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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 04:48:31 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen
+Züchtling, by Joseph M. Hägele
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen Züchtling
+ Zweiter Theil
+
+Author: Joseph M. Hägele
+
+Commentator: Alban Stolz
+
+Release Date: July 13, 2005 [EBook #16279]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUCHTHAUSGESCHICHTEN ***
+
+
+
+
+Produced by Robert Kropf and the Online Distributed
+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
+
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+
+_ Kursiv / italic
+# Fett / bold
+% Antiqua / antiqua
+[] Korrektur von Satzfehlern / correction of typos
+
+
+
+ Zuchthausgeschichten
+
+ von
+
+einem ehemaligen Züchtling
+
+
+ * * * * *
+
+
+ Mit einem Vorwort
+
+ von
+
+ #DR. ALBAN STOLZ#
+
+
+Professor an der Universität zu Freiburg.
+
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+ * * * * *
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+#ZWEITER THEIL#
+
+
+ * * * * *
+
+
+Münster, 1853.
+
+
+#Der Duckmäuser#
+
+
+Wir befinden uns im Krankensaale des Zuchthauses zu Freiburg. Es ist ein
+helles, freundliches, trauliches Gemach; die reinlichen Betten mit ihren
+Täfelchen oben an der Wand, die einfachen, doch stets blank gescheuerten
+Nachttische, der lange Tisch mitten in der Stube, dort an der Säule die
+Schwarzwälderuhr mit ihrem bunten Zifferblatte und schwerfälligem,
+regelmäßigen Picken, der große Kachelofen dort neben der Thüre, dessen gelb
+glasirte Kacheln mit dem mattgrünen Wandanstriche harmoniren, der
+Ordinationskasten mit seinen Flaschen, Gläsern, Schüsseln und Düten
+obendrauf, all dieses zusammen macht einen gemüthlichen, wohlthuenden
+Eindruck und das geschäftige Hin- und Hereilen des Krankenwärters, das
+freundlich stille Benehmen des Aufsehers, das menschenfreundliche des
+Arztes und der Beamten bei ihren Besuchen lassen Einen schier vergessen,
+daß man ein Zuchthäusler, ein Gefangener sei und dies um so mehr, weil die
+Tracht der Sträflinge durch die langen weißen Röcke der Genesenden in
+Vergessenheit gebracht und der Lärm der Arbeitssäle nur von weitem zu hören
+ist.
+
+Dort an einem Fenster sitzt ein bleicher, hohläugiger Bursche, hüstelt
+zuweilen und schaut mit seinen großen Augen, aus welchen bereits der
+Lichtschimmer einer andern Welt leuchtet, schwermüthig und sehnsüchtig in
+die herrliche Landschaft hinaus. Das nahe Gebirge mit seinen bunten
+Wäldern, langen Kämmen und Felsenwänden, die Hügel mit ihren Kapellen,
+Schlössern, Höfen, Obstgärten, Weinbergen und wogenden Saatfeldern, das
+weite sonnige Rheinthal mit seinen blitzenden Quellen und Bächen,
+unübersehbaren Matten und Feldern, Alleen und kleinen Wäldchen, aus denen
+die Kirchthürme vieler Dörfer herüberwinken, im Hintergrunde eine lange im
+Duft verschwindende Waldlinie, weiter hinten eine Hügelkette voll Dörfern,
+gleichsam mitten in einem ungeheuern Garten stehend, vom dunkeln, den
+Gebirgszug abschließenden Walde umzäumt; zuletzt hinter diesem mächtigen
+Zaune das mächtige, wie eine dunkle Wolkenmasse in das gartenähnliche
+Rheinthal herüberstarrende Vogesen-Gebirge, auf welches sich das tiefe Blau
+des Himmelsdomes zu stützen scheint--all dieses gewährt einen Anblick,
+dessen entzückende Schönheit der roheste Sträfling tief empfindet, wenn er
+auch seine Empfindung niemals auszusprechen und noch weniger mit dem Messer
+des Verstandes anatomisch zu zergliedern versteht.
+
+Und wenn erst die leuchtende Königin des Tages hinabtaucht in einem
+Gluthmeere voll unaussprechlicher Farbe, ihre halbe Scheibe hinter den
+dunkeln Vogesen vollends versinkt, ihre letzten Strahlen aus hundert
+Fenstern und Quellen blitzen und zucken, das weite Rheinthal, die Höhen des
+Schwarzwaldes mit einem rosigen Verklärungsschimmer übergießen, der mehr
+und mehr, die Ebene dem Sohne der Nacht, dem Schatten überlassend die Höhen
+emporfließt, von den höchsten Gipfeln noch einen Scheideblick in das
+dämmernde Thal hinabwirft und dann zum Himmel zurückkehrt--ach, man glaubt
+Gott über das Land schreiten zu sehen, in ein versinkendes Paradies
+hineinzuschauen! ...
+
+Im kranken Gefangenen wird der Verbrecher vergessen, wenn er nicht selbst
+daran erinnert, das Damoklesschwert der Hausordnung hängt minder drohend
+über seinem Haupte, an die Stelle unerbittlicher Beamten tritt der heilende
+Arzt.
+
+Der Gefangene nähert sich einigermaßen dem Zustande der Freiheit, die
+Krankenstube verbindet ihn durch die Aussicht in den Marktlärm des
+Stadtlebens mit der Gesellschaft, durch die Aussicht in die wunderliebliche
+Landschaft mit der Natur, durch beides mit Gott etwa? Selten! ...
+
+Alle Vortheile, aber auch alle Nachtheile der Krankenstuben ordentlicher
+Spitäler finden sich in diesem Saale des Zuchthauses vereiniget.
+
+Gegenwärtig liegen nur wenige Kranke in den Betten, mehrere sitzen auf dem
+Rande derselben oder auf einfachen Stühlen, andere am langen Tische, um
+Kaffeebohnen auszulesen oder Düten zu fabriziren.
+
+Mild und freundlich schaut die Sonne herein, der ergraute Aufseher macht
+ein Schläfchen, wer wollte es ihm verübeln? Tausende von Nächten hat er in
+einer langen Reihe von Jahren treulich durchwacht, schon seit zwölf Uhr
+Nachts ist er wieder auf den alten Beinen, die Natur überwältiget ihn, er
+mag immerhin duseln und träumen von einer bessern Besoldung! ...
+
+Mehrere Gestalten sind uns bekannt.
+
+Auf jenem Bette liegt halbaufgerichtet der Mordbrenner aus der Baar, stützt
+das Bulldoggengesicht in die schwielenharte Faust und starrt finster und
+trotzig durch die hellen Scheiben in das freundliche Himmelsblau.
+
+In jenem Winkel lehnt der Exfourier, blättert in einem alten,
+halbzerrissenen Gebetbuche und das höhnische Zucken der Mundwinkel zeigt
+schon, daß er nicht betet, sondern critisirt, wenn er auch nicht von Zeit
+zu Zeit über "den Thurm Davids, das elfenbeinerne Gefäß und goldene Haus"
+seine Kasernenwitze losließe.
+
+Neben ihm liegt Martin der Wirthssohn, das Gespenst des früheren
+Schlosserlehrlings mit verzweiflungvoller Resignation lächelnd, wenn er zu
+fühlen vermeint, wie der Tod langsam zu seinem Herzen steige.
+
+Das Murmelthier fehlt auch nicht, sondern schnarcht den Faden des Lebens
+weiter, während im weißen Nachtrocke und Pantoffeln leise eine Gestalt mit
+gebräunter, von tiefen Leidenschaften durchwühltem Gesichte auf und ab
+wandelt--der Spaniol, der vor kurzer Zeit mit dem betrogenen und als Räuber
+zum zweitenmal verurtheilten Zuckerhannes hier zusammentraf. Von Zeit zu
+Zeit steht der Spaniol düster sinnend an einem Fenster, welches in das
+Straßenleben der Stadt hinabsehen läßt und ein wilder Schmerz arbeitet in
+seinen Zügen. Draußen Revolution, der erste Kanonendonner der "großen
+Zukunft" und er--mit seinen himmelstürmenden Ansichten, seiner verzehrenden
+Thatkraft und seinem brennenden Ehrgeize ein Sträfling, ein ohnmächtiger
+Gefangener, ein gemeiner Verbrecher! ...
+
+Kein Wunder, daß er heute nicht predigt; sein Stolz läßt ihm keine laute
+Klage zu, aber er herrscht auch hier und würde nicht nur der Liebling der
+meisten Beamten und Aufseher, sondern wohl auch der meisten Mitgefangenen
+sein, wenn nur der kropfige Zuckerhannes nicht da wäre und geplaudert
+hätte.
+
+Doch diesen blutarmen Menschen um die sauerersparten Pfenninge betrügen,
+das ist eine That, welche auch im Zuchthause nicht immer Vergebung findet
+und weil der Betrogene den Spaniolen als Vater seines ganzen Unglücks
+betrachtet, nichts von der Rechtfertigung desselben hören mochte und bei
+der Mehrzahl der Sträflinge in der ersten Zeit vollen Glauben fand, deßhalb
+neigte sich der Spaniol bisher mehr den Hütern als den Gehüteten zu und
+soll neulich den ärgsten Aufseher im Eifer für die Hausordnung überboten
+haben.
+
+Wenn er naht, verstummen die Meisten, aus ihren Blicken kann er Vieles
+lesen, heute mag er nicht predigen! ...
+
+Der Zuckerhannes selbst liegt im Bette, athmet zuweilen schwer auf und
+hustet krampfhaft, horcht auf die Reden einer kleinen Gruppe seiner nähern
+Freunde, welche ganz in seiner Nähe sich niedergelassen hat.
+
+Da finden wir den einst so fröhlichen und lebendigen, jetzt immer düstern
+und schwermüthigen Bläsi, aus der Pfalz, diesen unglücklichen Dragoner, den
+das Schicksal so hart vom Gaule geworfen.
+
+Neben ihm sitzt der Patrik von Hotzenwald, dieser rohe, ungehobelte, doch
+gutmüthige und witzige Spitzbube, der immerhin noch mehr werth ist, denn
+sein Nachbar, der Donat, dessen Geschichte deutlich zeigt, was aus einem
+Menschen ohne Erziehung, Geld und Religion werden kann, wenn der Stachel
+der Genußsucht tief im Fleische mit seinen lüsternen Schwingungen steckt.
+
+Diese Leute hören dem Duckmäuser zu, welcher keine Gelegenheit fand, dem
+Zuckerhannes Gutmachgeld zu senden und sich jetzt nach Bruchsal gemeldet
+hat, weil er voraussieht, sein einziger Freund werde nicht mehr mit dem
+Leben davonkommen. Den langwierigen Todeskampf des Unglücklichen darf und
+mag er nicht ansehen, mag nicht erleben, daß eines Tages ihm das Glöcklein
+verkündiget, der Hegäuer habe ausgelitten und die letzte Freude des
+lebenslänglich Verurteilten habe ein Ende. Lieber will er allein, ganz
+allein in einer Zelle leben, denn er hat zwar als Bube betrogen und
+gestohlen, bei den Soldaten böse Streiche gemacht und zuletzt seinen Vater
+ermordet, doch ein grundverdorbener Mensch ist er bei alledem _nicht_
+und wer seine tragische Geschichte kennt, wie der Zuckerhannes dieselbe aus
+seinem eigenen Munde hörte oder dazu noch schwarz auf weiß von seiner
+eigenen Hand besaß, der kann diesen Unglücklichen nicht mehr verachten, er
+muß ihn bemitleiden und begreift, daß ein solcher Mensch mitten unter
+Sträflingen jahrelang vereinsamt lebte und Sehnsucht nach der Zelle
+empfindet.
+
+Was er jetzt dem verunglückten Dragoner, dem ungeschlachten Patrik und dem
+leichtsinnigen Donatle erzählt, sind nur Bruchstücke und der Zuckerhannes
+könnte Manches dagegen einwenden, weil er den am Hochmuth laborirenden
+Duckmäuser auswendig und inwendig sammt der ganzen Geschichte desselben zu
+kennen vermeint und findet, derselbe wasche sich viel weißer als er sei ...
+Man mag sagen, was man will, _der Mensch_ ist _ein geborner
+Aristokrat_, denn Jeder will schöner, reicher, gescheider [gescheidter],
+vornehmer und besser sein, wie der Andere, jeder sucht bei Andern soviel
+als möglich zu gelten und vertuscht, heuchelt, lügt, mag er Bettler oder
+Graf oder noch mehr sein; die Sträflinge bleiben auch hierin Menschen und
+die Wenigen, die es dahin gebracht haben, mit Sünden, Lastern und
+Verbrechen groß zu thun, sind eigentlich verkehrte Menschen,
+_Unmenschen_! ... Der Vatermörder ist kein Unmensch; schon die
+Erzählung, welche er seinen Kameraden zum Besten gibt, verräth dem
+Eingeweihten die Sucht, nicht schlecht sondern so gut als möglich zu
+erscheinen, und wir glauben, die wahre Geschichte desselben beweise, der
+arme Tropf sei wirklich unserer Achtung und noch mehr unserer Theilnahme
+würdig, seine Geschichte eine sehr lehrreiche Alltagsgeschichte aus den
+niederen Volksklassen.
+
+
+
+
+#DER DUCKMÄUSER ALS SCHULBUBE.#
+
+
+Wer sich einen Bauersmann vorstellt, der unter seinem Nebelspalter etwas
+finster hervorschaut und dessen eckiges Gesicht die Sorgen des Lebens
+tüchtig durchfurcht haben, obwohl sie nicht im Stande waren, einen Zug
+ernsten Trotzes in unterthänigst kriechende Demuth vor jedem bessern Rocke
+zu verwandeln, der hat das Gesicht des Vaters unseres Helden gesehen und
+wird den abgetragenen Kittel, die Lederhosen, deren ursprünglich gelbe, die
+Weste, deren ehemals rothe in eine von den Malern bisher unentdeckte Farbe
+übergegangen ist, nicht vergessen und noch weniger die knorrigen
+Eichenfäuste und die breitgetretenen Füße des Mannes. Wer sich näher nach
+ihm erkundigte, würde überall erfahren haben, der Jakob sei ein nicht ganz
+armer Mann mit sechs lebendigen Kindern, habe niemals recht lesen lernen,
+folglich auch den "höflichen Schüler" niemals studirt und sei eine
+grundehrliche Haut, welche Gott und den Amtmann fürchte, mit seinem Weibe
+glücklich lebe und von jedem Nachbarn geliebt werde, obwohl er ein bischen
+hart, unbeugsam und auffahrend dazu sein könne.
