Tierpsychologie in seinen auf der Station von Teneriffa gemachten +optischen Versuchen an Affen nachgegangen ist (Schriften der +Preußischen Akademie, Jahrgang 1915 und 1918 physik.-math. Klasse). +Köhler hat durch sein neuestes Buch über "Physische Gestalten" (1921) +das Wertheimersche Problem einem höchst bedeutsamen und für die gesamte +Naturphilosophie wichtigen Zusammenhang eingereiht, indem er auch auf +rein physikalischem Boden (Elektrostatik) nach einer selbständigen +Gestaltgesetzlichkeit (die sich in summenhafte Kausalität nicht +auflösen läßt) A n a l o g i e n für psychischen Gestalten aufsuchte. +Endlich ist seit Brentanos "Psychologie vom empirischen Standpunkt" das +insbesondere von E. Husserl und Karl Stumpf "Erscheinungen und +Funktionen" (1906) neu aufgegriffene Problem entstanden, ob und wie +weit A k t e u n d F u n k t i o n e n eine von "Erscheinungen" +unabhängige variable Natur und Gesetzmäßigkeit besitzen und eine ganz +neue Richtung der "Psychologie", die sogenannte Aktpsychologie, hat +sich an diese Arbeiten angeschlossen. T. Konstantin Oesterreich hat +sich in seinem grundlegenden Werke zur "Phänomenologie des Ich" ihr +angeschlossen. Es gibt nach meiner Meinung kein wichtigeres und +dringlicheres Desiderat für die künftige Philosophie und Psychologie +als eine eingehende philosophische Durchleuchtung der durch die +Resultate der verschiedenen psychologischen Diszipline gewonnenen +Tatsachenerkenntnisse. Der Verfasser hat es sich mit zu einer +Hauptaufgabe gesetzt, in einer Arbeit, die er unter der Feder hat, +diese Dinge zu fördern. Endlich verdienen auch neue Z w e i g e, die in +den letzten Jahren aus der Psychologie hervorgewachsen sind, genaue +philosophische Beachtung. So die Pathopsychologie, die durch den Krieg +(Kopfschüsse und Gehirnverletzungen) mächtig gefördert wurde, die +neuere Tierpsychologie, die von W. Stern angebahnte differentielle +Psychologie, die zukunftsreiche "Entwicklungspsychologie" Krügers, +nicht minder auch die Religionspsychologie und die erst neuerdings +besonders von Oesterreich, Dessoir, Driesch endlich auch in Deutschland +aufgegriffenen Tatsachen und Probleme der Parapsychologie, d. h. der +Psychologie der sogenannten okkulten Phänomene (siehe dazu besonders +Oesterreich: "Probleme der Parapsychologie" und sein Buch über +"Besessenheit", ferner Max Dessoir: "Das Jenseits der Seele"). Die +Forscher, die sich gegenwärtig in der Richtung auf eine philosophische +Durcharbeitung des neuen mächtig angewachsenen psychologischen +Erkenntnismaterials bewegen, sind vor allem E. Husserl, W. Stern, E. +Jaensch, Wertheimer, Köhler, Grünbaum, Lindworsky, Scheler, Driesch, +Selz, Kronfeld, Koffka, Th. Haering. Wir sind überzeugt, daß auf diesem +Wege sich eine weit tiefer gehende, freilich auch erheblich +kompliziertere abschließende Theorie über den Z u s a m m e n h a n g + v o n L e i b u n d S e e l e ergeben wird, als es durch die leeren +Prinzipienstreitigkeiten der Vergangenheit über Wechselwirkung und +Parallelismus je der Fall sein konnte. Schon jetzt scheiden sich meines +Erachtens drei nicht weiter aufeinander zurückführbare Gruppen von +Verknüpfungsarten und Gesetzen geistig psychischer Geschehnisse (resp. +Akte): 1. die mechanisch assoziativen, 2. die biopsychischen, bei denen +es allein konkrete zielmäßige Ganzkausalität gibt, 3. die poetischen +Intentionalgesetzlichkeiten, denen überall parallele Gegenstands-(resp. +Wert-) gesetzlichkeiten entsprechen.</p> + +<p>Wenden wir uns nun den jüngsten Schichten der gegenwärtigen +Philosophie, die zum größten Teil erst im 20. Jahrhundert ihren +Ursprung haben oder doch in ihm ihre stärkere Auswirkung fanden, zu, so +sind es weniger geschlossene S c h u l e n als einzelne +Persönlichkeiten, welche der Philosophie die Richtung auf einen neuen +Sachkontakt und gleichzeitig auf den Wiederaufbau der Metaphysik +gegeben haben. Einen Übergang zu dieser neuen Artung von Philosophie +bildet Wilhelm Dilhey (1833-1912) und die Forschergruppe, die von ihm +ausgegangen ist. Dilthey selbst war zeit seines Wirkens von +geschichtlichen und philosophischen Interessen gleichzeitig bewegt. +Eine in manchen Zügen dem romantischen Geistestypus verwandte, ungemein +reiche, zarte, genialische, aber auch problematische Natur (selten +schloß er ein Werk ganz ab), schüttelte er in seiner Entwicklung nur +langsam und nie vollständig die Ketten des historischen Relativismus +von sich ab. Aber was er in seinen stets tiefdringenden, gelehrten und +vor hellen intuitiver Erkenntnisgesichten erfüllten Abhandlungen gab, +das trug, gleichgültig, ob er sein Grundproblem, "die Kritik der +historischen Vernunft", ob er philosophiegeschichtliche oder +literatur- und kunstwissenschaftliche oder philosophiesystematische +Probleme behandelt, stets reiche Frucht. Auf sein bereits der +Geschichte angehöriges Werk, das jetzt in seinen noch nicht ganz +herausgegebenen gesammelten Schriften vorliegt, kann hier nicht +eingegangen werden. Alle heutigen Versuche, eine "verstehende +Psychologie" aufzubauen (Jaspers, Spranger, Scheler, Nohl, +Schmied-Kowarcik und auch die hierhergehörigen Versuche der jüngeren +Phänomenologen), wären ohne seine Wirksamkeit undenkbar gewesen. In +seinem Versuche, die Erkenntnistheorie von "der Totalität des +menschlichen Wesens" her, nicht nur von dem "verdünnten Saft bloßer +Denktätigkeit" aus aufzubauen und (hierin den Positivisten ähnlich) die +Erkenntnistheorie eng zu verbinden mit einer historischen Phasen- und +einer Typenlehre der menschlichen Erkenntnis- und der +philosophisch-metaphysischen Weltanschauungsformen, hat er in +Frischeisen-Köhler seinen Hauptschüler gefunden. Sein Interesse an der +Typologie der geistigen G e s t a l t e n des Menschentums, das er in +zahlreichen Aufsätzen bekundet hat, und seine Ideen auf diesem Gebiet +haben besonders Eduard Spranger stark angeregt. Sprangers jetzt in +zweiter erheblich erweiterter Auflage erschienenes Buch über +"Lebensformen" (1921) ist eine der reichsten und feinsinnigsten +Abhandlungen verstehender Psychologie und zugleich typologischer +angewandter Ethik, die wir auf diesem Gebiete besitzen. G. Wisch hat in +seiner "Geschichte der Selbstbiographie", die freilich noch unvollendet +ist, ein Problem ergriffen, das für die Frage der Abhängigkeit der +Selbstauffassung des Menschen von seiner geschichtlichen Umwelt und den +in ihr herrschenden Wertstrukturen von großer Bedeutung ist. H. Nohl +hat Diltheys Ideen über die Weltanschauungstypen in der Philosophie, +der dauernde Typenunterschiede des Menschentums entsprechen sollen und +die in der Geschichte sich gleichsam mit nur immer neuem +Erkenntnisstoff, der wachsenden Menschenerfahrung gemäß, ausfüllen, mit +Glück auf das Gebiet des Studiums der künstlerischen Darstellungsformen +übertragen. Der Metaphysik gegenüber verhielt sich Dilthey bis zu +seinem Lebensende skeptisch. Er hielt sie im Gegensatz zur positiven +Wissenschaft und zum religiösen Bewußtsein für eine nur historische +Kategorie, die einmal völlig aus der Geschichte ausscheiden werde. Das +vor allem macht gleichzeitig seine Verwandtschaft und seinen Gegensatz +zum Positivismus aus, dessen geschichtsmethodische und philosophische +Anschauungen er mit den deutschen, aus der Romantik entsprungenen +Geschichtsauffassungen eigenartig zu verknüpfen suchte (siehe besonders +"Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften", +1910). Allen seinen Schülern wußte er mehr zu vermitteln als bloße +Lehre — auch etwas von seiner eigenen bedeutenden geistigen Form +und Gestalt. Obgleich ihm Genauigkeit und Strenge in der +Erkenntnistheorie fehlte, wie überhaupt eine letzte klare Basis für +seine rein philosophischen Bestrebungen, hat er die Theorie der +Geisteswissenschaften doch ungleich mehr befruchtet als die +Südwestdeutsche Schule. Schon durch seine andersgeartete +Problemstellung, die nicht "Logik der Geisteswissenschaften" (es gibt +nur e i n e Logik), sondern die materialspendenden Quellen des +historischen Denkens, d. h. die verschiedenen Stufen und Arten des V e +r s t e h e n s fremden Erlebens, in den Mittelpunkt der Untersuchung +gerückt hat, ist sein Unternehmen dem der Badischen Schule weit +überlegen.</p> + +<p>Die bedeutsamste und wirksamste philosophische Bewegung der +Gegenwart ist von der Jahrhundertwende ab in der sogenannten "P h ä n o +m e n o l o g i e" aufgetreten. Das Wort darf vor allem nicht mit dem +sogenannten "Phänomenalismus" (d. h. der Lehre z. B. Kants, daß wir nur +"Erscheinungen", nicht die Dinge selbst erkennen) in Beziehung gebracht +werden. Nicht der Gegensatz von "Wesen" und "Erscheinung", sondern der +schon in der Scholastik als "grundlegend erkannte Gegensatz" von +"existentia" und "essentia". "Wesen" und "Dasein" beherrscht das Denken +dieser Forschergruppe; ferner deutet das Wort "Phänomenologie" an, daß +es sich bei der Aufsuchung der in der Welt realisierten Wesenheiten +(essentiae) vor allem um unmittelbar anschaulichen A u f w e i s +handeln soll. Den Ausgangspunkt für diese Bewegung, die sich freilich +in ihrem schwer durchschaubaren und auch aus Raummangel nicht zu +schildernden Ablauf von überaus verschiedenen geschichtlichen +Einflüssen genährt hat, bildete das Werk Edmund Husserls "Logische +Untersuchungen", 2 Bände (2. Aufl. 1921). Der erste Band dieses überaus +wirksamen Werkes galt einer Neubegründung der Logik. Jede Art von +Empirismus, Psychologismus, Relativismus, Anthropologismus, +Subjektivismus, den die herkömmliche Logik in sich aufgenommen hatte, +wurde bis in seine letzten Schlupfwinkel verfolgt und aus der Logik zu +entfernen versucht. Die logischen Wahrheiten sind nach Husserl streng +evidente Gegenstandswahrheiten, die von aller Konstitution und etwaiger +Veränderung der menschlichen Natur u n a b h ä n g i g sind. So war es +vor allem der siegreiche Kampf gegen den bei J. St. Mill, Sigwart, +Erdmann, Wundt und auch bei der sogenannten "normativen Logik" noch +vorliegenden "Psychologismus", dem das Werk seine große Wirksamkeit +verdankte. Obgleich dieser Band an erster Stelle reine Sachuntersuchung +ist, hat er doch historische Anknüpfungspunkte; sie liegen, wie +Grabmann gezeigt hat, schon in der Scholastik, soweit sie die +platonisierende Richtung einhält (z. B. bei Bonaventura). Ferner haben +Leibniz und sein später bis zu Husserls Wiederentdeckung völlig +unbekannter Schüler, der große Logiker und fruchtbare Mathematiker +Bolzano, der den Urteilsakt und den Satz "Ansich" als ideale +Seinseinheit unterschied, ferner auch Lotze in seinem Logikkapitel über +die "Platonische Ideenlehre" und Herbart in seinen logischen +Bestrebungen analoge Ideen ausgesprochen. Die vollständige +Vernachlässigung, ja der prinzipielle Ausschluß der Aktseite der +Denkgebilde, und die im 1. Band herrschende Vorstellung, es könne unser +Denken ohne Schaden für die Logik sogar etwa rein +assoziationspsychologisch verstanden werden, läßt sich freilich n i c h +t durchführen. Husserl selbst hat schon in seinem zweiten Bande diese +Auffassung im Grunde stillschweigend zurückgenommen. Erst der zweite +Band des Werkes brachte Untersuchungen, die in die Richtung der +späteren Phänomenologie geführt haben, die indes hier noch mit +deskriptiver Psychologie des Denkers identifiziert wird. Die zwei +wichtigsten Bestandteile dieses zweiten Bandes bestehen in der +ausgezeichneten und strengen Widerlegung aller seit Locke, Hume und +Berkeley von einem großen Teil der modernen Philosophie bis zur +Gegenwart fast wie selbstverständlich aufgenommenen nominalistischen +Bedeutungs- und Begriffstheorie und in der sechsten Untersuchung, +betitelt "Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis", +die in ihrem zweiten Abschnitt den wichtigsten Begriffsgegensatz der +"sinnlichen und kategorialen Anschauung" einführt, der nach meiner +Meinungen u n m i t t e l b a r s t e n Ausgangspunkt für die +Entstehung der Phänomenologie gebildet hat. Als der Verfasser im Jahre +1901 in einer Gesellschaft, die H. Vaihinger in Halle den Mitarbeitern +der "Kantstudien" gegeben hatte, Husserl zum erstenmal persönlich +kennenlernte, entspann sich ein philosophisches Gespräch, das den +Begriff der Anschauung und Wahrnehmung betraf. Der Verfasser, +unbefriedigt von der kantischen Philosophie, der er bis dahin nahestand +(er hatte eben schon ein halbgedrucktes Werk über Logik aus diesem +Grunde aus dem Druck zurückgezogen), war zur Überzeugung gekommen, daß +der Gehalt des unserer Anschauung Gegebenen ursprünglich weit reicher +sei als das, was durch sinnliche Bestände, ihre genetischen Derivate +und logische Einheitsformen an diesem Gehalt deckbar sei. Als er diese +Meinung Husserl gegenüber äußerte und bemerkte, er sehe in dieser +Einsicht ein neues fruchtbares Prinzip für den Aufbau der theoretischen +Philosophie, bemerkte Husserl sofort, daß auch er in seinem neuen, +demnächst erscheinenden Werke über die Logik eine analoge Erweiterung +des Anschauungsbegriffes auf die sogenannte "kategoriale Anschauung" +vorgenommen habe. Von diesem Augenblick an rührte die geistige +Verbindung her, die in Zukunft zwischen Husserl und dem Verfasser +bestand und für den Verfasser so ungemein fruchtbar geworden ist. Einen +starken Zuwachs erfuhr die phänomenologische Bewegung in ihrer ersten +Werdezeit dadurch, daß der ausgezeichnete und scharfsinnige Münchener +Psychologe Th. Lipps durch die Einwirkung der "Logischen +Untersuchungen" einen weitgehenden Umschwung seines ganzen Denkens +erfuhr, der sich in seinen letzten Arbeiten klar kundtat. Diesen +Umschwung machten seine hervorragendsten Schüler M. Geiger, A. Reinach, +Pfänder und die ihnen nahestehenden jüngeren Forscher nicht nur mit, +sondern sie schlossen sich, über Lipps überhaupt hinausgehend, den +Husserlschen Positionen weitgehend an. So kam es schließlich zur +Errichtung einer Sammelstelle für die phänomenologische +Forschungsrichtung im "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische +Forschung", von dem bisher fünf Bände bei Niemeyer in Halle erschienen +sind.</p> + +<p>Die Phänomenologie ist weniger eine abgegrenzte Wissenschaft als +eine neue philosophische E i n s t e l l u n g, mehr eine neue T e c h +n e d e s s c h a u e n d e n B e w u ß t s e i n s als eine +bestimmte Methode des Denkens. Nur so wird es verständlich, daß die +phänomenologische Bewegung nicht im selben Sinne die Einheit einer S c +h u l e hervorgebracht hat, wie etwa die früher behandelten Kantschulen +solche darstellen. Aus dem gleichen Grunde kann Phänomenologie nicht im +selben Sinne als objektiver Wissensgehalt g e l e h r t werden, wie die +Gedanken dieser Schulen. Nur durch fortgesetzte Ü b u n g dieser +Bewußtseinshaltung ist es möglich, in die Ergebnisse der Phänomenologie +tiefer einzudringen und selbst in ihr fortzuschreiten. Aus demselben +Grund gehen auch die einzelnen, von Husserl angeregten Forscher und +Forschergruppen in den R e s u l t a t e n viel weiter auseinander als +die Angehörigen jener genannten Schulen, ohne doch darum ihre fühlbare +Einheit, die eben in jener gemeinsamen neuen B e w u ß t s e i n s h a +l t u n g liegt, verlieren zu müssen. Husserl selbst spricht, diese +Bewußtseinshaltung charakterisierend, von einer "phänomenologischen +Reduktion"; sie besteht darin, daß auf der Gegenstandsseite aller +möglichen Gegenstände (physischer, psychischer, mathematischer, +vitaler, geisteswissenschaftlicher Gegenstände) von dem zufälligen h i +c e t n u n c D a s e i n d e r G e g e n s t ä n d e +abgesehen und auf ihr pures W a s, das heißt ihr "W e s e n" +hingeblickt wird; daß ferner analog der den Gegenstand erfassende +intentionale Akt, aus dem psychophysischen Lebenszusammenhang des +individuellen Menschen, der ihn vollzieht, gleichsam herausgelöst und +gleichfalls nur nach seiner essentiellen Wasbestimmtheit +charakterisiert wird. Diesen wesenserfassenden Akt, den unser geistiges +Bewußtsein von Etwas vollzieht, nennt Husserl "Wesenschau" und +behauptet, daß alle möglichen Theorien über das positive Wirkliche in +solchen Wesenseinsichten und in Einsichten in solche +Notwendigkeitsbeziehungen, die im G e h a l t e dieser "Wesen" selbst +fundiert sind, ihren letzten tragenden Grund besäßen. Alle +Wesenseinsichten, ob sie nun von psychischen oder von physischen oder +von mathematischen Gegenständen handeln, sind, obgleich sie weder auf +"eingeborenen Ideen" beruhen noch (wie nach Kant) bloße +Funktionsgesetzlichkeiten der geistigen Akte, das heißt +"Verstandsgesetze", ausdrücken gegenüber allem zufällig Wirklichen +objektiv a priori gültig. Denn was immer von dem Wesen irgendwelcher +Gegenstandsbereiche wahr ist und gilt, das muß auch gelten für alle +möglichen Gegenstände dieses Wesens, soweit sie der zufälligen +Daseinssphäre angehören. So begründet die Phänomenologie einen n e u a +r t i g e n A p r i o r i s m u s, der nicht nur die rein formalen +Sätze der Logik und der Axiologie in ihren verschiedenen +Unterdisziplinen (Ethik, Ästhetik usw.) umfaßt, sondern auch materiale +Ontologien entwickelt. Die Sphäre des apriorischen Wissens ist also in +der Phänomenologie unvergleichlich reicher als im formalen Apriorismus +Kants. Auch darin unterscheidet sich die Phänomenologie von Kants +Lehre, daß sie das proton pseudos Kants verwirft, es müsse alles, was +an Gegebenem n i c h t sensuell sei, erst durch eine hypothetisch +angenommene, synthetische konstruierende Tätigkeit des Verstandes oder +des Anschauens in den Erfahrungsgegenstand hineingekommen sein. Sie +sucht das "Gegebene" überall möglichst s c h l i c h t, v o r u r t e i +l s l o s und r e i n in möglichst dichte Anschauungsnähe zu bringen, +um es dann durch phänomenologische Reduktion in sein W e s e n zu +erheben. Das Apriori hat hier also keinen f u n k t i o n e l l e n S +i n n mehr. (Freilich schwankt Husserl in seiner letzten Schrift +"Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie" wieder über diesen +fundamentalen Punkt.) Das Apriori ist, wie auch eine seiner Unterarten +die kategorialen Formen, vielmehr Gegenstandsbestimmtheit, die von u n +s e r e n Begriffen vom Apriori nicht genau zu unterscheiden ist. +Ferner stellt das Apriori nicht mehr ein geschlossenes S y st e m von +Einsichten dar, die sich voneinander herleiten ließen, sondern kann im +Laufe der Entwicklung des Wissens immer neu vermehrt werden. Auch der +Gegensatz von Erfahrung und Denken, um den die großen Richtungen der +neuzeitlichen Philosophie, "Rationalismus" und "Empirismus", kreisen, +ist hier von der Schwelle der Philosophie abgewiesen. Mit Recht hat +Husserl immer wieder hervorgehoben, daß die Phänomenologie nicht nur +die Einlösung sei alles Wahren, was die kontinentale rationalistische +Richtung der Philosophie uns gegeben hat, sondern auch in gewissem +Sinne die Einlösung aller Ansprüche des Positivismus. Auch das, was a +priori evident ist, verdankt einem e r f a h r e n d e n (die +Phänomenologie sagt hier "schauenden"), nicht einem schaffenden, +formenden, konstruierendem Verhalten des Subjektes seine Erkenntnis, +nur mit d e m Unterschied von aller Erkenntnis zufälliger (hic et nunc) +Wirklichkeiten, daß das Ergebnis schauender Erfahrung durch die Q u a n +t i t ä t der "Fälle", an denen Erfahrung sich vollzieht, nicht +modifiziert werden kann. Nicht daher dem "Erfahren" überhaupt, sondern +nur der Methode der B e o b a c h t u n g und der i n d u k t i v e n +V e r a l l g e m e i n e r u n g an beobachtenden Fällen steht das +phänomenologische Erfahren und "Schauen" gegenüber. Auch die +Phänomenologie setzt so der Philosophie die Aufgabe, für alle ihre +Disziplinen die a p r i o r i s c h e n W e s e n s - u n d I d e e +n s t r u k t u r e n, die als objektiver Logos die gesamte +Weltwirklichkeit durchflechten und (im Sinne der Gültigkeit) +beherrschen, aufzudecken und alle positiven Wissenschaften und ihre +materialen Seinsbereiche in dieser Struktur gemeinsam zu verwurzeln. +Sie kann, geschichtlich gesehen, auch als eine Erneuerung eines i n t u +i t i v e n P l a t o n i s m u s angesehen werden, freilich mit +vollständiger Beseitigung der platonischen Ideenverdinglichung und +aller mythischen Beisätze. Und es ist wohl verständlich, daß von dieser +ihrer Eigenart her die Phänomenologie neuerdings auch mit der gesamten +p l a t o n i s c h - a u g u s t i n i s c h e n Philosophie der +patristischen und frühmittelalterlichen Philosophie, zum Teil aber auch +mit dem Aristotelismus, stärkere Fühlung genommen hat. Freilich gehen +in der Beantwortung sehr wesentlicher philosophischer Fragen und nicht +weniger in der Auffassung und Methode der Phänomenologie selbst die ihr +nahestehenden Forscher oft weit auseinander. Abgesehen von den +Weltanschauungsgegensätzen unter den Phänomenologen, der zum Teil in +verschiedenen religiösen Auffassungen gegründet ist, treffen wir z. B. +eine mehr systematisch gerichtete und eine mehr auf +Einzeluntersuchungen gerichtete Tendenz in der Phänomenologie. So +wertvoll viele dieser Einzeluntersuchungen sind (besonders diejenigen +Alexander Pfänders), so muß sich die Phänomenologie doch hüten, zu dem +zu werden, was ich andernorts "Bilderbuchphänomenologie" genannt habe; +ferner bestehen Gegensätze in der Auffassung jener, die, wie einst +Husserl selbst, die Phänomenologie der beschreibenden Psychologie zu +nahe rücken (z. B. Jaspers, Katz und Andere) oder hier doch nur ihre +Fruchtbarkeit sehen wollen und jenen, die sie vor allem als a p r i o r +i s c h e W e s e n s e r k e n n t n i s irgendwelcher — auch +nicht bewußtseinimmanenter — Gegenstände auffassen. Am tiefsten +aber ist der Gegensatz unter den Phänomenologen in den +erkenntnistheoretischen Fragen. Er ist dadurch besonders gesteigert +worden, daß E. Husserl in seinem letzten Werk über "Ideen" usw. sich +dem erkenntnistheoretischen Idealismus Berkeleys und Kants, sowie der +Ichlehre Natorps wieder bedeutend genähert hat und die Phänomenologie +nur als Wesenslehre von den B e w u ß t s e i n s s t r u k t u r e n +(die durch zufällige Erfahrungen unwandelbar sind) auffaßt; +gleichzeitig aber, ähnlich wie Kant, diese Bewußtseinsstrukturen zu +Voraussetzungen auch der Gegenstände der Erfahrung selber macht. Auch +ihm werden so die Gesetze der Erfahrung der Gegenstände zugleich +Gesetze der Gegenstände aller möglichen Erfahrung ("kopernikanische +Wendung" Kants). Diese eigenartige Wendung Husserls, nach der auch bei +Aufhebung aller Dinge ein "a b s o l u t e s B e w u ß t s e i n" +erhalten bliebe, ist fast von allen den von ihm angeregten Forschern a +b g e l e h n t worden und sie ist zugleich ein Haupthindernis für den +Aufbau einer Metaphysik auf wesenstheoretischer Basis. Die Einwirkung +der Phänomenologie auf die Philosophie der Gegenwart erstreckt sich auf +alle philosophischen Disziplinen. Auf Ethik, Wertlehre, +Religionsphilosophie und verstehende Psychologie hat die +phänomenologische Einstellung in seinen Forschungen auch der Verfasser +angewandt (siehe "Der Formalismus in der Ethik", "Phänomenologie der +Sympathiegefühle", "Abhandlungen und Aufsätze", "Vom Ewigen im +Menschen"); nach der Seite der Philosophie der Mathematik und der +Grundlegung der Ästhetik Moritz Geiger (siehe Jahrbucharbeiten); nach +der psychologischen und logischen Seite Alexander Pfänder (siehe +gleichfalls Jahrbuch); nach der erkenntnistheoretischen und +rechtsphilosophischen Adolf Reinach, ein überaus tiefgründiger und +zukunftsreicher Forscher, der zum Schaden für die deutsche Wissenschaft +im Kriege gefallen ist. (s. seine eben jetzt bei Niemeyer in Halle +erschienenen, in einem Band zusammengefaßten Abhandlungen). Aber weit +über diesen älteren und engeren Forscherkreis hinaus hat die +Phänomenologie nicht nur eine Anzahl höchst zukunftsreicher jüngerer +Forscher in ihren Reihen (hier seien nur D. von Hildebrand, Heidegger, +Frau Connad-Martius, A. Koyré, W. Schapp, Leyendecker, E. Stein +genannt), sondern hat weit darüber hinaus auch auf die gesamte +Wissenschaft unserer Zeit stark eingewirkt. Aus der Südwestdeutschen +Schule hatte sich ihr E. Lask, von Marburg her hat sich ihr N. Hartmann +genähert. Brunswigg hat, von ihr ausgehend, ein wertvolles Buch über +Psychologie der Relationen und eine für die Kantkritik wertvolle +Schrift geschrieben. P. F. Linke hat die Phänomenologie für die +Expenmcntalpsychologie fruchtbar zu machen gewußt (siehe "Grundfragen +der Wahrnehmungslehre", 1918). Der theoretische Physiker und +Mathematiker Weyl hat sein ausgezeichnetes Buch über die +Relativitätstheorie Einsteins gleichfalls auf phänomenologischer Basis +aufgebaut. Auch die Diltheyschule hat sich ihr, wie übrigens Dilthey +kurz vor seinem Tode selbst, in mannigfacher Hinsicht genähert. Driesch +ist in seiner "Ordnungslehre" weitgehend von ihr beeinflußt worden; +auch auf de scholastische Philosophie blieb sie, wie Geysers "Alte und +neue Wege der Philosophie" zeigen, nicht ohne Einfluß. Obgleich viele +fundamentale Fragen der Philosophie in ihr noch ungeklärt sind, darf +doch erhofft werden, daß von der Phänomenologie aus sich allmählich ein +E i n h e i t s b o d e n d e r B e t r a c h t u n g f ü r d i +e g a n z e P h i l o s o p h i e entwickelt, von dem aus eine neue +universale Sachphilosophie, wie wir sie anfangs forderten, sich +entfalten kann.</p> + +<p>In Oesterreich kommt die Brentanoschule (Marty, Höfler, Meinong) aus +eigenen Antrieben einigen der phänomenologischen Tendenzen weitgehend +entgegen. Marty, der Brentano am nächsten steht, ist vor wenigen Jahren +gestorben; sein höchst wertvoller Nachlaß, besonders seine ausgedehnten +Untersuchungen zur Sprachphilosophie und eine die Probleme von Raum und +Zeit betreffende Arbeit ist vor kurzem bei Niemeyer (Halle) erschienen. +Meinong, dessen geistige Entwicklung und Leistung am besten durch sein +im Buch "die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen" +gegebene, sehr schön geratene und jetzt nach seinem Tode besonders +wertvolle Selbstdarstellung kund wird, hat in seiner neubegründeten +"Gegenstandstheorie" gleichfalls das Ideal einer daseinsfreien +aprioristischen Gegenstandserkenntnis entworfen, die seine Schüler, +besonders Mally, weiter ausgebaut haben. Der Unterschied der +Gegenstandstheorie von der Phänomenologie bleibt gleichwohl tiefgehend. +Der Gegenstandstheorie fehlt vor allem der i n t u i t i v e C h a r +a k t e r der Phänomenologie. In seinem letzterschienenen Buche über +"Emotionale Präsentation" hat sich Meinong in der in diesem Buche neu +behandelten Theorie der Werte und Wertungen dem Standpunkt erheblich +genähert, den der Verfasser in seiner Ethik vertreten hat.</p> + +<p>Große Verwandtschaft, besonders mit der erkenntnistheoretischen +realistisch gerichteten Phänomenologie weist ferner das Werk eines +Mannes auf, der, viel zu wenig beachtet, einer der gründlichsten und +originellsten Denker unter den gegenwärtigen Philosophen darstellt. Ich +meine Johannes Rehmke, der in seiner "Grundwissenschaft" in seiner +"Logik" und in seiner "Psychologie" gleichfalls von dem als "gegeben +Gehabten" ausgeht und eine Ontologie des Gegebenen und seiner +Grundformen zur Basis aller theoretischen Philosophie macht (siehe auch +seine Selbstdarstellung in dem obengenannten Werke). Freilich blieb +Rehmkes Einfluß bisher auf kleine Kreise beschränkt, so daß sie die +Würdigung, die sie verdient, noch lange nicht gefunden hat.