+
+Sein Weib, die Theres, mag in ihrer Jugend nicht häßlich gewesen sein, aber
+auf dem Lande wird die Schönheit gar rasch verschwitzt und wenn eine Frau
+ihre zwölf Kindbetten durchgemacht hat, wirds schlimm aussehen, wenn hinter
+der Leibesruine nicht ein treues, frommes Herz schlägt. Doch unter dem
+Mieder der Theres sah es gut aus und deßhalb lebte sie auch mit ihrem Alten
+recht glücklich, insofern festes Vertrauen auf Gott alle Sorgen und
+Drangsale des Tages ohne viel nutzloses Klagen und Weinen überstehen läßt.
+
+Jakob hatte auf dem Felde, in Wald, Stall und Scheune, die Theres an all
+diesen Orten, in der Küche, am Waschzuber, in allen Winkeln des Hauses und
+im Garten dazu vom Anbruch des Tages bis zur sinkenden Nacht alle Hände
+voll zu thun, so daß die Beiden außer an Sonn- und Feiertagen wenig mit
+einander plaudern, geschweige zanken konnten. Wenn es so kalt wurde, daß
+der Jakob seine 5- bis 8pfündigen Schuhe anziehen mußte, dann wurde er
+etwas brummig, denn das war Zeitverlust und wenn der Mond schien, war er im
+Stande, noch in der Sommer-Nacht zartes Laub und dergleichen für seine
+Kühe, Geisen und Schweine zu holen und es war gut, daß seine Hände nichts
+davon wußten, die Brombeeren und Schlehen hätten auch Dornen, und daß er
+mit bloßen Füßen im Verhau herumstolperte, ohne von spitzen Dornen, Steinen
+und dergleichen mehr als eine Ahnung zu besitzen. In der Nacht bekam er
+seine Ruhe, wenn nicht gerade eine Kuh kalbern wollte, das Geschrei der
+Kinder beirrte ihn wenig; wenn er die ganze Woche tüchtig gearbeitet hatte
+und am Sonntagmorgen vor der Kirche so glatt und freundlich wie ein
+Schuljunge hinter dem Ofen hervortrat, wo er sich ohne Spiegel und Seife
+musterhaft rasirte, dann pflegte er zu sagen: "Theres, die Arbeit ist
+gethan, heute wird zum Herrgott gebetet und Mittags im Hirzen drüben ein
+Hälbsle getrunken, wenn auch der Bettelvogt noch zehnmal schellt von wegen
+der Herrensteuer!" ...
+
+Die Theres freute sich auch auf den Sonntag, denn wenn es für sie auch
+keinen Hirzen gab, so gab es doch eine Kirche und eine rechte Predigt und
+ordentlicher Gottesdienst erquickt ein frommes Weibergemüth mehr, denn ein
+Fäßlein Burgunder oder gar Capwein. Die Woche über kam die Theres kaum zum
+Athemholen und in der Nacht, wenn der Jakob schnarchte trotz der größten
+Baßgeige, fing die Plage erst recht an, denn die eisgraue Großmutter konnte
+die Kinder in der Nacht nicht alle pflegen und schweigen und trocken legen,
+und wenn eines zahnte oder sonst krankte, schlossen die beiden armen Weiber
+oft kein Auge.
+
+Am Sonntag aber wars so traulich in dem aufgeputzten Häuslein, als ob die
+Leute die Kirche aus dem Gottesdienste mit sich genommen hätten und Mittags
+stand auch Fleisch auf dem Tische, an hohen Festtagen Wein aus dem hintern
+Fäßlein, wo der Alte und Gute älter und besser wurde, während der
+Gewöhnliche vom Essig wenig sich unterschied.
+
+Nachmittags nach der Vesper zog dann Jakob seinen blauen Rock ohne Kragen
+mit tellergroßen Metallknöpfen an, stopfte sein Pfeiflein, drückte den
+Nebelspalter ein bischen aufs linke Ohr und machte mit dem Liebhardt,
+Fidele, Michel oder Bassi einen Gang durch die Fluren und dann in den
+Hirzen, um bis zum Abend an seinem Hälbsle zu trinken, während das junge
+Volk kegelte, auf der Straße spielte, in Rädlein beisammen stand oder Arm
+in Arm kettenweise singend durch das Dörflein auf und ab zog. Es mochte
+zweifelhaft sein, ob der Jakob an seinen Aeckern und Kühen größere Freude
+hatte, denn an seinen Kindern, mindestens pflegte er jene zärtlich, während
+er diese nach Herzenslust herumkrabbeln, fallen und heulen ließ, ohne sich
+groß umzusehen, dagegen bleibt es sicher, daß die alte Hanne ganz vernarrt
+in ihre Enkel und die Theres in den Benedikt am vernarrtesten war.
+
+Der Benedikt, ihr erstes Kind hieß ihr "Augäpfelchen" und man darf ihr
+solche Vorliebe verzeihen, obwohl sich dieselbe nicht nur in Blicken und
+Reden kund gab. Der Benedikt mit seinen schwarzen Haaren, den runden
+Apfelbäcklein, kohlschwarzen Augen und dem freundlichen Munde war wirklich
+ein herzallerliebstes Büblein und dabei so munter und gescheid, wie keins
+im Dorfe gefunden wurde.
+
+Die Leute hatten keine eigene Kirche, nicht einmal eine Kapelle, mußten im
+Leben und Tod ihrem Herrgott die Besuche im nächsten Orte abstatten und als
+der Benedikt die ersten Höslein an hatte und vom Vater am rechten von der
+Mutter am linken Händlein zum ersten Mal in die Kirche geführt wurde,
+blieben alle Leute stehen und gab es eine ganze Prozession von schweigenden
+und redenden Bewunderern, das Herz der Eltern bebte vor Freude und daheim
+konnte Theres der alten Hanne nicht genug erzählen, welche Ehre sie mit dem
+"Augäpfelchen" eingeerndtet, wie brav er in der Kirche gewesen, die
+Händlein gefaltet und bei der Wandlung mit Kreuzmachen und Brustklopfen gar
+nicht mehr aufgehört habe. Das Büblein holte bereits Alles beim Krämer,
+besorgte alle Aufträge pünktlich, griff alles geschickt an, es mochte sein,
+was es wollte und lachte vor Vergnügen laut auf, wenn man es nur lobte. Mit
+Lob ließ sich der Benedikt durchs Feuer treiben.
+
+Besaß das Dörflein keine eigene Kirche und keinen Pfarrer, so besaß es doch
+eine eigene Schule und einen Schulmeister. Zwar hatte dieser nirgends
+besonders studirt, war eine gefallene Größe, nämlich ein großer Maurer, der
+von einem Dachsparren herabgefallen und ein Bein gebrochen hatte, dabei ein
+guter, braver Mann und wußte Alles den Kindern beizubringen, was diese in
+der Welt brauchen, vor allem den Katechismus.
+
+Der Benedikt saß keine sechs Wochen in der Schulstube, so wurde auch der
+alte Lehrer gänzlich in ihn vernarrt und es dauerte keine zwei Jahre, so
+kannten die Kinder Einen Ihresgleichen als Unterlehrer, nämlich des Jakoben
+Benedikt.
+
+Was Andere in einem Jahre lernen, lernte unser Held ohne große Mühe in vier
+Wochen und was der Mathes, der acht volle Jahre stets im Eselsbänklein saß
+und später dennoch ein tüchtiger Bauer und braver Mann geworden ist, in
+seinem Leben niemals begreifen wird, begriff der Benedikt rascher und
+leichter als die gescheideste [gescheidteste] Schulkamerädin, nämlich die
+Susanna.
+
+Eine andere Uhr denn eine Sonnenuhr besaß weder die Schule noch der
+Schulmeister und vom achten Jahre an war der kleine Schulmeister auch
+"Zeitverwalter" mit einer kleinen Unterbrechung gegen das Ende der
+Schuljahre, wo der Muthwille, der in ihm steckte, den alten Lehrer einige
+Wochen in Verzweiflung setzte.
+
+Das Augäpfelchen der Theres wurde das Augäpfelchen des Lehrers, aller Buben
+und Mägdlein und vieler Erwachsenen und vielleicht haben die
+Weihrauchwolken dazu beigetragen, auch seine Gestalt in die Länge und
+Breite zu treiben.
+
+Mit den Buben stand er gut, weil er der Stärkste, bei allen Spielen und
+lustigen Streichen, die sich mit seiner Unterlehrersehre vertrugen, voran,
+dabei unpartheisch und freundlich gegen alle war und bei den Mädlen stand
+er besser als jeder Andere angeschrieben, weil er eine merkwürdige Vorliebe
+für sie hegte, sie zart und schonend behandelte, gegen Schimpf und Schläge
+schützte, ihnen in der Schule einsagte, beim Singen eines Liedes den
+rechten Ton anstimmte und die leidigen Schulaufgaben gegen ein bischen Lob
+oder auch gegen ein Schmätzlein machen half.
+
+Um nicht weitläufig zu werden und dennoch einen rechten Begriff von dem
+kleinen Benedikt zu bekommen, der ein ganz anderer Kerl war, denn der
+verachtete, blutarme und arg vernachläßigte Zuckerhannes, wollen wir nur
+drei Thatsachen aufmerken.
+
+An einem Frühlingstage wird in der Schule biblische Geschichte gelesen und
+die Kinder schauen sehnsüchtig durch die Scheiben in die grünende und
+blühende Welt und rücken unruhig hin und her, denn das stundenlange Sitzen
+und Schwitzen ohne Unterbrechung ist die Folter der Kinderjahre. Auf einmal
+zupft ein Mädle das Andere und ein Bube den Andern und wer den Grund
+entdeckt, hält die Hand vor den Mund oder kichert laut. Weßhalb? Der
+"Unterlehrer" hat aus einem Stücklein Holz und vier beinernen Knöpfen ein
+Wägelein gezimmert, einen kleinen Kiesel als Fracht darauf gelegt und vier
+stattliche Maienkäfer, an eine Deichsel gebunden, ziehen das Ganze über die
+Sitzbänke. Der Lehrer merkt's, zieht die Stirne kraus und ruft den Benedikt
+auf, im Lesen fortzufahren. Wer beim letzten Wort weiter fährt, ohne eine
+Miene zu verziehen, ist der Benedict. Der Lehrer weiß, welchen Kopf und
+welche Kenntnisse der muthwillige Unterlehrer besitze, meint, derselbe sage
+einige Satze auswendig her und werde bald stecken bleiben, doch der
+Benedict liest und liest, ohne nur einmal zu stottern, ohne eine Silbe zu
+verfehlen.
+
+Dessen verwundert sich der Lehrer, steht auf, greift nach Benedicts Buch
+und siehe--dieser hat Alles auswendig hergesagt, denn lesen konnte er schon
+deßhalb nichts, weil er das Buch, wie der Lehrer auch seither geglaubt,
+verkehrt in der Hand hielt.
+
+Dieser Streich und hundert ähnliche dazu verschafften dem Benedict den
+Beinamen "Leichtsinn" und mit den Jahren wuchs sein Leichtsinn wirklich,
+wie er denn einmal, als ein Schuldschein geschrieben werden sollte, dem
+Lehrer keinen andern machte als folgenden:
+
+"Ich heiße Leichtsinn, bin der Leichtsinnigste und habe in diesem Zustande
+geschrieben!"
+
+Wenn er wollte, brachte er stets die besten Aufsätze, doch schien er immer
+weniger zu wollen, der Lehrer sagte wenig dazu, verschonte ihn fernerhin
+auch mit Schlägen und wußte warum.
+
+War eine Schulaufgabe zu machen oder gar die Sonntagspredigt
+nachzuschreiben, so gings wie eine Prozession zu Jacobens Haus, denn hier
+saß der Benedict, trug die Predigt Wort für Wort im Kopfe und dictirte
+Jedem der zu ihm kam und Jedem verschieden, je nachdem er den Hansjörg mit
+seinem harten Hirnkasten, den Mathes, diesen privilegirten und getreuen
+Eselsbankdrücker oder einen Gescheidtern vor sich bekam. Die besten
+Aufsätze jedoch dictirte er den Mädlen, lief stundenlang von Haus zu Haus
+und bevor die Sabin insbesondere das Fließblatt ins Heft gelegt hatte,
+dachte er nicht ans Ballspielen oder an etwas Anderes.
+
+An einem Winterabend zogen alle Buben ihre Schlitten lange vor der Betzeit
+heim und mit vielen Erwachsenen dem Rindhofe zu und Niemand fragte, was es
+gebe, weil Jeder wußte, es werde alldort Comödie gespielt. Die Mädchen
+saßen schon in der Scheune, Sabinens Gesicht glänzte vor Freude; sie saß
+mit der Mutter Theres und Hanne auf der vordersten Bank, der Jacob fehlte
+auch nicht und sah heute nicht sorgenschwer und finster drein, sondern
+koste mit zweien seiner jüngern Kinder; die Bänke füllten sich rasch und
+Alles schaute gespannt und ungeduldig nach einem Vorhange, der aus vier
+zusammengenähten Leintüchern gebildet war. Endlich kommt auch der alte
+Lehrer, eine Schelle lärmt, der Vorhang geht auf und mit einem Ah! der
+Bewunderung betrachten Alle--das Marionettentheater und wissen, daß heute
+der Benedict den "verlornen Sohn" spielen wird.
+
+Hat der Benedict dem Landstreicher Kranich nicht längst alle Possen
+abgespickt? Macht er ihm nicht alle Zauberstücke nach und hat er nicht die
+Herzen der Dorfbewohner schon durch den "Todessprung des Ritters, den
+Doktor Faust, die Genofeva von Brabant, die drei Müllerstöchter, die
+Hirlanda, schöne Magelona" und Anderes erfreut? Sind nicht Einzelne aus den
+nahen Dörfern und einmal sogar der Herr Pfarrer gekommen? Hat der Benedict
+nicht seine Herzkäfer, die Sabin, Euphrosin, Susann, Margreth, Thekla,
+Line, Affer, Lisbeth und Andere geplagt, bis alle Puppen da waren? Hat er
+nicht den Hanswurst selbst gemacht und dazu ein Stück Hosenleder
+verschnitten, welches dem Mütterchen auf Ostern Schuhe hätte geben sollen?