</p> + +<p>Unter den selbständigen Einzelpersönlichkeiten, die in der +gegenwärtigen Philosophie hervorragen, sind besonders als W i e d e r e +r w e c k e r d e r M e t a p h y s i k vier Namen zu nennen: W. +Stern, H. Driesch, H. Schwarz und E. Becher.</p> + +<p>Alle Wiedererwecker der Metaphysik sind erkenntnistheoretische +Realisten; alle wollen sie keine Metaphysik "aus reinen Begriffen" +(Kant), sondern eine Metaphysik, die auf dem Boden der +Erfahrungswissenschaft ruht, aber gleichzeitig in einer apriorischen +Bedeutungslehre ein Sprungbrett besitzt, um mit Hilfe der Methode der +Analogie über das direkt und indirekt Erfahrbare der positiven +Wissenschaften noch hinauszugehen. Die Richtung der modernen +metaphysischen Versuche geht im allgemeinen auf eine Neubegründung des +T h e i s m u s hinaus. Ohne bewußte historische Anknüpfung nähert +sich die Metaphysik so der deutschen Theistenschule der 50er und 60er +Jahre (Weiße, Ulrici, H. Fichte, Lotze). So gehören Külpe, H. Schwarz, +Brentano, Ehrenfels, Scheler, Driesch, Oesterreich, Becher, Jellinek, +Stern unter den Vertretern der modernen Metaphysik der theistischen +Gedankenrichtung an, wie verschieden sie auch je ihren Theismus und +Personalismus begründen. Es ist also ein besonderes Merkmal der +gegenwärtigen Metaphysik, daß sie im scharfen Gegensatz zur Metaphysik +der klassischen Epoche (noch mit Einschluß E. von Hartmanns) auffällig +u n p a n t h e i s t i s c h und stark p e r s o n a l i s t i s c h +ist. Ich habe a.a.O. (siehe "Vom Ewigen im Menschen", Band 1) gezeigt, +wie der moderne Pantheismus sich einmal durch die Entwicklung vom +akosmistischen zum naturalistischen Pantheismus (Hegel bis zum modernen +Modernismus), sodann durch Aufnahme immer neuer i r r a t i o n a l e r +Faktoren in den Weltgrund (Schelling, Schopenhauer, von Hartmann, +Bergson) in immer größerem Maße selbst zersetzt hat. Auch ist es wohl +begreiflich, daß in einer so chaotischen und leidenden Zeit wie der +unsrigen der Pantheismus (im Grunde eine Denkweise harmonisierend +gerichteter synthetischer und abschließender Kulturzeitalter) keinerlei +s e e l i s c h e A t m o s p h ä r e besitzt. Eine dritte Tendenz +der modernen Metaphysik ist die Aufnahme der biologischen Grundfragen +in das Zentrum der metaphysischen Probleme und eine gewisse, nach +meiner Meinung zu starke Neigung, die metaphysischen Fragen besonders +von dieser Seite her zu lösen (Bergson, Driesch, Stern).</p> + +<p>Neben dem Gottesproblem ist von der modernen Metaphysik auch die +Seelenfrage und das Problem der Willensfreiheit eingehender behandelt +worden. Auch in der Seelenfrage hat die theistische und +antipantheistische Auffassung der Seele als selbständiger, tätiger +Substanz wieder größeren Anhang erhalten (Stern, Driesch, Oesterreich, +Külpe, Scheler, Becher). Vor allem aber ist die tiefgehende Wandlung +des modernen metaphysischen Denkens an der Stellungnahme führender +Forscher zum Problem der Willensfreiheit kenntlich. Während vor etwa +zehn Jahren die mannigfachen Formen des "Determinismus" in fast +ausschließlicher Herrschaft standen, treten gegenwärtig eine große +Reihe bedeutender Forscher für die Lehre von der F r e i h e i t d e +s m e n s c h l i c h e n Willens ein. Es seien hier genannt James, +Bergson, K. Joël, dem wir ein besonders tiefgehendes Buch über die +Frage verdanken, Driesch, H. Münsterberg, Scheler, N. Ach, der in +seinem Buche "Der Wille und das Temperament" mit am meisten getan hat, +um die Willenstatsachen experimentell-psychologisch zu erklären, steht +gleichfalls der Lehre vom freien Willen nahe.</p> + +<p>Unter den genannten Metaphysikern, die diese allgemeine Richtung +einhalten, dürfte Stern, Becher und Driesch die größte Bedeutung +zukommen. William Stern, dessen Hauptwerk "Person und Sache" noch +unvollendet ist, versucht den Begriff der "Person" als ein +psychophysisch indifferentes, zieltätiges Aktionszentrum zur Grundlage +der Metaphysik zu machen — eine Auffassung, die manches mit der +Personlehre des Verfassers, wie er sie in seinem Buche über Ethik +entwickelt hat, gemeinsam hat, in anderer Richtung aber an Driesch und +von Hartmanns konkreten Monismus erinnert. Das wertvolle Buch Sterns +enthält auch eine sehr beachtenswerte Auseinandersetzung mit der +passivistischen und mechanistischen Biologie und der gleichsinnigen +Assoziationspsychologie, die einer scharfsinnigen und weittragenden +Kritik unterworfen werden. Sterns "teleomechanischer Parallelismus" der +alle formalmechanischen Beziehungen im Universum nur als M i t t e l s +y s t e m e für zwecktätige unbewußte Akte und Kräfte faßt, in denen +sich eine Hierarchie zwecktätiger "Personen" verschiedener Seins- und +Wertstufen immanent auswirken, ist ein sehr beachtenswerter Gedanke. +Freilich erscheint uns Sterns Vorgehen bislang noch zu dogmatisch, auch +ist bei Stern übersehen der Wesensunterschied von "Geist" und "Leben", +der hier in einen bloß graduellen Unterschied aufgelöst wird. Erich +Becher, der von der Naturphilosophie herkommt, ragt hervor durch seine +wertvollen naturwissenschaftlich-synthetischen Arbeiten (siehe seine +"Naturphilosophie" in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart"), die +allerdings eines selbständigen philosophischen Ausgangspunktes +ermangeln und noch zu sehr der Methode des Positivismus huldigen, +naturwissenschaftliche Resultate bloß nachträglich in eine Synthese zu +bringen. In seinem Werk über "Gehirn und Seele" und vor allem in seinem +Buche über "Die fremddienliche Zweckdienlichkeit in der Natur" (die er +an den Gallenbildungen erläutert) hat er die Anfänge einer Metaphysik +entwickelt. Sie gewinnt ihren Abschluß in der Annahme eines +"überindividuellen Psychischen", das die Erfahrungen und funktionellen +Anpassungen des Organismus während seines Lebens verwertet und alle +jene Erscheinungen verständlich machen soll, die auf eine E i n h e i t +des organischen Lebens in allen Arten und Gattungen hinweisen (neben +der fremddienlichen Zweckdienlichkeit, Ähnlichkeit von Organbildungen +bei stammesgeschichtlicher weitgehender Verschiedenheit, Tatsachen der +Sympathie, Erklärung all derjenigen Entwicklungserscheinungen, die +weder lamarckianistisch, n o c h darwinistisch erklärbar sind, +Erblichkeit funktionell erworbener Eigenschaften, die gleichwohl vom I +n d i v i d u u m als solchem nicht erworben sein können usw.). Zu +einem noch selbständigeren, einheitlicheren und geschlosseneren Aufbau +einer Metaphysik, die gegenwärtig großen Einfluß gewinnt, ist Hans +Driesch gelangt, Er hat jüngst seine Gedanken im Aufsatz "Mein System +und sein Werdegang" (siehe "Philosophie der Gegenwart in +Selbstdarstellungen", Band 1) kurz zusammengefaßt. Driesch kam von der +Naturforschung aus (Entwicklungsmechanik) in die Philosophie; seine +Hauptleistung stellt auch heute noch dar seine "Philosophie des +Organischen" (die eben in zweiter Auflage erschienen ist, bedeutend +vermehrt und erweitert), ein Werk, das zweifellos die bedeutendste +naturphilosophische Leistung darstellt, welche die deutsche +gegenwärtige Philosophie besitzt. Driesch versucht hier aus einer an +der Hand der modernen Entwicklungsmechanik, die er selbst stark +förderte, gewonnenen Analyse der Formbildung des Organismus und einer +Analyse der Handlung des Organismus s t r e n g e B e w e i s e für +seinen neuartigen "Vitalismus" zu erbringen. Bei aller Formbildung und +allen überreflexmäßigen "Handlungen" des Organismus müsse ein Agens +tätig sein, dem ganz bestimmte Merkmale und eine ganz bestimmte +gesetzmäßige Wirksamkeit zugeschrieben werden. Es heißt als +hypothetischer Wirkfaktor der Handlungen "Psychoid", als dynamischer +Wirkfaktor der Formbildungen "Entelechie" (was indes keine strenge +Identität mit dem aristotelischen Entelechiebegriff bedeutet). In +seiner eigentlichen Metaphysik sucht nun aber Driesch zu zeigen, daß +nicht nur das "Psychoid" mit der "Entelechie" in der metaphysischen +Wirklichkeitssphäre identisch seien, sondern daß auch die unserem +kontinuierlichen "Selbst" zugrunde zu legende, aus den passiven +Bewußtseinserscheinungen erschlossene reale Seele mit dem durch rein +objektive Naturbetrachtung gewonnenen entelechialen und psychoidealen +Faktor identisch sei. Diesen Gedanken hat Driesch besonders in seinem +Werk "Leib und Seele", in dem er den psychomechanischen Parallelismus +(besonders durch eine Mannigfaltigkeitsbetrachtung) widerlegt, +ausgeführt. Eine erkenntnistheoretische und logische Basis für diese +Metaphysik hat Driesch entwickelt in seiner "Ordnungslehre" und in +seinem Buch "Erkennen und Denken"; die Gesamtheit seiner metaphysischen +Gedanken hat er zusammengefaßt in seinem Buche über +"Wirklichkeitslehre". Ausgehend von einem "methodischen Solipsismus", +entwickelt er in einer besonderen "Selbstbesinnungslehre" zuerst ein +apriorisches System von Bedeutungen und d e n k m ö g l i c h e n +Beziehungsformen. In der Art, wie dies geschieht, ist er durch Husserl +und Meinong stark beeinflußt. Sein Gegenstandsbegriff ist von Meinong +übernommen. Die Schwäche der Driesch'schen Metaphysik (von ihren +Mängeln, dem fast vollständigen Übergehen sowohl der sittlichen als der +geistig historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit als Daten auch für +die Metaphysik abgesehen) scheint mir weniger in seinen höchst +wertvollen biologischen Positionen als in seiner Naturphilosophie des +Anorganischen zu liegen, in der er einem Mechanismus, der einem +veralteten Stande der theoretischen Physik entspricht, huldigt. Ferner +kommt auch bei ihm, ähnlich wie bei Stern, der Unterschied der +spezifisch g e i s t i g e n Akte und ihrer autonomen Gesetzlichkeit +gegenüber dem biopsychischen Tatsachenbereich n i c h t zu seinem +Rechte. Dadurch entsteht die Gefahr eines pantheistisch gefärbten +Allvitalismus, der durch seine neuesten Ausführungen in der +"Philosophie des Organischen" über "Einheit und Pluralität" der +Entelechien, in denen er stark der Einheitslehre zuneigt, noch größer +geworden ist. Jedoch kann bei diesem entwicklungsreichen und +großzügigen Denker über die endgültige Gestaltung seiner Philosophie in +diesen Punkten noch nichts Sicheres ausgesagt werden.</p> + +<p>Die unmittelbarste Einwirkung vielleicht, welche die großen +Weltereignisse auf den Gang der deutschen Philosophie ausgeübt haben, +haben ohne Zweifel an erster Stelle die R e l i g i o n s p h i l o s o +p h i e und die P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n +d G e s e l l s c h a f t erfaßt. Sowohl die gewaltige r e l i g i ö +s e Bewegung unserer Tage wie der Hiatus der europäischen Geschichte +(und die Gesamtheit von Bestrebungen zu sozialer Neuformung) mußten +auch die Philosophie stark in ihren Bereich ziehen. Religiöse Bewegung +und religionsphilosophisches Denken stehen heute in stärkster +Wechselwirkung. Auf die religiösen oder gar kirchlichen Bewegungen +selbst können wir hier nicht eingehen (siehe hierzu meinen Aufsatz über +"Friede unter den Konfessionen" im "Hochland" und mein Buch "Vom Ewigen +im Menschen", Band 1). Will man der gegenwärtigen religiösen Bewegung +ein allgemeines Merkmal zuerteilen, so wird man vor allem von einer +Hypertrophie m y s t i s c h e r Tendenzen in allen Sonderarten der +religiösen Bewegung und auf allen Gebieten (Philosophie, Kunst, +Dichtung) reden können. Diese Bewegung umfaßt sowohl den katholischen +und den protestantischen Kulturkreis als jene Kreise, die eine "neue +Religion" wollen. Die gesamte mystische Bewegung steht stark unter dem +Einfluß des Ostens, so der großen russischen religiösen Denker +(Tolstoi, Dostojewski, Mereschkowski, Solowjew), aber auch der +indischen und chinesischen alten Weisheitslehren (siehe z. B. die +Wirksamkeit R. Tagores), Die immer stärker anwachsende +anthroposophische Bewegung R. Steiners, deren Ideen auch die +philosophisch von Driesch stark beeinflußten, in vieler Hinsicht sehr +wertvollen Gedanken des physikalischen Chemikers K. Jellinek in seinem +lesenswerten Buche "Das Weltengeheimnis" eigentümlich färben, steht +gleichfalls unter östlichem Einfluß (z. B. Wiederverkörperungslehre, +der auch H. Driesch nahesteht). Die expressionistische Kunst der +Gegenwart, die im "Weißen Reiter" auch einen vorwiegend katholischen +Ausdruck gefunden hat, steht gleichfalls stark unter diesen östlichen +Einflüssen. Am befremdlichsten wirkt hierbei die mystische Bewegung +innerhalb des protestantischen Kulturkreises, um so mehr, als die +vorwiegende protestantische Theologie, besonders die Schule A. +Ritschls, vor den Kriege aller Mystik äußerst abhold war und in ihr +überall "katholisierende Tendenzen" witterte. Der Ausspruch Harnacks: +"Ein Mystiker, der nicht katholisch würde, sei ein Dilettant" ist für +die ältere Stellung der protestantischen Theologie in schärfstem +Gegensatz zur Gegenwart charakteristisch. Sehr häufig verbindet sich +die östlich gefärbte Mystik unserer Tage, die man mit Recht in eine +geschichtliche Parallele einerseits mit dem unseren Zeitalter so +ähnlichen Hellenismus der Spätantike, andererseits mit den +Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Auftreten des +Pietismus) gesetzt hat, auch mit einer östlichen Orientierung in der +Politik (siehe z. B. die Schriften des Heidelberger Philosophen H. +Ehrenberg und die Arbeiten E. Rosenstocks). Es ist noch fraglich, wie +weit die Gesamtheit dieser Erscheinungen als bloße Flucht der Seele aus +den Wirren der Zeit und wie weit sie als p o s i t i v e +Ausgangspunkte einer neuen lebendigen Religiosität zu werten sind. +Bisher hat das Ganze noch einen stark chaotischen Charakter. Innerhalb +des katholischen Kulturkreises, in dem gegenwärtig eine große geistige +Regsamkeit wahrzunehmen ist, stellen sich die mystischen Tendenzen noch +am geformtesten dar und werden außerdem durch eine ihnen in gewissem +Sinne entgegengesetzte Bewegung, die von den Benediktinern inaugurierte +"liturgische Bewegung" in Schranken gehalten. Hier bemüht man sich vor +allem, "wahre und falsche Mystik" zu unterscheiden (siehe besonders die +Aufsätze von A. Mager in der "Benediktinischen Monatschrift" und im +katholischen Sonderheft der "Tat"; für die liturgische Bewegung siehe +vor allem die vom Abt J. Herwegen herausgegebene Schriftenreihe +"Ecclesia orans", besonders R. Guardini: "Vom Geist der Liturgie"). +Trotz des tiefen inneren Gegensatzes der mystischen, mehr an das +Mittelalter und die Gotik anknüpfenden Bewegungen und der liturgischen +a l t k i r c h l i c h e n Bewegung gewinnen beide Tendenzen eine Art +Einigung wieder dadurch, daß manche katholischen Denker auch in der +Philosophie und Theologie stärker an die mystischer gefärbte +platonisch-augustinische Auffassung anknüpfen, die mit den liturgischen +Bestrebungen ja auch den alt- und frühkirchlichen historischen +Grundcharakter teilen. In der Philosophie ist auf +religionsphilosophischem Boden dieser sich allenthalben wieder stärker +regende A u g u s t i n i s m u s (freilich stark modifiziert) auch mit +der Phänomenologie (die, wie bemerkt, ja selber stark platonisch +orientiert ist) in Verbindung getreten durch das Werk des Verfassers +"Vom Ewigen im Menschen", Band 1, in dem versucht wurde, sowohl der +Metaphysik als der Religionsphilosophie (das letztere durch +Aufrechterhaltung eines selbständig religiösen und unmittelbaren +Faktors in der religiösen Gotteserkenntnis) eine neue Selbständigkeit +zu geben ("Konformitätssystem von Glauben und Wissen"). Auf ganz +anderem philosophischen Boden (mit Anknüpfung an die modernen +Kantschulen) hat J. Hessen den "augustinischen Gottesbeweis" wieder zu +Ehren zu bringen versucht, und auch Switalsky hat ihm in seinen +Arbeiten wieder ein größeres Recht eingeräumt, als die vorwiegend +thomistische Richtung ihm bisher gewährte. Auch diese Tendenz ist wohl +verständlich sowohl aus dem a l l g e m e i n e n Streben wieder +stärker an frühkirchliche geistige Erscheinungen anzuknüpfen, als vor +allem auch daraus, daß es sich heute nicht darum handeln kann, so wie +zu Zeiten des Thomas von Aquin das relative R e c h t von Natur und +Vernunft gegenüber einer stark im Übernatürlichen versunkenen mächtigen +und einheitlichen christlich erfüllten Welt sicherzustellen, sondern u +m g e k e h r t darum, eine ganz und gar in das Weltliche und +Materielle versunkene weltanschaulich tiefpartikularisierte +Gesellschaft Gott und die göttlichen Dinge wieder geistig +nahezubringen. An Stelle der bloßen "ars demonstrandi", die +erfahrungsgemäß nur dort überzeugt, wo traditioneller Glaube den +Menschen bereits beherrscht, tritt hier eine "ars investigandi et +inveniendi" und gleichzeitig die alte anselmische Lehre, daß das +religiöse Bewußtsein und das Haben seines Gegenstandes (Gottesidee) dem +philosophisch-wissenschaftlichen Bewußtsein und der ihr entsprechenden +Weltgegebenheit gesetzlich (wenn auch geschichtlich mit ganz variablem +Inhalt) vorhergeht (im Sinne des anselmischen "Credo, ut intelligam"). +Auch mit H. Newman, dessen "Grammatik der Zustimmung" eben von Th. +Haecker neu übersetzt wurde, und dessen Schriften gegenwärtig auch in +katholischen Bildungskreisen stark gelesen werden, steht diese Bewegung +in mannigfacher Verbindung (vgl. auch die Zeitschrift "Brenner", in der +sich religiöse Gedanken verschiedener Konfessionen begegnen). Auch die +bemerkenswerten Reden des Tübinger Dogmatikers Adam über "Glauben und +Wissen", "Religion und Gegenwart" verraten die geschilderten +Gedankenmomente. Ihr praktisches Gewicht und ihre soziale Parallele +erhält diese neuere katholische Denkrichtung durch die sich in den +katholischen Bildungskreisen immer stärker durchsetzende Überzeugung, +daß die Religion sich in einer Zeit, in der die gewaltigen Stützen der +Kirche durch den Staat zusammengebrochen sind, und in der sich der +Glaube zu r e i n i g e n hat von allen ständischen und klassenmäßigen +Amalgamierungen, in die ihn die verflossene Geschichte gebracht hatte, +vor allem innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den +Interessenstrukturen der Politik und Wirtschaft gewinnen müsse, um +wieder eine praktisch lebendige Kraft auf das Leben zu gewinnen. Aus +demselben Grunde sucht man in bezug auf geschichtliche Vorbilder +innerhalb des katholischen Kulturkreises an solche Zeiten und +Persönlichkeiten anzuknüpfen, in denen die Religion aus ihrer eigenen +inneren Kraft heraus (ohne Stütze von irgendeiner anderen Macht) neue +soziale Bewegungen e i n g e l e i t e t oder doch mit ihrem Geiste +durchhaucht hat. Das von D. von Hildebrand herausgegebene Buch "Der +Geist des heiligen Franziskus" will in diesem Sinne die franziskanische +Bewegung nach allen in Betracht kommenden Richtungen +charakterisieren.</p> + +<p>Innerhalb des p r o t e s t a n t i s c h e n Kulturkreises deuten +mehrere Erscheinungen gleichfalls auf den neuen religiösen Geist der +Zeit hin. Der weitgehenden soziologischen Umformung der Behälter und +Wirkungsweisen des protestantischen Geistes (die keineswegs, wie man so +oft irrig meint, ein Nachlassen auch seiner K r a f t und seiner +Wirksamkeit zu bedeuten braucht) — man kann sie kurz als Tendenz +zu Sekten, Kreis-Ordensbi1dungen um irgendeine charismatisch +erscheinende Persönlichkeit herum charakterisieren — entspricht +eine Reihe religionsphilosophischer und theologischer Neuerscheinungen, +welche starke Beachtung verdienen. Hier sind vor allem die +tiefgreifenden und wirksamen Arbeiten von R. Otto (siehe "Das Heilige", +2. Auflage), ferner von H. Scholz "Religionsphilosophie" (1921), die +Arbeiten des Hallenser Dogmatikers Heim, die mannigfachen Schriften Fr. +Heilers (siehe "Das Gebet" und "Buddistische Versenkungsstufen", "Das +Wesen des Katholizismus"), die mystische Wert- und Religionsphilosophie +von H. Schwarz "Das Ungegebene", Tübingen 1921, zu nennen. Auch die +Arbeiten von K. Oesterreich über "Religionspsychologie" und die neue +große Arbeit über denselben Gegenstand von J. K. Girgensohn, ferner als +überkonfessionelle Sammelstelle religionspsychologischer Bestrebungen +die "Zeitschrift für Religionspsychologie" mögen hier aufgeführt sein, +obzwar diese Erscheinungen weniger religiös als rein wissenschaftlich +bedeutsamen Charakter besitzen. Den größten Einfluß von diesen Arbeiten +hatten ohne Zweifel die Schriften von Otto und Heiler. Otto betrachtet +die Werte des Heiligen und Göttlichen, die er in der ersten Hälfte +seines Buches rein phänomenologisch untersucht, auf ihre +Wesensbestandteile und scheidet sie in rationale (z. B. Güte, Wissen +usw.) und irrationale. Als irrationale Grundwerte, die sich nicht so, +wie die Kantschulen meinen, in "allgemeingültige Vernunftwerte" oder +deren Steigerung ins "Unendliche" oder "Vollkommene" auflösen lassen, +nennt Otto das "Numinose". Er zerlegt das ihm entsprechende Gefühl in +das "Kreaturgefühl" in das "mysterium tremendum" das dem Heiligen den +Charakter des Schauervollen, Übermächtigen und Energischen verleiht, in +das Moment des geheimnisvollen "ganz anderen" und in das Moment des +magisch anziehenden "fascinosum". Er verfolgt alle diese dem Göttlichen +konstitutiv eigenen "irrationalen" Elemente durch das Alte und Neue +Testament und durch Luthers Schriften hindurch und gibt am Schlusse +eine Art religiöser Erkenntnistheorie, die an die von Fries +modifizierte Kategorienlehre Kants anknüpft. Eine Kritik seiner +Aufstellungen habe ich auch in meinem Buche "Vom Ewigen im Menschen" +gegeben (siehe auch E. Troeltsch in den "Kantstudien"). Die +Bestrebungen nach einer freien religiösen Mystik sind innerhalb des +Protestantismus durch dieses Buch stark gesteigert worden. Heiler gab +in seinem Buche über "Das Gebet" eine überaus großzügige, gelehrte und +auch phänomenologisch und psychologisch überaus anregende Studie, die +nur den Fehler hat, daß sie mit Hilfe gewisser von der Ritschlschen +Theologie entlehnter Kategorien, besonders der Kategorie des +"prophetischen" und "mystischen Gebets" viele Erscheinungen des +religiösen Lebens vergewaltigt. Das beste Buch Heilers ist das Buch +über "Buddhistische Versenkungsstufen", in dem er diese Stufen +feinsinnig phänomenologisch erörtert und nur ihre T e c h n i k noch zu +wenig beschreibt. Sei prinzipienlos und historisch nach rein +individuellen und subjektiven Eindrücken geschriebenes Buch über das +"Wesen des Katholizismus", das zugleich eine erstaunliche +Verherrlichung der im "Gebet" gerade als "unevangelisch" verurteilten +katholischen Mystik und gleichzeitig eine herbe Anklage gegen die +gegenwärtige Kirche darstellt, sucht nach Harnacks Vorgang das Ganze +des Katholizismus als "Synkretismus" aus fünf Bestandteilen zu +erweisen; sie sollen bestehen im Evangelium, dem römischen Reichs- und +Rechtsgedanken, dem jüdischen Legalismus und seiner Kasuistik, den +paganisch-magischen Faktoren (Messe) und der nach Heiler auf den Orient +zurückgehenden hellenischen Philosophie und Mystik. Die Methode der +Betrachtung ist hier im wesentlichen diejenige Harnacks. Das religiöse, +bei Heiler vorherrschende, aber von seinen Stimmungen stark abhängige +"Ideal" soll gegeben sein in dem, was er in seiner Anlehnung an den +schwedischen Bischof Soederbloem die "Evangelische Katholizität" nennt. +— Die "Religionsphilosophie" von H. Scholz, die besonders in +ihren kritischen Partien ausgezeichnet geraten ist, will ähnlich wie R. +Otto und in mancher Hinsicht auch ähnlich wie der Verfasser in seinem +Werke "Vom Ewigen im Menschen" die Religion auf eine besondere F o r m + d e r r e l i g i ö s e n E r f a h r u n g gründen, die aber +nicht allen Menschen zukommen soll. Auch dieses Werk nimmt seinen +Ausgangspunkt vor allem in dem Wesen der m y s t i s c h e n +Gotteserfahrung und sucht von hier aus die Religion mit dem Ganzen des +menschlichen Geisteslebens in innere Beziehung zu setzen. Auch K. +Oesterreich hat in seiner Schrift "Über die religiöse Erfahrung" +dieselbe Methode und denselben Ausgangspunkt wie die genannten +phänomenologischen vorgehenden Forscher. Überblickt man diese und +andere hier aus Raummangel nicht genannten Erscheinungen der +protestantischen Religionsphilosophie und Theologie und vergleicht sie +mit den augustinisch gefärbten Arbeiten innerhalb des katholischen +Kulturkreises, so eröffnet sich eine A u s s i c h t, die nach meiner +Meinung von größter Tragweite ist. Es ist die Aussicht auf eine mählich +fortschreitende Einigung der Forscher verschiedener Konfessionen über +die Grundfragen wenigstens der natürlichen Theologie und der +Religionsphilosophie. Solange auf der einen Seite einseitigster +Kantianismus, auf der anderen Seite ein ausschließlicher Thomismus +traditionalistisch herrschten, war auch der bloße V e r s u c h einer +solchen Einigung völlig ausgeschlossen (siehe dazu auch R. Eucken: +"Kant und Thomas, der Kampf zweier Welten"). Den W e r t einer solchen +Einigung aber wird man nicht gering anschlagen dürfen, denn es würde +dadurch der widersinnige Zustand, den ich a. a. O. als einen "Skandal +der Philosophie und Theologie zugleich" bezeichnet habe, aufgehoben, +daß in der nicht auf positiver Offenbarung und Tradition beruhenden +sogenannten "natürlichen Gotteserkenntnis" (die jedem Menschen spontan +zugänglich sein soll) gerade am m e i s t e n der bloße historische +Traditionalismus herrscht, und daß die konfessionell verschiedenartigen +religiösen Bildungskreise in der natürlichen Theologie und +Religionsbeurteilung eher n o c h w e i t e r auseinandergehen als in +den Fragen der positiven Theologie und der Glaubensbekenntnisse.</p> + +<p>Auch innerhalb der theoretischen und praktischen Führerschaft der +deutschen Sozialdemokratie sind gegenwärtig Versuche bemerkenswert, das +religiöse Problem einer neuen Durchforschung zu unterziehen, die von +der marxistischen überkommenen Lehre, der gemäß die göttlichen Dinge +nur ein phantastisches "Aroma" sein sollen, das als +"Begleiterscheinungen" ökonomischer Herrschaftsverhältnisse aus der +"bürgerlichen Gesellschaft" aufsteigt (Marx), prinzipiell abweichen. +Noch sehr fadenscheinig ist die Religion in Paul Göhres "Der unbekannte +Gott" gefaßt, dagegen haben Radbruch, Maurenbrecher, mehrere Freunde +der "Sozialistischen Monatshefte", die theoretischen Vertreter des +Bundes sogenannter "religiöser Sozialisten" Ansichten geäußert, die, +wie immer man sie beurteilen mag, eine neue Stellung auch der +sozialdemokratischen Arbeiterklasse zu den Problemen der Religion +ankündigen. Da nach unserer Meinung jeder religiös nicht an das höchste +Gut und Gott glaubende Mensch, und jede Klasse solcher Menschen ein +nachweisbares S u r r o g a t des höchsten Gutes in Form eines zu einem +"Götzen" gestempelten endlichen Wertes (heiße er Geld, Nation, +Zukunftsstaat oder sonstwie) besitzen, wird der vermutlich bald +vollständig einsetzende, schon heute (siehe das neue +sozialdemokratische Parteiprogramm) sehr weitgehende Verzicht auf die +Verwirklichung der Ideale des Kommunismus und des "Zukunftsstaates" (an +die ein gewaltiges Maß eschatologischer Religiosität gleichsam +festgebunden war) einen l e e r e n Raum in der Seele der +Arbeiterklasse schaffen, der ihre Disposition für die Aufnahme echt +religiöser Güter bedeutend steigern dürfte. In diesem Sinne hat sich +auch Otto Baumgarten in seinem Buche "Der Aufbau der Volkskirche", das +die Möglichkeit des Aufbaus einer protestantischen Volkskirche an +Stelle einer bloßen "Pastorenkirche" eingehend und feinsinnig erwägt, +ausgesprochen.</p> + +<p>Nicht minder tief greifen, wie gesagt, die Wirkungen der +Weltereignisse auf die geschichtsphilosophischen und soziologischen +Neuorientierungsversuche der Gegenwart ein. Alle größeren +geschichtsphilosophischen Versuche der europäischen Geschichte, die wir +kennen, die Versuche Augustins und Johanns von Freising, die Versuche +Vicos, Bossuets, Hegels und Comtes haben ihren Ursprung in Zeitaltern, +die nach großen, die Verhältnisse tief umformenden Geschichtswendungen, +gleichsam eine Besinnung der Menschheit über den bisherigen Verlauf +ihrer Geschichte anregen. Der Französischen Revolution wohnte in diesem +Sinne die mächtigste Anregungskraft für geschichtsphilosophische +Besinnung ein, und so ist es kein Wunder, daß gerade gegenwärtig die +geschichtsphilosophisch m a t e r i a l e B e t r a c h t u n g der +Dinge eine neue Auferstehung gefeiert hat. Zum Teil knüpfen diese +Versuche an Gedanken an, die schon vor dem Kriege wieder eine Rolle zu +spielen begannen. Kaum ein geschichtsphilosophischer Versuch der +Gegenwart zeigt sich z. B. nicht irgendwie durch Nietzsches starke +Anregungen bedingt. Ferner fühlt man überall die Ideen Burckhardts, wie +er sie in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" entwickelt hat, +die Auffassungen von Dilthey, Troeltsch, Hegel und Hartmann noch +lebendig. Der grundlegende Gesichtspunkt, welcher der gegenwärtigen +Geschichtsphilosophie ihr b e s o n d e r e s Gepräge verleiht, ist vor +allem der Gegensatz zwischen Dekadenz oder Erneuerungsmöglichkeit der +europäischen Menschheit und dazu die noch mögliche Aufgabe und Rolle +"Europas" im zukünftigen Weltgetriebe. Schon diese Frage führt wie von +selbst dazu, die E n g e und B e d i n g t h e i t der spezifisch +europäischen Maßstäbe und europäischen Denkformen in allen bisherigen +Geschichtsauffassungen und -beurteilungen immer tiefer zu erkennen. +Diesen Fragen gegenüber sind heute die mehr formalen Probleme der +Geschichts e r k e n n t n i s weitgehend zurückgetreten. Oswald +Spengler hat dem auf alle Fälle starken Wurfe seines "Untergang des +Abendlandes" in seinem Aufsatz über "Pessimismus?" eine sehr +eigenartige Interpretation nachfolgenlassen (der zweite Band des +"Untergangs" wird demnächst erwartet). Seine D e k a d e n z l e h r e +ist in seinem "Untergang" weniger tiefgehend als sensationell +vertreten. Die ungeheure Wirkung dieses Buches und der aufregende +Neuheitseindruck, mit dem es entgegengenommen wurde, ist psychologisch +nur aus der N i e d e r l a g e Deutschlands im Kriege zu verstehen. +Aber außerdem ist er nur begreiflich daraus, daß das große Publikum +offenbar keine Ahnung davon hatte, wie sehr diese Dekadenzlehre bereits +durch anderweitige Forscher vorbereitet war. Graf Gobineau, J. +Burckhardt, Fr. Nietzsche, F. Tönnies, E. Hammacher (siehe sein Buch: +"Grundprobleme der modernen Kultur"), M. Scheler (siehe "Ressentiment +im Aufbau der Moralen"), W. Sombart — sie alle hatten ja, wenn +auch mit weitgehend verschiedener Begründung und Fundierung, im Grunde +der These gehuldigt, daß sich das Abendland des 19. Jahrhunderts im +Niedergang befinde. Der Kreis Stefan Georges dachte in derselben +Richtung. E. von Hartmanns universaler Geschichtspessimismus zielte +gleichfalls auf eine geschichtsphilosophische Dekadenzlehre hin. Nur +das satte Behagen der deutschen Oberklassen während des Wilhelminischen +Zeitalters konnte diese warnenden Stimmen über hören lassen und den +Schein erzeugen, daß man über Fortschritt und Aufstieg Europas so einig +sei, wie es etwa Hegel und in anderer Form und Art die Positivisten +Comte und Spencer gelehrt hatten. Freilich maßten sich alle diese +genannten Denker n i c h t an, astronomisch voraussagen zu können, was +in Zukunft sein und geschehen werde, so wie es Spengler auf Grund +seiner vermeintlichen vagen Phasen- und Gleichzeitigkeitsgesetze getan +hat, nach denen z. B. Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus innerhalb +der Phasenabfolge der indischen, römischen und modernen Zivilisation +"gleichzeitig" sein sollen. Es genügte ihnen so wie es allein möglich +und sinnvoll ist, von Niedergangstendenzen zu reden, deren Realisierung +durch die ursprüngliche Freiheit der menschlichen Persönlichkeit oder +doch durch arationale Geschichtsfaktoren auch prinzipiell umgebogen +werden könne. Eine solche "Freiheit" kennt Spengler nicht, er +betrachtet die großen Kulturen, die er an sich mit Recht als eine +ursprüngliche Vielheit ansieht (siehe hierzu auch des Verfassers +Abschnitt "Die Einheit Europas" in seinem Buche "Genius des Krieges"), +wie Pflanzenvegetationen, die aus der "mütterlichen Landschaft" +herauswachsen, dann einen Prozeß des Aufblühens, Alterns und Sterbens +durchlaufen. Diese biologischen Analogien sind aber auf die Geschichte +unanwendbar. Wertvoll dagegen ist der Versuch Spenglers, a l l e +Sphären der geschichtlichen Güterwelt (Wissenschaft, Künste, +Staatsformen usw.) auf die Einheit einer "Kulturseele" +zurückzubeziehen, und ihre Strukturidentität aufzuweisen. Die +Durchführung des Gedankens, den auch Dilthey, Duhem (siehe "Geschichte +der physikalischen Theorien"), Scheler und andere längst aufgenommen +hatten, ist indes oft überaus spielerisch und willkürlich (vergleiche +dazu das Heft des "Logos" indem sich eine Reihe von Forschern mit +Spengler beschäftigen). Zur Kritik Spenglers ist schon eine kleine +Literatur erschienen, aus der ich Th. Haerings "Die Struktur der +Weltgeschichte" (1921), die Schrift von H. Scholz "Zum Untergang des +Abendlandes" (1920) und Götz Briefs "Untergang des Abendlandes, +Christentum und Sozialismus" (1920), Kurt Breysigs "Der Prophet des +Untergangs" hervorhebe. Ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und +überdies aus den mannigfaltigsten verschwiegenen Anregungen +zusammengeflossen sind die philosophischen und erkenntnistheoretischen +V o r a u s s e t z u n g e n des Buches. Sie enthalten einen +Relativismus, der sich im tiefsten Gegensätze befindet zu aller +ernsthaften gegenwärtigen Philosophie, und sind nur ein letzter +Nachklang des romantischen Historismus der Vorkriegszeit und seiner +verantwortungslosen, sich in alles und jedes "einfühlenden" +schauspielerischen Verwandlungskunst — Haltungen, von der +heutigen J u g e n d mit Recht scharf zurückgewiesen werden. Wenn wir +nicht glauben, daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg, stark mitbedingt +durch die psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen +gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem +gewissen "Troste" vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des +Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung +befindet so daß man gewissermaßen sagen kann auch jetzt wieder: +"Deutschland in der Welt voran" — wenn auch in absteigender +Richtung — überdauern wird, so erhoffen wir um so Wertvolleres +von anderen wichtigen Erscheinungen der gegenwärtigen Soziologie und +Geschichtsphilosophie.</p> + +<p>Das Grundbuch der deutschen Soziologie wird noch auf lange Zeit +hinaus Ferdinand Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" bleiben, das +erst langsam seine volle Bedeutung auswirkt. Max Weber, dessen Werke +jetzt gesammelt erscheinen, hat uns noch kurz vor seinem Tode mit +seinen großangelegten religionssoziologischen Untersuchungen über die +Religionsformen Chinas, Indiens und der verschiedenen kirchlichen +Bildungen des Christentums beschenkt, die sich seiner ungemein +wirksamen Untersuchung über die Bedeutung der calvinistischen +Religiosität und systematischen Selbstkontrolle für die Ausbildung des +"kapitalistischen Geistes" würdig angereiht haben. Die Bedeutung der +Weltreligionen für die soziale Struktur der Völker und für ihre +Wirtschaftsgesinnung ist in diesen Untersuchungen überaus großartig +hervorgetreten. Nimmt man noch hinzu die bekannten "Soziallehren der +christlichen Kirchen von E. Troeltsch und die Untersuchungen von P. +Honigsheim Über den Einfluß des Jansenismus auf die französische +Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" so ist in diesen Arbeiten ein +bedeutendes, zusammenhängendes Bild entstanden von der soziologischen +Bedeutung der Religion überhaupt (vgl. auch des Verfassers +"Abhandlungen und Aufsätze"). In anderer Richtung hat Werner Sombart in +seinen Kapitalismusbüchern und seinem "Bourgeois", vor allem aber in +der neuen Auflage seiner "Grundlagen des modernen Kapitalismus" nun +eine s y s t e m a t i s c h e A n o r d n u n g aller Kausalfaktoren +für die Entstehung der Phasen des modernen Kapitalismus gegeben, die +den älteren Einwänden gegen seine Aufstellungen weitgehend standhält. +Sein zu erwartendes Buch über die geistesgeschichtlichen Bedingungen +des modernen Sozialismus, zu dem er sein bekanntes "Sozialismus und +soziale Bewegung" umzuarbeiten im Begriffe ist, wird über die +Entstehung besonders der marxistischen Theorien neues Licht verbreiten. +Die neuen, in den Schriften der Kantgesellschaften herausgekommenen +Untersuchungen von E. Troeltsch über die bisherigen Formen der +Soziologie seit Comte und über die dialektische Methode Hegels haben +gleichfalls über die Entstehung des Gegensatzes unserer deutschen +Geschichtsauffassung von der bei den Westvölkern vorliegenden +Auffassung uns wichtige Einsichten erschlossen. Erwägt man dazu, daß +die gesamte marxistische Soziologie (siehe dazu die neueren Arbeiten +von J. Plenge, Lederer, Cunow, Lensch, Schumpeter, Renner, R. Michels, +Max Adler und anderer) sich in der tiefgehendsten Krisis befindet, in +der sie sich seit der Auseinandersetzung von Lassalle und Marx befunden +hat, so wird man die langsam beginnende geschichtsphilosophische und +soziologische Auseinandersetzung der sozialistischen und bürgerlichen +Soziologie und Geschichtsauffassungen nicht gering anschlagen dürfen. +Was uns gegenwärtig vor allem notwendig ist, das wäre eine neue, auf +der Gesamtheit der durch diese Literatur erschlossenen empirischen +Einsichten fußende T h e o r i e d e r h i s t o r i s c h e n K a +u s a l f a k t o r e n, die insbesondere die O r d n u n g ihrer +Wirksamkeit genau bestimmt und feststellt, und die zugleich mit allen +bisherigen Einseitigkeiten, vorwiegend spiritueller und +naturalistischer Geschichtsauffassungen, endgültig bricht. Der +Verfasser ist damit beschäftigt, in einem demnächst erscheinenden Buche +über die Gesellschafts- und Geschichtslehre des "Solidarismus" eine +solche Theorie zu entwickeln. —</p> + +<p>Wenn man die ungemeine, nur noch mit dem Zeitalter Kants und Hegels +vergleichbare, g e i s t i g e R e g s a m k e i t auf dem Boden der +Philosophie im gegenwärtigen Deutschland (von der diese Zeilen ein +schwaches, durch den Raum engbegrenztes Bild geboten haben) mit dem +vergleicht, was gegenwärtig in den Ländern der Sieger auf diesem Boden +geschieht, so ist — wie alle, die vom Ausland zu dem Verfasser +nach Köln kommen, bezeugen — der Abstand ein u n g e h e u e r +g r o ß e r. Dieser Eindruck ist, wenn man noch hinzunimmt, was trotz +des neuen Elends des Bibliothekswesens und der geringen Aufwendungen, +die seitens des Staates für die Wissenschaft und ihre Institute heute +allein möglich sind, auch auf dem Boden der Naturwissenschaften und der +Erfindungen geleistet wird, so stark, daß an ihm allein schon das +tiefgesunkene Selbstgefühl und Selbstwertgefühl der Nation s i c h w +i e d e r a u f z u r i c h t e n v e r m a g. Ein Volk, das im +größten Elend seiner politischen und ökonomischen Lage zu einer solchen +Fülle geistiger Anstrengungen und Leistungen fähig ist, kann nicht +zugrunde gehen. Einem in gewissem Sinne tragischen Grundgesetze der +deutschen Geschichte gemäß (das man preisen oder beklagen mag) wird +auch diesmal die Nation; gerade aus ihren tiefsten Leiden und Nöten +heraus, mit neuen und frischen Energien, die ihr aus der dunklen Tiefe +ihrer durch kein Geschick zerbrechlichen Seele zufließen, mit neuem +Wagemut wieder zu den ewigen Sternen ihrer eigentlichen "Bestimmung" +greifen. Der Philosophie kommt dabei die nicht zu unterschätzende Rolle +zu, die einseitige Verfachlichung und Spezialisierung, in die das +deutsche Volk vor dem Kriege so sehr versunken war, daß ihm die auch zu +einer gesunden und einheitlichen Politik und zur Führung des Krieges +notwendige spontane Einigungsbereitschaft und Einigungsbefähigung +weitgehend gebrach, allmählich aufzulösen und damit beizutragen, eine +neue, einheitlichere geistige Bildungsgestalt dem deutschen Menschen +aufzuprägen.</p> + + + + +<h2><a name="rel">RELATIVITÄTSTHEORIE<br>VON A. SOMMERFELD</a></h2> + +<h3>VORTRAG, GEHALTEN IN EINEM ZYKLUS GEMEINVERSTÄNDLICHER +EINZELVORTRÄGE, VERANSTALTET VON DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN, SOMMER +1921</h3> + +<p>Konrad Ferdinand Meyer läßt im "Hutten" den alten Pfarrer von Ufenau +sagen:</p> + +<blockquote> Erfahrt, daß unter uns, die wir bemüht</blockquote> +<blockquote> Um die Natur sind, ein Geheimnis glüht!</blockquote> +<blockquote> Mit hat's ein fahr'nder Schüler anvertraut.</blockquote> +<blockquote> Neigt euch zu mir! Man sagt's nicht gerne +laut.</blockquote> +<blockquote> Ein Chorherr lebt in Thorn, der hat +gewacht,</blockquote> +<blockquote> Bis er die Rätsel deutete der Nacht.</blockquote> +<blockquote> Herr Köpernick beweist mit bünd'gem Schluß,</blockquote> +<blockquote> Daß — staunet — unsre Erde wandern +muß!</blockquote> + +<p>Dasselbe Staunen, das vor 400 Jahren die Menschheit bei der Kunde +von der Umwälzung des Kopernikus erfaßte, ist heute lebendig, wo es +sich um eine neue Umwälzung im Weltbilde handelt, vergleichbar der +kopernikanischen, ja vielleicht mit ihren erkenntnistheoretischen +Wurzeln noch tiefer reichend. Dasselbe geheimnisvolle Dunkel wie damals +— "man sagt's nicht gerne laut" — umweht die neue Theorie +von Raum, Zeit und Schwere. Wird es mir gelingen, das Dunkel in etwas +zu lichten? Ich weiß nur zu gut, daß dies ohne die sichere Leitschnur +des mathematischen Gedankens letzten Endes unmöglich ist. Für viele +meiner Behauptungen werde ich den Beweis schuldig bleiben müssen, da er +sich nur aus der vollen Kenntnis der physikalischen Tatsachen und zum +guten Teil nur mit den Hilfsmitteln der mathematischen Rechnung +erbringen ließe. Ich muß zufrieden sein, wenn ich Ihnen eine +Vorstellung von den Problemen und von den Gedankengängen, die zu ihrer +Lösung führen, geben kann. Etwas genauer möchte ich dann darauf +eingehen, wie es mit der erfahrungsmäßigen Prüfung der neuen Lehre +steht. Insbesondere werde ich von der Sonnenfinsternis des Jahres 1919 +zu sprechen haben. Während in Fachkreisen das Interesse an der +Relativitätstheorie seit 15 Jahren lebendig ist, datiert das allgemeine +Aufsehen und die Popularität der Theorie erst von ihrer Bestätigung +durch diese Sonnenfinsternis.</p> + +<blockquote> "Ihr meint, wie sitzen ruhig hier? Erlaubt,</blockquote> +<blockquote> Wir schweben, wie von Adlerkraft geraubt" +—</blockquote> + +<p>so fährt der Pfarrer von Ufenau zu reden fort. "Wir sitzen ruhig +hier." Und doch drehen wir uns, so belehrt uns Kopernikus, um die +Erdachse mit einer Geschwindigkeit von einigen hundert Metern in der +Sekunde; gleichzeitig bewegt sich die Erde und wir mit ihr um die Sonne +mit einer Geschwindigkeit von 30 km in der Sekunde, also hundertmal +schneller, als der Schall die Luft durcheilt. Und die Sonne selbst +bewegt sich gegen die Fixsterne und führt die Erde und uns selbst "wie +mit Adlerkraft" fort. Von diesem ganzen zusammengesetzten +Bewegungsvorgang spüren wir nichts, es sei denn, daß wir mit genauen +Hilfsmitteln ausgerüstet sind, um an den Sternen Beobachtungen zu +machen. Wir müssen daraus schließen: Bewegung an sich ist nicht +beobachtbar, sie ist an sich nichts. Nur relative Bewegung können wir +konstatieren. Und weiter: Der Raum ist an sich nichts, das +Fortschreiten im Raum betrifft keine wirkliche Tatsache. Es gibt keinen +absoluten Raum. Der Raum existiert nur durch die in ihm enthaltenen +Körper und Energien. Ein Fortschreiten im Raum ist nur zu messen am +Rauminhalt und läßt sich überhaupt nur denken relativ zu den +raumerfüllenden Körpern und Energien.</p> + +<p>Dies ist das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik. Es bildet +seit 200 Jahren die Grundlage für das Studium der himmlischen und +irdischen Bewegungen. Der genaue Ausdruck dieses ältesten +Relativitätsprinzips lautet: Es ist unmöglich, festzustellen, ob sich +ein System von Körpern als Ganzes in Ruhe oder in gleichförmig +geradliniger Bewegung befindet, sofern wir nur innerhalb dieses +Körpersystems Erfahrungen anstellen und keine Merkmale außerhalb +desselben beobachten können. Wir können also nichts von der +fortschreitenden Bewegung der Erde bemerken, wenn wir keinen Ausblick +nach dem Fixsternhimmel haben. Mit der drehenden Bewegung der Erde ist +es allerdings zunächst anders, sie fällt nicht unter das +Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik, da bei ihr die Richtung +der Geschwindigkeit fortgesetzt wechselt. In der Tat können wir sie +durch Pendelbeobachtungen auf der Erde messen oder an der Abplattung +der Erde nachweisen. Wir werden hierauf zurückkommen, wenn wir das +allgemeine, über die klassische Mechanik hinausgehende +Relativitätsprinzip entwickelt haben werden.</p> + +<p>Gehen wir von der Mechanik zur Optik über. Die Erscheinungen des +Lichtes beruhen, wie wir heutzutage wissen, auf der Ausbreitung +elektromagnetischer Felder. Die Optik und Elektrodynamik glaubte einen +L i c h t ä t h e r nötig zu haben, einen feinen materialisierten Raum, +in dem sich die Lichtwirkungen ausbreiten sollten. Hiernach wäre es +denkbar, absolute Bewegung im Raum als Bewegung gegen den Lichtäther +durch Lichtstrahlen nachzuweisen. Ein Lichtstrahl, der sich im Sinne +der Erdbewegung, diese überholend, fortpflanzt, sollte sich relativ zur +Erde langsamer fortpflanzen als ein Lichtstrahl, der senkrecht zur +Erdbewegung fortschreitet. Das Relativitätsprinzip wäre damit +durchbrochen und die absolute Bewegung der Erde im Raum nachweisbar. +Der Versuch ist mit außerordentlicher Schärfe von M i c h e l s o n +angestellt worden und lieferte kein Anzeichen der Erdbewegung. Es hätte +keinen Zweck, wenn ich Ihnen den Michelsonschen Versuch näher schildern +wollte. Die Überzeugung von seiner bindenden Kraft könnte ich Ihnen +doch nicht beibringen, ohne mich in experimentelle Einzelheiten zu +verlieren. Der Versuch ist so schwierig und verlangt so +außerordentliche Hilfsmittel, daß er nur zweimal durchgeführt worden +ist. Hier, wie in vielen anderen Punkten, muß ich auf Ihren guten +Glauben an die Zuverlässigkeit der physikalischen und astronomischen +Messungen rechnen können. Der Michelsonsche Versuch und andere weniger +genaue Erfahrungen zeigen also, daß das Relativitätsprinzip zu Recht +besteht, daß absolute Bewegung auch nicht optisch als Bewegung gegen +den Lichtäther nachgewiesen werden kann. Daraus folgt weiter, wie +Einstein hervorhob, daß der Lichtäther keine reale, beobachtbare +Existenz besitzt. Er ist nicht physikalisch, sondern metaphysisch, ein +verkappter absoluter Raum und als solcher irreführend.</p> + +<p>Aber noch weiter: Die Lichtfortpflanzung findet statt in Raum und +Zeit. Sie hat, von der im Sonnensystem fortschreitenden Erde aus +gemessen, dieselbe Geschwindigkeit, wie sie von der Sonne aus gesehen +werden würde, die doch an der Erdbewegung nicht teilnimmt. Wir nennen +allgemein B e z u g s s y s t e m ein physikalisches Laboratorium, +welches mit Maßstäben und Uhren zu Raum- und Zeitmessung ausgerüstet +ist. Dieser Hörsaal ist ein Bezugssystem, da ich in ihm die jeweilige +Lage eines bewegten Körpers durch seine Abstände von dreien seiner +Begrenzungsebenen und durch die Angaben einer Uhr bestimmen kann. Drei +solche Abstände nennt man die R a u m k o r d i n a t e n des +betrachteten Punktes, die zugehörige Zeitangabe kann man seine +Zeitkoordinate nennen. Wir haben es hier mit einem irdischen +Bezugssystem zu tun. Wir können uns aber auch ein entsprechendes +Bezugssystem auf der Sonne oder auf einem gegen die Erde bewegten +Eisenbahnzuge denken. Die allgemeinen Tatsachen der Lichtfortpflanzung +zeigen nun, daß sich das Licht in jedem Bezugssystem in gleicher Weise +ausbreitet, nämlich in Kugelwellen mit der gleichen +Lichtgeschwindigkeit, unabhängig von dem Bewegungszustande der +Lichtquelle gegen den Beobachter. Das scheint widerspruchsvoll zu sein. +Denn wenn wir eine Kugelwelle, die sich im irdischen Bezugssystem +ausbreitet, von der Sonne aus betrachten, so würde auf der Vorderseite +(das sei diejenige Seite, nach der die augenblickliche Geschwindigkeit +des Erdkörpers gerichtet ist) zur Lichtgeschwindigkeit noch die +Erdgeschwindigkeit hinzukommen; auf der Rückseite der Welle würde sich +die Erdgeschwindigkeit von der Lichtgeschwindigkeit abziehen. Die +Vorderseite der Welle würde also, von der Sonne aus gesehen, schneller +fortschreiten als die Rückseite. Das widerspricht dem +Relativitätsprinzip und den optischen Erfahrungen. Die Lichtwelle weiß +nichts davon, ob sie zum Bezugssystem der Erde oder der Sonne gehört. +Jedem Beobachter erscheint sie als Lichtwelle von der gleichen +Fortpflanzungsgeschwindigkeit.</p> + +<p>Der Widerspruch löst sich dadurch, daß wir auch die Zeit ihres +absoluten Charakters entkleiden. Jedes Bezugssystem hat seine eigene +Zeitskala. Es gibt keine absolute universale Zeit. Die Mechanik +leugnete den absoluten Raum, ließ aber die absolute Zeit bestehen; sie +konnte es tun, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, weil sie nicht über +so exorbitante Geschwindigkeiten wie die Lichtgeschwindigkeit verfügt. +Die Optik und Elektrodynamik verlangen auch die Relativierung der Zeit. +Auch die Zeit ist an sich nichts. Sie besteht nur vermöge der sich in +ihr abspielenden Ereignisse. Diese Ereignisse, z. B. eine Lichtwelle, +sind real und objektiv; die Beurteilung des zeitlichen Ablaufs aber +hängt vom Standpunkt des Beobachters, vom Bezugssystem ab. Daraus folgt +weiter: Es gibt keine absolute Gleichzeitigkeit. Zwei Ereignisse, die +in meinem Bezugssystem gleichzeitig sind, sind vom Standpunkte eines +relativ gegen mich bewegten Bezugssystems aus nicht gleichzeitig. Wenn +ich mir einmal erlaube (in Fig. 1), Zeit und Raum durch zwei Richtungen +in der Zeichenebene darzustellen,</p> + +<p><img src="images/figure1.png" alt="Fig. 1"></p> + +<p>so sind die beiden Ereignisse A und B gleichzeitig im Bezugssystem +(Raum — Zeit); A ist aber früher als B im Bezugssystem (Raum — +Zeit), welches durch die punktierten Achsen dargestellt wird. Diese +bildliche Darstellung, die hier nur als Gleichnis aufgefaßt werden +möge, gibt sogar den wirklichen Sachverhalt zahlenmäßig wieder, wenn +wir auf der Zeitachse mit einem im Verhältnis der Lichtgeschwindigkeit +vergrößerten Maßstab messen, wobei dann die in der Figur durch die +Strecke a b dargestellte Ungleichzeitigkeit nur als winzig kleine +Zeitdifferenz erscheint.</p> + +<p>Ein anderes Beispiel: Von der Erde löst sich in einem bestimmten +Augenblick ein ihr gleiches Abbild los und entfernt sich von ihr mit +einer gewissen Geschwindigkeit. Zwei Zwillinge, A und B, werden in +diesem Augenblick geboren, A bleibt auf der Erde, B wird auf ihr Abbild +ausgesetzt. Sie entwickeln sich auf den beiden identischen Sternen bei +identischen Lebensverhältnissen in genau identischer Weise, aber in +verschiedenem Zeitmaß. Wenn A irgendwie Kunde von B erhält, findet er, +daß B langsamer lebt, daß er in seinem Lebensalter und in seinen +Lebensschicksale immer etwas hinter A zurückbleibt. Dasselbe +konstatiert B von A; A ist jünger als B vom Standpunkte des B, B ist +jünger als A vom Standpunkte des A.</p> + +<p>Es wurde kürzlich vorgeschlagen, das Wort Relativitätstheorie zu +ersetzen durch Standpunktslehre. Das Wort ist gut; es verdeutscht und +verdeutlicht den wesentlichen Inhalt der neuen Auffassung. Wenn wir den +Standpunkt wechseln, indem wir ihn von der Erde auf ihr Abbild verlegen +oder auf einen über die Erde fahrenden Eisenbahnzug, sehen wir, was an +unserem Weltbilde vom Standpunkt abhängt, also gewissermaßen subjektive +Zutat ist, und was vom Standpunkte unabhängig ist, also in den Dingen +liegt. Raum und Zeit sind vom Standpunkte abhängig oder relativ; auch +die Auffassung zweier Ereignisse als gleichzeitig ist es. Aber die +Ereignisse selbst sind wirklich, ebenso wie die Tatsache einer sich +ausbreitenden Lichtwelle oder wie ein Menschenleben. Dabei ist jeder +Standpunkt zulässig und gleichberechtigt mit jedem anderen. Es gibt +keinen bevorzugten Ätherstandpunkt oder Erdstandpunkt oder +Sonnenstandpunkt: daß die Erscheinungen von jedem Standpunkte gesehen +miteinander harmonieren, trotz mancher Paradoxien, und niemals in +wirkliche Widersprüche geraten können, zeigt die mathematische +Ausführung der ganzen Lehre.</p> + +<p>Man wolle den Sinn des Wortes Relativität ja nicht so deuten, als ob +alles Geschehen vom Standpunkte des Beobachters abhinge, als ob alles +subjektiv wäre. Gerade der Wechsel des Standpunktes läßt erst das +Naturgesetz in seinem unveränderlichen Kern hervortreten. Die +Relativitätstheorie hat nicht nur eine negative, wegräumende, sie hat +vor allem eine positive, aufbauende Seite. Als positive Aufgabe der +Standpunktslehre wollen wir ausdrücklich statuieren: Die +Gesetzmäßigkeit in der Natur als einen "Felsen aus Erz" aufzurichten, +der hinüberragt über die wechselnden Erscheinungsformen von Raum und +Zeit, der von allen Standpunkten aus zu sichten ist für denjenigen, +dessen Auge mit dem Fernblick des mathematischen Organs ausgerüstet +ist. Die Aufräumung alles metaphysischen, unbeobachtbaren Absoluten war +ein großes Verdienst der neuen Theorie. Aber die Aufrichtung des für +alle Standpunkte und Bezugssysteme Gültigen, Bleibenden und +Unabhängigen war ihr größeres Verdienst. Mathematisch erreicht die +Theorie dieses, indem sie die Unveränderlichkeit (Invarianz) der die +Naturgeschehnisse beschreibenden Gleichungen gegenüber beliebigen +Transformationen derjenigen Hilfsgrößen (Koordinaten von Raum und Zeit, +Feldstärken, Energien) nachweist, durch die wir die Naturgeschehnisse +beschreiben.</p> + +<p>Das ist gerade der Unterschied zwischen Mach und Einstein, dem +Vorarbeiter und dem Vollender des Relativitätsgedankens. Bei Mach war +der Blick auf das Negative gerichtet. Er wollte das Gestrüpp entfernen, +das den Ausblick auf die Wirklichkeit versperrt, das Vorurteil eines +absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Aber ihm entschwand bei +dieser nützlichen Rodearbeit unter den Händen der Glaube an die +Festigkeit der Naturgesetze. Er sagt einmal: "Die absolute Exaktheit, +die vollkommen genaue eindeutige Bestimmung der Folgen einer +Voraussetzung besteht nicht in der sinnlichen Wirklichkeit, sondern nur +in der Theorie." Die Naturgesetze werden ihm zu ökonomischen Maßnahmen, +zu Ordnungsschematen, in die sich die Mannigfaltigkeit der +Erscheinungen bequem unterbringen läßt. Aber das ist es nicht, was wir +brauchen. Naturgesetze von so unbestimmter und formalistischer Art +wären kaum der Mühsal und Aufregung des Forschens wert. Der tastende +Naturforscher, der auf dunklen Wegen nach einem geahnten Ziel strebt, +braucht einen helleren Leitstern als die Machsche Lehre. Positivismus +heißt diese Lehre bei seinen Nachfolgern, trotzdem ihr Verdienst +wesentlich in der Negation des Unbeobachtbaren liegt. Einstein denkt +anders. Das Negieren des Metaphysischen ist ihm nur das Mittel, um den +Weg frei zu bekommen zur höchsten Bejahung der Naturgesetze, zu ihrer +invarianten Gültigkeit, unabhängig von jedem Standpunkte. Es ist +charakteristisch, daß die Positivisten den halben Einstein, den +abbauenden, begeistert loben, den anderen Einstein, den aufbauenden, +aber nicht anerkennen wollen. Ich hatte kürzlich einen ausgiebigen +Briefwechsel mit einem geistvollen Vertreter des Positivismus, einen +Briefwechsel, der natürlich zu keiner Einigung führte. Zum Schluß +schrieb ich dem Kollegen: "Wenn Sie uns nicht die Exaktheit der +Naturgesetze lassen, kann es zwischen uns keinen wirklichen Frieden, +sondern nur eine achtungsvolle gegenseitige Duldung geben."