+
+Heute bat er sichs sauer werden lassen, um den "verlornen Sohn" prächtig
+auszustatten. Jetzt sieht man den Alten in seinem Ruhesessel, der älteste
+Sohn steht trotzig vor ihm und fordert sein Erbtheil. Dann geht er fort ins
+fremde Land, ein Reisender kommt zu der Mutter und sagt derselben, aus
+ihrem Sohne sei etwas Großes geworden, er kommandire eine ganze Armee.
+Richtig kommt der Sohn mit seiner großen Armee, diese jauchzt, johlt und
+jodelt wie nach dem größten Siege selten eine und so geht das Ding fort bis
+ans Ende, wo der Benedict ein bischen heiser wird.
+
+Wer aber beschreibt das Entzücken des Publikums? Wann hat der vielgeübte
+Kranich jemals den weichherzigsten Mädlen Thränen entlockt? Der Benedict
+tritt hervor, ist umringt von nassen Augen, der Lehrer wird zum Wortführer
+des Lobes der Zuschauer, der Benedict verlebt eine der seligsten Stunden
+seines Daseins, die Mutter desselben schwimmt mit der Sabin' und andern
+Mädchen in Freudenthränen, von ihrem Augapfel, ihrem Liebling entlockt.
+
+Jetzt drängt sich das mehr als 80jährige Bäbele mit seinen schneeweißen
+Haaren aus dem Hintergrunde hervor; war doch der Benedict auch ihr Liebling
+und sie muß ihm auch ihre Huldigung darbringen. Sie thut es, doch thut sie
+noch mehr, denn das Morgenroth einer höhern Welt leuchtet durch ihre
+Wangen, die Augen schauen prophetisch in die Zukunft und zu dem Volke sich
+wendend, spricht sie das inhaltsschwere Wort. "_Glaubt nur, ihr Leut',
+aus dem Benedict wird entweder ein großer Herr oder ein großer
+Spitzbube,_ in unserm Geleise bleibt er nicht!" Wie oft hat der
+"Duckmäuser" in bangen Kerkernächten, in der erschütternden Einsamkeit der
+Zelle an diese Worte gedacht! Bäbeles Gebeine sind längst vermodert, ihr
+Name ist verschollen, doch ihr prophetisches Wort hat sich erfüllt und
+zittert durch das Herz eines Lebendigbegrabenen!
+
+Längst haben sich die einzelnen Kameradschaften der Buben und Mädchen alle
+bemüht, den Benedict an sich zu fesseln, längst war er der Mittelpunkt, um
+den sich die Dorfjugend sammelte; in die "Kunkelstube", wo er gerade zu
+finden war, dahin kamen auch Männer und Frauen, denn er erzählte Legenden
+der Heiligen, Rittergeschichten und Anderes so schön und lebendig, daß man
+Alles zu sehen und zu hören glaubte und in seinem Dörflein war noch alte
+Sitte und Zucht vorherrschend und man hätte einen Menschen, der über die
+Heiligen spottete oder die Unschuld erröthen machte, aus den meisten
+Kunkelstuben einfach hinausgeworfen.
+
+Seit dem Abend, an welchem der verlorne Sohn gespielt worden, schaute der
+Jacob seinen Benedict respectvoller an, derselbe war ihm und Andern längst
+über den Kopf hinausgewachsen, der Held der Dorfjugend und sein Name in
+allen umliegenden Dörfern mit Ehren genannt.
+
+Wurde ihm noch nicht die Welt zu enge, so war dies allmählig doch mit der
+Schulstube der Fall. Lernen konnte er hier nichts mehr und wußte er sich
+die Langeweile auch zu vertreiben, so wünschte er doch sehnlichst, Mutter
+Theres möchte die Zügel ein bischen länger machen und dies war nicht der
+Fall, so lange der Benedict zur Schule ging.
+
+Die ganze Weisheit des Vaters bestand in dem Sätzlein: Bete und arbeite! Er
+ging mit Beispiel voran, hielt mit eiserner Strenge darauf, daß die
+Seinigen es auch thaten und wenn die Mutter nicht Alles über ihn vermocht',
+wie der Benedict Alles über die Mutter, so würde es wohl mit dem Heldenthum
+kläglich ausgesehen haben! ... Auf dem Lande ist das Geld von je als die
+theuerste Sache betrachtet worden, wo wenig Geld und 6 unerzogene Kinder zu
+finden sind, gibts zu arbeiten; gar oft mußte der gute Benedict die
+Kunkelstube meiden und bis um Mitternacht selbst spinnen; freilich spann
+das Mütterchen auch mit, denn der Winter vergeht rasch und die Leinwand muß
+zeitig auf die Bleiche, doch Mütterchen fing an, dem geistvollen und
+gelehrten Benedict mit ihren endlosen Rosenkränzen allgemach langweilig zu
+werden. Er wünschte oft, die Großmutter möge vom Kirchhofe kommen und sich
+wieder statt seiner mindestens an die Kunkel setzen; die Hanne kam jedoch
+nie wieder, sie hatte auf Erden genug gesponnen und der Faden ihrer
+Pilgerfahrt war im letzten Spätjahr leise und sanft abgerissen worden.
+
+Der Communionunterricht beginnt, Benedict faßt freudige Hoffnungen, wiewohl
+er erst im Sommer 14 Jahre alt wird, der Mittwoch vor dem Palmensonntag
+macht dieselben zu Schanden, denn an diesem Tage werden die Namen derer
+verlesen, welche zum erstenmale zum Tische des Herrn gehen und aus der
+Schule entlassen werden. Zitternd vor Erwartung sitzt er da, jeder Name
+zuckt wie ein Schwert durch seine Seele, zuletzt wird noch dem Mathes die
+Erlösung vom Eselsbänklein angekündiget, dann kommen die Namen der Mädchen,
+er kanns kaum glauben, dennoch ist's richtig--sein eigener Name fehlt, der
+Lehrer mag den Unterlehrer nicht vor der Zeit verlieren. Noch mehr, die
+Seraphin, einer seiner Herzkäfer, der auch erst im Heumonat 14 Jahre alt
+wird, darf als "die feinste, fleißigste und sittsamste" communiciren und
+die ganze Schule hört an, wie der Lehrer erklärt, der Benedict müsse als
+der "Leichtsinnigste von Allen" noch ein Jahr da bleiben.
+
+Jetzt war Feuer unter dem Dache und brannte ein volles Jahr! ... Besaß die
+Seraphin das gehörige Alter? Nein; wem hatte sie ihren Ehrenplatz zu
+verdanken? Zum guten Theil dem Benedict, der ihr einsagte und alle
+Schulaufgaben machte. Saß derselbe nicht an einem _verdienten_
+Ehrenplatz? Und jetzt sollte jene "die Feinste, Fleißigste und Sittsamste"
+und er dagegen "der Leichtsinnigste von Allen" sein?
+
+Zunächst ward der Seraphin der Krieg erklärt und bald hieß das arme Mädchen
+allenthalben nur "die Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und getraute sich
+nicht mehr, irgendwo hinzugehen aus Furcht vor Spott und Hohn. Hat das
+Mädchen dem Lehrer _nur_ Milch und nichts Anderes schmeichelnd ins
+Haus getragen? Waren die Susanna und Margreth nicht zweimal in der Nähe,
+als Seraphins Mutter den weißen Korb mit einem noch weißern Tüchlein deckte
+und der Tochter empfahl, den Herrn Pfarrer drüben doch recht inständig zu
+bitten, daß sie aus der Schule komme und vorzustellen, was die alternde
+Mutter alles zu thun habe? Würde der Benedict, wenn er Solches vorher
+gewußt hätte, nicht dem Vater eine Kuh aus dem Stalle gezogen und dem
+Schulmeister gebracht haben statt vergänglicher Milch und dies nur, um aus
+der Schule zu kommen? ... Dem Pfarrer legte Benedict nichts in den Weg, er
+besaß den Muth nicht dazu; desto schlimmer kochte er es dem Schulmeister;--
+statt des gehofften Unterlehrers besaß dieser jetzt einen unbeugsam
+trotzigen, saumseligen und muthwilligen Schüler mehr, bei welchem Milde und
+Güte, Bitten und Betteln so wenig fruchtete als Drohungen und Schläge.
+
+Schulaufgaben machte er für seine Herzkäfer, für sich selbst niemals oder
+in der Art, wie jenen früher erwähnten Schuldschein. Fragte ihn der Lehrer
+Etwas, so antwortete er trocken, er wisse es nicht oder machte die
+Mitschüler zu lachen, bat ihn der Lehrer, ihn ein bischen abzulösen, so
+ermahnte er denselben, sich an die "Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und
+nicht an den "Leichtsinnigsten von Allen" zu wenden. Einmal mußte er
+hinaus, um die Sonnenuhr zu richten, was Keiner besser verstand; er that's,
+verschwieg jedoch eine ganze Stunde und der Lehrer machte fort, bis Weiber
+und Bursche kamen, um die Kinder zum Mittagsessen aus der Schule
+fortzuholen; ein andermal richtete er die Sonnenuhr so, daß der Lehrer die
+Schule fast um eine Stunde zu früh schloß. Von jetzt ab mußte jedoch der
+Max aus dem Rindhof die Sonnenuhr richten lernen, und weil der Lehrer sah,
+Hopfen und Malz seien am Benedict verloren, kümmerte er sich auch allmälig
+wenig darum, ob derselbe schwänze oder nicht und wenn er erschien, mußte er
+neben Mathesens Ersatzmann, dem dummen Hansjörg sitzen, der genug
+schmunzelte, auf seinem Katzenbänklein einen so trefflichen Einbläser neben
+sich zu haben! ... Endlich naht die letzte Schulprüfung, diesmal wird der
+Benedict kein Lob und keinen Preis davontragen!
+
+Einige Buben müssen die "verhexte Kuh und rothe Milch", einige Mädchen den
+"feurigen Drachen" zusammen declamiren lernen und wenn der Philipp, der
+jetzt neben dem Rindhofmax auf dem Ehrenplatze sitzt, Einen hätte, der die
+Rolle des belehrenden Herrn Pfarrers in den "Feuermännern" ausfüllte, würde
+der Lehrer hoffen, auch dieses Jahr beim Dekan Ehre zu erndten. Demüthig
+bittet der arme Mann den Benedict, ihm den einzigen und letzten Gefallen zu
+erweisen und bei der Prüfung die Rolle des Belehrers in den "Feuermännern"
+zu übernehmen, doch der Benedict lacht ihm schadenfroh ins Gesicht und
+meint: "Ich und der Hansjörg führen auf dem Katzenbänklein die Declamation
+der Stummen mit einander auf, gelt Hansjörg?"--Der Hansjörg grinzt und
+nickt bejahend, die Schüler lachen, der tief gekränkte Lehrer sagt dem
+Benedict, er möge ganz von der Prüfung wegbleiben und schließt die Schule
+sogleich vor Wehmuth.
+
+Am vorletzten Tag vor der Prüfung geht der Lehrer in die Schulstube und wer
+exerzirt die Prüfungshelden nach Mienen, Stellungen und Reden in die
+"verhexte Kuh und rothe Milch" ein? Wer denn anders als der Benedict!
+
+Der Erstaunte bleibt an der Thüre stehen, bis das Ding fertig ist, dann
+eilt der arme Mann, der statt Geister stets vor der Prüfung lauter
+Schwarzröcke sieht, begeistert auf den Benedict zu, drückt krampfhaft
+dessen Hand vor lauter Freude und bittet denselben öffentlich vor allen
+Schülern um Verzeihung ob der bisherigen Zurücksetzung. Unser Held weint
+auch beinahe vor Freude über solche Befriedigung des Ehrgeizes, doch trotz
+den Ermahnungen des Lehrers und der Schüler setzt er sich keineswegs auf
+den Ehrenplatz, sondern auf das Eselsbänklein neben dem einfältigen
+Hansjörg.
+
+Die Prüfung naht, kommt, ist bei den kleinen Schülern vorüber, sie drängen
+hinaus, die andern hinein, doch--der Benedict fehlt, mit Todesangst
+schielt der arme Lehrer nach der Thüre und sucht ein Taschentuch, um einige
+aufsteigende Angsttropfen abzuwischen.
+
+Endlich geht die Thüre auf, der Ersehnte tritt herein, schreitet stolz am
+Eselsbänklein vorüber und setzt sich auf den Ehrenplatz; der verlassene
+Hansjörg hat ein gar wehmüthiges Gesicht dazu gemacht! Noch niemals
+zeichnete sich der Benedict bei einer Prüfung so aus, wie diesmal; auch die
+Rolle des belehrenden Pfarrers in den "Feuermännern" spielt er meisterhaft
+und wie Alles vorüber ist, tritt er vor die 15 oder 18 gegenwärtigen
+Herren, verbeugt sich ehrerbietigst und beginnt das schöne, lehrreiche
+Gedicht: "Der Holzhacker"--auf eigene Faust zu declamiren und biß bei den
+Worten:
+
+ "Und biß, o Graus, am goldnen Bröcklein die Zähne sich aus!"
+
+so ernsthaft und natürlich zu, daß sämmtliche Herren nachbeißen zu wollen
+schienen.
+
+Der Declamation folgte ein langes Beifallsgeklatsche und öffentliche
+Belobung des über den Benedict ganz entzückten Dekans als Abschied aus den
+Kinderjahren.
+
+Ob unser Held den Leib Jesu Christi beim erstenmal auch würdig empfangen
+und gewußt habe, was er eigentlich thue, ist ihm heute zweifelhaft, doch
+meint er, der Unterricht sei ein bischen arg mangelhaft und schlecht
+gewesen und ein Bube könne nicht Alles aus dem kleinen Finger saugen, wenn
+er auch ein Benedict sei.