</p> + +<p>Wir sind mit unseren letzten Äußerungen schon hinübergeglitten von +dem Gedankenkreis der ursprünglichen, speziellen Relativitätstheorie zu +der allgemeinen, voraussichtlich endgültigen Theorie; jene datierend +von 1905, diese von 1915. Jene ließ nur die gleichförmig und geradlinig +bewegten Bezugssysteme als berechtigt zu, diese erkennt jeden +Standpunkt an und verwendet grundsätzlich alle möglichen Bezugssysteme +zur Beschreibung der physikalischen Erscheinungen, also beliebig +gedrehte und beschleunigte Bezugssysteme, veränderliche Maßstäbe und +beliebig laufende Uhren. Sie behauptet, daß die Naturgesetze ihre Form +beibehalten auch bei so allgemeiner Beschreibung, wenn wir nur von +Anfang an den richtigen, hinreichend verallgemeinerten mathematischen +Ausdruck der Naturgesetze wählen. Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu +dieser allgemeinsten Auswirkung des Relativitätsgedankens war M i n k o +w s k i s vierdimensionale Zusammenfassung von Raum und Zeit.</p> + +<p>Die Zeit hat eine Ausdehnung, der Raum drei; beide zusammen haben +vier Dimensionen, das heißt: zur Fixierung eines Raumzeitpunktes, zur +Beschreibung eines Ereignisses in Raum und Zeit sind vier unabhängige +Zahlen erforderlich, von denen drei die räumliche, eine die zeitliche +Lage angeben. Minkowski spricht von der v i e r d i m e n s i o n a l e +n W e l t als der Zusammenfassung von Raum und Zeit. Es lassen sich auf +diese vierdimensionale Welt die Gesetze der gewöhnlichen +dreidimensionalen Geometrie übertragen, teils in zeichnerischer, teils +und besonders erfolgreich in rechnerischer Verallgemeinerung. Ich kann +von Ihnen nicht verlangen, daß Sie sich eine vierdimensionale Welt +vorstellen sollen. Denn ich kann es selbst nicht. Aber wir können uns +leicht eine zweidimensionale Welt vorstellen. Nehmen Sie einmal an, daß +Sie als denkendes Wesen mit all Ihren Erfahrungen und Sinnen in eine +Ebene gebannt wären. Dann gäbe es für Sie kein Oben und Unten, sondern +nur ein Nebeneinander. In dieser ebenen Welt können sich +Lichterregungen als Kreise, wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche, +fortpflanzen. Sie können in der Ebene Erfahrungen sammeln und sich eine +Geometrie aufbauen, die E u k l i d i s c h e G e o m e t r i e der +Ebene, wie wir sie in der Schule gelernt haben. Aber Sie können niemals +zu der Vorstellung z. B. eines Würfels gelangen. Sie können auf einer +Geraden Ihrer Ebene ein Lot innerhalb der Ebene errichten, aber Sie +können sich nicht anschauungsgemäß ein Lot auf der Ebene vorstellen, +weil es für Sie nichts außerhalb Ihrer Ebene gibt. Wenn Sie aber als +Flächenwesen hinreichende mathematische Phantasie haben, so können Sie +doch begrifflich von Ihren zwei zu drei Dimensionen fortschreiten. Sie +brauchen nur statt Ihrer zwei Koordinaten in der Ebene drei Koordinaten +als Rechnungsgrößen einzuführen und können das Lot auf der Ebene durch +Gleichungen in diesen drei Koordinaten beschreiben, von denen Sie sich +allerdings nur zwei richtig vorstellen können. In demselben Verhältnis +wie diese Flächenwesen zur dreidimensionalen Euklidischen +Raumgeometrie, stehen wir zur vierdimensionalen Weltgeometrie. Wenn wir +sie uns auch nicht vorstellen können, so können wir doch in ihr denken +und rechnen. Insbesondere können wir uns ebene und räumliche +Ausschnitte aus dieser Welt konstruieren, die dann wieder unserer +Anschauung zugänglich sind.</p> + +<p>Im dreidimensionalen Raum ist uns die Erscheinung der +perspektivischen Verkürzung geläufig. Diese Tischplatte erscheint mir +von der Seite gesehen schmäler, als von oben gesehen. (Der Positivist, +dem die Empfindungen selbst das letzte und einzige sind, würde sogar +sagen: sie ist von der Seite gesehen schmäler als von oben gesehen.) +Unter dasselbe Bild der perspektivischen Verkürzung, wenn wir es auf +die vierdimensionale Welt übertragen, lassen sich alle die seltsamen +Folgerungen bringen, die die Relativitätstheorie gezogen hat. Ein gegen +den Beobachter bewegter Körper erscheint in der Bewegungsrichtung +verkürzt (Lorentz-Kontraktion als einfachste Erklärung des +Michelson-Versuches). Der Zeitablauf in einem gegen den Beobachter +bewegten Bezugssystem erscheint diesem Beobachter verlangsamt +(Aufhebung der Gleichzeitigkeit, Verjüngung eines unserer beiden +Zwillinge vom Standpunkte des anderen). Die Masse eines Körpers, z. B. +eines Elektrons, das sich gegen den Beobachter bewegt, erscheint diesem +vergrößert, nämlich größer als einem Beobachter, der auf dem bewegten +Körper selbst seine Beobachtungsgeräte aufstellt und die Masse des für +ihn ruhenden Körpers mißt. Dieses Gesetz von der Massenveränderlichkeit +des Elektrons wurde zum Prüfstein der ursprünglichen speziellen +Relativitätstheorie. Zuerst bestritten, hat es sich im Laufe der Jahre +mit immer größerer Genauigkeit als wahr herausgestellt, am schärfsten +in den Feinsten Äußerungen bewegter Elektronen, in den Spektren der +einfachsten Atome. Seitdem darf der Vorstellungskreis der speziellen +Relativitätstheorie als experimentell gesichert gelten; seitdem haben +wir uns in der vierdimensionalen Minkowskischen Welt wohnlich +eingerichtet und wissen uns in ihren zum Teil paradox verzerrten +Anblicken zurechtzufinden.</p> + +<p>Aber ich muß leider noch höhere Anforderungen an Ihre Abstraktion +stellen. Denn nun muß ich Ihnen zeigen, wie Einstein die alte +Rätselkraft der Gravitation in sein System eingearbeitet hat. Die +Gravitation war seit Newton in der Formel des Newtonschen Gesetzes: +"proportional den wirkenden Maßen, umgekehrt proportional dem Quadrat +ihrer Entfernungen" erstarrt. Darüber hinaus hatte sich aus unseren +täglichen Erfahrungen über die Erdschwere oder aus den Beobachtungen +der Astronomen über die Gravitationswirkungen zwischen den Gestirnen +nichts über ihre Wirkungsweise ergeben. Unter allen Kräften hatte sich +die Gravitation allein als momentane Fernwirkung behauptet. Erst +Einstein konnte ihr neue beobachtbare Seiten abgewinnen. Ich will Ihnen +nicht den Weg schildern, wie Einstein nach manchen Kreuz- und +Quergängen zum Ziel gekommen ist, sondern nur das Ziel selbst +schildern, zu dem er gelangt ist.</p> + +<p>Stellen wir uns wieder auf den Standpunkt unseres Flächenwesens, +aber versetzen wir uns diesmal nicht in eine Ebene, sondern in eine +gekrümmte Fläche, z. B. auf eine Kugel. Wir können uns nicht aus der +Kugeloberfläche entfernen, wir können nichts außerhalb der +Kugeloberfläche wahrnehmen, weder dringt irgendeine Kunde vom Äußern +noch vom Innern der Kugel zu uns. Es gibt auch jetzt für uns kein Oben +und Unten, sondern nur ein Nebeneinander. Unsere Welt ist wie vorher +nur zweifach ausgedehnt. Sie ist in diesem Falle übrigens nicht +unendlich groß, sondern sie schließt sich im Endlichen. Es gibt keine +Geraden in unserer Welt, sondern nur gewisse geradeste Linien. Das sind +im Falle der Kugel die größten Kreise, z. B. die Meridiane von +irgendeinem Pol aus, aber nicht die Parallelkreise. Stoßen wir einen +Massenpunkt in der Ebene an, so läuft er in einer geraden Linie. Stoßen +wir ihn in gleicher Weise auf der Kugel an, so läuft er, sich selbst +überlassen und von keinen äußeren Kräften beeinflußt, in einer +geradesten Linie, in einem größten Kreise um die Kugel herum. Die +natürlichen kräftefreien Bahnen sind in der gekrümmten Fläche die +geradesten Linien, wie sie in der nicht gekrümmten Ebene die geraden +Linien sind. Konstruieren wir uns in der Kugelfläche eine Geometrie, so +wird sie von der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie verschieden. Auf +der Kugeloberfläche haben wir den einfachsten Fall der sogenannten +Nicht-Euklidischen Geometrie. Während es in der Euklidischen Geometrie +bekanntlich heißt: Die Winkelsumme im Dreieck ist gleich zwei Rechten, +heißt es in der Nicht-Euklidischen Kugelgeometrie: Die Winkelsumme im +Dreieck ist größer als zwei Rechte. Konstruieren wir z. B. ein Dreieck +aus lauter geradesten Linien auf folgende Weise: Wir gehen vom Nordpol +N auf einem Meridian bis zum Äquator, diesen entlang um ein Viertel +seines Umfanges und abermals auf</p> + +<p><img src="images/figure2.png" alt="Fig. 2"></p> + +<p>einem Meridian zum Pol zurück, das letzte Stück im entgegengesetzten +Sinne zu den eingezeichneten Pfeilen, auf deren Bedeutung wir später +zurückkommen. Jeder Winkel dieses Dreiecks ist ein Rechter (in der +Figur mit R bezeichnet), die Winkelsumme gleicht drei Rechten, also +größer als zwei Rechte, wie es unser Satz von der Winkelsumme in der +Nicht-Euklidischen Geometrie verlangt.</p> + +<p>Alle diese Behauptungen sind bequem durch die Anschauung zu +kontrollieren. Aber nun kommt ein Schritt, zu dem eine gewisse +intellektuelle Unerschrockenheit gehört. Unser Flächenwesen soll sich +im Anschluß an seine Kugelfläche begrifflich einen dreifach +ausgedehnten Raum konstruieren, der dieselben Eigenschaften hat wie +seine Kugelfläche, in dem z. B. der Nicht-Euklidische Satz von der +Winkelsumme allgemein gilt, und in dem alle geradesten Linien in sich +zurücklaufen, also keine geraden Linien sind. Einen solchen "gekrümmten +Raum" können wir uns nicht vorstellen; und doch müssen wir uns +begrifflich und rechnerisch in ihm orientieren. Und mehr noch, wir +müssen zu einer gekrümmten v i e r d i m e n s i o n a l e n W e l t +fortschreiten und nicht nur zu einer gleichmäßig, nach Art der Kugel +gekrümmten Welt, sondern zu einer Welt von w e c h s e l n d e n K r +ü m m u n g s v e r h ä l t n i s s e n.</p> + +<p>Was hat nun dieser seltsame geometrische Vorstellungskreis mit der +Gravitationstheorie zu tun? Gehen wir zunächst nochmals der besseren +Übersicht wegen in unsere flache, nur zweifach ausgedehnte Welt zurück. +Die Fläche sei zwar im allgemeinen und ungefähren eben, also nicht +gekrümmt; sie habe aber Buckel, gekrümmte Auswölbungen an solchen +Stellen, wo sich Massen befinden. Jede Materie ist Sitz mannigfacher +Energieformen, chemischer und physikalischer Energien, welche in der +Bindung der Atome untereinander und in dem Aufbau der Atome stecken. +Statt Materie können wir daher auch allgemeine Energie im weitesten +Sinne des Wortes sagen. Überall, wo sich physikalische Ereignisse +abspielen und daher Energie lokalisiert ist, insbesondere in den +Stellen stärkster Energiekonzentration, der greifbaren Materie, soll +unsere flache Welt ausgewölbt sein, mehr oder minder, je nachdem wir es +mit größerer oder geringerer Energiekonzentration zu tun haben. +Betrachten wir insbesondere zwei solcher Buckel: einen von +überwiegender Wölbung, den wir Sonne nennen, und einen kleinen Buckel, +den wir Planet nennen. Wir geben letzterem einen Anstoß und lassen ihn +durch unsere Welt laufen. Wäre der Sonnenbuckel nicht da und alles +eben, so würde sich unser Planet auf gerader Bahn bewegen. Das +Vorhandensein des Sonnenbuckels hat zur Folge, daß er sich statt dessen +auf einer geradesten Bahn bewegt. Diese weicht von der Geraden um so +mehr ab, je näher der Planet an die Sonne herankommt.</p> + +<p>Sie sehen hiernach bereits, wie sich dieses zweidimensionale +Gleichnis zur Gravitationstheorie verhält. An den Stellen großer +Energiekonzentration ist die Raumzeitstrukur eine singuläre, gekrümmte. +die geradesten Bahnen in der Nähe solcher Stellen weichen weit ab von +den geraden Bahnen; sie verhalten sich annähernd so, wie wir es aus der +alten Gravitationstheorie her wissen, als Keplerellipsen. Dabei haben +wir nicht nötig, eine besondere Gravitationskraft einzuführen. Bahnen, +die lediglich unter dem Einfluß der Gravitation durchlaufen werden, +sind kräftefreie, geradeste Bahnen; ihre Krümmung spiegelt nur die +durch die Energieanhäufung bewirkte Weltkrümmung wider. Der +Ausgangspunkt der Relativitätstheorie bleibt dabei durchaus erhalten. +Raum und Zeit sind an sich nichts. Sie erhalten ihre Eigenschaften, +ihre Struktur erst durch die in ihnen enthaltenen physikalischen +Energien aufgeprägt.</p> + +<p><img src="images/figure3.png" alt="Fig. 3"></p> + +<p>Die Bahnen sind nach dieser Gravitationstheorie angenähert +Keplerbahnen, aber nicht genau. Das Newtonsche Gesetz ergibt sich nur +in erster Näherung; bei genauerer Rechnung treten Abweichungen auf. Die +Ellipse ist keine geschlossene, sondern eine langsam sich drehende, +eine solche von fortschreitendem Perihel. (Perihel heißt bekanntlich +der Punkt größter Sonnennähe auf der Planetenbahn.) Die Figur zeigt in +sehr Übertriebenem Maßstabe diesen Perihelfortschritt. Er ist um so +stärker zu erwarten, je näher der Planet der Sonne kommt, also beim +Merkur, dem sonnennächsten der Planeten am stärksten. Nach den +Beobachtungen und Rechnungen der Astronomen tritt nun in der Tat beim +Merkur eine Perihelbewegung auf, die sich nach der Newtonschen Theorie +nicht erklären läßt. Sie beträgt hier 43 Bogensekunden im Jahrhundert; +das will sagen, daß erst nach 30 000 Jahrhunderten die Merkurbahn in +ihre Anfangslage zurückgekehrt erscheint. Bei den sonnenferneren +Planeten, z. B. bei der Erde, ist das Fortschreiten des Perihels +dagegen unmeßbar klein.</p> + +<p>Gerade diesen Wert von 43 Sekunden im Jahrhundert ergab nun die +Einsteinsche Rechnung auf Grund seiner neuen Auffassung der +Gravitation. Man beachte wohl: der Einsteinsche Gedankengang nahm +seinen Ausgang von erkenntnistheoretischen Forderungen, hatte nirgends +eine Unbestimmtheit oder Lücke, wußte von Hause aus nichts vom +Merkurperihel und führte doch zwangläufig auf den astronomischen +Beobachtungswert.</p> + +<p>Ich darf nicht verschweigen, daß eine kritische Überprüfung der +astronomischen Angabe von 43 Sekunden, die Herr Kollege Großmann +kürzlich durchgeführt hat, diesen Wert unsicherer erscheinen läßt, als +die Astronomen bisher annahmen. Der wahrscheinlichste Wert liegt nach +Herrn Großmann etwas tiefer als 43 Sekunden. Bis die Astronomen sich +hierüber geeinigt haben werden, kann man also nur sagen, daß die neue +Gravitationstheorie jedenfalls die Größenordnung der +Merkur-Perihelbewegung richtig wiedergibt.</p> + +<p><img src="images/figure4.png" alt="Fig. 4"></p> + +<p>Wir kehren zu unserem Bilde des Sonnenbuckels in der +zweidimensionalen flachen Welt zurück. Statt eines Planeten jagen wir +jetzt einen Lichtstrahl an der Sonne vorbei. Auch dieser läuft auf +einer geradesten Bahn; bei fehlender Weltkrümmung würde er eine gerade +Bahn beschreiben. Auch hier wirkt, wie bei dem Planeten, die Krümmung +des Raums in der Sonnennähe so, als ob eine Anziehung von der Sonne auf +den Lichtstrahl ausgeübt würde, als ob der Lichtstrahl nach der Sonne +hin fiele. Man denke an die analogen, aber im Grunde doch +wesensverschiedenen Verhältnisse bei der atmosphärischen +Strahlenbrechung, wo sich der Lichtstrahl in der Erdatmosphäre +ebenfalls krümmt. Was wir hier zu erwarten haben, zeigt die nächste +Figur. Der Stern A, der sein Licht hart an der Sonne vorbeischickt, +erscheint dem Erdbeobachter nicht in A, sondern wegen der gekrümmten +Form des Lichtweges in der Verlängerung des Strahlenendes, d. h. an der +Stelle B des Himmelsgewölbes. Sonnennahe Sterne zeigen also eine +scheinbare Ablenkung vom Sonnenrande fort. Natürlich läßt sich diese +Ablenkung nur bei einer t o t a l e n S o n n e n f i n s t e r n i s +beobachten, weil sonst das Sternlicht vom Sonnenlicht überstrahlt +wird.</p> + +<p><img src="images/figure5.png" alt="Fig. 5"></p> + +<p>Am 29. Mai 1919 fand eine Sonnenfinsternis statt, die in Brasilien +total war. Deutschland war von ihrer Beobachtung ausgesperrt, England +rüstete zwei Expeditionen aus. Die Ergebnisse sind mir zugeschickt +worden. Die Konstellation war besonders günstig, weil 7 verhältnismäßig +helle Sterne in Sonnennähe standen. Unser Bild in Figur 5 stellt die +verdunkelte Sonne mit ihrem leuchtenden Strahlenkranze, der Korona, +dar. Die 7 Sterne sind durch kleine Kreise markiert.</p> + +<p>Von den Sternen aus sind die Ablenkungen als gerade Strecken +aufgetragen, wie sie theoretisch nach Einstein sich errechnen; sie +verlaufen in radialer Richtung und sind für die sonnennäheren Sterne +größer als für die sonnenferneren. Der Maßstab ist dabei viele +tausendmal übertrieben. Am Sonnenrande ist die theoretische Ablenkung +nur 1,7 Bogensekunden, d. h. so klein, daß wir sie in unserem Bilde gar +nicht einzeichnen können; im doppelten Abstande von der Sonnenmitte ist +die Ablenkung noch halbmal kleiner. In demselben übertriebenen Maßstab +sind nun auch die beobachteten Ablenkungen als Striche mit einer +Pfeilspitze eingetragen. Die wirklichen Ablenkungen auf der +photographischen Platte sind nur unter dem Mikroskop auszumessen und +überhaupt nur indirekt festzustellen. Außer der +Sonnenfinsternisaufnahme selbst wurde eine Aufnahme einige Wochen nach +der Sonnenfinsternis gemacht, zu einer Zeit, wo sich die Sonne aus der +fraglichen Gegend des Fixsternhimmels entfernt hatte. Überdies wurde +eine dritte Vergleichsplatte aufgenommen, die in das photographierende +Fernrohr verkehrt, d. h. mit der Glasseite nach außen, mit der +Schichtseite nach innen eingelegt war. Diese Vergleichsplatte konnte +dann mit den beiden Bebachtungsplatten, der bei der Sonnenfinsternis +und der nach derselben aufgenommenen, Schicht auf Schicht zur Deckung +gebracht werden. Die Ablenkungen der Sterne sind durch dieses indirekte +Verfahren unter dem Mikroskop ausgemessen und nach dem +Ausgleichsverfahren rechnerisch ermittelt worden. Wie unsere Figur +zeigt, stimmen die so gewonnenen empirischen Ablenkungen aufs +überraschendste mit den theoretischen überein. Sie zeigen nicht nur, +wie diese annähernd die radiale Richtung vom Sonnenmittelpunkte nach +außen hin (was zum Teil durch das angewandte Ausgleichsverfahren +bewirkt wird, also noch nicht ohne weiteres beweisend wäre), sondern +sie zeigen auch durchweg fast dieselbe Größe und die von der Theorie +geforderte Größenabnahme bei zunehmender Entfernung des Sterns von der +Sonne.</p> + +<p><img src="images/figure6.png" alt="Fig. 6"></p> + +<p>Dies wird besonders überzeugend im nächsten Bilde dargetan, welches +dem englischen Originalbericht entnommen ist. Nach oben hin sind die +Sternablenkungen, nach rechts hin die reziproken Abstände vom +Sonnenmittelpunkte aufgetragen, mit denen die theoretischen Ablenkungen +proportional gehen. Die Abnahme der Ablenkung mit zunehmender +Entfernung von der Sonne wird theoretisch durch die stark ausgezogene +Gerade dargestellt. Die wirklichen Beobachtungspunkte (durch starke +Punkte wiedergegeben) liegen dieser Geraden äußerst nahe, viel näher +als der punktierten Geraden, welche nach einer älteren, nicht +konsequenten Theorie Einsteins die Sternablenkung darstellen würde. Man +wende nicht ein, daß die Ablenkung des Sternortes durch die +Sonnenatmosphäre bewirkt sein könnte. In so großen Entfernungen, wie +sie hier in Frage kommen, ist die Sonnenatmosphäre einfach belanglos. +Die astronomischen Sachkundigen sind sich darüber einig, daß die +Beweiskraft der englischen Sonnenfinsternisaufnahmen bündig ist.</p> + +<p>Das Ziel jeder Wissenschaft ist, nach einem schönen Worte des +Mathematikers Jacobi, die Ehre des menschlichen Geistes. Der 29. Mai +1919 wird für alle Zeiten ein Ehrentag des menschlichen Geistes +bleiben.</p> + +<p>Neben dem Merkurperihel und den Sonnenfinsternisbeobachtungen gibt +es noch ein drittes Kriterium für die Einsteinsche Gravitationstheorie: +die Rotverschiebung von Spektrallinien, die auf der Sonne entstehen, +gegenüber den Spektrallinien des gleichen Stoffes, wenn sie unter +irdischen Verhältnissen hervorgerufen werden. Man kennt, seitdem es +eine Astrophysik gibt, die Erscheinung des sogenannten Dopplereffektes. +Sie besteht in der Verschiebung eines Spektrums nach der roten Seite +hin bei Sternen, die sich von der Erde entfernen, in einer Verschiebung +nach der violetten Seite bei Sternen, die auf die Erde zukommen. Die +Größe dieser Verschiebung entspricht der Geschwindigkeit, mit der sich +der betreffende Stern von uns fort oder auf uns zu bewegt. Man pflegt +daher auch die von Einstein vorhergesagte Rotverschiebung im +Sonnenspektrum durch eine Geschwindigkeit zu charakterisieren, die im +Dopplereffekt dieselbe Rotverschiebung bewirken würde, und zwar beträgt +diese Geschwindigkeit 0,6 Kilometer in der Sekunde.</p> + +<p>Über den physikalischen Grund dieser Rotverschiebung sei hier nur +soviel gesagt, daß er natürlich nicht wie der gewöhnliche Dopplereffekt +in einer relativen Bewegung der Sonne gegen die Erde, sondern in dem +Gravitationsfelde der Sonne liegt. Dieses ist außerordentlich viel +stärker als das Schwerefeld der Erde. Die Rotverschiebung entspricht +direkt dem Unterschied der Schwere an der Sonnenoberfläche und +Erdoberfläche.</p> + +<p><img src="images/figure7.png" alt="Fig. 7"></p> + +<p>Das geeignetste Versuchsobjekt zur Prüfung dieses Effektes bilden +Linien der sogenannten Zyanbanden. Merkwürdigerweise konnten die mit +den besten Hilfsmitteln ausgestatteten amerikanischen Sternwarten keine +systematische Verschiebung dieser Linien nach der roten Seite +nachweisen. Die Bonner Physiker Grebe und Bachem haben aber erst +gezeigt, mit welcher Vorsicht man beim Vergleich der Sonnenlinien und +der Linien aus irdischen Lichtquellen vorgehen muß, um sichere +Resultate zu erhalten. Beide Spektren enthalten nicht nur die in Rede +stehenden Zyanlinien, sondern daneben ein Gewirr von Linien anderen +Ursprungs, die sich jenen überlagern. Photometriert man ein solches +Spektrum, d. h. stellt man die Lichtintensität in ihrer Abhängigkeit +von der Wellenlänge durch ein Schaubild dar, so entsteht eine +Zackenkurve nach Art eines Gebirgskammes. Nur solche Linien sind +einwandfrei, die im Schaubild durch eine isolierte Zacke dargestellt +werden; wenn eine Erhebung fremden Ursprungs in der Nähe liegt, fälscht +sie die Lage der Hauptzacke und macht sie zur Untersuchung der +Rotverschiebung ungeeignet. Bei diesem kritischen Vorgehen erwiesen +sich von 36 gemessenen Zyanlinien nur 9 als unverdächtig und brauchbar. +Nach R. T. Birge ist die Auswahl sogar noch weiter zu beschränken auf +zwei von diesen Linien. Und siehe da: Wenn alle verdächtigen Linien +ausgeschaltet und nur die 9 bzw. 2 tadellosen benutzt werden, so ergibt +sich der richtige Betrag der Rotverschiebung, wie er von Einstein +vorhergesagt wurde, nämlich rund 0,6 Kilometer in der Sekunde.</p> + +<p><img src="images/figure8.png" alt="Fig. 8"></p> + +<p>Ich möchte noch ein letztes Beispiel zur Sprache bringen, welches +zwar nicht als Prüfstein der Einsteinschen Gravitationstheorie, wohl +aber als Mittel zu ihrer Veranschaulichung wertvoll ist. Wir wissen, +daß ein Kreisel, der aufgezogen ist und keinen äußeren Kräften +unterliegt, bestrebt ist, seine Richtung im Raume beizubehalten. Unsere +Erde ist ein solcher Kreisel von gewaltigen Ausmessungen. Freischwebend +im Raum würde er die Richtung seiner Drehachse nicht ändern. In +Wirklichkeit beschreibt die Erdachse in langsamstem Tempo einen Kegel +um die Normale zur Erdbahnebene (Ekliptik). Figur 8 zeigt die Erde mit +eingezeichneter Erdachse in ihrem Umlauf um die Sonne und deutet in +ihrer Stellung am weitesten rechts den Kegel an, den die Erdachse im +Verlauf vieler Umläufe beschreibt. Der Kegel wird erst in 26 000 Jahren +vollständig durchlaufen, in jedem Jahr beträgt die Winkelverlagerung 50 +Sekunden (Präzession der Äquinoktien). Nach der gewöhnlichen Auffassung +rührt diese Verlagerung der Erdachse von der Anziehung der Sonne auf +den am Äquator wulstförmig aufgetriebenen Erdkörper her, also daher, +daß die Erde kein kräftefreier, sondern ein von der Sonnengravitation +beeinflußter Kreisel ist. In der Einsteinschen Theorie aber ist die +Gravitation keine äußere Kraft; die Gravitationsbahnen der +fortschreitenden sowohl wie der drehenen Erdbewegung verlaufen +kräftefrei als geradeste Bahnen im gekrümmten Raume; die Erdachse +sollte also im Schwerfelde sich selbst parallel bleiben. Was aber +heißt: sich selbst parallel bleiben im Nicht-Euklidischen Sinne, bei +gekrümmter Raumstruktur?</p> + +<p>Wir ziehen nochmals unsere Figur 2 zu Rate. Wir gehen jetzt vom +Nordpol aus zunächst auf unserem ersten Meridian äquatorwärts und +halten dabei stets einen geraden Stab vor uns hin. Zweifellos bleibt er +bei dieser Wanderung sich selbst parallel, da er dabei ja dauernd in +die Richtung einer geradesten Bahn, in den Meridian, weist. Im Äquator +angelangt, steht er senkrecht zu diesem. Soll er sich selbst parallel +bleiben, so muß er dauernd senkrecht zum Äquator gehalten werden, +solange wir den Äquator abschreiten. Gehen wir auf dem zweiten Meridian +zum Pole zurück, so bleibt unser Stab wieder sich selbst parallel, wenn +er dauernd die Richtung dieses Meridians einhält. Kommen wir in den Pol +zurück, so hat sich, wie unsere Figur zeigt, unser Stab um einen +rechten Winkel gedreht, trotzdem er dauernd mit sich parallel war! +Nehmen wir statt des Stabes einen Kreisel zur Hand, so stellt sich +dessen Drehachse selbst so ein, wie wir soeben die Stabachse richteten; +es gilt also für den Kreisel das gleiche wie für unseren Stab: Trotzdem +er mit sich parallel bleibt, schließt er nach beendetem Umgang einen +Winkel gegen seine Anfangslage ein. Der Grund liegt in der Krümmung der +Kugelfläche. Bei einem Umgang in der Ebene, das heißt: wenn wir ein +ebenes Dreieck mit einem Kreisel in der Hand umschreiten, würde von +einer Winkelverlagerung des Kreisels keine Rede sein.</p> + +<p>Die Anwendung auf das Problem der Erdachse ist unmittelbar +einleuchtend. Dem Umgang um das Kugeldreieck entspricht bei der Erde +ihr jährlicher Umgang um die Sonne, der Kugelkrümmung die von der Sonne +bewirkte gekrümmte Raum-Zeit-Struktur. Indem die Erdachse nach einem +Umgang um die Sonne in den Frühlings-Tagundnachtgleichenpunkt +zurückkehrt, schließt sie einen Winkel mit sich ein. Dieser beträgt +zwar nicht, wie in unserem Beispiel, einen Rechten, sondern nur 50 +Sekunden, hat aber dieselbe Bedeutung wie jener, er zeigt uns nämlich +an, daß der umlaufene Flächeninhalt der Erdbahn nicht eben, sondern +gekrümmt war. Man sieht, wie schön und einfach sich die ältere +Auffassung, nach der die Gravitation als äußere Kraft wirkt, in die +neuere Auffassung umsetzt, nach der sie sich nur auf dem Wege über die +Verkrümmung der Welt äußert. Beide Auffassungen sind im Ergebnis +gleich; nur insofern, als die neue Auffassung eine Korrektion am +Newtonschen Anziehungsgesetz mit sich bringt, eine Korrektion, die sich +z. B. in der Perihelbewegung des Merkur äußerte, wird auch die nach +Einstein berechnete Winkelverlagerung der Erdachse bei ihrem jährlichen +Umgang um die Sonne ein wenig verschieden von der nach Newton +berechneten ausfallen. Doch betrifft diese Verschiedenheit nur die +höheren Dezimalen der angegebenen Zahl von 50 Sekunden. Als Kriterium +für oder wider Einsteins Gravitationstheorie wird also diese +Erscheinung nicht dienen können, insbesondere deshalb nicht, weil zu +ihrer praktischen Verwertung eine anderweitige Kenntnis der Mondmasse +erforderlich wäre.