+
+
+
+
+#DORFGESCHICHTEN.#
+
+
+Wenn mans genau und eine Landkarte dazu in die Hand nimmt, lassen sich die
+Einwohner des Badnerlandes in lauter Schwarzwälder und Odenwälder
+eintheilen. Die schwäbische Hochebene und rauhe Alp sind wohl geognostische
+Kinder des Schwarzwaldes und das Rheinthal von Basel bis Mannheim
+eigentlich nur ein Bergkessel zwischen dem Schwarzwalde und den Vogesen.
+
+Freilich gedeihen auf den Höhen des Schwarzwaldes nur Nadelhölzer; selbst
+diese verkrüppeln und verschwinden am Feldberge und wenn auf den Vorhügeln
+des Rheinthales drunten Mandeln verblüht sind, Kastanien blühen und die
+Rebe ihre Schößlinge treibt, sind die rechten Schwarzwälder froh, wenn ihr
+Hafer angesäet und ihre Kartoffeln gestupft werden können und thun, als ob
+sie heuer gerathen wollten. Doch die rechten Schwarzwälder bewohnen nur ein
+kleines Gebiet; jedes Thal hat wieder sein Besonderes in Sprache, Tracht
+und Sitte und wer das Murgthal bis Freudenstadt und Rothweil, das
+Kinzigthal von Offenburg bis Schenkenzell und Alpirsbach, das
+Simonswälderthal, Höllenthal und viele andere Thäler von der
+würtembergischen Grenze bis zum Rheine besucht hat, weiß am Ende nicht mehr
+recht, wo er den Schwarzwald eigentlich suchen soll, nicht weil Land und
+Leute einen cosmopolitischen Brei bilden, sondern weil man kaum recht Athem
+holen kann, um Verschiedenheiten in der Natur und unter den Menschen zu
+finden.
+
+Steigt er vom Schluchsen [Schluchsee] oder Titisen [Titisee], wo Schlehen,
+Preiselbeeren und andere Kinder des Nordens allein noch zu finden sind, in
+die Seitenthäler herab, wo Obstbäume die Strohhütten beschatten und wogende
+Saatfelder die saftiggrünen Wiesen mit ihren sprudelnden Quellen allgemach
+ersetzen, die gelben Strohhüte und kurzen, faltenreichen Röcke allmälig
+verschwinden und tritt er aus den Vorhügeln mit ihren Weinbergen in das
+Rheinthal hinaus und wandert vom Wiesenthale abwärts bis zur Murg und zum
+Neckar, so befindet er sich allerdings nicht mehr in der Gebirgswelt,
+sondern in einer gartenähnlichen Ebene, doch das Gebirge kommt ihm weder
+aus den Augen noch aus dem Sinn, die Ebene liefert ihm auch alle
+Augenblicke etwas Anderes und wenn er aus den zahllosen Mannigfaltigkeiten
+die Einheiten heraussucht, theilt er die Menschen am Ende in zwei große
+Partheien, nämlich in Dorfmenschen und Stadtmenschen; im Gebirge herrschen
+die Dorfmenschen, in der Ebene die Stadtmenschen vor und der Unterschied
+der Dorfmenschen unter sich ist bei weitem nicht so groß, wie ihr
+Unterschied von den Stadtmenschen.
+
+Wer das Leben und Treiben der Schwarzwälder im engern Sinne genau kennen
+lernen will, muß den "Kalender für Zeit und Ewigkeit" oder "Spindlers
+herzige Erzählungen aus neuerer Zeit" zur Hand nehmen, denn Berthold
+Auerbachs Dorfgeschichten, so anmuthig, hinreißend und herrlich sie auch
+uns und vielen tausend Andern vorkommen, sind eben doch keine eigentlichen
+"Schwarzwälder" Dorfgeschichten, sondern laufen fast ohne Schwarzwälder
+Lokalfarben auf die Gegensätze zwischen Stadt und Land hinaus.
+
+Im Gebirge verschlingt das Dorfleben das Stadtleben, in der Ebene geht´s
+umgekehrt zu und wie das Stadtleben allmälig auch in den Seitenthälern und
+auf den Höhen des Gebirgs zur Herrschaft kommen will, zeigt unter Andern
+die Geschichte des Duckmäusers.
+
+Das Heimathdörflein desselben liegt an der Mündung eines Thales, das einen
+allmäligen Uebergang vom Schwarzwalde zur Rheinebene bildet und zwar nicht
+blos der Natur, sondern auch des Charakters der Bewohner. Land und Leute
+wachsen immer und überall wundersam zusammen und für ein geübtes Auge ist
+jede Gegend ein Buch, aus dem es die Geschichte, das Leben und Treiben
+ihrer Bewohner so im Allgemeinen herausliest!
+
+Kehren wir nach diesem kurzen Ausfluge zu unserm Benedict zurück, der aus
+der Schule entlassen, bereis ein bischen größer und vom Mütterlein ein
+bischen weniger gezügelt wurde.
+
+Sein Vater, der finstere, doch grundehrliche Jacob arbeitet noch immer den
+ganzen Tag, rasirt sich am Sonntag hinter dem Ofen und trägt Nachmittags
+nach der Vesper seinen Nebelspalter in den Hirzen. So lange der Benedict in
+der Schule war, durfte er nicht ins Wirthshaus und nicht einmal den größern
+Burschen den Kegelbuben machen, doch jetzt hilft er dem Vater tüchtig
+arbeiten, stolzirt am Sonntage mit Etwas herum, was bei uns fast so viel
+bedeutet, als die %toga virilis% bei den alten Römern, nämlich mit
+einer Tabakspfeife und wenn es ihm beifällt, auch ein Schöpplein im Hirzen
+zu trinken, so sieht's der Jacob nicht gerne, doch der Sohn will thun wie
+andere auch und noch mehr, weil er der Held in 5 Dörfern ist. Der Vater
+hört denselben doch lieber herausstreichen als schimpfen und muß eben
+nachgeben, wie andere redliche Väter auch nachgeben.
+
+Abends mag der Benedict nicht mehr beim Mütterlein spinnen, die kleine
+Hanne kanns thun, wird dieselbe doch mit jedem Tage größer und der Bruder
+geht in die Kunkelstube, um seinen Erzählerruhm aufrecht zu erhalten. Alle
+einzelnen Kameradschaften der Bursche und Mägdlein buhlen um seine Gunst,
+wo die Margareth ist, welche er am liebsten zu haben scheint, sitzt die
+Ofenbank voll und wenn er kommt, kommt Freude und Leben und jedem der
+Feierabend zu frühe.
+
+Alle Häuser besucht er, jeden Abend ein anderes, in jedem ist er beliebt
+und bekannt und Niemand weiß, welchem er den Vorrang gebe! Uebrigens darf
+man nicht glauben, daß die Buben und Mägdlein unziemliche Kurzweil trieben
+an den langen Abenden, mindestens geschah dies nirgends, wo der Benedict
+hinkam und dieser wußte einen wüsten Gast derb abzutrumpfen und
+heimzuschicken.
+
+Der Liebling der Jungen wollte auch der Liebling der Alten sein, zudem dem
+Mütterchen eher Ehre denn Schande machen und so wurde in den Kunkelstuben
+nur Ehrbares und oft Heiliges erzählt und nichts Unziemliches geschwatzt
+oder gar getrieben. Der Benedict hielt viel auf Ehre und hätte es sich
+nicht nachsagen lassen, daß ein unehrbares Wort aus seinem Munde gekommen
+und deßhalb liebten ihn auch alle Mädchen und ihre Eltern hatten nichts
+dagegen, wenn dieselben mit ihrer Kunkel und dem Rosenkranz nach dem
+Nachtessen in das Haus wanderten, in welchem der Benedict gerade zu finden
+war.
+
+Eines Abends sitzt so eine trauliche Gesellschaft im Vaterhause des
+Hansjörgen und der Benedict erzählt bis gegen 10 Uhr, daß den Zuhörern bald
+die Thränen in die Augen schießen, bald die Gänsehaut aufsteigt. Jetzt
+stellt die Margareth ihre Kunkel weg, streicht die braunen Haare aus der
+Stirn, steht auf und sagt gar holdselig: "Benedict, 's ist bald Zeit, wir
+wollen noch Eins tanzen, damit wirs lernen bis Fastnacht!"--Alle Buben und
+Mägdlein sind dabei; der Benedict hat seine Klarinette bei sich, denn auch
+ein Musikus ist er geworden, der blinde Hans hat ihm die Griffe und Pfiffe
+gezeigt, er spielte bereits die schönsten Hopser, Ländler, Walzer und
+dergleichen aus dem ff heraus und jetzt sucht er den Ton, während Tisch und
+Bänke in eine Ecke gestellt werden und der Hansjörg vor Freuden mit der
+Zunge schnalzt und Sprünge macht wie ein Tiroler.
+
+In diesem Augenblick tritt jedoch die Ursula, Hansjörgens Mutter in die
+Stube und sagt zum Benedict: "He, Benedict, wollt Ihr tanzen? Weißt wohl,
+daß ich nichts dagegen habe, wenn´s Zeit ist, doch ist heute nicht Freitag
+Abend? Was fällt dir auch ein, an einem solchen Abend blasen zu wollen?
+Kommt am Sonntag oder an einem Tage in der nächsten Woche!"
+
+Der Benedict wird feuerroth, steckt die Klarinette ein, geht mit dem jungen
+Volke fort und sagt auf dem Heimwege zu den Mädlen, er wisse gar nicht, was
+er darum gäbe, wenn er heute nur nicht in Ursulas Haus gewesen wäre! ...
+Die Ursula war eine Gevatterin seiner Mutter und Gotte dreier seiner
+jüngern Geschwister, hatte ihn von Kindesbeinen an geliebt und geehrt, doch
+wer ihr Haus mit keinem Schritte mehr betrat und ihr auf der Straße fortan
+auswich, das war er, und zwar deßhalb, weil er meinte, sie hielte ihn in
+ihrem Herzen für einen religionsfeindlichen Menschen, der sich nichts
+daraus mache, am Freitag zu tanzen und aufzuspielen!
+
+Hatte es früher schon schlechte und verrufene Leute im Dorfe gegeben, so
+gab es allmälig auch Aufgeklärte, denn mancher, der als frommer, züchtiger
+Rekrut fortgegangen war und auf Urlaub heimkam, hatte die Welt in der Stadt
+und in der Kaserne mit neuen Augen betrachten gelernt und der reiche Max
+aus dem Rindhofe wanderte jetzt fleißig in die nahe Stadt, wo er in jeder
+Bierkneipe gescheidte Leute und genug kirchenfeindliche Zeitungen fand. Der
+arme Benedict regierte die Jungen im Dorfe, der reiche Max sah dies nicht
+gern, suchte und bekam auch Anhang und daß der vielgepriesene "Zeitgeist"
+auch in diesem Dörflein zu rumoren anfange, zeigte sich vor dem
+Frohnleichnamsfeste. Seit urdenklichen Zeiten saßen jedes Jahr am Tage vor
+dem Frohnleichnamsfeste die Mädchen in der Schulstube und arbeiteten oft
+bis Mitternacht, um das Kreuz und den Altar, zu welchem die Prozession
+morgen aus dem Pfarrdorfe herüberzog, mit den stattlichsten Kränzen und
+Blumen zu schmücken. Sie hätten es sich um keinen Preis nachsagen lassen,
+der Herrgott am Kreuz und das ganze Kreuz sammt dem Altare seien nicht mit
+Kränzen, Blumen und Bändern aufs reichlichste ausstaffirt gewesen. Die
+Bänder wurden von den Mädchen und deren Müttern geliefert und heuer
+kommandirt der Benedict den ganzen Tag im Schulhause, macht den
+stattlichsten Kranz, der die Dornenkrone bedecken sollte und verspricht
+Abends beim Fortgehen, er werde der erste sein, welcher morgen früh den
+ersten Kranz ans Kreuz hefte.
+
+Dem schwülen Tage folgte eine Regennacht, welche zu stürmisch war, als daß
+man hätte fürchten mögen, die Prozession werde darunter leiden und noch um
+11 Uhr saßen einige Mädchen in der Schulstube, um beim Licht die letzten
+Zurüstungen zu treffen. Der Benedict liegt im Bett und will sich eben vom
+Rauschen des Sturmes in den Baumwipfeln und vom Plätschern des Regens in
+Schlaf lullen lassen, als es leise an seinem Fensterlein klopft und ruft.
+Er springt auf, denn er kennt diese freundliche Stimme und verwundert sich
+über den seltsamen Ton derselben.
+
+"Hör', Benedict, _jetzt_ sind wir Mädchen zu Schanden gemacht,"
+berichtet die Margareth, welche den hübschen Kopf in das Kammerfensterlein
+hineinstreckt, damit das Wasser vom Dache sie nicht ersäufe.
+
+"Verlassen und verrathen sind wir, alle Mühe war umsonst, denn die Buben
+haben keine Maien geholt!" bestätigt die Susanne. "Was? keine Maien?" sagt
+der Benedict erschrocken und Margareth sammt der Jutta und dem Vefele, die
+auch herbeieilen, erzählen, der Max habe die Buben aufgehetzt, heuer keine
+Maien im Walde zu holen und gesagt, es sei eine Schande für so große Esel,
+sich noch mit solchen "Kindereien" abzugeben. Daß der Max nicht umsonst
+redete, während der Benedict im Schulhause saß, stellte sich um Mitternacht
+sonnenklar heraus. Die Maien sind jedoch gleichsam die Rahmen, welche das
+Kreuz und den Altar liebend umfassen und wie armselig sieht ein Bild ohne
+Rahmen drein? Je größer, schöner und frischer die Maien, desto größer die
+Ehre für die Mädchen, an den Maien erkannten die Leute aller benachbarten
+Dörfer, wie Buben und Mädchen in diesem Jahre zusammen standen, seit
+Menschengedenken hatten die Maien nie gefehlt, drum that es den Mädchen
+heuer desto weher, sie sahen nicht nur den Herrgott vernachlässigt, sondern
+sich selbst beschimpft.
+
+Rathlos steht der Benedict, ängstlich stehen seine Herzkäfer vor dem
+Fensterlein, der Regen stürzt wie aus Kübeln vom dunkeln Nachthimmel und ob
+den Vogesen, dem Rheinthale und Schwarzwalde zugleich flammen Blitze und
+kanonirt hundertstimmiger Donner.
+
+"Geht heim, ihr Lieben, Maien müssen her, ich verlasse Euch nicht!" sagt
+endlich der Benedict, reicht den Mädchen die Hand, schließt das Fensterlein
+und schleicht zu den Eltern. Die Mutter hat all ihre Seiden- und
+Taffetbänder ins Schulhaus geschickt, sie weiß, daß sich die Mädchen heuer
+ganz besonders abmühten, jetzt erzählt er, wie schimpflich die Buben
+gehandelt und die Mutter stößt ihren Alten aus dem Schlafe. "Wär´ der
+Werktag nicht schon vorbei und der Fronleichnamstag angebrochen, so ginge
+ich wahrlich trotz Sturm und Wetter in den Wald!" meint der Benedict
+zögernd, um den Eltern an den Puls zu fühlen.
+
+"Was an Sonn- und Feiertagen zu Gottes Ehre gearbeitet wird, ist keine
+Sünd´! antwortet die Mutter."
+
+"Aber woher Maien? Die Weidenstöcke am Bach sind abgehauen, ... das
+Unwetter ist grausig, ich müßte eben junge Birklein holen, ´s ist fast eine
+Stunde in den Wald und wenn mich der Cyriak, der Waldhüter erwischte, gäbe
+es theure Maien!" meint der Benedict. "Ah bah! Cyriak hin oder her, wenn´s
+dir Ernst wäre, würdest du nicht darnach fragen, ob es theure oder
+wohlfeile Maien gäbe! Warum haben denn die Buben keine geholt, he?" sagt
+der Vater.
+
+"Weil´s der Max, der Willibald und noch ein paar so schöne es für eine
+Schande erklärten und Alle, welche holen wollten, so verspotteten, daß sie
+es bleiben ließen!"
+
+"Eine ewige Schande ist´s für euch, Buben, euch von dem ungerathenen Max,
+der unserm Herrgott und dem eigenen Vater, dem herzensguten Fidele nur
+Schande macht, in _der_ Art verhetzen zu lassen! Gehst du nicht, so
+stehe ich wahrhaftig auf, wecke den Fidele und wir alte Kracher bringen
+gewiß Maien!" fährt der Jacob auf, wirft die Schlafkappe weg und richtet
+sich aufgebracht im Bette empor.
+
+Fünf Minuten später eilt der Benedict mit einem Beil und Stricken durch die
+Sturmnacht, kein Faden an ihm bleibt trocken, bis er in den Wald kommt;
+hier ist's stockfinster, doch seine Hände wissen glatte Birkenrinde von der
+der jungen Erlen gut zu unterscheiden und bald hat er vier stattliche junge
+Birklein vor den Wald auf die nassen Wiesen herausgeschleppt. Das Aergste
+ist, daß er kaum zwei auf einmal zu tragen vermag; muß er den Weg doppelt
+machen, so kommt der Tag, ehe alles an Ort und Stelle und die Freude der
+Mädchen fertig ist. Was thut der Benedict? Er springt mit zwei Birklein
+eine Strecke weit, springt zurück, um die beiden andern nachzuholen, macht
+auf diese Weise fort und die ersten Strahlen des Tages sehen die letzten
+zwei Birklein am Altare. Der Regen hat aufgehört, die Schwalben zwitschern
+und die Rothkelchen singen auf den Dachfirsten, der Benedict tropfnaß und
+heidenmäßig schwitzend, springt ins Schulhaus, dann zum Altare zurück,
+heftet richtig, wie ers versprochen, auch den ersten Kranz ans Kreuz und
+dann geht er heim, um noch ein Stündlein zu ruhen.
+
+Sehr früh kommen einige Bauern zum Altare, um bei der Verzierung des
+Kreuzes zu helfen, alle bewundern die herrlichen Birklein, der Cyriak kommt
+aber auch dazu und sagt:
+
+"Diesen Vier hab' ichs gestern Abend spät noch vermacht, daß sie heute da
+gesehen werden! ... Am Werktag sind sie nicht geholt worden und diesen
+Morgen auch nicht! ... wer die geholt hat, muß gesalzen werden! ich bring
+ihn heraus, gebt Acht, 's wird theure Maien geben!" brummt er zum Xaver,
+betrachtet ärgerlich die schönen Bäumlein und macht eine Faust.
+
+"Sie stehen besser hier, als in deinem Revier!" lacht der Xaver.
+
+"Heut' sind die Birklein noch schöner als gestern, gelt Cyriak?" scherzt
+der alte Liebhardt.
+
+"Sollen auch schön Geld kosten, ich bringe den Buben heraus!" versichert
+der Cyriak und geht mit starken Schritten das Dorf hinauf.
+
+Die Ehre der Mädchen war in den Augen aller Einheimischen und Fremden durch
+die Verzierungen und durch die vier prächtigen Birklein herrlich gerettet,
+dafür wurde auch der Benedict von den Mädchen schier in den Himmel erhoben
+und erklärt, er allein sei treu gegen Gott und Menschen, er verdiene, daß
+sie ihn zeitlebens auf den Händen trügen.
+
+Das Wunderbarste bei der Sache blieb, daß kein Mädchen den Waldfrevler
+verrieth. Um Mittag wurde das Vefele, das heute Nacht bei demselben
+gefensterlet, von ihrem Vater, dem Cyriak, ins strengste Verhör genommen,
+doch sie weiß nichts und ihr Bruder, der Mathes, versichert, er wisse auch
+nicht, wer die Birklein geholt, wenn ihn der Vater auch mit dem Waldbeil
+vor das Hirn schlüge. Wie ein Feuerreiter eilt der Cyriak von Haus zu Haus,
+von Mädchen zu Mädchen, doch die Birklein blieben abgehauen und--was keine
+Erdichtung, sondern blanke Thatsache ist und ein Licht auf die angebliche
+Schwatzhaftigkeit der Mädchen wirft--der Benedict unverrathen, mindestens
+für das laufende Jahr.
+
+Vom Max und dessen Anhange mußte er dagegen Spottreden genug hören, doch
+kümmerte er sich wenig um diese "neumodische Schwitt", wie der Max mit
+seinen Kameraden hießen, welche auch allgemach an Werktagen und am Sonntag
+unter dem Gottesdienst im Wirthshause zu sehen waren. Liberalseinsollende
+Zeitungen und böse Bücher übten wohl nur Einfluß auf diese Bursche, weil
+Aufklärer in jedem Wirthshause saßen; sie selbst waren keine großen Freunde
+vom Kopfzerbrechen und Lesen und ihre Weisheit floß in einem unter dem
+Landvolke allmälig weit verbreiteten Sprichwörtlein zusammen, welches
+heißt: _Predigen und Büchermachen ist das Handwerk der Pfaffen und
+G'studirten!_ Woher solches Sprichwort stamme und welche Leute es am
+liebsten im Munde führten, darauf sah die "neumodische Schwitt" nicht,
+sondern schloß mit ihrem gesunden Bauernverstande ruhig weiter: "Ist der
+Pfaff ein Handwerker, so ist die Kirche seine Werkstätte, Gottesdienst und
+Predigt aber sind Stücke seiner Arbeit. Bei jedem Handwerker hat man die
+Auswahl unter seinen Arbeiten, daher wählt man aus der Predigt gerade das,
+was Einem am besten gefällt und gefällt Einem nichts (was bei steigender
+Aufklärung bald der Fall sein muß), nun, dann läßt man dem Pfaffen seine
+ganze Arbeit und geht am Ende gar nicht mehr in die Werkstätte desselben!"
+
+Die Eltern der "neumodischen Schwitt" sammt den meisten bejahrtern
+Einwohnern betrachteten die Kirche als das Haus Gottes, den Geistlichen als
+Diener Gottes, thaten, wie ihre Urahnen, hielten Sonn- und Feiertage
+heilig, beteten zu Hause, in der Kirche, im Felde bei Prozessionen und
+Bittgängen, zierten das Kreuz vor dem Dorfe und schliefen nicht ein, wenn
+der Benedict Legenden erzählte. Sie waren der Religion treu geblieben;
+Protestanten, welche über die Jungfrau Maria, die Heiligen, die
+Ohrenbeichte, das Abendmahl, die Ehelosigkeit des Pfarrers witzelten, gab
+es keine und dies aus dem einfachen Grunde, weil es überhaupt im Dörflein
+des Benedict und in der Umgegend weder Protestanten noch Hebräer gab.
+
+Es lebte da ein gutes, glückliches Völklein und wenn auch die Protestanten
+von ihm als eine Art Heiden betrachtet wurden und die kleinen Kinder davon
+liefen, wenn ein Hebräer auf der Straße zu sehen war, so geschah doch
+Niemanden etwas zu Leide um des fremdartigen Glaubens willen. Was zum alten
+Eisen gehörte, blieb der Aufklärung unzugänglich; der Jacob pflegte zu
+sagen, die "neuen Lehren" seien von "alten Lumpen" längst gepredigt worden
+und dafür wußte er Namen zu nennen. Doch die Aufklärung in religiösen und
+politischen Dingen kam auch in dieses Dorf und ihre erste Frucht war
+Zwiespalt unter dem jungen Volke beiderlei Geschlechtes.
+
+Der Max saß mit dem Willibald und Andern fleißig im Wirthshause, der Fidele
+und die Eltern der Uebrigen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen,
+ermahnten, baten, weinten, zankten, fluchten und wetterten, doch gab dies
+keinen Zwiespalt unter der Dorfjugend, denn hier zwitscherten die Jungen
+nicht, wie die alten sangen, sondern die Alten mochten sagen, klagen und
+thun, was sie wollten, die "neumodische Schwitt" ließ sich dadurch wenig
+Galle aufrühren und noch weniger graue Haare wachsen.
+
+Zuerst begnügte sie sich, im Wirthshaus zu sitzen statt in der Werkstätte
+des Pfarrers; bald spotteten sie über Jene, welche beim Alten bleiben
+wollten und in demselben Jahr, in welchem der Max aus der Sonntagsschule
+entlassen wurde, hatte er auch die Magdalene zum Extraschatz, ein armes,
+doch hübsches Mägdlein voll Leben und Feuer.
+
+Weil sie einige Sommersprossen im Gesichte und rothe Haare hatte, deßhalb
+hieß sie auch "die Rothe" oder das "Fegfeuer" und wegen ihres lebhaften
+ungestümen Wesens zuweilen "der Feuerteufel."
+
+Unter den Burschen war der Max der Reichste, doch der Benedict der
+Gescheidteste und Angesehenste und letzteres zeigte sich, als jener seine
+Macht erprobte und einen Vorschlag machte, welcher so recht zu der
+"neumodischen Schwitt" paßte.
+
+Uralte Sitte und patriarchalisches Leben herrschten in diesem Dörflein noch
+und so bestand auch der Gebrauch, daß die Buben den Mädchen insgesammt am
+Neujahr und bei andern Gelegenheiten Geschenke machten, ohne dabei Gedanken
+an nähere Liebschaften zu haben.
+
+Nun meinte der Max, welcher vielleicht etwas von der Zehntablösungsfrage
+aufgeschnappt hatte, man möge künftig den Mädchen nur noch am Neujahr Etwas
+geben und zwar keine Ringe oder ein Konstanzer Gesangbuch und ähnliches
+Zeug, sondern baares Geld. Er stand gerade unter der alten Linde, welche
+die Jugend so vieler Geschlechter beschattete und die Sache wurde noch an
+demselben Abend in allen Kunkelstuben verhandelt. Die "Rothe" und einige
+andere Mädlen wären mit dem Geldgeschenk zufrieden gewesen, doch wurde viel
+gestritten, der Max und der Bendict [Benedict] redeten sich für und gegen
+die neue Mode schier Lunge und Leber heraus.
+
+Am Ostermontag kam die Angelegenheit bei den Buben und Mädchen zur
+Berathung und Entscheidung, der Max hatte gotteslästerlich viele Worte,
+Flaschen und Versprechungen aufgeboten, Benedict in den letzten Tagen so
+geschwiegen, daß der Max ihn auf seine Seite zu bringen hoffte, doch jetzt
+trat derselbe für die alte Sitte und seine jungen Herzkäfer auf und siehe
+da, die meisten Buben fielen ihm zu.
+
+Wüthend zog Max mit den Seinigen von der Linde in den Hirzen; von diesem
+Tage an brachte er dem Benedict den diesmal sehr unverdienten Namen, "der
+Duckmäuser" auf; der Zwiespalt des jungen Volkes offenbarte sich noch an
+demselben Tage darin, daß die Neumodischen sich im Wirthshause abgesondert
+von den Altmodischen setzten, doch geschah keine feierliche
+Kriegserklärung, es wurden einstweilen nur neue Namen aufs Tapet gebracht.
+
+Benedict hieß fortan "der Duckmäuser" und sein Anhang "die schwarze
+Schwitt", Maxens Roche gab den Anlaß, dessen Schwitt die "roche" zu taufen
+und von "lewatisch gewordenen Schaufelstudenten" und "Knierutschern" war
+beiderseitig viel Munkelns und ingrimmigen Höhnens.
+
+Viele Buben und Mädchen wußten noch nicht recht, zu welcher Schwitt sie
+halten sollten und am andern Sonntage stehen und sitzen sie nach der Vesper
+um die Linde herum, plaudern und scherzen, singen und lachen, doch will die
+Freude nicht recht in Gang kommen, denn der Benedict fehlt und vergeblich
+läuft bald die Susanne, bald die Margaret mit ihren Kameradinnen ins
+Oberdorf, um den Herzkäfer herbeizuholen. Im Hirzen sitzt der Jacob vor
+seinem Hälbsle, daheim steht die Theres im Garten und ihr Waldburgele hält
+sie immer an der Schürze, das Besele und das Kätherle folgen der Mutter wie
+die Küchlein der Henne, doch weder der Jacob noch die Theres wissen, wo der
+Benedict steckt und die kleinen Schwestern wissen auch nichts, als daß er
+ihnen ein Rad am Wägelein flickte, worauf sie ihre "Doggenbaben" spaziren
+führen, dann die Kappe genommen, den Kittel über das rothe Wamms angezogen
+habe und fortgegangen sei, nachdem er in der Küche beim Anzünden der
+Tabakspfeife sich noch ein bisle verbrannt habe! ... Auf einmal geht der
+Ersehnte mit dem Gregor, seinem liebsten Kameraden vom Unterdorf herauf und
+langsam auf die Linden zu, die Susann' und die Margareth, das Vefele und
+die Apel, die Affer, Sabin' und Andere laufen ihm entgegen.