</p> + +<p>Hiernach kehren wir von Sonne, Mond und Sternen zu unserem +Standpunkt auf der rotierenden Erde zurück. Nach unserem +Relativitätsglauben ist jeder Standpunkt berechtigt, auch derjenige auf +einem rotierenden Bewegungssystem. Die Naturgesetze gelten für diesen +Standpunkt ebenso wie für jeden anderen, wenn wir sie nur hinreichend +allgemeingültig gefaßt haben. Ja, es entsteht die Frage: Was heißt +überhaupt rotieren? Hat es einen Sinn, von der rotierenden Erde zu +reden, wenn Sonne und Fixsterne nicht da Wären, an denen wir die +Rotation der Erde doch erst wahrnehmen können? Würde es nicht wieder +einen absoluten Raum oder einen Äther voraussetzen, gegen den die +Drehung gedacht wird, wenn wir von der Erddrehung schlechtweg, ohne +Beziehung zum Sternhimmel, sprechen wollten? Wie aber steht es dann mit +den Folgen der Erddrehung, den Fliehkräften, die wir bei der Drehung +des Foucaultschen Pendels oder die wir in der Abplattung der Erde +beobachten? Wenn die Erddrehung nur relativ zu den Gestirnen gedacht +werden kann, nur durch Vorhandensein äußerer Massen ermöglicht wird, so +können auch die Fliehkräfte der Erddrehung ihre Existenz nur dem +Vorhandensein der Gestirne verdanken, sie müssen als Wechselwirkungen +zwischen diesen und den Massen der Erde aufgefaßt werden.</p> + +<p>Bis zu diesem fundamentalen Schluß war Mach gekommen. Durch ihn hat +er Einstein den Weg bereitet. Mach stellte eine Frage und Einstein +beantwortete sie. Er beantwortete sie zugleich mit seiner Antwort auf +die Rätselfrage der Gravitation. Die Gravitation erwies sich als eine +Scheinkraft, de ihren Grund in der Raumstruktur hat. Auch die +Fliehkräfte sind Scheinkräfte oder Trägheitskräfte, die nach Newton +ihren Grund in dem absoluten Charakter der Rotation haben würden. D i e +s e n Grund können wir nicht gelten lassen. Aber stellen wir uns auf +den Standpunkt des gedrehten Bezugssystems. Wenn äußere Massen und +Geschehnisse vorhanden sind, die an der Drehung nicht teilnehmen, so +wandern diese gegen das Bezugssystem. Da sie ihrerseits eine Verzerrung +der Raumstruktur bedingen, de mit ihnen umläuft, erscheint die +Raumkrümmung vom gedrehten System aus anders als ohne Drehung. Diese +vom Standpunkt abhängige Änderung der Raumkrümmung bedingt +Scheinkräfte, die wir mit der Gravitation auf eine Stufe stellen +können. Diese Scheinkräfte sind die Fliehkräfte der Erdumdrehung. Wären +aber Massen und Geschehnisse außerhalb der Erde nicht vorhanden, so +könnten Fliehkräfte nicht auftreten; die im Raum isolierte Erde könnte +sich, physikalisch gesprochen, nicht drehen, das heißt: sie könnte +keine beobachtbaren Anzeichen ihrer Umdrehung verraten.</p> + +<p>Die Wesensgleichheit von Schwerkräften und Trägheitskräften, auf die +wir so geführt worden sind, findet ihre überzeugende Bestätigung in der +Gleichheit von schwerer und träger Masse. Vor hundert Jahren durch +Bessels Pendelbeobachtungen bewiesen, hat diese Identität zweier +scheinbar verschieden definierter Größen viel zu wenig Beachtung +gefunden. Erst jetzt sind uns die Augen geöffnet, sie richtig zu sehen +und sie in Zusammenhang zu bringen mit der Erneuerung unserer +Zeit-Raum-Auffassung und mit der Vertiefung aller Naturgesetze. +—</p> + +<p>Was würde nun unser Pfarrer von Ufenau zu dieser Wendung der Dinge +sagen, wenn sie ihm ein fahrender Schüler des zwanzigsten Jahrhunderts +anvertrauen würde? Würde er glauben, daß Herr Köpernick umsonst gewacht +hat? Sicherlich nicht. Der Wechsel des Standpunktes, den Kopernikus +vornahm, war der erste Schritt zur Wahrheit. Der Erdstandpunkt des +Ptolemäischen Systems mußte zuerst einmal aufgegeben und durch den +Sonnenstandpunkt des Kopernikanischen ersetzt werden. Indem Kopernikus +Sonne und Fixsterne stillstehen und die Erde wandern hieß, erhielt er +ein vereinfachtes Weltbild. Die Raumkrümmung wird von diesem Standpunkt +aus so gering wie möglich, der Raum erscheint so euklidisch, als es +nach Lage der Sache sein kann. Deshalb wird der Kopernikanische +Standpunkt für alle Zeiten dem rechnenden Astronomen und dem +beobachtenden Erdbewohner die besten Dienste leisten. Aber dieser +Standpunkt ist nicht mehr der einzig mögliche. Es ist zwar sehr +unpraktisch, aber nicht mehr falsch zu sagen: Die Erde ruht und die +Sonne wandert. — Darüber hinaus sehen wir mit E i n st e i n den +wahren und endgültigen Standpunkt darin: alle Standpunkte souverän zu +umfassen, je nach der besonderen Aufgabe den Standpunkt besonders zu +wählen und zu der Überzeugung vorzudtingen: Die Natur ist, unabhängig +von dem wechselnden menschlichen Standpunkte, immer gleich groß und +gleich gesetzmäßig.</p> + + + + +<h2><a name="eco">GEGENWARTSFRAGEN DES DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSLEBENS<br>VON +UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. GOETZ BRIEFS (WÜRZBURG)</a></h2> + +<blockquote> Anmerkung: Der Aufsatz wurde Ende August 1921 +abgeschlossen. G.B.</blockquote> + +<p>Wer dieses Thema liest, möchte leicht geneigt sein, es umzuändern +in: die Fraglichkeit des deutschen Wirtschaftslebens. Und wer sich mit +dem vollen Ernst dieser Fraglichkeit erfüllt hat und sieht, welche +Zusammenhänge heute von der Wirtschaft in alle anderen deutschen Lebens +gebiete bis in die Kultur, in die politische Freiheit und das +Volksleben ausstrahlen, möchte wohl von der Fraglichkeit des deutschen +Lebens im ganzen sprechen und die düstersten Zukunftsbefürchtungen +daran anschließen.</p> + +<p>Zu jäh ist für uns alle dieser Titanensturz, den Volk und Reich seit +jenen tragischen Juli- und Augusttagen 1914 erlebt haben. Wir sind wie +betäubt vom Sturz. Wir wissen nur eines: Nicht am Boden liegen bleiben! +Sonst ist Ehre, Reich und Volk auf immer verloren. Wo standen wir? Wo +stehen wir? Das sind die festen Punkte, an denen wir Richtung nehmen, +um uns zunächst einmal mit der vollen Schwere dessen zu erfüllen, was +geschehen ist, und um an ihnen zu ermessen, was nun geschehen soll.</p> + +<p>Wo standen wir? Wir jüngere Generation kennen aus eigenem Erlebnis +der Vorkriegszeit nur das starke, stolze Reich, das im Inneren Einigung +und Blüte, nach außen schimmernde Wehr und hohe Geltung besaß. Die +Reibungen unseres innerpolitischen und wirtschaftlich-sozialen Lebens +schienen uns Wachstumsschmerzen, die keinen verschonen, aber mit denen +man fertig wird. Unsere Weltgeltung stand auf der Stärke einer +gewaltigen Kriegsmacht und einer Wirtschaftsmaschine von unerhörter +Leistungsfähigkeit, aber auch auf sozialen Kulturtaten und geistigen +Leistungen, die vorbildlich waren. Mit diesen Eindrücken von Macht, +Größe und Reichtum erfüllte sich unsere Seele. Wer von uns draußen war, +sah auf allen Meeren, in allen Ländern die Zeichen eines aufstrebenden, +gewerbefleißigen, "in allen Künsten und Hantierungen geschickten" +Volkes, das im Herzen Europas saß und von dort aus das Reich seines +wirtschaftlichen und technischen Unternehmungsgeistes aufbaute. Das war +das Deutschland der jüngsten Vorkriegsgeneration. Ihre Väter und +Großväter noch hatten das andere alte Deutschland gekannt, jenes +Deutschland, das weltpolitisch und weltwirtschaftlich nicht viel mehr +als ein geographischer Begriff, "Provinz" war; jenes Deutschland, +dessen Getreideausfuhr der Londoner Produktenbörse den Namen "Baltic" +gab, jenes bäuerlich-handwerkerliche Deutschland, das oft genug +auslaufende fremde Schiffe mit Sand als Ballast befrachten mußte, weil +ihm Waren zur Ausfuhr fehlten, jenes Deutschland, dessen Vorstellung +für Gladstone noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts verbunden war +mit Ärmlichkeit, Spießbürgertum, viel Militär und einem Bündel von +Kleinstaaten. Und greift man nun zurück auf die ersten Jahrzehnte des +19. Jahrhunderts, dann taucht man in die schwere Luft eines +kontinentalen bäuerlich-handwerkerlichen Volkstums ein, das politisch +nicht zu eigener Form kam, dessen Ohnmacht im Konzert der Völker mit +seiner Zersplitterung wetteiferte, und das im ganzen mehr Objekt als +Subjekt der hohen Politik war. Wenn in jenen Zeiten der deutsche Name +in fremden Landen respektvoll genannt wurde, dann war es um der Werte +des G e i s t e s willen. Wer von den großen Geistern unserer +klassischen Zeit war Prophet und Seher genug, vorauszuschauen, was aus +diesem Volke im Laufe zweier oder dreier knapper Generationen werden +sollte! Wer von ihnen h o f f t e auch nur auf jene Wendungen in +unserem Geschick, die wir als Volk bald nahmen? Dem Briten die See, dem +Franzosen das Land, dem Deutschen das Reich des Geistes: das war jene +nicht etwa schmerzvoll den Tatsachen entnommene, sondern aus innerstem +Bewußtsein gewertete Teilung der Erde, die Schiller in einem seiner +Gedichte vor Augen hat. Freilich: das konnte der Dichter wohl nicht +ahnen, daß das "Luftreich der Gedanken" der Boden sein werde, auf dem +der beispiellose deutsche Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19. +Jahrhunderts reifen würde. Man möge in dem trefflichen Buche: "Die +deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert" selbst nachlesen, was +Sombart mit großer Meisterschaft der Darstellung zu erzählen weiß von +dem Leben der dritten Generation vor uns, von ihrem Schaffen und Mühen, +von der Kleinheit — und so schien uns wenigstens in den reichen +Tagen der Vorkriegszeit — Ärmlichkeit dieses Lebens! "Eine an +Dürftigkeit grenzende Einfachheit" allerorten, in Wirtschaft und Staat, +im privaten Leben und in der Gesellschaft!</p> + +<p>Beengt, klein, dürftig blieb im ganzen genommen das Dasein unseres +Volkes bis in hohe Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Gewiß, es kamen +schon stärkere Impulse; im Westen und Süden regte sich industrielles +Leben, das in Friedrich List den genialen Anwalt seiner Bedeutung für +das ganze Volkstum fand. Aber der eigentliche Aufmarsch der deutschen +Wirtschaft zu jener Stärke und Geltung, in deren Bewußtsein wir +aufgewachsen sind, liegt sehr erheblich später. Noch in den sechziger +Jahren hatten wir eine stärkere Getreideausfuhr als Einfuhr; erst 1873 +verschwand der letzte Getreideausfuhrüberschuß, der Weizenüberschuß. Es +war damals noch nicht die Konkurrenzunfähigkeit der deutschen +Landwirtschaft die Ursache der Einfuhrüberschüsse bei Getreide, sondern +die verstärkte Hinwendung der Landwirtschaft zum Kartoffel-, +Futtermittel- und Rübenbau. Aber diese Wendung leitete eine +wirtschaftliche Umwälzung ein: an der Zuckerrübe wurde eine der ersten +und blühendsten deutschen Industrien wach, auf den Kartoffelböden des +Ostens entstand eine landwirtschaftliche Nebenindustrie (Brennereien +und Stärkefabriken) von großer Bedeutung. Im Westen und Süden +entwickelte sich im Anschluß an eine alte Tradition des Gewerbefleißes +eine Industrie der Textilien, des Eisens und der Kohle; sie hatte +jahrzehntelang einen schweren Stand gegenüber der hochentwickelten +englischen Industrie wie auch gegenüber dem französischen und +belgischen Wettbewerb, der teilweise mit Ausfuhrprämien arbeitete. +Aufschwungsimpulse von größter Bedeutung waren die Reichseinigung, die +Kriegsentschädigung von 1870 und das gehobene Nationalgefühl, das nach +dem glorreichen Kriege durch das deutsche Volk ging. Die Bevölkerung +wuchs von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in starken Rhythmen, das industrielle +Leben entfaltete sich, wenn auch über Wellentäler von Depressionen weg, +so doch im ganzen stark und nachhaltig; die Schutzzollgesetzgebung von +1879 kräftigte jenes Doppelfundament der deutschen Wirtschaft, +Industrie und Landwirtschaft gegen die vom Weltmarkt her drohenden +Erschütterungen. Wenn schon in den letzten Jahrzehnten des 19. +Jahrhunderts die deutsche Industrie- und Reichtumsentfaltung den +ausländischen Beobachtern so überraschend — und gestehen wir auch +das, in mancher Hinsicht überstürzt und gewaltsam — vorkam, so +waren das nur Auftakte zu jener ungeheuren, fast möchte man sagen: +elementaren Expansion, die mit dem neuen Jahrhundert einsetzte.</p> + +<p>Drei Züge kennzeichnen diesen neuen Abschnitt der deutschen +Wirtschaftsentfaltung: das Aufschießen von Riesenbetrieben, zumal in +der Kohlen- und Eisenindustrie, in der chemischen und +Elektrizitätsindustrie; weiterhin der Organisationsprozeß der deutschen +Wirtschaft in Gestalt von Betriebskombinationen, Kartellen, Syndikaten, +Interessengemeinschaften usw.; und drittens das Vordringen der +wissenschaftlich fundierten Industriewirtschaft, mit anderen Worten: +der wirtschaftlichen Auswertung naturwissenschaftlicher Forschungen +einerseits, andererseits des Aufbaues von Betrieben und Unternehmungen +nach Methoden, die wissenschaftlich auf ihre höchste Zweckmäßigkeit +ausgeklügelt sind. Während Großbetriebe, Kartelle und Truste Ergebnisse +von Tendenzen sind, die alle moderne Wirtschaft in fast allen Ländern +kennzeichnen, ist der Weg zur Wirtschaft über die Wissenschaft ein +spezifisch deutscher Weg gewesen; seine geistigen und sittlichen +Voraussetzungen lagen nur hier in der Stärke und Reinheit vor, die +nötig waren, ihn zu beschreiten und zu erobern. Jedenfalls ist das +Schrittmaß der deutschen Wirtschaftsentwicklung unter dem Antrieb jener +neuen Organisationsformen und Produktionsmethoden so schnell, daß in +seinem Gefolge schwerwiegende Erscheinungen im Inneren des deutschen +Volkskörpers auftauchten. Noch schwerer wiegende nach außen!</p> + +<p>Ein wachsendes Volk auf schmaler Rohstoffbasis! Was das wachsende +Volk an Nahrung und Kleidung brauchte, konnte der deutsche Boden allein +nicht hergeben; die Einfuhr mußte über eine Million Tonnen Brotgetreide +und für eine Milliarde Mark (Goldmark!) Futtermittel zuschießen; dazu +Milliardenbeiträge für Wolle, Baumwolle, Erze usw. Wir könnten diese +wenigen Angaben noch vermehren um den Hinweis auf den stark +anwachsenden Tonnengehalt unserer Handelsflotte, die Ausweise unserer +Banken, die deutsche Kapitalanlage im Auslande, unsere Steuerkraft und +vieles andere mehr. Doch genug der Zahlen! Sie sind heute schmerzvolle +Erinnerungen. Wer sich sinnfällig den Unterschied des damaligen und des +heutigen Deutschlands vergegenwärtigen will, überlege nur einen +Augenblick den Wert der Mark von heute gegenüber dem der alten +Goldmark. Der Unterschied redet eine Sprache, die auch der Einfältige +versteht.</p> + +<p>Und doch müssen wir noch einmal vom alten Deutschland reden, ehe wir +uns dem armen Deutschland unserer Tage zuwenden, und zwar nach einer +doppelten Hinsicht. Ein Volk, das keine Hoffnung mehr sieht und auf +Generationen hinaus Wüstenwanderung vor sich hat, gibt sich auf. Haben +wir dazu Anlaß? Wir hätten Anlaß dazu, wenn alle Wurzeln unserer +Vorkriegsblüte verdorrt wären. Stellen wir fest, welches diese Wurzeln +waren. 1. La n d als Grundlage von Ackerbau und Viehzucht, Land als +Fundstätte von Rohstoffen und Kraftquellen, Land als räumliche +Grundlage von Leben und Wohnen. Nach allen drei Richtungen haben wir +schmerzvollste Verluste erlitten, aber keine, die nicht mehr oder +minder zu mildern wären. 2. Die natürliche Lebenskraft der N a t i o n: +Arbeitskraft, Geschlechtsverteilung, Altersaufbau, Gesundheit. Auch +hier sind schwere Einbußen zu verbuchen, aber wiederum keine, die nicht +auszugleichen oder zu ertragen wären. 3. K a p i t a l k r a f t, +Vermögensmacht, Reichtum, "Wohlstand": hier liegt die gewaltigste +Einbuße vor, diejenige auch, die am wenigsten von heute auf morgen +ausgeglichen werden kann. Hier ist Anlaß, in der Tat von einer +hochgradigen Verarmung zu reden. Teils ist sie eine Folge der +Erschöpfung unserer Reichtumsquellen durch den Krieg, teils der +Ausplünderung und Ausraubung durch den Frieden. Wenn es heute ein +"Proletariervolk" im Sinne eines Volkes, das in Dürftigkeit von der +Hand in den Mund lebt, gibt, dann sind w i r e s. Wir sind das +Proletariervolk, auf das für Jahrzehnte hinaus ungeheuerliche +Verpflichtungen gelegt sind. Wir sind ein verarmtes, ausgeraubtes Volk, +das noch von seiner Hände Arbeit und von seiner Armut Fabelsummen in +Gold ausgepreßt bekommt. Hier liegt der Punkt, wo die Wirtschaftslage +in das allgemeine Leben des ganzen Volkes auf Jahrzehnte hinaus +empfindlich einzuschneiden droht. Alle Kultur, alle Zivilisation, alle +Bildung des Geistes und des Herzens, alle soziale Fürsorge, alle gute +Verwaltung, alle Schaffung von Recht und Sicherheit hängt mit tausend +Fäden an der Wirtschaftsblüte; sie entscheidet über das Leben +ungeborener Geschlechter, und vor allem darüber, ob der junge Aufwuchs +der Nation an Leib und Seele verkrüppelt und verwildert aufwächst oder +nicht; sie entscheidet darüber, ob Mitteleuropa zurücksinkt in die +stumpfe Dumpfheit und Stickigkeit einer geistig und physisch elenden +Volksmasse, und weiterhin darüber, ob sich damit die Nachtschatten über +ganz Europa senken. Denn man kann nicht das Mittelstück eines Kultur- +und Zivilisationszusammenhanges mit frevlen Händen herausbrechen und +sich dabei einbilden, das könnte den Anschlußstücken in Ost und West +von Vorteil sein. Die wirtschaftliche Erschöpfung bei gleichzeitiger +Überbürdung mit Verpflichtungen ist der Boden der schlimmsten +Gegenwartsbefürchtungen; an diesem Punkte kann a l l e s fraglich +werden. Ob die Befürchtungen sich verwirklichen, hängt ab von der +Freiheit, die man unserer Arbeitskraft, unserer Unternehmungslust und +unserem Erfindergeist im fremden Lande gewähren wird, und hängt nicht +zuletzt ab von der tätigen Hilfe in Gestalt von Krediten, +Rohstoffvorschüssen und vor allem Verpflichtungserleichterungen, die +uns das Ausland gewährt 4. S i t t l i c h e E i g e n s c h a f t e +n: Arbeitswilligkeit, Arbeitsfreude, Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit, +Genügsamkeit, Wille zum Vorwärtsstreben, Mut zum Leben. Wer will +behaupten, daß diese Eigenschaften, die gewiß zeitweise getrübt und in +manchen Einzelgruppen heute noch geschwächt sind, im ganzen +unerträglich gelitten hätten? Nur interessierte Böswilligkeit oder +Unverstand kann derartiges behaupten. Festzustellen ist wohl, daß das +Maß der Leistungen nicht so stürmisch und ungezügelt ist wie früher. +Aber das hat seine besonderen Gründe in schlechter Lebenshaltung, +wirtschaftlichen Beengungen durch den Friedensvertrag und seine Folgen +und ist übrigens zu einem Teil eine verständliche Reaktionserscheinung +auf de ungeheueren Anforderungen der letztem sieben Jahre. 5. D e r d +e u t s c h e S t a a t. Sicher war das alte Staatsgefüge mit seiner +inneren Ordnung, seiner Stärke und Macht nach außen ein gewichtiger +Hebel wirtschaftlichen Aufstiegs. Zweifellos hat die allgemeine +Heerespflicht Eigenschaften geweckt und gefördert, Sachverhalte +geschaffen, die der Wirtschaft zugute kamen. Was ein starker, politisch +unabhängiger Kultur- und Machtstaat der Wirtschaft zu bieten vermag, +weiß kein Volk besser als das deutsche. Wir müssen uns mit dem Gedanken +vertraut machen, daß unser Staat von heute so schwer nach außen und +innen zu tragen hat, so überbürdet ist mit Aufgaben und toten Lasten, +daß ihm die Wirtschaft eher helfen muß, als er der Wirtschaft helfen +kann. Das sind Folgen des Krieges und des Friedens, Folgen aber auch +der gerade in Deutschland so weit verbreiteten Neigung, in allen Nöten +des Lebens nach dem Staate zu rufen. Und doch ist es nicht so, wie +mancher wohl gelegentlich denken möchte, als ob der Staat von heute nur +eine tote Last unserer Wirtschaft sei. Auch heute lebt die Wirtschaft +auf dem Boden des staatlich gesicherten Rechtes und der staatlich +gewährleisteten Ordnung. Und vor jedem vorschnellen Urteil sollte man +bedenken: Das Staatsgefüge in Deutschland hat eine ungeheuere +Anspannung und Probe ausgehalten, ohne unterzugehen! Gewiß, es hat sich +neue Formen geschaffen; es ringt in manchen Hinsichten noch mit sich +selbst und den neuen Verhältnissen — aber das Wesentliche ist +gesichert: im neuen Staate sind die Unterlagen des Wirtschaftslebens +und die Voraussetzungen eines wirtschaftlichen Aufbaues gegeben. Es ist +Aufgabe des Staates, auf seinem Gebiete der Wirtschaft aufzuhelfen; es +ist Aufgabe der Wirtschaft, mit ihren Mitteln den Staat zu stützen. Die +Vorstellung, es könne eines von beiden o h ne e das andere gedeihen, +ist eine gefährliche Illusion.</p> + +<p>Das ist der e i n e Blick auf das alte Reich, ein Blick, der uns +vergegenwärtigen sollte, wieviel noch von den Pfeilern der alten Macht +und Größe steht und Tragkraft besitzt für den Neubau. Und nun der +andere Blick auf das alte Reich: wieviel von den Nöten, Sorgen und +Schwierigkeiten unserer Gegenwart lagen in ihm schon mit zugrunde! Aus +der Tiefe seiner Armut könnte es einem kommenden Geschlecht einmal +scheinen, als ob in den glanzvollen Jahrzehnten des Kaiserreiches eitel +Friede und Wohlfahrt in Deutschland geherrscht habe. Und ein +Geschlecht, das in seinen Tagen die Fehden blutdürstiger Matabelestämme +auf europäischem, politisch zerkleinertem Boden zu erleben glauben +wird, könnte vielleicht einmal denken, der europäische Friede vor dem +Kriege sei eitel Völkerfreundschaft gewesen. Solche Auffassungen haben +mit der Wahrheit sehr wenig gemein. Das von jeher an Gegensätzen und +Spannungen so reiche deutsche Leben hat auch unter dem zweiten +Kaiserreiche den inneren Frieden nicht gefunden. Gewiß trat der alte +Bruch zwischen Nord und Süd für das Bewußtsein der jungen Generationen +als eine praktisch erledigte Angelegenheit, deren gefühlsmäßige +Restbestände allmählich ganz erlöschen werden, zurück; auch war nach +dem Einschwenken in der Kulturkampfpolitik der konfessionelle Gegensatz +kein auseinanderreißendes Element mehr, soviel Kraft er im übrigen noch +verschlingen mochte. Aber dafür ging der Riß der w i r t s c h a f t l +i c h - s o z i a l e n G e g e n s ä t z e in Gestalt des +Klassenkampfes durch unser Volk. Wie die moderne Wirtschaftsverfassung, +zumal in ihrer hochgesteigerten deutschen Gestalt, Besitz und Verfügung +über die Produktionsmittel von der Arbeit an ihnen trennt, so +schichteten sich auch politisch und sozial die Gruppen. Hier Besitz und +wirtschaftliche Machtverfügung, dort Nichtbesitz und ausführende +Arbeit; hier stärkste soziale Geltung mit erhöhten politischen Rechten +und Ansprüchen, dort tatsächliche soziale Mindergeltung und politische +Minderberechtigung; hier die relativ dünnen Schichten, die mit Stolz +Besitz und Bildung berufen konnten, dort die ungeheueren Massenheere +der Arbeiterschaft, besitzlos, hungrig nach Bildung und Wissen. Das war +der Sachverhalt, der den Ausgangspunkt gefährlicher innerer Spannungen +abgab, der den Trennungsstrich zog durch das Volk, und der, so schien +es manchmal, zwei feindliche Völker auf einem Boden und in einem +Staatsverbande zusammenhielt. Wenn schon festzustellen ist, daß der +schärfste Radikalismus von beiden Seiten sich allmählich abstumpfte, +und wenn schon zugegeben werden muß, daß die staatliche Sozialpolitik +sehr viel zur Milderung der Konflikte tat, so traf doch noch der +plötzliche Kriegsausbruch in eine Spannung der Gegensätze, die nicht +unbedingte Sicherheit gab, daß die Zusammenfassung aller Kräfte nach +außen restlos gewährleistet, der Burgfriede nach innen gewahrt sei. +— Und noch eine Frage der Vorkriegszeit ragt in unsere Gegenwart +hinein, doppelt und dreifach verschärft. Es ist Tatsache, daß unser +Volkswachstum, getragen von dem gigantischen Aufschwung unserer +Wirtschaft, mit der Folge der Überflügelung aller übrigen europäischen +Wirtschaften politisch unsere Lage erschwerte. Gegnerschaften, die das +alte Deutschland von vor 1870 nie herausgefordert hatte, forderte das +hochindustriell entwickelte Deutschland heraus. Verständliche +Besorgnis, Machtgier und Racheinstinkte schlugen vor dem Bilde des +wirtschaftlich so gewaltig sich reckenden Deutschland zur verzehrenden +Flamme empor und führten Staaten zu feindlichem Bund zusammen, deren +Lebensinteressen an sich gegeneinanderstanden. Es wird sich zeigen, wie +die Wirtschaftslage auf die politische Konstellation heute unheilvoll +nachwirkt, teils infolge des Friedens und des Londoner Ultimatums, +teils als Folge unserer trotz Kriegsverlust äußerlich scheinbar +intakten Wirtschaft.</p> + +<p>Man hat gesagt, der Versailler Vertrag sei die Urkunde des neuen +Europas. Unser Volk weiß und fühlt es Tag für Tag, daß er allerdings +die haß- und infamiegesättigte Urkunde s e i n e s Lebens ist. Seine +Einzelheiten wollen wir nicht betrachten; aber was er im gröbsten für +uns bedeutet, bedarf der Skizzierung. Er raubt uns ganze Länder und +Provinzen. 6,7 Millionen Hektar Fläche schneidet er in Ost und West aus +dem deutschen Gebietskörper heraus. Er nimmt uns alle Kolonien. Fast 6 +Millionen Menschen, von denen die Mehrzahl Deutsche sind und deutsch +fühlen, spricht er mit oder ohne Abstimmung fremden Völkern zu. +Außerdem werden 32 000 Quadratkilometer unseres Staatsgebietes +langjähriger Besetzung und feindlichen Eingriffen unterworfen, die +wiederum auf 6,5 Millionen Menschen ihr Zwangsjoch legen. Suchen wir +uns zu vergegenwärtigen, was nur diese wenigen Bestimmungen des +Friedensvertrages wirtschaftlich besagen. Eine Regierungsdenkschrift +hat berechnet, daß ohne Berücksichtigung der Abstimmungsgebiete 14,9% +unserer Ackerfläche durch die Abtretungen verloren gehen. Naturgemäß +bedeutet das stärkste Einbuße an landwirtschaftlichen Erträgen, um so +mehr, als die verlorenen Ostgebiete geradezu die Korn- und +Kartoffelkammern des Reiches darstellten. Man hat berechnet, daß 19% +der Roggenernte, je 20% der Gersten- und Kartoffelernte und teilweise +noch höhere Prozentzahlen bei anderen Produkten mit der Abtretung jener +Gebiete unserer Volksernährung verloren gegangen sind. Also rund ein +Fünftel der deutschen Ernährungsgrundlage! Dazu der Verlust an unserem +stark verminderten Viehstapel. Diese Einbußen verstärken sich dadurch, +daß in jenen abgetretenen Gebieten nur 13,3% der deutschen Bevölkerung +wohnten. 3,6 Millionen Menschen durchschnittlich könnten von den Ü b e +r s c h ü s s e n der verlorenen Provinzen ernährt werden, wenn man +jene Mehl- und Kartoffelrationen zugrunde legt, die 1920 zugeteilt +wurden. Mit anderen Worten: Die Schwierigkeit der deutschen +Volkswirtschaft, ihre Menschen zu ernähren, ist heute, zur Zeit ihrer +allgemeinen Verarmung und Belastung, weitaus größer als in jenen +reichen Tagen der Vorkriegszeit! Um so mehr, als durch den Raubbau +während des Krieges die Erträge der Böden und das Schlachtgewicht +unserer Viehstapel erschreckend zurückgegangen sind. Problem: bei +verminderter Fläche und ab gewirtschafteten Böden die Bedarfsversorgung +einer nicht im gleichen Umfange zurückgegangenen Bevölkerung zu +gewährleisten. Und wir müssen noch hinzufügen: den Bedarf einer +Bevölkerung, die teilweise entkräftet ist durch die mangelnde +Ernährung, die 1,7 Millionen ihrer kräftigsten Männer verloren bat, die +1,5 Millionen ganz oder teilweise erwerbsunfähiger Kriegsbeschädigter +zu versorgen hat, und deren Kaufkraft für die Erzeugnisse des Auslandes +ins Bodenlose zusammengefallen ist. Das ist eine Bergeslast, die der +Friedensvertrag auf uns wälzte; unsere landwirtschaftliche +Eigenversorgung ist völlig unzureichend; an ihr und an unserem +verbliebenen Wohlstand gemessen, sind wir ein übervölkertes Land.