+
+"Sag uns doch, warum bist du bös auf uns?"--"He, ich bin mit Euch durchaus
+nicht bös!"--"Ja, warum kommst heute nicht?"--"Ei, bin ich jetzt nicht
+bei Euch?"--"Du bist bös mit uns, wenn du's auch verhehlst!"--"Ich bin
+nicht bös, gelt Gregor nit?" "Aber", sagt der Duckmäuser jetzt laut und
+vernehmlich und steht mitten unter dem Haufen, "ich und der Gregor und der
+Mathes bleiben jetzt für uns Herr, und Alle, welche am Frohnleichnamstag
+Maien geholt haben, dürfen nicht mehr zu mir kommen!"--"Und die, welche
+keine Maien geholt, sollen _uns_ vom Leibe bleiben!" rufen die
+Mädchen.--"Ich gehe über Feld, wer will mit?"--"Ich, ich, ich auch,
+wohin?" rufen und lärmen die Buben.--"Ja, es dürfen keine Andern mit mir
+als solche, die den Mädlen keine Maien geholt haben!" ruft der Duckmäuser.
+
+Der Stich wurde verstanden, die Buben sonderten sich in zwei Heere, das
+größere sagt: "Benedict, wir sind bei dir!"--["]Wollt Ihr altmodisch
+bleiben?" fragt der Benedict und Alle antworten. "Ja!" Einer rennt in den
+Hirzen, mit feuerrothem Kopfe kommen der Max, der Willibald und Andere; der
+Max scheidet zuerst seine Rothe von den andern Mädlen ab, die Buben alle
+thun dasselbe, die Scheidung der Lämmer und Böcke, der schwarzen und rothen
+Schwitt ist in wenigen Minuten entschieden, die rothe Schwitt verläßt mit
+ihren Mädchen die Linde, am nächsten Sonntage soll sichs zeigen, ob die
+rothe oder schwarze Schwitt ihren Mädlen größere Freuden zu bereiten
+verstehe!" [verstehe!]
+
+"Lauter Markgräfler muß auf den Tisch", schwört der Max, "kein Mädle darf
+an den Wänden herumstehen, wenn's auch keinen besondern Schatz hat, bei uns
+gilt die Eine was die Andere, wir bringen Anderes auf's Tapet, als
+Blumenzutragen, Maienholen, den Eckpfosten am Schulhaus verzieren und das
+verwitterte Kreuz, wo der Herrgott bald einen Schnurres von Moos bekommt!"
+Was ist das für ein Munkeln und Gerede die ganze Woche, wie gespannt sind
+die Alten und Jungen, doch ruhig bleiben die Mädlen der schwarzen Schwitt,
+denn ihr Herzkäfer hat gesagt: "Der Max und ich stehen einander gleich dick
+gegenüber am Sonntag, obgleich er der einzige Sohn des reichen Fidele ist
+und ich der des fast armen Jacob; ihr Mädlen sollt nicht zu Schanden
+werden!" Am Sonntag nach der Vesper sitzen die beiden Schwitten mit ihren
+Mädchen im großen Saal beim Hirzenwirth einander gegenüber; dem Duckmäuser
+thut nichts weher, als daß der Hansjörg und dessen Schwester, zwei stille,
+harmlose, einfältige Seelen auch bei der rothen Schwitt sitzen. Die Beiden
+halten den Duckmäuser für ihren Todfeind seit dem Freitag, an welchem ihre
+Mutter demselben das Tanzen und Klarinettblasen verbot, obwohl er ihnen
+kein böses Wort gegeben. Der Max bekommt gar keine Zeit zum Sitzen vor
+lauter Einschenken und Zubringen des Markgräflers an seine "Gemeinmädlen",
+und feurige Wangen und blitzende Augen gibts unter der rothen Schwitt, bis
+endlich der Max seinen Wamms auszieht, das Halstuch locker knüpft, das
+Schnupftuch in einem Knopfloche seiner rothen Weste festbindet, seine Rothe
+am Kopfe nimmt und sagt: "Auf Alte, wir tanzen jetzt Eins!"
+
+Jetzt wird getanzt, gesoffen und gefressen, daß es erst eine rechte Art
+bekommt. Unter dem Tisch der rothen Schwitt liegen die Scherben aller
+geleerten Flaschen, vom Tische herab regnet der Zwölfer, kein Glas darf vom
+Munde, ehe es ganz geleert ist, nur der Hansjörg und dessen Schwester sind
+von diesem Gesetze ausgenommen; die Pyramiden von Wecken und Bretzeln,
+welche vor den Mädchen gestanden, waren zum guten Theil wieder Teig
+geworden, die rothe Schwitt tanzt, stampft und jauchzt, daß der Boden
+zittert und die Scheiben klirren.
+
+"Franz", schreit der Max dem Aufwärter zu, der mit seiner weißen Schürze
+schwitzend umherfliegt, "Franz, einen Kübel voll vom Allerbesten, vom alten
+Rothen!"
+
+"Jo, s'ischt anfangs nöthig, daß Ihr's in Kübeln fordert, d'Butelle sind bi
+Gott alle z'sammeng'schlage!" brummt der Franz.
+
+"Franz, hol ihnen den Brunnentrog im Hof, sie können die Köpf hineinhängen,
+daß sie bälder voll werden!" ruft der Duckmäuser vom Tisch seiner Schwitt
+herüber und der Willibald schaut ihn giftig an.
+
+Schon um 5 Uhr trinkt der Max nicht mehr, hört auch nichts von der schönen
+Musik, denn er liegt schwerbetrunken hinter dem Holzschoppen des
+Hirzenwirths und seine Rothe mag auch irgendwo so ein Plätzlein gefunden
+haben; um 6 Uhr ist von der rothen Schwitt nichts mehr zu sehen als eine im
+Markgräfler gebadete und von Flaschen zerhämmerte Tischplatte voll Scherben
+und Teig; die Gäste wurden theilweise fortgetragen, theilweise taumelten
+sie hinaus, um im Freien sich zu lagern, nur der Hansjörg und dessen
+Schwester sitzen noch da und diese führt der Duckmäuser jetzt an die lange
+und dicht besetzte Tafel der schwarzen Schwitt.
+
+Die Mädlen der rothen Schwitt haben sich theilweise fortgeschlichen,
+theilweise buhlen sie um Aufnahme bei der schwarzen, heute wird aber nichts
+daraus.
+
+Der Duckmäuser hat auch Pyramiden von Wecken und Bretzeln aufstellen
+lassen, doch nichts durfte verdorben werden; er hat stets denselben Wein
+kommen lassen wie der Max, doch blieb die Tischplatte sauber und Niemand
+wurde zum Saufen gezwungen; Alle sind nüchtern und in Ehren fröhlich, der
+Duckmäuser sitzt stolz zwischen seiner Margareth und der Marzell.
+
+Den Mädlen der schwarzen Schwitt gefiel's gar wohl, keinen "Batzenvierer",
+sondern denselben Wein wie die der rothen trinken zu dürfen; nunmehr ist
+die rothe Schwitt fort, die Mädlen meinen, man könne jetzt mit dem Zwölfer
+aufhören, weil das Prahlen und Wettzechen vorüber sei, doch jetzt läßt der
+Duckmäuser erst vom Dickrothen ausstellen, bringts der heißgeliebten
+Margareth zu und lacht:
+
+"He, Ihr glaubt, der Benedict habe einen schwindsüchtigen Geldbeutel, weil
+sein Alter das Knieschlottern bekommt, wenn er ihm einen Batzen geben muß?
+Seid getrost, der Dorfhanswurst hat noch Späne!" Alles Zureden und Lobreden
+der Mädchen half nichts, gab nur zu zärtlichen Wortgefechten Anlaß und alle
+Mädlen gelobten, der altmodischen Schwitt treu zu sein, alle Buben
+schwuren, wie ehrliche Brüder zusammenzuhalten und die Mädlen in Ehren hoch
+zu halten. Erst Abends zehn Uhr schied die schwarze Schwitt vom Hirzen und
+vom Dickrothen, doch kein Betrunkener war zu hören oder zu sehen und den
+ganzen Sommer redeten Alt und Jung vom Ehrentage, welchen der Benedict
+seinen Herzkäfern bereitete.
+
+Am nächsten Sonntage legt der Duckmäuser der Susanne, die mit ihren
+Kameradinnen aus der Kirche kommt, die Hand auf die Achsel, schaut sie gar
+ernsthaft an und fragt. "Habt ihr recht andächtig gebetet, Mädlen?"--"Ja!"
+--"Auch für mich?"--"Wir beten Alle für dich!" rufen die Mädlen treuherzig
+und dem Duckmäuser wirds wohler ums Herz.
+
+Er hat sich nichts merken lassen, doch bang und schwüle ist's ihm seit dem
+letzten Sonntag und finstere Ahnungen, als ob ihm etwas Großes, Ungeheures
+bevorstehe, schnüren seine Brust zusammen; jetzt thut ihm das Geständniß
+der lieben Kameradinnen gar wohl und gießt Muth in seine Seele!" [Seele!]
+... Daheim hat der jüngere Bruder schon das Papier gerichtet und die Feder
+gespitzt, damit ihm der Benedict die Predigt dictire; der Benedict kommt
+und dictirt, doch guckt er wieder in Einem fort in eine Ecke und der Bruder
+muß heute gar zu oft fragen: "was kommt jetzt, was soll ich jetzt
+schreiben" und meint, er habe heute nicht recht aufgepaßt, sonst müßte er
+nicht so lange studiren.
+
+Plötzlich fragt der Vater draußen mit einer Stimme nach dem Benedict,
+welche diesen zittern macht; rasch öffnet er die Kammerthüre und ruft: "Was
+ist's, was gibts?" Die Frage ist noch nicht recht heraus, fühlt sich der
+Benedict am Titus gefaßt, hageldichte Schläge versetzt ihm der Jacob mit
+einem vierfachen, reichlich mit Knöpfen versehenen Seilstumpen und brüllt.
+"Wo hast du Geld geliehen?" "Hab' keines geliehen!" heult der Benedict,
+krümmt sich unter den Eichenfäusten des Vaters und immer wüthender haut
+dieser zu und haut zu, wie der Sohn schon auf dem Boden liegt, denn Weste
+und Wamms hatte dieser ausgezogen und trug nur ein Hemd und dünne
+Sommerhöslein, so daß kein Hieb verloren ging. "Ach, Vater, sechs Kreuzer
+habe ich geliehen!"--"Bei wem, Schlingel!"--"Beim Aloys!"--"Wo hast noch
+geliehen?"--"Beim Bernhard!"--"Wieviel?"--"Nur zwölf Kreuzer!"--"Wo hast
+noch geliehen?"--"Beim Stoffel!"--"Wieviel?"--"Achtzehn Kreuzer!"--"Und wo
+noch?"--"O Jesus, Maria und Joseph, laßt mich gehen, beim Bernhardt!"--
+"Wieviel?"--"Einen Sechsbätzner!"
+
+Auf solche Weise ging das Examen fort, der Jacob bebte vor Zorn und Wuth,
+doch seine Kräfte gaben nach von lauter Zuschlägen, der Benedict aber war
+Eine Beule von oben bis unten und sein Blut rann ihm über das Gesicht und
+den zerfleischten Leib. Athemlos und keuchend steht der Jacob, vermag kaum
+den Seilstumpen mehr in der Hand zu halten, mit heiserer Stimme gibt der
+Benedict die letzte Antwort: "Ach, beim Liebhardt hab' ich zwei Gulden
+geliehen!"--und aufs neue schlägt der Vater zu, daß sich der Sohn wie ein
+Wurm auf dem Boden krümmt, schreckensbleich steht der Bruder, die
+Schwestern weinen vor Mitleid, die Theres bringt vor Angst und Schrecken
+kein Wort hervor und hat den Muth zum Abwehren verloren, denn sie kennt
+ihren Alten und weiß, wozu ihn die Wuth bringen kann.
+
+Das Blut Benedicts, der keine Stimme und keine Thränen mehr zum Weinen hat,
+gibt ihr endlich den Muth, in den Augenblicke, wo alle Kinder um Hülfe für
+den Bruder schreien, aus der Küche zu springen, dem Vater, der mit beiden
+Händen seinen Strick hält und zuhaut, unter den Streich zu fahren,
+denselben am Arme zu packen und zur Menschlichkeit zu ermahnen. "Spring
+fort, spring fort, Benedict!" rufen angstvoll die Geschwister und der
+Benedict springt nicht fort, doch wankt er zur Thüre und zur Hinterthüre
+hinaus in den Obstgarten und von da über den Zaun ins Feld.
+
+Ohne Kappe, ohne Halstuch, ohne Wamms und Weste, ohne Schuhe und Strümpfe
+und dazu ohne Geld wankt der Mißhandelte von Wenigen gesehen und von Keinem
+erkannt, dem Weidengebüsche am Mühlenbache zu.
+
+Dies waren Folgen des Ehrentages der schwarzen Schwitt.
+
+Der Vater hatte nicht gewußt, daß sein Sohn die Zeche bezahlte; diesen
+Morgen wandelt der Liebhard mit ihm und andern Nachbarn aus der Kirche, das
+Gespräch kommt auf den Benedict, Alle loben denselben und der Liebhardt
+sagt: "Darfst glauben, Jacob, daß ich deinem Buben die zwei Gulden nicht
+geliehen hätte, wenn er ein liederlicher Mensch wäre!"--"Was? zwei Gulden
+hat er bei dir geliehen?" fährt der Jacob auf und macht Augen wie
+Pflugräder.--"Hätte ich das Maul gehalten!" denkt der Liebhardt, der jetzt
+erst merkt, der Jacob wisse nichts um die Sache, doch kann er nicht als
+Lügner dastehen, erzählt die Sache ausführlich und der _grundehrliche_
+Jacob schämt sich in den Boden hinein, der _finstere_ Jacob aber eilt
+heim, flicht Knoten am Seilstumpen und ist gerade fertig geworden, als sein
+Opfer den Kopf zur Kammerthüre herausstreckte.
+
+Der Duckmäuser hatte nicht nur beim Liebhardt, sondern noch bei vielen
+Andern, welche keine Buben oder Mädlen bei den Schwitten hatten, Geld
+geliehen, wußte nicht, daß der Vater nur vom Liebhardt etwas wisse, gestand
+zuerst den kleinsten, dann größere, allmälig alle Posten ein und mit den
+Zahlen wuchs so der Grimm des Vaters. Als dieser der Theres Alles erzählt,
+steht die gute, grundehrliche Frau gleich einer Bildsäule da und würde
+ihren Mann zum erstenmal einen Lügner gescholten haben, wenn sie die
+Geständnisse ihres "Augapfels" theilweise in der Küche draußen nicht selbst
+gehört hätte. Beim Mittagessen erschien kein Benedict, in der Vesper fehlte
+er auch und den ganzen Tag bis in die tiefe Nacht hinein war ein Geläufe
+der Buben und Mädlen der schwarzen Schwitt zum Elternhause ihres
+"Herzkäfers", doch vom Benedict wußte Niemand ein Sterbenswörtlein, seine
+Eltern und Geschwister verriethen aber auch nicht, wie er geschlagen worden
+sei und warum.
+
+Noch um zehn Uhr Abends geht die Margareth mit der Susanne, Marzell und
+Anderen durch das Oberdorf, sie reden lauter Liebes und Gutes vom
+Duckmäuser, eine dunkle Gestalt schleicht hinter ihnen eine Weile her und
+dann verschwindet sie zwischen den Gartenzäunen.
+
+Es ist der Benedict, der seiner Wohnung zutrollt, die beiden kleinern
+Schwestern stehen noch im Hofe, eilen freudig auf ihn zu und berichten auf
+seine leise Frage, der Vater liege im Bett, die Mutter jedoch sei noch auf,
+sie habe immer geweint und gefürchtet, er werde sich den Tod anthun, doch
+wisse kein Mensch, was der Vater gethan habe.
+
+Die letzte Versicherung tröstet den Duckmäuser, wenns nur Niemand weiß,
+dann steht alles gut! wie lieb ihn die Mädlen haben und wie hoch ihn die
+Buben der schwarzen Schwitt in Ehren halten, das hat er auf dem Heimwege
+erfahren!
+
+Am Bache hat er seine schwarzblauen Beulen und blutigen Striemen wehmüthig
+betrachtet, sich dann ins Wasser gelegt und an den Wunden gerieben,
+hoffend, dieselben würden eher unsichtbar werden, dann legte er sich
+zwischen den Weiden nieder und schlief mit hungrigen Magen bis zum Abend,
+wo er noch sitzen blieb, bis es recht finster wurde und dann fortschlich,
+um zu sehen, wie es im Dorfe und daheim aussehe.
+
+"Gang, Hannesle, lang mer jetzt die Kleider zum Kammerfenster heraus und
+bring mein Geld; es liegt hinter dem Getüchtrog in einem dunkeln Lumpen
+eingewickelt!" sagt der Duckmäuser; der Hannesle geht, berichtet der
+Mutter, der Bruder sei Gottlob wieder gekommen, das Mütterchen bringt das
+Geld selbst und fragt, wozu er so viel geliehen.
+
+Ihr gesteht er Alles und sie sieht ein, daß der Augapfel Geld lieh, um die
+Altmodischen der schwarzen Schwitt im Dorfe gegen die liederlichen und
+allgemach verrufenen Rothschwittler in Oberhand zu halten, vergißt ihre
+Schaam und würde die Beulen ihres Augapfels gerne nicht nur aus dessen
+Gesicht, sondern von seinem ganzen Leibe mit ihren Zähren abgewaschen
+haben. Sie will ihm Essen holen, er will nichts und sagt, er verdinge sich
+noch heute Nacht in der Stadt oder sonst wo und nur das feierliche
+Versprechen der Mutter, beim Vater ganz gutes Wetter zu machen, bringt ihn
+davon ab, doch bleibt er nicht daheim, sondern geht wieder fort.
+
+Eine halbe Stunde später kommt der Duckmäuser zum Dorfe, torgelt und
+taumelt und redet mit sich selber wie ein Schwerbetrunkener und findet aber
+doch den Weg zu den Linden, wo noch Buben und Mädchen der schwarzen Schwitt
+stehen, denn das Verschwinden ihres Herzkäfers hat Alle in schwere Unruhe
+und Besorgniß versetzt und Mehrere suchen in den umliegenden Ortschaften
+ihr Haupt.
+
+Der Mond steigt über den dunkeln Bergen des Schwarzwaldes auf und leuchtet
+ins Thal, die Susanne erkennt den Duckmäuser, Alle springen ihm fragend
+entgegen und sehen seine Beulen und Striemen; er spiele die Rolle des
+Betrunkenen, wiewohl er im Pfarrdorfe drüben nur zwei Schöpplein schnell
+hinabstürzte; sie glauben, daß er heute fortgewesen, im Rausche unbesonnen
+gewesen sei, Händel angefangen und "Pumpes" bekommen habe.
+
+Dies war's, was er wollte, denn daß ihn seine Eltern so wenig verriethen,
+als die, von welchen er Geld geliehen, wenn er nämlich dieses Geld rasch
+zurückgebe, dessen war er gewiß.
+
+Der theuern Margareth, der holdseligen Marzell und dem herzensguten Vefele
+erzählte er die Sache vom Liebhardt selbst, doch wollte er auf dem Markte,
+wohin er jeden Donnerstag mit einem Korb voll Eier, Butter und dergleichen
+geschickt wurde, ein großes Unglück gehabt und die zwei Gulden gebraucht
+haben, um den Schaden vor dem strengen Vater zu verbergen!
+
+Er konnte als armer Bursche mit den paar rothen Batzen, welche die Mutter
+dem Vater für ihn abschwatzte, seine Anführersrollen nicht spielen, der Max
+würde ihn mit seinen Kronenthalern arg zu Schanden gemacht haben. Heimliche
+Schulden drückten den Benedict und seitdem er so gründlich erfahren, was
+der Vater von Schulden halte, wars ihm desto unlieber, weil die Mutter gar
+zu scharfe Augen machte, wenn sie den Marktkorb zurüsten half.
+
+Ohne dem Augapfel ein Freudlein in Ehren zu mißgönnen, blieb sie sehr
+sparsam und häuslich; seit der Geldgeschichte schien ihr auch ein Licht
+darüber aufgegangen, weßhalb der Benedict seit einiger Zeit manchmal in
+"Brandpeterle's" Haus schlich, welches im Punkte der Ehrlichkeit und in
+einigen andern dazu nicht im besten Geruche stand. Sie paßte gewaltig auf,
+wenn derselbe seinen Marktkorb auf den Kopf nahm und in die nahe Stadt
+marschirte, suchte zuweilen hinter dem Getüchtrog und in andern Winkeln und
+schüttelte den ergrauenden Kopf, obwohl sie niemals etwas Verdächtiges
+fand.
+
+Man munkelte im Dorfe hie und da von Schulden des Benedict, die rothe
+Schwitt meinte, "er habe es dick hinter den Ohren und sei halt der
+Duckmäuser", doch die Leute wurden nach und nach bezahlt und der rothen
+Schwitt das böse Maul gestopft.
+
+An einem Dienstag Abend sitzt der Benedict bei den Mädlen unter den Linden,
+da sagt die Marzell: "Gelt, du hast heute ein Pfund Butter bei der krummen
+Lisbeth für s' Baschi's Wittfrau gekauft?"--"Ja, warum sagst du's?"--"He,
+die Lisbeth hat dich bei einer ganzen Heerd Weiber ausgerichtet, habest ihr
+kein Geld für die Butter gegeben und nachher doch behauptet, du hättest sie
+bezahlt!"--"Wart'! der Lisbeth will ichs morgen sagen! Hab' ich je in
+meinem Leben um einen halben Kreuzer _betrogen?_" fährt der Benedict
+auf und geht bald ein bischen verstimmt heim.
+
+Am nächsten Markttage steht die krumme Lisbeth mit andern Weibern und
+Mädlen des Dörfleins auf dem Wochenmarkte und just neben einer
+Obsthändlerin. Auf einmal kommt der Benedict, kauft für zwölf Kreuzer Obst,
+gibt der Frau das Geld und geht.
+
+Eine Viertelstunde später kehrt er eilfertig zurück und fragt die Obstfrau
+schon von weitem: "Nicht wahr, bei Euch habe ich für zwölf Kreuzer Obst
+gekauft?"--"Ja, das habt Ihr!"--"Ich habe Euch ja 's Geld nicht gegeben?"--
+"Doch, doch, Ihr habts mir in die Hand gelegt!"--"Oh, das kann gar nicht
+sein, ich weiß es von meinem Gelde, die zwölf Kreuzer fehlen mir nicht!"
+
+Wer keine doppelte Bezahlung will, ist die blutarme Obstfrau, wer darob ein
+tüchtiges Geschrei anfängt, der Benedict und während alle Weiber recht
+aufpassen, sagt er und schaut auf die krumme Lisbeth hinüber. "So ist's!
+Die Eine will ihre Waare gar nicht, die Andere dagegen doppelt bezahlt
+haben! ... Für die halbe Stadt muß ich einkaufen; gehe ich nun auch einmal
+fort und vergesse in Gedanken das Bezahlen, so finde ich bald, wo es fehlt,
+wenn ich die Rechnung über mein Geld stelle! ... Doch zweimal, wie es
+vorgestern Eine mit ihrem Pfund Butter haben wollte, zahle ich nicht gern!"
+
+"Da sieht man wieder, wie man den Leuten Unrecht thut!" ließen sich die
+Weiber vernehmen und schauten auf die Lisbeth.
+
+"Ich hab's vorgestern gleich nicht geglaubt, der Benedict geht jetzt schon
+lange auf den Markt und hat sich noch nie etwas zu Schulden kommen
+lassen!["] meint die Apel.
+
+Abends hört der Duckmäuser von seinen Herzkäfern lauter Liebes und Gutes
+und einer ganzen Heerde Weiber hat die Lisbeth eingestanden, es sei leicht
+möglich, daß sie Benedicts Geld für die Butter verloren habe; ein Loch sei
+nicht in ihrem Rocke, doch habe sie das Geld in der Eile nicht in den
+Beutel gethan und vielleicht mit dem Schnupftuche weggeworfen.
+
+Sauer, blutsauer ließ sich's unser Held werden, bis die ärgsten Gläubiger
+zufrieden gestellt waren, Angst und Noth stand er genug dabei aus und fand,
+der Erwerb auf krummen Wegen gewähre dem Menschen sehr wenig Freude; er
+würde sich gern mit den paar Batzen begnügt haben, welche die Mutter ihm
+zusteckte, doch sollte er _jetzt_ vor dem Max zurücktreten, aufhören,
+an der Spitze der schwarzen Schwitt zu stehen und so die "Neumodischen"
+Herren im Dörflein werden lassen?
+
+Der Max besaß Geld wie Heu; nicht blos an hohen Feiertagen und besondern
+Gelegenheiten, sondern jeden Abend, den Gott gab, lebte die rothe Schwitt
+herrlich und in Freuden, sei es im Hirzen oder in Kunkelstuben, und wenn
+die schwarze Schwitt auch nicht groß thun, prahlen und unmäßig sein wollte,
+so gab es doch von Zeit zu Zeit Gelegenheiten zum Geldausgeben und der
+Benedict hätte es nicht sehen können, wie Maxens Rothe, Willibalds Luzie
+und Andere mit Geschenken überhäuft wurden, während die braven, treuen und
+lieben Mädlen der schwarzen Schwitt leer ausgingen.
+
+Wenn er jetzt zuweilen mit einem kleinen Marktkorbe auf dem Kopfe zum Ort
+hinausging, so wuchs der Korb merkwürdig in die Höhe, ehe er durch das
+Stadtthor keuchte und einige Weiber wollten wissen, das Wunder gehe ganz
+natürlich zu; gewiß war, daß der Benedict unterwegs seinen kleinen Korb
+abstellte, seitwärts vom Wege in das Weidengebüsch des Mühlenbaches trug
+und weit schwerer bepackt wieder hervorkam, sich vorher nach allen Seiten
+umsah, ob kein Unrechter in der Nähe sei und dann rascher als vorher der
+Stadt zulief. Die krumme Lisbeth mit ihren scharfen Augen bemerkte es wohl,
+andere Weiber wußtens bald; sie zogen den Benedict auf wegen seines
+Abstellens bei den Weiden und dieser merkte, daß Mutter Theres sammt andern
+ihres Geschlechtes und manchen Männern dazu seine Ehrlichkeit und
+Redlichkeit stark bezweifelten.
+
+Der Liebhardt war nicht allein beim Jacob gewesen, als die Geldanleihe zur
+Sprache kam, Andere mochten die Sache herum gesagt haben, Benedicts Eltern
+zahlten alle ihnen bekannten Gläubiger aus, diese merkten auch etwas, das
+Pfund Butter war auch noch nicht vergessen und das Dörflein lag nicht in
+einer Gegend, wo man gestohlen haben mußte, um für unehrlich zu gelten;
+eine wackere Lüge reichte dazu hin und der Marktkorb machte die Mutter so
+mißtrauisch, daß sich der Held der schwarzen Schwitt nicht mehr zu helfen
+wußte. Zuweilen kam jetzt wohl die Schwindsucht an sein Geldbeutelein, doch
+von Zeit zu Zeit besaß er Geld und so vorsichtig er mit dem Ausgeben
+desselben war, schüttelten doch manche den Kopf und meinten, der Max habe
+mit dem Namen "Duckmäuser" keinen üblen Einfall gehabt.
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+#DUCKMÄUSERS GLÜCKSSTERN ERBLEICHT.#
+
+
+ * * * * *
+
+An einem Sonntagmorgen tritt der Benedict aus der Kammer in die Stube, der
+Vater rasirt sich gerade hinter dem Ofen und tritt diesmal nicht so glatt
+und sauber wie sonst hervor, denn er hat sich im Eifer geschnitten oder vor
+innerer Bewegung gezittert, seine Stirn ist gefaltet und der Blick so
+finster, daß der Sohn bereut, durch das Löffelgeklirre der Mutter in die
+Stube gelockt worden zu sein.