</p> + +<p>Mancher mag geneigt sein, das nicht so tragisch zu nehmen. Er +erinnert an die wachsenden Millionen der Vorkriegszeit, für die ja auch +die Eigenversorgung des deutschen Bodens nicht auslangte, und tröstet +sich damit, unsere I n d u s t r i e müsse den Überschuß an Menschen +ernähren. Doch so einfach liegen die Dinge nicht mehr. Zunächst ist die +Quote der heute auf die Industrie angewiesenen Menschen verhältnismäßig +größer als damals. Und weiterhin kann die Industrie die Menschen nur +dann ernähren, wenn sie 1. Ausfuhrmöglichkeiten hat, die auf G e g e n +l e i s t u n g e n beruhen, und 2. wenn ihre eigene Kraft nicht +gelähmt ist. Zum ersten Punkt sei in diesem Zusammenhange nur kurz +bemerken, daß die geschmälerten Ausfuhrmöglichkeiten der deutschen +Industrie von heute im größten Umfange o h n e Gegenleistung sind. Es +sind großenteils einseitige Leistungen, die direkt oder indirekt auf +Konto der Reparation laufen und in diesem Umfange tote Lasten unserer +Wirtschaft darstellen, für die in Deutschland zwar Millionen fronden, +von denen aber keiner leben kann. Davon abgesehen aber hat der +Friedensvertrag auch die Grundlagen unserer Industrie erheblich +geschmälert. Schätzungsweise ein Viertel unserer deutschen +Kaliförderung ging mit Elsaß-Lothringen verloren; wichtiger als der +Förderverlust ist der Verlust der Monopolstellung, die Deutschland auf +dem Kalimarkte hatte. 79% unserer vor dem Kriege geförderten Eisenerze +— das Rückgrat unserer Industrie und jeden industriellen Lebens +— sind durch den Verlust Lothringens und den Zollausschluß +Luxemburgs dahin; ungefähr 9% unserer Kohlenförderung ist, wenigstens +für 15 Jahre, durch die Abtrennung des Saargebietes uns entzogen; +ungefähr zwei Fünftel unserer Kohlengesamtförderung wäre verloren, wenn +Oberschlesien an Polen fällt[1].</p> + +<blockquote> [1] Das ist inzwischen geschehen, indem der Völkerbund +gerade</blockquote> +<blockquote> die industriereichen Teile Oberschlesiens Polen +zusprach.</blockquote> + +<p>Das Ruhr-, Wurm- und mitteldeutsche Kohlengebiet ist alles, was uns +verbleibt. Aber auch deren Förderung steht nicht zu unserer freien +Verfügung. Der Friedensvertrag belastet uns auf in Jahre mit +Lieferungen an die Entente, die sich auf über 40 Millionen Tonnen +stellen. Das Spaaer Abkommen hat dann diese Phantasieforderung +ermäßigt. Da uns auch die freie Verfügung über die oberschlesische +Kohle seit der Besetzung des Landes genommen ist, ruht die schwere Last +der Versorgung auf dem Ruhrrevier. Diesem Anfordern war weder die alte +Belegschaft gewachsen, noch langten die Förder- und +Verkehrseinrichtungen. Die Wirkung war eine doppelte: Es mußten die +Belegschaften vermehrt und die Verkehrsmöglichkeiten gesteigert werden +— was nur mit ungeheueren Opfern seitens des Reiches zu machen +war (Wohnungsbauten, Löhne, Lebensmittelzuschüsse) —, und es +mußten deutsche Betriebe in ihrem Kohlenverbrauche sich beschränken, +oft genug gar die Arbeiter entlassen und stillliegen, weil die +Zwangslieferungskohle vorgeht. Das waren zeitweise geradezu +katastrophale Zustände, die an das Mark unseres industriellen Lebens +rührten. Heute ist in der Tat die Rohstoffdecke zu knapp geworden, an +Kohle, an Zinkerzen, an Blei usw. Heute hat der deutsche Osten noch +weniger als bisher die Möglichkeit, seine Menschen festzuhalten, +während das Ruhrrevier schlimmer als je bisher mit Anforderungen für +die deutsche Wirtschaft aller Provinzen belastet und für deren +Erfüllung mit Menschen unerwünscht dicht belegt werden muß. Das sind +Verschiebungen, die unsere industrielle Basis erschüttern, uns +außerstande setzen, unsere Menschen selbst zu ernähren, und die +natürlich uns vorher zum Aussetzen unserer Vertragsleistungen an die +Entente zwingen — mit der Wirkung umübersehbarer politischer +Folgen!</p> + +<p>Das sind nicht die einzigen Beschneidungen unseres Daseins durch den +Friedensvertrag. Der Vertrag raubt das deutsche Volk mit einer +Gründlichkeit und Schamlosigkeit nach allen Richtungen hin aus, in der +sich Haß, Brutalität und Pharisäertum zu einer widerlichen Fratze +verbinden. Kein Guthaben im Auslande, kein Schiffspark, kein Kabel, +keine Ansprüche, Rechte und Privilegien, keine Patente und keine +Gebrauchsmuster werden übersehen. Und um die ganze Schamlosigkeit +dieses Raubzuges wird der Pharisäermantel der vergeltenden +Gerechtigkeit gelegt. Alle gerechte Entrüstung ändert nichts daran, daß +die wertvollen Posten unserer Wirtschaft in Gestalt von +wirtschaftlichem, militärischem und maritimem Rüstzeug allesamt +verloren sind, und daß die Sieger sich auf deutschem Boden und in der +deutschen Wirtschaft Rechte zwangsmäßig usurpiert haben, die die an +sich schon schmale Basis des deutschen Bodens und der deutschen +Hoheitsrechte unerhört verengen. In richtiger Erkenntnis der Sachlage +schrieb die englische Zeitschrift "Nation" vom 22. März 1919: "Es gibt +Leute in und außer Europa, die, wenn sie vom Frieden sprechen, +Diebstahl meinen. Sie möchten Deutschland seine Bergwerke stehlen, +seine Kabel, Kanäle, Kohlen, Land, Schiffe, Kredit, Industrien, +Patente, Handelsgeheimnisse; sie möchten seine Grenzsteine verschieben +und seine offene Brust allen Feinden an allen Ecken und Enden +preisgeben. Das wäre das Ende von Europas Zivilisation."</p> + +<p>Gerade die letzterwähnten Verluste müssen den Versuch, durch +verstärkte industrielle Tätigkeit wiederum zu Atem und Leben zu kommen, +aufs stärkste gefährden. Fünf Jahre war uns der Weltmarkt entfremdet. +In dieser Zeit reifte einerseits der amerikanische und japanische +Weizen im Welthandel, industrialisierten sich andererseits manche +Auslandsmärkte, um für jetzt und in Zukunft unabhängig zu sein von +Versorgungsstörungen auf Grund europäischer Verwicklungen. Typische +Beispiele: Holland und Dänemark legen sich Eisenhütten zu, Schweden +baut seine Hütten- und Stahlwerke aus, Amerika entwickelt eine große +Farbenindustrie, Argentinien und Brasilien bemühen sich um industrielle +Selbstversorgung auf wichtigen Gebieten. Während des Krieges wurde +gerade von England eine intensive Zerstörung aller deutschen +Überseeinteressen vorgenommen, bis zur Vernichtung der Geschäftsbücher, +der Aufstellung schwarzer Listen, des geistigen Diebstahls an deutschen +Patenten und Geschäftsmethoden und vor allem bis zur Verzerrung des +deutschen Antlitzes vor der Welt zur Fratze, mittels einer Lüge und +Verleumdung zu systematischen Kampfmitteln erhebenden beispiellosen +Hetzpropaganda. Wer will ermessen, welche Barren gerade der Raub des +deutschen guten Namens dem deutschen Handel und Gewerbefleiß in der +ganzen Welt bereiten muß? Wer will auf Milliarden aufzählen, was uns +die raffinierte Bearbeitung der öffentlichen Meinung in aller Herren +Länder durch das feindliche Kabelmonopol gekostet hat und noch kostet? +Dieser Verlust des deutschen guten Namens vor aller Welt gehört sicher +mit zu den schlimmsten Kriegsverlusten. Es wird unserer zähesten und +unermüdlichsten Arbeit bedürfen, allmählich durch diese Berge von +Verleumdung, Haß und Vorurteil zu dringen, die sich schlimmer als eine +Blockade um uns legen und uns das moralische Recht und das +wirtschaftliche Leben unerträglich schmälern. Hier hilft uns die doch +zu offensichtige Brutalität und Ungerechtigkeit des Friedensvertrages, +hier hilft uns das allmähliche Wachwerden des Anstands- und +Wahrheitsempfindens in allen edlen Geistern aller Nationen. "Von nun an +müssen wir uns der Aufgabe widmen, diesen Schandfleck des Versailler +Vertrages von dem guten Namen Englands auszulöschen." ("Daily Herald", +10. Mai 1919.)</p> + +<p>Bis zum 1. Mai 1921 sollte nach Bestimmung des Friedensvertrages die +sogenannte Wiederherstellungssumme, die aber in der Art, wie sie +berechnet wird, tatsächlich eine Kriegsentschädigung darstellt, +festgelegt werden. Es ist bekannt, daß diese Summe durch das Londoner +Ultimatum diktiert und die deutsche Unterschrift unter sie erpreßt +wurde. Gefordert wurde vom deutschen Volke ein Gesamtbetrag von 132 +Milliarden Goldmark, abzahlbar in jährlichen Raten von 2 Milliarden, +zuzüglich 26% des Wertes unserer Ausfuhr in Gold, dazu Leistungen auf +Grund von Ausgleichsforderungen und Besatzungskosten, deren Höhe nicht +festgelegt ist, aber in die Goldmilliarden geht. Die furchtbare Last +dieser jährlichen Zahlungen erstreckt sich nach den festgesetzten +Verzinsungs- und Tilgungsgrundsätzen auf weit mehr als ein +Menschenalter. Diese wenigen Daten umschließen die Schuldknechtschaft +eines ganzen Volkes und sind von einer Härte, wie sie in aller +Geschichte unerhört ist.</p> + +<p>An der Wiege solcher Friedensbedingungen hat weder die politische +noch die wirtschaftliche Vernunft gestanden. Das haben die leider so +wenigen Einsichtigen in allen Ländern deutlich ausgesprochen. Auf den +inneren Widersinn dieser Entschädigungsforderungen wies vor allem die +englische Zeitschrift "The Nation" hin, die das Problem ganz richtig +faßte: entweder zahlt Deutschland jene Unsummen, dann nur, indem es uns +die Ausfuhrmärkte ruiniert und uns wirtschaftlich aufs äußerste +bedrängt; oder wir unterbinden ihm unsere Märkte, dann kann es nicht +zahlen. Durchaus zutreffend! Es wird ja niemand im Ernst glauben, aus +dem deutschen Boden selbst ließen sich jene Summen herausstampfen, sie +sind eben nur beschaffbar, wenn die deutsche Arbeit für fremde Völker +sie erst hereinholt und zur Verfügung stellt. Aber auch das ist +richtig: Werden de Forderungen nicht erfüllt, dann drohen politische +Zwangsmittel in Gestalt von Neubesetzungen, Sanktionen, die unserer +politischen Selbständigkeit den letzten Rest geben, die eine dauernde +Gefährdung des europäischen Friedens sind, und die mit dem Zerbruch des +Reiches enden könnten. Der Reichskanzler Wirth hat das zutreffend +formuliert: "Wir kämpfen mit unserer Arbeit um unsere Freiheit als Volk +und Staat."</p> + +<blockquote><center> * +*</center></blockquote> +<blockquote><center> *</center></blockquote> + +<p>Das ist der furchtbare äußere Rahmen unseres Daseins. Aus ihm heben +sich deutlich die Probleme heraus: Wie heilen wir im Lande selbst die +furchtbaren Wunden des Krieges? Wie bringen wir die Mittel auf zur +Erfüllung der ungeheueren Verpflichtungen nach außen? Welche +wirtschaftlichen und sozialen Weiterwirkungen schließen sich an die +Erfüllung dieser Aufgaben bzw. an den Versuch ihrer Erfüllung an?</p> + +<p>Die Not im Lande selbst ist sehr vielgestaltig. Sie äußert sich als +Gefährdung der physischen Volkskraft und Volksgesundheit und tritt im +einzelnen in Erscheinung als mangelnde Ernährung weiter Kreise, Mangel +an Kleidung und Wäsche, fehlende Wohnungen, ungenügende +Wohnungseinrichtungen. Ein Ausdruck dieser Not sind die +Sterblichkeitsstatistiken und die Ausweise der Krankenkassen. Die +Ursachen dieser Not sind die Erschöpfung unseres Wohlstandes durch den +Krieg, die starke Herunterwirtschaftung unseres Sachkapitals, die +Aushungerung unserer Böden, die Aufzehrung der privaten Vorräte und +Ausstattungen, die Leistungen an die Entente auf Grund von +Waffenstillstand und Friedensvertrag, der Aufkaufshunger für alle +möglichen, teilweise sehr gut entbehrlichen Auslandsgüter nach dem +Kriege. Diese Aufzählung wäre ungenau, wenn sie an jenen Schädigungen +des Volksvermögens vorbeiginge, die mit der Gebietsbesetzung, mit +Streiks und Aussperrungen, mit böswilliger Wertvernichtung und Revolten +zusammenhängen. Unleugbar haben auch einige Bestimmungen des neuen +Arbeitsrechtes Schädigungen mit sich gebracht. Im großen Ganzen hat die +Volkswirtschaft noch nicht jene Umschichtung der Berufe und +Rückschichtung der Bevölkerung weg von den Städten erreicht, die der +neuen Wirtschaftslage entsprechen: das sind weitere Quellen +vielgestaltiger Not. Im weiteren darf nicht übersehen werden, daß die +Auflösung des alten Heeres, von Teilen der alten Bürokratie, die +Rückwanderung Deutscher aus verlorenen Gebieten und die Vernichtung +vieler Rentner-, Mittelstands- und Kleinexistenzen des bürgerlichen +Lebens durch Krieg und Kriegsfolgen die Schleusen der Not in weiteren +Schichten geöffnet haben. Eine Denkschrift der Regierung, die für die +Londoner Verhandlungen fertiggestellt wurde, beziffert das deutsche +Volkseinkommen gegenwärtig auf 234 Milliarden Papiermark == ungefähr +22-23 Milliarden Goldmark. Vor dem Krieg berechnete man das +Volkseinkommen auf 43 Milliarden Goldmark! Daraus ergibt sich die +gewaltige Senkung des Realeinkommens des Volkes — und von diesem +so geminderten Realeinkommen sollen die Leistungen an die Entente und +die Steuern für Reich, Länder und Gemeinden aufgebracht werden! Hier +steht die elementare Bedingung unseres Daseins als Volk und Staat vor +uns: wir müssen a l l e Produktivkräfte aufs ä u ß e r s t e +anspannen, um das physische Leben und die politische Freiheit zu +erhalten. Unsere Existenz steht auf der Schneide der äußersten +Wirtschaftsergiebigkeit. Daraus die Forderung, alle sachlichen und +geistigen Voraussetzungen gesteigerter Produktivität anzuspannen, allen +überflüssigen Verbrauch zu meiden.</p> + +<p>Was brauchen wir zur Steigerung der Produktion? Zunächst natürlich +Rohstoffe. Als deren Quelle kommen in Betracht die natürlichen +Rohstofflagerstätten und die Landwirtschaft. Erstere sind die Kohlen- +und Erzadern, die Gesteine und sonstige industriell verwertbaren Güter, +die das Bodeninnere birgt. Ihnen gegenüber — als den durch Abbau +erschöpfbaren Gütern — stehen die landwirtschaftlich in +regelmäßiger Wiederkehr erzeugten Güter. Nach beiden Richtungen hin +haben wir beträchtliche Einbußen erlitten durch Gebietsverluste, +Raubbau und Belastung mit Abgaben.</p> + +<p>Mit dem Rest muß umso schonender umgegangen werden; denn die +Bodenschätze sind entweder überhaupt nicht künstlich vermehrbar, oder +nur durch Mehraufwand von Arbeit und Kapital. Abbau und Anbau stehen +außerdem auf der Spitze der Rentabilität. Wenn wir schon vor dem Kriege +eine starke Einfuhr von Erzen, Kohle und Ölen hatten, von +Nahrungsmitteln, Futtermitteln, Textilien und Rohstoffen aller Art, so +können wir sie heute noch viel weniger entbehren. Wir brauchen die +Einfuhr, weil das Ausland vielfach ergiebigere Fundstätten und Böden +hat und daher billiger liefert. Wir brauchen sie, weil sie Bestandteil +neuer Ausfuhr werden, nachdem sie durch deutsche Arbeit zu fertigen +Produkten veredelt sind. Im Grade der Einfuhr verschulden wir uns; aber +diese Verschuldung ist so lange unbedenklich, als ihr deutsche +Gegenleistungen in Gestalt rentabler Ausfuhr gegenüberstehen. +Unvermeidlich ist, daß große Einfuhrposten für de Deckung des +notwendigen, seit dem Kriege so stark vernachlässigten Eigenbedarfs des +deutschen Volkes hereinkommen. Das bedeutet zunächst eine Belastung der +Zahlungsbilanz oder eine Verschuldung durch Kredite; in jedem Falle +müssen auch diese Beträge durch Ausfuhr oder durch andere geldwerte +Gegenleistungen gedeckt werden, entweder aus laufenden +Wirtschaftserträgen oder aus der Substanz des Volksvermögens. Wenn +einsichtige Wirtschaftspolitiker schon vor dem Kriege den starken +Materialverbrauch beklagten, die Zerstörung lebendiger menschlicher +Arbeit durch ein unwirtschaftliches Vergeuden von Rohstoffen, so gilt +das heute natürlich zehnfach. Rohstoffe sind kristallisierte +Arbeitsstunden, Arbeit ist unser wertvollstes Kapital. Fahrlässigkeit, +Böswilligkeit und Unverstand zerstören nach einem Worte Friedrich +Naumanns mehr als Feuersbrunst und Überschwemmung. Dieses Gebot +wirtschaftlichster Rohstoffverwertung hat zwei Seiten: das Haushalten +mit dem Material der M e n g e und der G ü t e nach. Wer verwaltet +unsere Rohstoffe? Drei große Stoffverbraucher kennen wir: die Betriebe +in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, die Haushaltungen und die +öffentlichen Verbände. Bezüglich der Haushaltungen ist ohne weiteres +klar: vom Geschick vorwiegend der deutschen Hausfrau hängt es ab, wie +mit den Verbrauchsgütern gewirtschaftet wird. Das ist teilweise eine +Erziehungsfrage. Wie viele Hausfrauen haben sich je über zweckmäßige +Stoffverwendung Gedanken gemacht? Tausende von Frauen, nicht nur aus +Arbeiterkreisen, verwirtschaften ohne Ahnung von den Folgen ihres +Ungeschickes Milliardenwerte. Das ist teilweise auch eine Folge der +Frauenberufsarbeit. Wer die Verhältnisse in den Arbeiterfamilien der +Industriereviere kennt, weiß, daß die erwerbstätige Frau die kürzesten +Methoden der Haushaltsführung vorzieht und vielfach gerade wegen ihrer +Berufstätigkeit vorziehen muß. Neben den Schäden, die die +Frauenberufsarbeit für das Familienleben und die Erziehung mit sich +bringt, liegen in der unwirtschaftlichen Stoffverwendung bedenkliche +volkswirtschaftliche Seiten der Frauenberufsarbeit. Was die +Materialverwertung der öffentlichen Verbände anlangt, so hat die +Kriegszeit dort in erschreckendem Maße gezeigt, wie wenig hier den +Anforderungen einer vernünftigen Bewirtschaftung Rechnung getragen +wurde. Die bureaumäßige Verwaltung von öffentlichen Betrieben und +Verbrauchseinrichtungen hat eben nicht jene Motive zum sparsamen +Haushalten und jene scharfen Kontrollmöglichkeiten, die die +Privatunternehmung hat. Dem rein verwaltungsmäßig gerichteten Sinn +fehlt vielfach die Einsicht in die wirtschaftliche Bedeutung +sparsamster Materialverwertung. Aber selbst in der privaten +Unternehmung sind nicht ohne weiteres die Garantien für sparsame und +zweckmäßige Rohstoffverwendung gegeben. Zwar drängt das Interesse der +Unternehmung am möglichst hohen Geldertrag auf äußerste Zweckmäßigkeit +und Ergiebigkeit in der Verwendung aller Produktionselemente; aber hier +ist es wiederum eine Frage der Erziehung und der Einsicht der +Arbeitskräfte, ob sie mit den ihnen anvertrauten Wirtschaftsgütern +möglichst schonend umgehen. Keine Aufsicht kann das eigene +Mitbesorgtsein der Arbeiter ersetzen. Dieses Mitbesorgtsein zu wecken +und zu erhalten, ist großenteils eine Sache der Erziehung, des +Verantwortungs- und Gemeingefühls und der Einsicht. Hier mündet die +Aufgabe des Rohstoffschutzes unmittelbar in ethische und soziale +Voraussetzungen. Die zweckmäßige Rohstoffverwendung in der privaten +Unternehmung ist gleichzeitig eine Frage der Betriebsgröße, der +Betriebsorganisation und der Produktionsweise. Die objektiv stärkste +Möglichkeit wirtschaftlicher Produktion hat der kombinierte +Großbetrieb, der sich in der Produktion einstellt auf normalisierte und +typisierte Erzeugnisse. Wieviel nach dieser Richtung in Deutschland +noch fehlt, beweisen die Klagen führender Industrieller und zünftiger +Volkswirte.</p> + +<p>Rohstoffökonomie ist also Haushalten mit den Unterlagen unseres +Daseins. Neben der Verfügung unserer Sachgüter ist die wichtigste +dieser Unterlagen die l e b e n d i g e A r b e i t s k r a f t. Das +volkswirtschaftliche Ziel hat Rathenau in Anbetracht unserer Lage +einmal dahin zusammengefaßt: "Es ist nötig, ...den Wirkungsgrad +menschlicher Arbeit so zu steigern, daß eine verdoppelte Produktion die +Belastung zu tragen vermag und dennoch ihre Hilfskräfte besser entlohnt +und versorgt werden." Das ist durchaus richtig. Wenn das Kapital, mit +dem wir neu anfangen, im wesentlichen unsere Arbeit ist, dann muß mit +dieser Arbeit sparsam umgegangen werden. Sie darf nicht vergeudet +werden durch Produktion von entbehrlichen Gütern, sie darf nicht durch +Raubbau abgewirtschaftet werden. Es müssen alle technischen, +organisatorischen und sozialen Voraussetzungen geschaffen werden, um +die möglichst große Produktionssteigerung durch möglichst sparsamen +Arbeitsaufwand zu erreichen. Auch hier wieder die Voraussetzung: +Bildung und Erziehung der heranwachsenden Geschlechter, Erfüllung mit +Einsicht in den Ernst der Verantwortung für das Ganze, Abwehr aller +Neigung zu einem resignierten Versinken in die stumpfe Fron für den +laufenden Tag.</p> + +<p>Diese Aufrechterhaltung unserer Arbeitskultur und Wirtschaftshöhe +ist wiederum gebunden an stoffliche Unterlagen, nämlich an den +ausreichenden S u b s i s t e n z f o n d s der Nation. Man spricht +gewöhnlich davon, es müsse genügend "Kapital" vorhanden sein, um die +Arbeits- und Wirtschaftskultur wie übrigens die Gesamtkultur des ganzen +Volkes, die ja immer irgendwie an sachliche Unterlagen gebunden ist, zu +erhalten. Die Quelle dieses Kapitals aber ist die Differenz zwischen +Volkseinkommen und Verbrauch, mit anderen Worten: das nichtverbrauchte +"ersparte" Volkseinkommen. Von zwei Seiten her kann diese +Kapitalbildung gefördert werden: von der Erhöhung des Volkseinkommens +durch erhöhte Produktion und von der Minderung des Verbrauches her. +Unsere Lage zwingt uns, beide Wege zu beschreiten: die Produktion aufs +äußerste zu steigern, den Verbrauch an allem Entbehrlichen möglichst +zurückzudrängen. Das wird für Jahrzehnte unser Schicksal sein, ein +Schicksal, dessen Härte nur dadurch erträglich ist, daß es uns die +Aussicht gibt, die Einheit des Reiches und des Volkes durch alle +Fährlichkeiten des verlorenen Krieges und des Friedens hindurch zu +retten. Die besondere Schwierigkeit unserer Kapitalneubildung liegt +darin, daß sie mit ungewöhnlichen Belastungen zu rechnen hat. Die +Belastungen bestehen in den geschilderten Zahlungsverpflichtungen +gegenüber der Entente, in der gewaltigen Steuerlast, in der ungünstigen +Entwicklung des Außenhandels (der im vergangenen Jahre mit zweieinhalb +Goldmilliarden p a s s i v war!), ferner in der Ungunst der +Einkommensverteilung.</p> + +<p>Bei sotanen Dingen ist alles, was unsere Wirtschaftserträge erhöht, +eine Daseinserleichterung, eine neue Gewähr unseres physischen und +kulturellen Lebens. Das gilt für alle Seiten unserer Wirtschaft, für +Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Verkehr. In der Landwirtschaft +zumal spielt es eine besondere Rolle. Hier sind die Erträge gegenüber +der Vorkriegszeit sehr stark gesunken, hier ist außerdem die Quelle +unseres dringendsten Bedarfes, der Ernährung. Das landwirtschaftliche +Betriebskapital ist während des Krieges scharf heruntergewirtschaftet +worden, es bedarf jetzt der Erneuerung. Kredite müssen der +Landwirtschaft zufließen, die sie im Kriege glaubte abstoßen zu können +oder nicht mehr zu benötigen. Durch Düngemittel aller Art, durch +Meliorationen, durch Maschinen müssen die Böden wieder in den alten +hochgepflegten Zustand gebracht werden. Der Viehstapel muß ergänzt +werden. Das landwirtschaftliche Bildungswesen darf um keinen Preis +vernachlässigt werden. Was uns diese Forderungen erheben läßt, ist die +einfache Tatsache, daß der stark abgewirtschaftete Zustand der +Landwirtschaft im Interesse der Allgemeinheit, des Staates, des Volkes +in Stadt und Land und nicht zuletzt auch des Fiskus saniert werden muß, +ehe er wiederum ein tragender Pfeiler unserer Wirtschaftsblüte werden +kann. Erst bei solcher Intensivierung der landwirtschaftlichen +Erzeugung besteht die Aussicht, daß der Strom von Menschen, welcher im +Gefolge des Krieges den Städten zugeflutet ist und dort die Not +vermehrt, wiederum vom Lande aufgenommen werden kann. Wie bedeutsam +eine solche Rückwanderung ist, ergibt sich ohne weiteres; sie entlastet +den Arbeitsmarkt, entlastet den Fiskus von der Erwerbslosenfürsorge, +sie entlastet die städtische Fürsorge, sie mildert die Schärfe unserer +sozialen Not und sie beseitigt jenes Übel, das schon vor dem Kriege auf +dem Lande vielfach anzutreffen war, nämlich die Leutenot.</p> + +<p>Wenn die wesentliche Aufgabe der deutschen Landwirtschaft darin +besteht, in möglichst weitem Umgange den Nahrungsbedarf unseres Volkes +zu erstellen, so hat die Industrie demgegenüber eine verwickeltere +Aufgabe. Sie soll einesteils den starken Verbrauch an +Industrieerzeugnissen decken, den das Inland hat; sie soll aber +andererseits die Grundbedingung unseres Daseins gewährleisten, nämlich +die aktive Zahlungsbilanz. Deren Hauptbestandteil war von jeher die +Handelsbilanz, das heißt das Wertverhältnis der Wareneinfuhr zur +Warenausfuhr. Heute sind die anderen Bestandteile der deutschen +Zahlungsbilanz ungefähr auf den Nullpunkt reduziert; wir haben keine +Gewinne mehr aus Frachten für das Ausland, unsere Erträgnisse aus der +Kapitalanlage im Auslande sind mitsamt den Kapitalien fast ganz +verloren, unsere Gewinne aus Vermittlung und Versicherung für fremde +Völker sind dahin. Nach all diesen Richtungen haben wir nur noch +Passiva. Und trotzdem besteht unabweisbar das Ziel: Herstellung einer +aktiven Zahlungsbilanz! Die Handelsbilanz muß die dazu erforderlichen +Wertüberschüsse der Ausfuhr über die Einfuhr erbringen. Wir müssen, ob +wir wollen oder nicht, Exportwirtschaft treiben. Unsere +landwirtschaftlichen Erzeugnisse brauchen wir selbst, also kann der +Überschuß der Ausfuhr über die Einfuhr im großen ganzen nur industriell +erwirkt werden. Zwei Gesichtspunkte sind entscheidend: die +Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie einerseits, die Aufnahmefähigkeit +und Aufnahmewilligkeit der fremden Märkte andererseits. Was zunächst +die Ausfuhrfähigkeit unserer Industrie anlangt, so ist sie teils eine +Frage des Preiskurants, das heißt: des billigeren deutschen Angebots, +teils ein Produktionsproblem: Haben wir Güter, die das Ausland +unbedingt erwerben will? Haben wir Überschüsse, die für die +ausländische Nachfrage zu Gebote stehen? Bezüglich der ersten Frage ist +festzustellen, daß manche Tatsachen uns günstige Aussichten im +Wettbewerb bieten. Der Wert des deutschen Geldes, gemessen am Gelde der +ausländischen maßgebenden Gläubigerstaaten, steht sehr tief. Niedrige +Wechselkurse aber bedeuten eine Prämie und einen Anreiz für die +Ausfuhr. Unsere Lebenshaltung ist relativ weniger reich und kostspielig +wie die der fremden Konkurrenzwirtschaften. Die Arbeitsfähigkeit und +Arbeitswilligkeit unserer Bevölkerung hat sich vergleichsweise +schneller erholt als die der meisten anderen Völker. Außerdem waren +deutsche Waren im allgemeinen so wohl beleumundet in der ganzen Welt, +daß Nachfrage nach ihnen ohne weiteres wahrscheinlich ist. Aber +übersehen wir nicht die Hemmungen unserer Überlegenheit im Preisgebot! +Wir mußten unsere Industrie viel eingreifender als die anderen +kriegführenden Nationen auf einen neuen Friedensstand umstellen; +technisch und organisatorisch ist diese Aufgabe schnell und glänzend +gelöst worden, aber sie verschlang viele Arbeitskräfte und viele +Kapitalien. Manche Industrien hatten im Laufe des Krieges Schulden in +fremder Währung aufgenommen; der rapide Fall des deutschen Geldwertes +steigerte den Belauf der Schulden ins Phantastische und bewirkte neue +Kosten der Abdeckung oder Umwandlung. Die rastlose Anstrengung der +Kriegsarbeit hat in vielen Industrien keine Kräfte und keine Zeit frei +gelassen zu Reparaturen, Materialergänzungen, Erneuerung des +Sachkapitals; das mußte alles nachgeholt werden. In den Zeiten der +Umwälzung nach dem Kriege häufen sich die Streiks, die +Wertzerstörungen, die Lohnforderungen; das Arbeitstempo ließ nach; all +das erscheint als Produktionskosten wiederum im Warenpreis. Und nicht +zuletzt legt die Steuergesetzgebung der Industrie ungeheuere Lasten +auf, die natürlich Preissteigerungen im Gefolge haben. Der gewaltige +Anreiz zu großen Gewinnen, der nach dem Kriege im Abverkauf von +Betriebseinrichtungen und in der Angleichung der Inlandspreise an den +Weltmarkt lag, wirkte sich auch in den gestiegenen Preisen aus. Nicht +zuletzt bot der Warenmangel des erschöpften Inlandsverbrauchs die +Möglichkeit, unter dem Anreiz des Dividendenhungers den Preisstand +scharf zu erhöhen. Auch die Verteuerung der Produktion durch die +Einfuhr fremder Rohstoffe und durch das damit verbundene starke +Valutarisiko wirken in die Richtung steigender Preise. Nach einer +Periode grenzenloser Schleuderverkäufe ins Ausland, die direkt nach dem +Kriege einsetzte, kam die Gegenwirkung: die Preishöhe vieler deutscher +Industrieprodukte lag zeitweise über den entsprechenden +Auslandspreisen. Die Folge davon war stockende Ausfuhr, das heißt +Gefährdung des Zieles der aktiven Handelsbilanz. Im ganzen hat der +Druck auf unsere Wechselkurse dafür gesorgt, daß die Ausfuhrprämie +nicht verschwand. Aber wie prekär die Sachlage ist, zeigt sich +regelmäßig bei selbst geringfügigen Steigerungen unserer Wechselkurse: +es setzt in diesen Fällen eine Stockung der Ausfuhr und eine Steigerung +der Einfuhr ein, also ein ganz bedenklicher Sachverhalt. Der hin- und +hergehende Wertstand des deutschen Geldes gefährdet für den deutschen +Unternehmer alle Grundlagen der Kalkulation, bringt ein spekulatives +Moment in die ganze Wirtschaft hinein und wirft uns aus einer Periode +der Schleuderverkäufe und der stockenden Rohstoffeinfuhr in die andere +stockender Ausfuhr und der Überschwemmung mit Auslandsware. Das +Verlangen, den Urheber dieser Zustände, nämlich den wilden Wechselkurs, +zu binden, ist ebensooft erhoben wie als zunächst aussichtslos +abgelehnt worden. Deutschland ist ohne Unterstützung der +kapitalsstarken Gläubigerstaaten völlig außerstande, eine solche +Festlegung des Wechselkurses vorzunehmen. Nur mit Hilfe ganz gewaltiger +Kredite und einer vorläufig noch sehr unwahrscheinlichen vernünftigen +Gebahrung der Entente in der Reparationsfrage könnten stabile +Wechselkurse eingerichtet und durchgehalten werden.</p> + +<p>So steht es um die Aussichten der deutschen Industrie im +internationalen Preiskampf! Eine andere Frage ist die, ob wir Güter +haben, die das Ausland unbekümmert um den Preis haben muß oder haben +will. Das gilt gewiß bei einer Anzahl von hochwertigen Erzeugnissen, +zumal der chemischen, optischen und elektrotechnischen Industrie; es +gilt auch in einigem Umfang für Kali. Aber auf eine Anzahl solcher +Erzeugnisse hat der Friedensvertrag die Hand gelegt und sie uns in +großen Mengen auf "Reparation" abgefordert. Andererseits sind manche +Erzeugnisse, für die Deutschland vor dem Kriege einen unbestrittenen +Markt besaß, in der Zwischenzeit von fremden Industrien aufgegriffen +und hergestellt worden. Immerhin hat auch heute noch ein gewisses +Marktgebiet starken Druck und starke Neigung zum Verbrauch deutscher +Produkte. Und nun die weitere Frage, haben wir Überschüsse frei für die +Ausfuhr? Wir rechnen nicht in diese Überschüsse dasjenige hinein, was +auf Reparationsrechnung zwangsweise geliefert werden muß. Diese Posten +tragen zur Aktivierung der Handelsbilanz nichts bei, so beträchtlich +sie an Wert sein mögen. Im Gegenteil, sie verschlechtern unsere Bilanz, +denn soweit ausländische Rohstoffe und ausländische Arbeit direkt oder +indirekt in ihnen kristallisiert sind, müssen sie erst mit teuren +Kosten angeworben werden. Sehen wir also von dieser Art Ausfuhr ab, so +fällt zunächst auf, daß bestimmte Industrien ihre Ausfuhrüberschüsse +verloren oder stark gemindert haben. Das gilt für bedeutsame Industrien +landwirtschaftlicher Rohstoffverarbeitung, beispielsweise für die +Zuckerindustrie, deren Ausfuhr früher mehrere hundert Millionen +Goldmark einbrachte; es gilt ebenso für die Branntweinindustrie. Es +gilt aber auch für die Kohlenausfuhr. In die gleiche Richtung wirkt das +zollpolitische "Loch im Westen", das uns den Warenüberdruck der fremden +Märkte vielfach auf Schleichwegen in unser Land pumpt, deutsche +Industrien, besonders im besetzten Gebiete, lahmlegt und uns mit einer +Sorte Einfuhrwaren beglückt, die nach dem Stande unserer Verarmung +besser draußen blieben. Der Verlust von Industrien im abgetretenen +Gebiet, die Materiallieferungen an die Entente auf Grund des +Waffenstillstandes und des Friedens, die starke Beschäftigung für den +Aufbau der Eigenwirtschaft und der Rückgang der Leistungen an Menge und +Güte, die Stillegung mancher Betriebe bringen erhebliche Minderungen +der Überschüsse mit sich. Die Ausfuhrabgaben, die Kontrolle der Ausfuhr +und die Unübersichtlichkeit der fremden Absatzgebiete infolge des +Abbruches alter eingefahrener Wirtschaftsbeziehungen wirken in die +gleiche Richtung.</p> + +<p>So weit die Ausfuhrfähigkeit der deutschen Industrie. Und nun die +andere Seite: die A u f n a h m e f ä h i g k e i t und A u f n a h m e +w i l l i g k e i t des Auslandes! Hier sind Anreizmomente für den +Bezug deutscher Produkte vorhanden: ihre Billigkeit, ihre Güte, ihre +teilweise Monopolstellung. Aber lassen wir die Gegentendenzen nicht aus +dem Auge. Der Krieg wäre für England verloren, wenn er nicht mit einer +Zurückwerfung der deutschen Industrieausfuhr endigte. England hat im +Kriege Zeit gehabt, unsere Auslandsmärkte zu verwüsten, viele Neutrale +haben sich auf den englischen und amerikanischen Lieferanten +umgestellt, haben sich auf einzelnen Marktgebieten unabhängig gemacht. +Die meisten Länder haben ihre Zölle erhöht, manche Länder haben zum +Schutz ihrer eigenen Produktion zu sehr drastischen Abwehrmitteln gegen +die fremde Einfuhr gegriffen. In den ehemals feindlichen Ländern sorgt +der mit Leidenschaft geschürte Nationalismus dafür, daß der deutschen +Ware die Wege weithin versperrt werden. Manche Rohstoffländer sind +während des Krieges zur Verarbeitung übergegangen und spüren geringe +Neigung, ihre mit Opfern großgezogene Verarbeitungsindustrie durch +Ausfuhr von Rohstoffen der fremden Konkurrenz auszusetzen. Die ganze +Welt ist beträchtlich ärmer geworden und hat ihren Verbrauch auf einen +tieferen Durchschnittsstand setzen müssen. Die Erwerbslosenheere sind +heute eine internationale Erscheinung und erschweren die Rückhehr in +die Bahnen des offenen, freien Welthandels, selbst wenn die maßgebenden +Kreise den Willen dazu hätten. Die Neigung, nur solche Erzeugnisse +auszuführen, in denen hochwertige Arbeit verkörpert ist, hat starke +Antriebe erhalten mit der Wirkung, daß unsere Waren, deren Güte und Art +geradezu auf der stark konzentrierten Arbeit aufgebaut war, +verschärftem Wettbewerb begegnen. So ist es erklärlich, daß in der +Ausfuhr verhältnismäßig starke Rohstoff- und Halbfabrikatposten +anzutreffen sind. Die Gefahr lauert im Hintergrunde: ein Sinken unseres +gewerblichen Könnens, unserer Wirtschaftskraft dem Auslande gegenüber, +sinkende Lebenshaltung, sinkende Kultur, sinkende politische Bedeutung. +Das scheint weit ausgeholt, ist aber drohender Ernst. Der Rückfall auf +vorwiegende Rohstoff- und Halbfabrikatausfuhr könnte uns auf ein enges +kontinentales Dasein zurückwerfen.</p> + +<p>Man muß die großen Linien ins Auge fassen, um diesem Pessimismus +nicht zu erliegen. Gewiß, wir vertrauen auf die unversiegliche +Lebenskraft unseres Volkes, auf seinen Unternehmungsmut, auf seine hohe +Geistigkeit. Aber ein Faktor von ebenso großer Bedeutung ist die +Herzlage Deutschlands inmitten des Kontinents. Wir sind die +Durchfahrtsstraße von Ost nach West, von der Atlantis zum Baltischen +Meer; wir sind das Zwischenglied zwischen Westeuropa und dem Osten, das +wirtschaftliche Glacis Englands und Amerikas, dessen industrielles +Leben immer noch im Osten, zur Atlantis staut, und nicht im Westen! +— nach Mittel- und Osteuropa. Man hat im Haß des Krieges und im +Rausch des Sieges geglaubt, uns durch neue Handelswege, deren Linien um +uns herum zu legen seien, aus dem großcn Zuge des internationalen +Verkehrs auskapseln zu können, ein Versuch, der keine geringere +Bedeutung hat, als uns wirtschaftspolitisch aus der Herzlage Europas an +seinen Rand zu drängen. Aber beim Versuch ist es geblieben. Wenn der +Osten wieder für ruhige wirtschaftliche Entwicklung Sinn und Zeit hat +— und das wird auch einmal wieder der Fall sein —, dann ist +Deutschland das Mittelstück Europas; und die vollen Vorteile dieser +Lage werden ihm zugute kommen u n t e r d e r V o r a u s s e t z u +n g, daß es sich nicht selbst ausschaltet und daß es politisch +selbständig bleibt. Der industrielle Bedarf von Ost und Südost stößt +irgendwie immer zunächst auf uns, und den Valuten jener Länder +gegenüber sind wir trotz aller Hemmungen anderer Art leistungsfähiger +als die valutastarken Industrieländer. Hier im Osten und Südosten +erschließen sich unserer wirtschaftlichen Pioniertätigkeit neue +Kontinente, reiche Rohstoffgebiete. Wenn sie mit Vernunft und in +weitherziger Berücksichtigung der Interessen jener Länder und Völker +selbst ausgebaut werden, so eröffnet sich eine neue Zukunft für die +deutsche Wirtschaft. Für die Richtigkeit dieser Erwägungen spricht die +Tatsache, daß fremde Kapitalien in großem Umfange die deutsche +Industrie befruchten, zeigt das handelspolitische Interesse, das +allenthalben in der Welt für unsere Wirtschaft besteht. Sorgen wir +dafür, daß dieses Interesse kein Interesse der "Pleitegeier" an der +Ausschlachtung eines alten soliden, ehemals blühenden Handelshauses +wird! Das ist nur dann möglich, wenn wir alle Kräfte anspannen, die +politische Freiheit und die Einheit des Reiches zu bewahren. Wenn das +Mittel dazu die angestrengte Arbeit des ganzen Volkes ist, gut! so +müssen wir sie auf uns nehmen. Vor dem Kriege war es die freie, gesunde +Kraft eines stark wachsenden Volkes, wagender Kaufleute und +Unternehmer, die uns den Weg in die Weltwirtschaft gehen hieß; heute +ist es der Kampf um Freiheit und Einheit!</p> + +<p>Dieser Weg hat gewiß seine Gefahren. Die Hoffnung der Entente auf +bare Zahlungen und Naturalleistungen hat uns wider alle wirtschaftliche +Vernunft in die Kette der Diktate geschlagen. Heute zeigen sich die +Folgen: Wenn wir zahlen wollen, müssen wir erst verdienen; wenn wir +aber verdienen wollen, müssen wir erst die fremden Märkte aufsuchen. +Unsere Ausfuhr aber und die Devisenaufkäufe zum Zwecke der Zahlung +beginnen heute schon, unseren Gegnern empfindliche Wirtschaftsstörungen +zu bereiten. Da taucht die Sphinx der Zukunft auf: Die Entente hat in +Hinsicht auf das Friedensdiktat ein zweiseitiges Interesse: ein +Gläubigerinteresse und ein Produzenteninteresse. Diese beiden +Interessen stehen in Widerspruch. Beispielsweise: Wenn wir die im +Friedensvertrag auferlegten 200 000 Tonnen Schiffsraum für England +bauen, dann liegen die englischen Werften still, und die Arbeitskräfte +müssen entlassen werden. Wenn wir die zwangsweise Kohlenlieferung +durchführen, dann feiert der englische Bergarbeiter, oder er streikt, +weil der Rückgang der Kohlenpreise die englischen Bergherren zwingt, +die Löhne zu senken. Diese Gegensätze sind heute klar herausgearbeitet. +Man faßt sie nur nicht grundsätzlich an, sondern versucht mit einer +Politik der kleinen Mittel sich an ihnen vorbeizudrücken. Eines Tages +aber wird die Härte der Gegensätze ihre Lösung verlangen. Entweder man +saugt uns aus durch bare Zahlungen, dann müssen wir die Märkte mit +allen Mitteln erobern und das feindliche Produzenteninteresse +schädigen; oder man verwehrt uns die Märkte, dann können wir nicht +zahlen, und das feindliche Gläubigerinteresse ist getroffen. Auf diesem +Punkte laufen sich die Diktate tot an den wirtschaftlich +unausweichbaren Zusammenhängen. Was soll dann geschehen? Das stärkere +Gläubigerinteresse liegt bei Frankreich, das den geringeren +Industrialismus und den stärksten Anteil an unseren Zwangszahlungen +(52%) hat; das stärkere Produzenteninteresse liegt bei England, das den +gesteigerten Industrialismus und den geringeren Anteil (22%) an unseren +baren Leistungen hat. Welches Interesse wird durchdringen, das +französische Gläubiger- (Rentner-) Interesse oder das englische +Produzenten- (Arbeiter-) Interesse? Hier eröffnen sich Entscheidungen, +die für unser Schicksal unerhört wichtig sind. Zu einem Teil haben wir +es in der Hand, sie zu beeinflussen. Unser Interesse kann nicht mit +Frankreich gehen, solange Frankreich in uns ein Beutestück sieht, eine +politische Masse, deren Liquidation nicht brutal genug betrieben werden +kann. Wir stehen wieder an dem Kreuzungspunkt — nur mit viel +schlechterem Einsatz —, an dem wir schon einmal standen, den wir +damals aber in seiner Tragweite nicht genügend begriffen: vor der +Steuerung des Kurses ins englisch-deutsche Einvernehmen, oder — +auf noch weiteren Aspekt gestellt — vor der Steuerung des Kurses +in das anglosächsisch-deutsche Einvernehmen. Oder welcher andere Weg +sollte noch offen sein? Auf die russische Karte jetzt schon zu setzen, +erscheint verfrüht; außerdem kann bei unserer Kapitalschwäche und der +starken Interessierung der anglosächsischen Wirtschaftsmacht an Rußland +diese russische Karte nur im Rahmen einer deutsch-anglosächsischen +Verständigung geschlagen werden.</p> + +<p>Verschiedentlich mußten wir darauf hinweisen, daß unsere politische +Freiheit in den schmalen Resten, in denen sie überhaupt noch besteht, +auf der Schneide der Erfüllung von Diktaten steht. Diese Erfüllung aber +ist ein fiskalisches Problem, eine Frage des Steueraufkommens des +ganzen Volkes. Die Steuerleistung aber ist letzten Endes eine Frage der +Wirtschaftskraft. Das Elend der deutschen Wirtschaft aber spiegelt sich +im Elend der deutschen Finanzen. Das Elend der Finanzen ist nun nicht +erst eine Erscheinung von heute; seit 1876 hat das Reich so ziemlich +fortwährend in Finanzverlegenheiten gelebt. Ein Hauptgrund dafür war +der Aufbau des Reichsfinanzwesens und hier besonders die Verteilung der +Steuerkompetenzen zwischen Reich und Bundesstaaten. Das Reich hat eine +Steuerdomäne, die fast ausschließlich aus indirekten Abgaben und aus +Zöllen bestand. Die direkten Steuern, das Rückgrat jeder gesunden +Finanzwirtschaft, lagen unter Verschluß der Einzelstaaten und wurden +von ihnen eifersüchtig gehütet. Die Einkünfte des Reiches aus +Betriebsverwaltungen waren recht geringfügig im Verhältnis zu dem, was +die großen Bundesstaaten aus ihrem Staatsbesitz zogen. Das war eine +verhängnisvolle Fehlkonstruktion der Reichsfinanzen. Im Frieden war sie +deswegen noch erträglich, weil das Reich doch bekam, was es brauchte, +nur sehr umständlich, unter großer Erregung der öffentlichen Meinung +und nicht immer sehr zweckmäßig.</p> + +<p>Die v e r h e e r e n d e Wirkung dieser Fehlkonstruktion zeigte +erst der Krieg. Die Folge der Verteilung der Steuerkompetenzen nach der +alten Reichsverfassung war die, daß das R e i c h, der Träger der H a u +p t l a s t des Krieges, die d ü r f t i g s t e n und r ü c k l ä u f +i g s t e n E i n n a h m e q u e l l e n besaß, während die +Bundesstaaten, die die Last des Krieges ja gar nicht zu tragen hatten, +die ertragreichsten und stabilsten Steuerquellen unter Verschluß +hatten. Die Abneigung, eine entschlossene starke Kriegssteuerpolitik +nach englischem Muster einzurichten, ließ nur den einen Ausweg: den +Krieg mit S c h u l d e n zu führen. Was an Kriegssteuern dann seit +1916 kam, kam zu spät und zu zaghaft. Man rechnete im Grunde immer nur +mit dem siegreichen Ausgang des Krieges, wollte auch die +Durchhaltestimmung im Volke nicht gefährden, fürchtete sich vor dem +Wachwerden alter Parteigegensätze; kurz und gut, man finanzierte den +Krieg mit Schulden. Das Resultat war: steigende Schulden des Reiches, +steigende Inflation, sinkende Wechselkurse, steigende Löhne und +Warenpreise, steigende Kosten der Kriegsführung, steigende +Reichsverschuldung, neues Sinken der Wechselkurse, neues Steigen der +Löhne und Warenpreise und so fort. Eine Schraube ohne Ende, oder +vielmehr eine Schraube mit einem sehr dicken Ende: Reichsüberschuldung, +Wohlstandsvernichtung breitester Kreise, goldene Zeit für alle +Schieber, schwerste Not in breitesten Kreisen, Verschärfung der +sozialen Gegensätze, schleichende Enteignung gerade der Kreise, die vor +und im Kriege dem Staate Kredit gegeben hatten. Eine beispiellose +Umschichtung der Vermögen ist vor sich gegangen, und die staatliche +Finanzpolitik hat ihr ebensowenig wie die Wuchergesetzgebung zu steuern +vermocht.</p> + +<p>Zur Verdeutlichung des Bildes seien einige Zahlen angegeben. Die +Reichsschuld betrug vor dem Kriege 5,4 Milliarden Mark; sie bezifferte +sich September 1918 auf 133,4 Milliarden, September 1919 170,9 +Milliarden, September 1920 283,7 Milliarden. Die schwebende Schuld des +Reiches betrug am 31. Juli 1914 300 Millionen Mark Schatzanweisungen; +sie stieg bis Dezember 1918 auf 55,1 Milliarden und endete am 30. Juni +1921 mit 214,2 Milliarden. Der Umlauf an Banknoten gravitierte vor dem +Kriege um 1,5 Milliarden, dazu kamen vergleichsweise geringe Beträge an +umlaufenden Reichskassenscheinen. Der Umlauf an Noten betrug nach dem +Ausweis vom 11. August 1921 77,6547 Milliarden; zu dieser ungeheueren +Papierzettelschuld kommt noch ein Umlauf an Darlehenskassenscheinen von +rund 8,22 Milliarden. Daß zur selben Zeit der Wert des deutschen Geldes +gegenüber dem ausländischen vollvaluten Geld ins Abgrundtiefe gestürzt +ist, ist nicht verwunderlich. Während vor dem Kriege 100 holländische +Gulden rund 169 Mark kosteten, kosteten sie am 12. August 1921 rund +2560 Mark[1]. Diese Zahlen genügen zur Illustration. Sie erhalten erst +ihr volles Relief, wenn man die Zwangsleistungen an die Entente noch +hinzurechnet.</p> + +<blockquote> [1] Seit Abschluß des Aufsatzes haben sich die +Verhältnisse</blockquote> +<blockquote> wesentlich ungünstiger entwickelt. Der Guldenkurs +steht</blockquote> +<blockquote> im Dezember 1921 nahe an 7000, der Umlauf an +Geldzeichen</blockquote> +<blockquote> hat die hundertste Milliarde längst hinter +sich</blockquote> +<blockquote> gelassen!</blockquote> + +<p>Das ist die Sachlage, der sich der Fiskus gegenübersah. Sie +erforderte Finanzreformen allergrößten Stiles. Wir befinden uns seit +Kriegsende zwar fortwährend in den Reformen, aber deutlich heben sich +zwei gewaltige Reformperioden heraus: die grundlegende, heute +abgeschlossene Reform von 1919 bis 1920, und die zweite Reformetappe, +deren Vorbereitung und Anfänge eben sichtbar werden. Was bedeutet die +Reform von 1919/20? Sie schafft einen fiskalischen Unitarismus, der in +seinen politischen Folgen gemildert wird durch Artikel 8 der +Reichsverfassung; dieser verpflichtet das Reich, auf die +Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Sie schafft eine +einheitliche Reichssteuerverwaltung, sie gibt einheitliche Richtlinien +der Steuerveranlagung und -erhebung, deren Zweck es ist, die +"Steuerinseln" zu beseitigen und dadurch dem Grundsatz der steuerlichen +Gerechtigkeit zu dienen. Sie gibt dem Reiche das Gesamtsystem der +ertragreichen und anpassungsfähigen direkten Steuern. Sie läßt den +Ländern und Gemeinden einige Ertragssteuern und beteiligt sie im +übrigen mit bestimmten Anteilen am Ertrag der Reichseinkommensteuer, +der Reichserbschaftssteuer, der Umsatzsteuer, der Körperschaftssteuer +und der Grunderwerbssteuer. Entsprechend diesem Eingriff des Reiches in +alte Steuerrechte von Ländern und Gemeinden entlastete es die Länder +und Gemeinden durch Übernahme beträchtlicher Schuldverpflichtungen auf +sich selbst. Es gehört zu den wesentlichen Verdiensten dieser +Reformperiode, daß das alte Bismarcksche Projekt der Reichseisenbahnen +nun verwirklicht wurde.</p> + +<p>Man mag zu den Einzelheiten dieser Reform stehen wie man will: das +ganze Reformwerk ist eine ungeheuere Leistung, deren volle Segnung erst +erkennbar wird, wenn unsere Wirtschaftslage sich einigermaßen +erleichtert. Dr. Respondek stellt sie in seinem Buche "Die +Reichsfinanzen auf Grund der Reform von 1920" sogar in Parallele zu der +Stein-Hardenbergschen Reform. Ob diese Parallele treffend ist, muß die +Zukunft zeigen.</p> + +<p>Versenken wir uns einen Augenblick in die Haushaltsrechnung des +Jahres 1920! Der "Ist-Etat" des Reiches zeigte beim Abschluß des +Rechnungsjahres (31. März 1921) folgendes Bild: Die Reichseinnahmen aus +Steuern, Abgaben, Gebühren, Zöllen bezifferten sich auf 27,7 +Milliarden. Die Ausgaben, betrugen netto 73,7 Milliarden. Dazu treten +an Schuldzinsen des Reiches 10,4 Milliarden, an Zuschüssen des Reiches +in den Betriebsverwaltungen (Reichseisenbahn, Reichspost), 18,2 +Milliarden. Mithin Totalausgabe 102,6 Milliarden. Die Differenz +zwischen Ausgaben und Einnahmen, 74,9 Milliarden, mußte demnach auf +neue Schulden genommen werden. Die schwebende Schuld wuchs auf 184,127 +Milliarden an. Der Voranschlag für 1921 zeigt folgende Ziffern: +Einnahmen 46,9 Milliarden, einmalige Ausgaben 1,368 Milliarden, +fortdauernde Ausgaben 45,579 Milliarden. Dazu kam ein Nachtragsetat von +1,5 Milliarden. Es balanciert also der ordentliche Etat mit 48,459 +Milliarden auf der Einnahme- und Ausgabeseite. Daneben außerordentliche +Ausgaben: 59,68 Milliarden; von diesen ungedeckt und auf schwebende +Schulden zu nehmen: 49,18 Milliarden. In dieser Summe von 59,68 +Milliarden stecken nach Voranschlag rund 18,8 Milliarden Zuschüsse für +Betriebsverwaltungen (Eisenbahn, Post). In den erwähnten Summen des +ordentlichen Etats sind noch keine Aufwendungen für Reparationen +eingeschlossen; ihre Gesamtsumme wurde bei der Beratung in der +Kommission des Reichstages mit 53 Papiermilliarden jährlich +veranschlagt. Ein schwankender Posten von hohem Belauf sind die +Besatzungskosten; sie sind mit 8,5 Milliarden angesetzt. Alles in allem +ist der heute errechenbare Fehlbetrag 110 Milliarden Mark. Der +erschreckende Zug ist das Anwachsen der schwebenden Schuld. Das Reich +kontrahiert sie in Gestalt von Schatzanweisungen, die an die Reichsbank +begeben werden; diese schießt dem Reiche dafür Noten vor. Mit Noten +bezahlt das Reich seine Verpflichtungen an Schuldzinsen, an Gehältern, +Löhnen usw.; diese Noten kommen also als zusätzliche nominelle +Kaufkraft in den Verkehr, nicht weil der Verkehr sie verlangt, sondern +weil das Reich zahlen soll und ungenügende Einkünfte hat. So senken sie +den Geldwert, steigern die Preise und Löhne, drücken die Valuta und +führen alle die Risiken, Gefahren und Hemmungen des Wirtschaftslebens +mit herauf, die sich an solche Währungszustände anzuschließen +pflegen.</p> + +<p>Diese Sachverhalte lassen eines ganz deutlich werden: die +Notwendigkeit n e u e r R e f o r m e n. Das erste und ursprüngliche +Problem ist dieses: Wie bringen wir laufende Einnahmen und laufende +Ausgaben zur Deckung? Die weitere Frage ist: Wie bringen wir die +Reparationssummen auf? Und die dritte Frage lautet: Wie stärken und +stabilisieren wir unseren Geldwert? Wenn man diese Probleme an den oben +entwickelten Zahlen mißt, spürt man Neigung, zu glauben, es bandele +sich um die Quadratur des Zirkels. Breite Strömungen im Volke, und was +viel mehr besagen will, ernste sachverständige Kreise glauben nicht an +die Möglichkeit, diesen furchtbaren Anforderungen gerecht zu werden. +Grundsätzlich ist zu sagen, daß alles v e r s u c h t werden muß, +unseren Verpflichtungen nach außen und nach innen nachzukommen und die +Reichsfinanzwirtschaft zu sanieren. Die Gefährlichkeit der Aufgabe +versteht an folgendem Beispiel auch der Laie. Das Reich könnte hohe +Milliardenausgaben sparen, wenn es die Lebensmittelzuschüsse +beseitigte, wenn es die Zuschüsse zu den Betriebsverwaltungen aufhebt, +wenn es höhere Kohlenpreise durch Erhöhung der Kohlensteuer veranlaßt. +Aber was ist die Wirkung? In all diesen Fällen gewinnt das Reich auf +der einen Seite als F i s k u s, was es als B e t r i e b s v e r w a l +t u n g und als Lohn- und Gehaltszahler wiederum wenigstens zum großen +Teile drauflegen muß. Das ist der Punkt, an welchem sich zeigt, daß mit +den üblichen Mitteln der Steuererhöhung schlechterdings nicht mehr +durchzukommen ist.</p> + +<p>Mit dieser Erkenntnis sind die Voraussetzungen der zweiten großen +Reformetappe gegeben. Ihre maßgebenden Gesichtspunkte sind, soweit sich +das bisher beurteilen läßt, die folgenden: Zunächst Entlastung des +Reiches von bestimmten Aufwendungen des außerordentlichen Haushaltes; +dahin rechnen die Zuschüsse zur Verbilligung der Lebensmittel (8,6 +Milliarden), zu den Betriebsverwaltungen (18,8 Milliarden), für den Bau +von Bergmannswohnungen (1,5 Milliarden), eventuell für +Erwerbslosenunterstützung (1,3 Milliarden). Weiterhin eine Reform der +Einkommensteuer und die Veredelung des Notopfers in eine drei zu drei +Jahren zu erhebende Vermögenszuwachssteuer; die Erhöhung einer Anzahl +indirekter Abgaben und Zölle liegt auf der Linie alter steuerlicher +Methoden. Neu ist der Gedanke, die Unterschiede zwischen Auslands- und +Inlandspreisen durch ein Erhöhung der Kohlensteuer zu erfassen; neu +— wenigstens für die deutsche Finazgeschichte — der +Gedanke, das Reich durch eine Art Genußschein an den werbenden +Sachwerten der Nation mit zu beteiligen.</p> + +<p>Dieser Vorschlag einer direkten Wirtschaftsbeteiligung des Reiches +hat vieles für sich. Die papierene Blüte unserer Wirtschaft hängt eng +mit der Finanznot des Reiches zusammen. Die Erzeugung lädt in weitem +Umfange auf die Preise ab, was sie an Lasten zu tragen hat. Das Reich +wird von diesen Preissteigerungen, deren wichtigste Ursache seine +Schuldenwirtschaft ist, in größtem Stile mit betroffen. Es half sich +bisher durch neue Schuldaufnahmen und neue Steuern, aber immer liefen +die Preise voraus, hinkte der Fiskus nach. Die Schwäche des Fiskus und +die relative Stärke der Wirtschaft stehen in gefährlicher +Wechselbeziehung. Ganz zutreffend kennzeichnet die "Frankfurter +Zeitung" (Nr. 604 vom 16. August 1921) die Lage: Mittelstand und +Festbesoldete können durch keine nach der Leistungsfähigkeit abgestufte +Steueraktion so schwer geschädigt werden wie durch eine unzureichende +Reform. Das gilt in hohem Maße auch für Handel und Industrie. Unsere +Wirtschaftskreise sollten heute, so paradox es klingt, vor zu hoher +Steuerbelastung weniger besorgt sein als vor zu geringer. Denn auf die +Dauer wird die Notenpresse sie immer noch unbarmherziger ausquetschen +als die Steuerschraube. Das Reich ist eben heute kein außerhalb der +Wirtschaft stehender "Zweckverband" mehr, an den geringe Summen +abgeführt werden, damit er seine begrenzten Funktionen erfülle, sondern +das Reich ist heute mit der Wirtschaft zu einem dichten einheitlichen +Körper verwachsen. Gibt man ihm nicht, was es braucht, so zerstören +seine Notauswege langsam aber sicher das Leben der Nation.</p> + +<p>So ist es verständlich, daß das Reichswirtschaftsministerium sich +grundsätzlich zum Steuerprogramm und zu den Reparationslasten äußerte. +Nach den Angaben in der oben zitierten Nummer der "Frankfurter Zeitung" +betont eine neue Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vor +allem die Notwendigkeit eines Gesamtprogramms, das die +Reparationsleistungen und ihre Aufbringung durch Ausfuhrüberschüsse und +Devisenkäufe mit dem Ziel der Kräftigung der Wirtschaft durch höchste +Rationalisierung, mit der inneren Finanzierung der Reparationslasten +und mit den notwendigen sozialpolitischen Übergangsmaßnahmen in +organische Verbindung bringt. Das wirtschaftspolitische Ziel sei die +Aktivierung der Handelsbilanz, die Beschränkung der Einfuhr an allem +Entbehrlichen, die Hereinholung der vollen Gegenwerte der Ausfuhr durch +Einstellung der wirklichen volkswirtschaftlichen Selbstkosten, die +Beseitigung der Reichszuschüsse, der Abbau der Zwangswirtschaft, die +Tiefhaltung der Preise auf dem Kohlen- und Wohnungsmarkt. Damit würden +die mühelosen Zwischengewinne verschwinden, die deutsche Wirtschaft +würde auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig; höchste +Wirtschaftsleistungen, höchste Erzeugung und höchstwertige Ausfuhr +würden gesichert. Die Umsatzsteuer, die Erhöhung der Zölle und eine +Aufwandssteuer würden den entbehrlichen Verbrauch beschränken; die +Zwischengewinne, die bei der Anpassung an den Weltmarktpreis abfallen, +könnten für die Zwecke der Reparation erfaßt werden. Die Übergangszeit +erfordere sozialpolitische Maßnahmen: Planmäßige produktive Verwendung +der erwerbslosen und freiwerdenden Arbeitskräfte für den Ausbau der +Verkehrsmittel, der Wasserkräfte und für die Erfordernisse des +Baumarktes.</p> + +<p>Die Denkschrift untersucht im weiteren die Frage, ob das Reich, +nötigenfalls zum Zwecke der Verpfändung an das Ausland, die Substanz +der Sachwerte erfassen soll. Der Ausbau des Notopfers könnte den +Fehlbetrag im Etat nicht decken. Die Erfassung der Substanzwerte in der +Wirtschaft erscheine deswegen zweckmäßig, weil sie tragkräftig, weniger +fluchtfähig und derart erfaßbar seien, daß das Betriebskapital nicht +gefährdet werde. Notwendig sei die dinghafte Sicherung des +Ertragsanteils und seine Kapitalisierung. Den Verfassern der +Denkschrift schwebt eine Beteiligung des Reiches mit 20% der +Substanzwerte der Wirtschaft vor, unter dinglicher Sicherung. Damit +werde die Deckung der Fehlbeträge im Etat für de ersten Jahre +erleichtert und eine Grundlage für Auslandskredite erzielt. So lange +sollten die deutschen Sachwerte bei organisierter Beleihung den +Fehlbetrag in der Goldbilanz des deutschen Außenhandels decken, bis die +deutsche Wirtschaft sie planmäßig durch erhöhte Sachleistungen auf dem +Weltmarkte abdecken könne. Den Gesamtbetrag, den das Reich durch die +übernommenen Sachwerte für seine Zwecke verfügbar machen könne, +berechnet die Denkschrift auf 382 Papiermilliarden. Der Erfolg dieser +Aktion wäre eine Minderung der Inflation infolge der Ablösung der +Grundschulden mit allen daran anschließenden günstigen Weiterwirkungen +auf die Wechselkurse, die Preise und die Löhne; auch würde die +Nachfrage des Reiches auf dem Devisenmarkte (für Reparationszahlungen) +gemindert werden durch die Möglichkeit, auf der Basis der dem Reiche +verpfändeten Vermögenssubstanz Auslandskredite zu erlangen.</p> + +<p>Ohne uns auf eine Kritik dieser Vorschläge im einzelnen einzulassen, +sei nur so viel bemerkt: Wenn diese Ideen sich durchsetzen, dann ist +eine Bahn beschritten, an deren Ende möglicherweise die +"Staatswirtschaft" steht. Oder um das vielgebrauchte, wenig eindeutige +Wort zu nennen: die Sozalisierung. "Beim ersten sind wir frei, beim +zweiten sind wir Knechte", das muß all denen gesagt werden, die den +vorgeschlagenen Weg der Reichswirtschaftsbeteiligung bejahen, aber +nicht seine Folgen in den Kauf nehmen wollen. Die Dinge haben ihre +eigene Logik, und hat man sie einmal zum Ausspielen ihrer Logik +gebracht, dann haben sie Durchschlagskraft und Beharrung genügend +gewonnen, ihren Weg selbst weiter zu suchen. Die Anhänger der liberalen +Wirtschaftsidee der wirtschaftlichen Freiheit der Privatinteressen, die +diese Entwicklung der Dinge mit höchstem Mißtrauen betrachten, +übersehen allzuleicht, daß auch in der f r e i e n Entwicklung der +Wirtschaft Tendenzen sich herausgebildet haben, die auf +"Wirtschaftsherrschaft" hinauslaufen und teilweise schon eine echte, +von privaten Wirtschaftsgewalten ausgeübte Wirtschaftsherrschaft +darstellen. Rathenau sprach ganz zutreffend von der Herausbildung +"wirtschaftlicher Herzogtümer", deren Leiter die maßgebenden Köpfe der +Industrie, der hohen Bankwelt und des Handels sind. Die B i n d u n g +der alten "elementaren" und liberalen Wirtschaftswelt ist aus sozialen +und weltwirtschaftspolitischen Gründen im Anzug. Der Prozeß verstärkt +sich mit seinem eigenen Wachstum. Es fragt sich bloß, ob der Staat sich +in tatenlosem Zusehen vor Tatsachen stellen lassen will, oder ob er +eine Politik einschlägt, deren grundsätzliches Motiv de Wahrung von +Allgemeininteressen ist. Bis jetzt steht die Sache so, daß die +Wirtschaft in der organisierten und ins riesenhafte zusammengeballten +Form den inneren G e i s t d e r f r e i e n K o n k u r r e n z +w i r t s c h a f t, nämlich die Abstellung auf private Interessen, +beibehalten hat. Das Interesse des Staates und des Volkes in seiner +Allgemeinheit ist meines Wissens noch von keinem der gewaltigen +Wirtschaftskonzerne öffentlich und grundsätzlich als Richtschnur des +Handelns anerkannt worden. Wir haben den Glauben verloren, daß das +freie Schaltenlassen von Privatinteressen durch irgendeinen mystischen +Zusammenhang "von selbst" zum Besten der Allgemeinheit und des Staates +tendiere. Wir sehen die Gefahren für das politische und soziale +Gemeinwesen zu deutlich, als daß wir diese Dinge getrost sich selbst +überlassen könnten. —</p> + +<p>Aber was sollen wir tun, um die Dinge nicht sich selbst zu +überlassen, um sie herauszubringen aus dem Getriebe reiner +Privatinteressen? Da erhebt sich die Stimme, die wir seit drei Jahren +so ausgiebig gehört haben: man sozialisiere, man tue es bald und +gründlich!</p> + +<p>Wer genau zuhört, wird merken, daß dieser Ruf die innere Sicherheit +und Überzeugungswärme stark verloren hat, die ihn noch vor zwei-drei +Jahren auszeichnete. Das hat seine guten Gründe. Was St. Simon +seinerzeit von England sagte, dieses Land mache zum Nutzen aller Völker +einen gewaltigen Versuch — nämlich den Versuch der freien +industriellen Verkehrswirtschaft —, das können wir heute von +Rußland sagen: Dieses Land hat zur Lehre für alle Völker ein gewaltiges +Experiment angestellt, hat versucht, der marxistisch-soziaistischen +Idee so, wie seine Wortführer sie verstanden, den Leib der Wirklichkeit +zu gehen. Der Versuch hat eine alte Wirtschafts- und +Gesellschaftsverfassung in tausend Scherben geschlagen, hat eine neue +aufgebaut, aber, wie sich mehr und mehr herausstellt, keine Verfassung +idealer Erfüllung, sondern der Gewalt, des Schreckens, der Wirtschafts- +und Kulturvernichtung, der Not und des Hungers. Vieles am Mißerfolg ist +auf spezifisch r u s s i s c h e Rechnung zu setzen: auf die mangelnde +Industrialisierung des Landes, auf die schlechte Organisation der +Verwaltung, auf die Unbildung des Volkes, auf die Weite der Landräume, +auf die übereilte Gewaltsamkeit des Prozesses, auf die Mißachtung +geistiger und sittlicher Vorbedingungen, auf die Direktion der +Handlungen durch den toten Buchstaben des orthodoxen Marxismus unter +Vergewaltigung aller Wirklichkeit. Vieles geht auf den verlorenen Krieg +und auf die Absperrung des weiten Reiches vom Auslande zurück. Wenn wir +das alles in gebührende Rechnung stellen, bleibt ein unbeglichener +Rest: und er argumentiert g e g e n die Idee der Sozialisierung — +das Wort im strengen Sinne einer Überführung aller Produktionsmittel in +öffentliche Hand unter Zentralisierung der Wirtschaftsverfügung und +Zuteilung der Wirtschaftserträge verstanden. Sein Argument lautet: Die +Aufgabe ist zu groß, um bureaukratisch und zentralistisch gelöst zu +werden; das Wirtschaftsleben ist zu vielgestaltig, um auf den Leisten +von Verordnungen gespannt zu werden; es gibt zu viel natürliche +Unberechenbarkeiten in den Grundbedingungen aller Wirtschaft, die sich +den Paragraphen und noch mehr der Gewalt entziehen; und nicht zuletzt: +der primäre Wirtschaftsfaktor Mensch ist zu sehr — Mensch, um +jenes äußerste an Pflichtgefühl, Verantwortung und Arbeit, das eine +ertragreiche Wirtschaft verlangt, aufzubringen, w e n n er nicht den +Erfolg f ü r s i c h s e l b s t unmittelbar sieht. Das eigene +Interesse ist der stärkste Hebel aller wirtschaftlichen Energien +— dieser Satz wurde vor 150 Jahren von Adam Smith ausgesprochen; +er wird so lange gelten, wie Menschen Menschen sind. Nur die besondere +Fassung, die Smith ihm gab, ist zu eng: dieses Eigeninteresse ist nicht +notwendig das unmittelbare Eigeninteresse jedes einzelnen. Es kann auch +weitergreifen, es kann Stände, Körperschaften, +Selbstverwaltungsorganisationen erfassen. Es reicht so weit, wie +gewertete und erlebte Gemeinschaft reicht. Es hört immer da auf, wo das +Fremde anfängt, dasjenige, was der einzelne nicht als unmittelbar +— sei es beruflich, sei es standesmäßig, sei es familienmäßig +oder freund-nachbarlich — zu sich gehörig empfindet. Aber schon +in diesem Bereich finden sich leicht Abschwächungen der +Verantwortungsfredigkeit und des Pflichtgefühls. Man wendet ein, der Z +w a n g könne die Gemeinschaftsgesinnung ersetzen und ihre +wirtschaftlichen Auswirkungen erzielen. Das ist ein Irrtum. Zwang und +Gewalt sind keine Bindungen von innen, sondern Grenzen von außen. Ihre +Reichweite ist beschränkt; wir sehen es am russischen Beispiel, wir +erlebten es am eigenen Leibe in der Kriegswirtschaft. Eine Grenze von +außen bedeutet immcr gleichzeitig eine Prämie auf Grenzüberschreitung, +und deren Möglichkeit ist immer gegeben. Sie unterhöhlt das ganze +Gefüge, während die klappernde Mühle von Verordnungen und +Strafbestimmungen leeres Stroh drischt. Der radikale Vcrsuch, mit G e w +a l t die sozialistische Gesellscafts- und Wirtshaftsidee +durchzusetzen, führt notwendig zur Lähmung der Wirtschaft durch +Abdrosselung der Wirtschaftsenergien und zur Erstickung aller +Initiative durch Bureaukratie. Pflichtgefühl und Verantwortung für das +Ganze hängen nicht an der Koppel du Polizeidieners.</p> + +<p>Mit dieser Ablehnung der allgemeinen und zentralistischen +Sozialisierung ist das Sozialisierungsproblem jedoch nicht erschöpft. +Wir sahen bis jetzt nur seine Grenzen. Nur auf dem Boden einer +Gemeinschaftsgesinnung ist Gemeinschaftswirtschaft möglich. Diese +Gemeinschaftsgesinnung aber kommt nicht von oben, durch Verordnung, +sondern nur von unten, aus sittlichen Grundvorstellungen bei +Gemeinsamkeit des Lebens und Erlebens. Wir sahen das andere: Sachliche +Vorbedingungen sind unerläßlich; sie liegen aber von Gewerbe zu Gewerbe +verschieden und sind selbst innerhalb der einzelnen Gewerbe mannigfach +gelagert. Diese Verschiedenheit der sachlichen Vorbedingungen macht die +Forderung der allgemeinen Sozialisierung zu einer unmöglichen, das +heißt nach aller vernünftigen Erwägung fehlschlagenden Lösung. Sie +nötigt uns, über die Herrschaft der Phrase und der wohlmeinenden, aber +unverständigen Köpfe hinauszukommen, den vernünftigen Kern der +Sozialisierungsidee zu retten vor ihren eigenen schlecht beratenen +Freunden. Die ganze Sozialisierungsaktion löst sich auf in eine Fülle +von schwierigen Einzelproblemen. Die erste und zweite +Sozialisierungskommission hat dieses Ergebnis gezeitigt und die +Schwierigkeit der ganzen Frage ins hellste Licht gerückt. +Sozialisierung ist aus einer marxistischen Verheißung und einem +sozialistischen Dogma eine Organisationsfrage der Wirtschaft +geworden.</p> + +<p>Heute ist man sich allenthalben darüber klar, daß unsere äußeren und +inneren Daseinsbedingungen jene Formen und jene Verfassung der +Wirtschaft fordern, die technisch und wirtschaftlich die +leistungsfähigsten sind.</p> + +<p>Damit taucht das Problem der wirtschaftlichen F o r m b i l d u n g +auf. Es ist unbegreiflich, daß man drei kostbare Jahre hat verstreichen +lassen, ohne durch organisatorische Versuche brauchbare Formen der +Betriebsverfassung herauszufinden. Es macht einen kümmerlichen +Eindruck, zu sehen, wie festgerannt man auf diese oder jene Form der +Arbeits- und Betriebsverfassung ist. Man übersieht dabei, daß reiche +Bauformen nötig und zweckmäßig sind. Eine Wirtschaftsverfassung ist +kein Militärrock, der auf jeden passen muß. Die Formen der +kapitalistischen Unternehmung sind sehr vielgestaltig, aber alle auf +ihre Art zweckmäßig. Warum will man nicht Grundtypen +gemeinwirtschaftlicher Unternehmungsform herauswachsen lassen? Wer +nicht die bornierte Auffassung hat, es könne nur diese oder jene +(natürlich gerade von ihm vertretene!) Form in Betracht kommen, wird +zugeben, daß eine Vielgestalt der Verfassungen denkbar ist, die den +gemeinwirtschaftlichen Ansprüchen gerecht wird ohne jene Energien zu +ersticken, die auf dem Boden der Selbstverantwortung gedeihen.</p> + +<p>Das wird zumal derjenige zugeben, der in die inneren psychologischen +Antriebe des Sozialisierungsverlangens geschaut hat. Woher stammt +unsere Arbeiterbewegung, woher stammen ihre Wirtschaftsideale und +Gesellschaftsanschauungen? Unzweifelhaft aus der Abwehr gegen die +Arbeitsverfassung, die Arbeitsmethoden, die Ertragsverteilung und die +gesellschaftliche Stellung der Handarbeit in unserer modernen +Wirtschaft. Wer das nicht im Auge behält, sieht das ganze Problem der +Sozialisierung und des Sozialismus falsch. Skizzieren wie die Punkte, +die die Arbeiterschaft veranlassen, die moderne Wirtschafts- und +Gesellschaftsverfassung mit so ungeheurem Nachdruck abzulehnen. Die +Arbeit ist im kapitalistischen Betrieb fremdbestimmte Arbeit an fremden +Arbeitsmitteln, für fremden Ertrag, unter fremdem Kommando, gegen einen +Lohn, der die Besitzlosigkeit des Arbeiters und damit seine erzwungene +Einordnung in das kapitalistische Arbeitsverhältnis dauernd und erblich +macht. Sie ist mechanisierte Teilarbeit, die keine Persönlichkeitswerte +braucht und verträgt. Sie ist weiterhin Arbeit von Massen, und zwar von +Betriebsmassen, wie auch Großstadtmassen. Die Arbeiterschaft als Ganzes +stand gesellschaftlich und staatsbürgerlich nicht in der Geltung und +Achtung, die sie nach ihrer Bedeutung für Wirtschaft, Staat und +Gesellschaft beanspruchen zu können glaubte. Zu diesen objektiv +feststellbaren Quellen der Abneigung gegen die moderne +Wirtschaftsverfassung kommen als weitere die spezifisch proletarischen, +vom Marxismus formulierten und genährten Klassen- und Wertgefühle der +Arbeiterschaft. Aus diesem Gesamtkomplex der Empfindungen und +Anschauungen floß die Sozialisierungsidee, der Zukunftsstaatgedanke, +die bewußte und gewollte Gettohaftigkeit des Proletariats in +weltanschaulichen und sozialen Hinsichten. Der Grundgehalt des +Widerstandes gegen den Kapitalismus war die Revolte des lebendigen +Menschen dagegen, bloßes Mittel zu sein für privatwirtschaftliche +Zwecke und für ein höchstes Produktionsideal.</p> + +<p>Wer das bedenkt, sieht de notwendig zweiseitige Lösung des +Sozialisierungsproblems. Die eine Lösung ist die wirkliche und +wahrhaftige Überführung dazu geeigneter Betriebe in de öffentliche Hand +oder in gemischtwirtschaftliche Betriebsform oder in +Selbstverwaltungskörperschaften — alle drei unter Anteilnahme und +Mitbestimmung der Arbeiter; beziehungsweise die Beteiligung der +Arbeiter an den Erträgen der Unternehmung in der einen oder anderen +Form — Kleinaktie, Gewinnbeteiligung, auch +arbeitergenossenschaftliche Führung und Übernahme von Betrieben. Die +andere Lösung des Sozialisierungsproblems ist unvermeidlich die: es muß +die Stellung des Arbeiters im Wirtschaftsprozeß selbst geändert werden. +Er muß Mitbestimmungsrecht in gewissem Rahmen haben; er muß mit dem +Betriebe enger verwachsen, als es bisher der Fall war; er muß gegen die +Konjunkturgefahren, gegen Betriebsunfälle, gegen Alter und Invalidität, +gegen Ausbeutung geschützt werden. Die soziale und rechtliche Geltung +der Arbeiterschaft muß auf ihr richtiges Maß gebracht werden. All das, +damit er selbst lebendige Verantwortung für den Betrieb und +Pflichtgefühl der Arbeit gegenüber aufbringen könne! Das ist nicht nur +eine sozialpolitische Notwendigkeit, es ist vor allem ein +wirtschaftspolitisches Erfordernis. Nur so wecken wir Verantwortung und +Pflichtgefühl, nur so durchdringen wir die Wirtschaft bis in de +kleinsten Zellen mit diesen Eigenschaften.</p> + +<p>Ein gewichtiger Teil der Gesetzgebung hat sich seit der Revolution +mit Reformen in dieser Richtung befaßt. Zunächst die Reichsverfassung +selbst. Sie stellt die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des +Reiches. Sie gewährleistet das freie Vereinigungsrecht für jedermann, +für alle Berufe. Sie verspricht ein einheitliches Arbeitsrecht und +einen entschlossenen Ausbau der Sozialpolitik. Sie nähert sich dem +Gedanken des Rechtes auf Arbeit durch die Bestimmung, daß es jedem +Deutschen ermöglicht werden solle, durch wirtschaftliche Arbeit seinen +Unterhalt zu erwerben, und sichert für die Notfälle der +Arbeitslosigkeit den Unterhalt zu. Sie bringt allerdings auch zum +Ausdruck, daß jeder Deutsche die sittliche Pflicht habe, seine +geistigen und körperlichen Kräfte für das Wohl der Gesamtheit +einzusetzen. Konkreter werden die Bestimmungen der Verfassung +hinsichtlich der Anerkennung der Gleichberechtigung von Arbeitern und +Angestellten bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Ein +Aufbau von Betriebsräten und Bezirksräten, sowie einige auf +Gemeinwirtschaft zielende Bestimmungen sind verfassungsrechtlich +festgelegt.</p> + +<p>Diese verfassungsrechtlichen Ankündigungen haben teilweise bereits +ihre Verwirklichung erlebt. Wir erwähnen in diesem Zusammenhange das +neue Recht der Tarifverträge und der Schiedsgerichte, und vor allem das +Betriebsrätegesetz.</p> + +<p>Noch ehe die Reichsverfassung die Gedanken der Gemeinwirtschaft und +die Richtlinien der sozialen Befriedung festlegte, hatten die Verbände +der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zusammengefunden, um auf einer +neuen Grundlage die kommenden Schwierigkeiten der Nachkriegszeit durch +gemeinsame Vereinbarungen zu bewältigen. Schon im November 1918 +erschien die sogenannte "Vereinbarung"; in ihr anerkennen die Vertreter +der Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften als berufene Vertretung der +Arbeiterschaft, in ihr wird jede Beschränkung der Koalitionsfreiheit +untersagt, und der Arbeitsfriede in Gestalt allgemeiner +tarifvertraglicher Regelung, der Arbeitsausschüsse, der +Schlichtungs- und Einigungsämter grundgelegt. Auf diese Vereinbarung +erfolgte im Dezember 1918 die Errichtung der sogenannten +Arbeitsgemeinschaften. Man hat diese Vereinbarung nicht mit Unrecht die +Magna Charta der Arbeiterschaft im neuen Deutschland genannt. Sie +verwirklicht gewerkschaftliche Forderungen, um die jahrzehntelang +umsonst gekämpft worden ist. Sie führt Arbeitgeber- und +Arbeitnehmerverbände zusammen zu paritätischer Entscheidung all der +Fragen, die das Arbeitsverhältnis betreffen. Wenn auch heute schon +feststellbar ist, das [sic] längst nicht alle Blütenträume gereift +sind, die an die Vereinbarung, die Arbeitsgemeinschaften und das +Betriebsrätegesetz anschlossen, so ist doch der eingeschlagene Weg g r +u n d s ä t z l i c h r i c h t i g und wird sicher nicht mehr +aufgegeben werden für das zweifelhafte Linsenmus wilder +Kampfauseinandersetzungen —, deren Last und Folgen würden auf +beide Teile vernichtend zurückfallen. So können wir hoffen, nach Zeiten +stärkster sozialer Konflikte und Spannungen allmählich alte Gegensätze +abzubauen, den Weg zum sozialen Frieden zu finden. Was der Glanz der +deutschen Macht, der Stolz auf das nach außen einige Vaterland und der +Schimmer blendenden Reichtums nicht vermochten, das wird, so hoffen +wir, als ein Werk der deutschen N o t zustande kommen: die Einigung +Deutschlands nicht nur nach Verfassungsparagraphen, sondern aus der +Einheitsgesinnung und aus dem Einheitswillen des ganzen Volkes +heraus!</p> + +<p>Wir brauchen brauchen diesen unbeirrbaren Einheitswillen, um als +Volk und als Staat durch die trostlose Nacht des nationalen Unglücks +hindurchzukommen. Wir sind nicht mehr Herren im Lande, weder +staatsrechtlich — das einzige Souveränitätsrecht, das der +Friedensvertrag uns gelassen hat, ist nach den Worten van Calcers das +Recht, Krieg zu erklären; ein platonisches Recht für ein Volk, das man +entwaffnet hat, und das nach allen Richtungen unter Kontrolle steht +— noch wirtschaftlich. Durch ungeheuere Verpflichtungen sind wir +zum Lohnarbeitervolk geworden; die Last der Reparationen, die +Ausgeschöpftheit unseres Wohlstandes nötigen uns, die Betriebsmittel +unserer Lohnarbeit sogar noch vom valutastarken Ausland uns erstellen +zu lassen. Wir brauchen Aufbau- und Betriebskapitalien, unsere +Kapitalbildungskraft ist minimal, und so droht uns die Gefahr, daß +unsere Industriewerte vom ausländischen Kapital "überfremdet" werden. +Milliardenbeträge an Mark, aufgenommen vom Ausland, strömen zurück; +Milliardenbeträge an Schatzanweisungen, Obligationen und Industriewesen +müssen ins Ausland verzinst werden. Der Dollar, das Pfund Sterling, der +Gulden und der Frank bemächtigen sich unserer Industriewerte, unserer +Häuser, unseres Grundbesitzes, unserer Vorräte. Das ist ebenso +schmerzlich wie unabwendbar; wir brauchen das fremde Kapital. Es kommt +darauf an, es nicht der Menge nach, sondern seinem Macht- und +Verwaltungsanspruch nach zu begrenzen oder, wie Professor Schumacher +das neuerdings ausdrückte, es zu "entgiften", den Strom dieser +Kapitalien zu regulieren. Gewiß wäre es wünschenswert, wenn diese +ausländischen Kapitalien die wenigst bedenkliche Anlage in Deutschland +wählen würden, wenn sie dem G r u n d b e s i t z zuflössen. Aber das +ist wenig wahrscheinlich. Die Anlage, die sie suchen, und in der die +meisten Gewinne locken sind eben die Industriewerte; und unsere +Regulierung dieser Kapitalzuwanderung ist damit beschränkt auf das +Aushilfsmittel der Vorzugsaktie. Im übrigen stehen wir dem Prozeß so +lange mit gebundenen Händen gegenüber, als die Reparationslast und die +Steuern unsere Sparkraft lähmen.</p> + +<p>Aufkauf unserer Werte durch das valutastarke Ausland — +Abschöpfung unserer Arbeitserträge durch Steuern zu Zwecken der +Reparation: das heißt wirklich das Licht an zwei Enden anzünden! Die +Unhaltbarkeit dieser Sachlage anerkennen selbst führende +Wirtschaftspolitiker aus dem Ententelager. Unter ihnen erwähnen wir Van +der Lip und Keynes. Der Engländer Keynes, der in seinem +bedeutungsvollen Buche über den Versailler Vertrag ein großes Maß an +ruhiger Vernunft bewies, äußert sich in neuerlichen Aufsätzen in der +"Industrie- und Handelszeitung" über die Fähigkeit Deutschlands, die +ihm aufgelegten Lasten zu tragen. Er kommt zu einem negativen Ergebnis. +Er sieht im Londoner Diktat eine provisorische Abmachung, die schon im +nächsten Jahre ihre Unzulänglichkeit zeigen werde. "An einem bestimmten +Zeitpunkt, der zwischen Februar und August 1922 liegt, muß Deutschland +der unvermeidlichen Zahlungsunfähigkeit erliegen. Nur bis dahin reicht +die Schonzeit, die gewährt wird." Diese Ansicht stützt Keynes auf eine +Untersuchung der Handelsbilanz, des deutschen Staatshaushalts und des +deutschen Volkseinkommens.</p> + +<p>Diese Darlegungen, deren sachliche Richtigkeit nicht bestritten +werden kann, die höchstens die eine Frage offen lassen, ob der von +Keynes genannte Termin gerade der richtige ist, zeigen uns, in welch +gefährlichem Fahrwasser das lecke Schiff der deutschen Wirtschaft +schwimmt. Das Echo, das sie in England und Frankreich vielfach gefunden +haben, beweist, wie machtvoll heute die Idee der Gewaltpolitik unter +Abweisung aller Vernunftserwägungen und aller sittlichen Begriffe in +den Köpfen der Sieger herrscht. Man sieht nur Goldmilliarden, die mit +dem Rechte Shylocks erpreßt werden müssen; aber man sieht nicht die +Abgründe, die vor ihnen liegen. Die geistige und sittliche Einheit +Europas ist vor dem nationalen Machtrausch und vor der Habgier der +heute, zumal in Frankreich, führenden Schichten ein Schrei in die +Wüste. Gerechtigkeit in der Behandlung großer, wehrloser Völker ein +leerer Paradespruch für Bankette, das Drapeau, mit dem Gewalttat und +Eroberungsgier zugedeckt werden. Der Geist Richelieus ist wieder +lebendig geworden, am Rhein und im Osten; nur ruft er heute keine +Türken herbei, sondern Schwarze und Braune aus allen Himmelsstrichen +und mobilisiert die slawische Welt gegen uns. Wir sind heute das +ungedeckte Glacis des elementar gegen Europa vordringenden Slawentums. +Dürfen wir hoffen, daß die unwiderlegliche Logik der Geschichte selbst +die Einsichtslosigkeit beheben, den verbrecherischen Übermut dämpfen +wird? Müssen die Trostlosigkeiten dauernder politischer Unruhen und +chronischer wirtschaftlicher Verarmung erst die ganze Welt schütteln +und erschüttern, ehe der Satz begriffen wird, daß kein Volk auf die +Dauer davon leben kann, daß es das andere unter die Füße tritt und +ausraubt! Wahrlich, wir haben unser gutes Gewissen wiederbekommen an +all den Furchtbarkeiten und Greueln, die man uns seit dem +Waffenstillstand zugefügt hat. Mit diesem guten Gewissen haben wir die +neue Pflicht für das gequälte und leidende Europa übernommen, der +Gerechtigkeit und der Ansicht breite Tore in uns und allen zu öffnen, +die in Europa und in der Welt noch guten Willens sind. Das sei im +Dunkel der gegenwärtigen Stunde unser Trost, daß wir nie zu so großer +Mission geläutert und berufen waren, wie wir heute sind!</p> + +<br> +<br> +<br> +<br> +<hr noshade> +<p>***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHES LEBEN DER GEGENWART***</p> +<p>******* This file should be named 16264-h.txt or 16264-h.zip *******</p> +<p>This and all associated files of various formats will be found in:<br /> +<a href="https://www.gutenberg.org/dirs/1/6/2/6/16264">https://www.gutenberg.org/1/6/2/6/16264</a></p> +<p>Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed.</p> + +<p>Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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For +example an eBook of filename 10234 would be found at: + +https://www.gutenberg.org/dirs/1/0/2/3/10234 + +or filename 24689 would be found at: +https://www.gutenberg.org/dirs/2/4/6/8/24689 + +An alternative method of locating eBooks: +<a href="https://www.gutenberg.org/dirs/GUTINDEX.ALL">https://www.gutenberg.org/dirs/GUTINDEX.ALL</a> + +*** END: FULL LICENSE *** +</pre> +</body> +</html> diff --git a/16264-h/images/figure1.png b/16264-h/images/figure1.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..46e78aa --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure1.png diff --git a/16264-h/images/figure2.png b/16264-h/images/figure2.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..d6e15f8 --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure2.png diff --git a/16264-h/images/figure3.png b/16264-h/images/figure3.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..4107e4c --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure3.png diff --git a/16264-h/images/figure4.png b/16264-h/images/figure4.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..c6554e1 --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure4.png diff --git a/16264-h/images/figure5.png b/16264-h/images/figure5.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..bf24afb --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure5.png diff --git a/16264-h/images/figure6.png b/16264-h/images/figure6.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..23094ac --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure6.png diff --git a/16264-h/images/figure7.png b/16264-h/images/figure7.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..4fa85b4 --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure7.png diff --git a/16264-h/images/figure8.png b/16264-h/images/figure8.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..7d16740 --- /dev/null +++ b/16264-h/images/figure8.png diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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