+
+"Bist du gestern Nacht nicht wieder in Brandpeterles Haus gewesen?" fragt
+der Jacob und der Mund zuckt bei dieser Frage gar seltsam.--"Ja, ich war
+ein Viertelstündle dort und hab' geschwind die Geschichte vom Fortunatus
+mit dem Säckel und Wünschhütlein erzählen! müssen!" meint der Benedict
+kleinlaut.--"Woher hast du denn diese schöne silberne Uhr, die heute Nacht
+aus deinem Sacke rutschte?" fragt der Alte mit blitzenden Augen und
+zitternden Lippen und zieht die Uhr aus dem Kasten--"Ho, ich habe sie
+gefunden!"--"So was findet man nicht so am Wege! Kerl, was fängst Du für
+ein Leben an? Gib Acht, gib Acht, daß ich nicht hinter dich komme, 's geht
+dann anders als wegen dem Liebhardt!" donnert der Vater und schlägt die
+Eichenfaust auf den Tisch, daß die blechernen Löffel und zinnernen Teller
+in die Höhe springen und die jüngern Kinder ängstlich zusammenfahren.--
+"Alter, denk' an unsere Verabredung!" ermahnt die Theres, welche eine
+Schüssel voll gebratener Erdäpfel neben die dampfende Suppe stellt.--"Wo
+hast du die Uhr gefunden?" forscht der Jacob weit sanfter.--"Da und da."--
+"Bah, bah, weßhalb hast du sie denn verborgen? Weßhalb mußte ihr Picken
+erst dein Glück verkünden? Soll man das Maul halten, wenn man Etwas
+gefunden hat? Meinst du, es werde Niemand nach der Uhr fragen? Kerl, Kerl,
+nimm dich in Acht, heute gehst du mir nicht zum Hause hinaus, hast's
+gehört?["]--"Ja, ja!" versichert der zitternde Benedict und die Mutter
+wirft ihm einen Blick unaussprechlicher Angst und Bekümmerniß zu, denn sie
+ahnt, wie ihr Augapfel zu der schönen Uhr gekommen sein möge. Aus der
+Kirche bringt der Vater die Hiobspost, gestern Abend sei dem Melchior die
+Silberuhr, welche er an der Wand hängen hatte--weggefunden worden, der
+Benedict glaubt sein Todesurtheil zu vernehmen, doch flicht der Vater
+diesmal keinen Seilstumpen und versetzt dem Bueb nur gelegentlich einen
+Stoß, daß derselbe der Länge nach zu Boden stürzt und will einen Fußtritt
+oben drauf setzen, den die herbeieilende Mutter jedoch verhindert.
+
+Bei Nacht und Nebel trägt der Jacob die Uhr wieder dahin, woher sie
+genommen wurde, kommt unbeschrieen wieder heim, kann kein Wort reden vor
+Schmerz und Schaam, die Theres aber nimmt den Benedict in die Kammer, fällt
+vor ihm auf die Kniee und bittet ihn unter strömenden Thränen und mit
+aufgehobenen Händen, sich zu bessern und von dem Wege abzulassen, den er
+eingeschlagen.
+
+Bei allem, was dem Christenmenschen und Kindesherzen heilig ist, beschwört
+sie ihn, vor Gott und den Menschen ehrlich und rechtschaffen zu wandeln und
+bringt ihn zum Schwure, wieder ordentlich zu werden.
+
+Sie verspürt an Eiern, Butter und dergleichen, daß es dem Duckmäuser
+diesmal Ernst sei; sie kennt ihn inwendig wie auswendig und will Alles
+thun, um ihn auf dem rechten Wege festzuhalten. Sie weiß, es gäbe Eine im
+Dörflein, welche mehr über den Benedict vermöge, denn alle Geistlichen,
+Vater und Muster zusammengenommen, diese Eine hieß Margareth und zu dieser
+geht die tiefbekümmerte Theres, erzählt ihr, wie alle Ermahnungen,
+Warnungen, Schläge und andere Mittel den Buben nicht von Brandpeterles
+wegbringen könnten und wie es mit Melchiors Uhr zugegangen sei.
+
+Ob der unerwarteten und nie geahnten Nachricht erschrak die Margareth so
+sehr, daß sie den Benedict, für welchen sie freudig ihr Leben gelassen
+hätte, von dieser Stunde an nicht mehr liebte, sondern eher fürchtete, und
+später fürchtete wie selten ein Mensch gefürchtet wird. Sie verrieth
+Theresens Vertrauen mit keiner Silbe, blieb gegen dieselbe eine zärtliche
+Freundin und liebende Tochter, doch die Liebe für den Benedict war aus
+ihrem reinen, blutenden Herzen verschwunden, jeder Blick und jedes Wort und
+die Scheu vor dem verdächtigen Geliebten verrieth es jetzt schon.
+
+Am dritten Abend darauf rüstet der Benedict seinen Marktkorb, die Mutter
+sieht ihm mit nassen Augen zu, denn er sieht gar bleich und zerstört aus,
+thut wie Einer, der nicht mehr bei sich selbst ist und hört stumm die
+Aufträge herzählen, welche er morgen befolgen soll; schon um 3 Uhr will er
+wie gewöhnlich fortgehen und um diese Zeit pflegt die Mutter noch ein
+bischen zu schlafen.
+
+Der Marktkorb ist gepackt, der Benedict setzt die Kappe auf und nimmt die
+Pfeife von der Wand. "Wohin willst du noch?" fragt die Mutter.--"Zu den
+Andern!" brummt der Sohn kurz und grob.--"Nein, du gehst jetzt nicht zu den
+Andern, sondern bleibst da! ... Wenn gute Worte nichts nützen, dann will
+ich auch anders mit dir anfangen!" ruft die schwergekränkte, erzürnte
+Mutter.
+
+Der Vater sitzt am Tische, sucht in einem alten Kalender den Tag, an
+welchem die kleine Ammerey zur Welt kam, doch jetzt steht er auf und langt
+nach den Stricken, die neben dem großen Legendenbuch am Kasten herabhängen,
+der Duckmäuser jedoch schießt wie eine Kugel aus dem Rohr zur Thüre hinaus
+in die stockfinstere Nacht hinein.
+
+Einige Minuten später geht er in das Haus des Brandpeterle, in welchem die
+rothe Schwitt jetzt ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Der Brandpeterle
+sitzt nicht in der Stube, denn er liegt schon längst drüben auf dem
+Kirchhofe, doch dessen verrufene Wittwe setzt eben zwei Krüge Wein auf den
+Tisch, ihre hübsche, doch leichtsinnige Tochter, die Hanne, sitzt auf dem
+Schooße des Willibald, der mit fünf andern Buben und fünf Mädlen der rothen
+Schwitt just vom Duckmäuser redet, denn dieser wird erwartet. An diesem
+Abend wird das bisherige Haupt der schwarzen Schwitt vollends zum Haupte
+der rothen ernannt, die Hanne zur "ehelichen Geliebten" desselben gemacht
+und der erste Beschluß des Neubekehrten heißt: Brandpeterles Haus bleibt
+Hauptquartier der rothen Schwitt, die ganze Jungfrauschaft der schwarzen
+ist im Bann!
+
+Etwa um die Zeit, wo Benedict sonst den Marktkorb auf den Kopf zu nehmen
+pflegte, tritt er aus Brandpeterles Haus und geht nicht heim, um den Korb
+zu holen, sondern zum Dörflein hinaus und am Kreuze vorüber, wohin er vor
+drei Jahren in der Frohnleichnamsnacht die Maien gebracht.
+
+Er zieht die Kappe nicht herab, sondern schaut nach der andern Seite.
+
+Es wird Abend, wird wieder Tag, wird Sonntag, Dienstag und noch einmal
+Dienstag, vom Benedict ist nichts zu sehen und zu hören, die Hanne mit der
+rothen Schwitt wartet so vergeblich wie die schwarze. Am folgenden Sonntag,
+während Alles in der Kirche ist, was nicht ganz notwendig in der Küche oder
+bei der Wiege oder im Krankenbette bleiben muß, tritt der Duckmäuser wieder
+über die Schwelle seines Vaterhauses, die Mutter steht am Heerde und kehrt
+sich um, doch sie fährt erschrocken zusammen und findet keinen Gruß.
+
+Ohne ein Wort zu sprechen, geht er in die Kammer, zieht ein frisches Hemd
+und die Sonntagskleider wieder an, nimmt einen schweren Geldbeutel aus dem
+Sacke der alten Hosen, steckt denselben ein und geht mit einem barschen
+"Adje" wieder zum Hause hinaus.
+
+Kein Kundschafter erfuhr, wohin der Benedict gegangen, doch wie es dunkel
+wird, kommt er mit Zweien von der rothen Schwitt das Dorf herauf zur Linde,
+die Mädchen der schwarzen Schwitt drängen sich nicht um ihn herum, wie dies
+sonst immer der Fall war. "Wo ist d´ Margareth?" fragt er--"Wir wissens
+nicht! ... sie wird daheim sein!" antworten Einige--"Und Ihr, was thut Ihr
+da? Ihr könntet auch daheim sein!" sagt er und geht dann das Dorf weiter
+hinauf.
+
+Im Hofe des Brandpeterle sitzen die Dorothea, Klara, die Sabine, welche aus
+der "Feinsten, Fleißigsten und Sittsamsten" auch eine Helden der rothen
+Schwitt geworden ist, vielleicht aus Scheu vor dem Oberhaupte der
+Schwarzen.
+
+Der Duckmäuser will mit den Mädchen scherzen, die Gefährten dagegen halten
+ihn eifersüchtig ab. "_Diese_ gehen _dir_ nichts an, dir gehört
+die Hanne, laß diese sitzen, wo sie sitzen!"--"Was? Ihr habt mir nichts zu
+befehlen, ich kann hingehen, wohin ich will und Ihr, wohin Ihr wollt!"
+
+Mit diesen Worten kehrt der Benedict den Rücken und zu der Linde zurück, wo
+Mädlen der schwarzen Schwitt einsilbig beisammensitzen und kein Lied
+anstimmen.
+
+"Guten, guten Abend, ihr Lieben! Was macht ihr Lieben?"--"Ach, was machen
+wir! ... was denkst du aber auch! ... laß jetzt den Karren rennen, wohin er
+rennt!"--"Was sagt denn die Margareth?"--"Ach, was sagt sie! ... was wir
+halt auch sagen, daß Solches kein Mensch von dir geglaubt hätte! ... wo
+bist denn gewesen die ganze Zeit?"--"Weiß es selber nicht!" "Bleibst jetzt
+wieder da?"--"Dableiben? bei wem?"--"He, bei wem? bei deinen Leuten!"--
+"Heute und morgen noch nicht!"--"Ach, thue es doch der Margareth und uns zu
+lieb und folge deinen Leuten!"--"Der Margareth? Wißt Ihr nicht, daß sie mir
+den Abschied gegeben hat? daß ich jetzt ein Rothschwitter bin und die Hanne
+meine Herzige ist?"--Die Mädchen bleiben stumm, einige fahren mit der
+Schürze über die Augen, andere weinen laut.
+
+"Wenn Ihr zu der Margareth kommt, so sagt ihr, _sie_ habe mich zum
+Herrn in´s Brandpeterles Haus gemacht, gute Nacht!" sagt der Benedict mit
+bebender Stimme, ein ingrimmiger Schmerz wühlt in seinem Herzen und droht
+ihn zu erwürgen, er vermag kaum das "gute Nacht" noch herauszubringen,
+kehrt sich ab und geht. "Benedict höre, ich muß dir noch Etwas sagen!" ruft
+ihm die Susanne nach.--"Was weißt noch?" fragt er mit unsicherer Stimme.--
+"Ich wills dir allein sagen!"--"Gut, Susanne, ich komme noch einmal zu dir
+heute Abend!"
+
+Um 11 Uhr klopft Einer am Kammerfensterlein der Susanne, diese öffnet und
+der Benedict fragt, was sie ihm denn zu sagen habe.
+
+Dieses schwache, einfältige Mädchen sagt in einer stundenlangen Rede Alles,
+was Verstand, Ehre, Rechtschaffenheit und Gottesfurcht dem Zuhörer zu sagen
+vermochten; jedes ihrer Worte dringt tief, schmerzlich tief in seine Seele,
+sie fühlt, wie seine Hand in der ihrigen bebt und nimmermehr würde die
+Predigt des begeistertsten Kanzelredners, nimmermehr die Thränen der Mutter
+solch erschütternden Eindruck auf ihn gemacht haben, wie die Rede des
+einfachen Bauernmädchens, in dessen unansehnlichem Körper eine edle,
+herrliche Seele wohnte.
+
+Stumm hört er die Susanne an, zuletzt schließt diese mit den Worten. "Wir
+Mädlen sind _alle_ bei deiner Mutter gewesen und sie hat uns
+versprochen, dir solle nicht das geringste Leid widerfahren, wenn du nur
+ihr und dem Vater wieder folgen wollest! ... Jetzt sage mir was du thun
+willst!"
+
+"Liebe Susann, ich kann nicht mehr hier bleiben, ich bin vom ganzen Dorfe
+verachtet!" meint der Benedict düster.
+
+"Nein, du bist nicht verachtet, Alle haben Mitleid mit dir und von dem, was
+deine Mutter der Margareth, gesagt hat, wissen nur wir vier: ich, das
+Besele, die Marzell' und die Margareth! Wir haben nirgends ein Wörtlein
+gesagt und werden keines sagen, du weißt, daß wir dir treu sind!"
+
+"Aber die Margareth?"
+
+"Auch sie vergißt dir Alles und ist nicht mehr böse, wenn du jetzt folgen
+willst! ... Sie ist die ganze Zeit nicht aus dem Hause gekommen, hat nur
+geweint und wenn du noch jetzt zu ihr gehst, wird sie dir das Nämliche
+sagen, wie ich!"
+
+Verzweiflungsvoll starrt der Benedict zu Boden und schweigt, die Susanne
+bittet noch einmal, Besserung zu versprechen und ermahnt ihn jetzt
+heimzugehen und wieder redlich zu werden, sie wolle immer für ihn beten.
+
+"Susanne, ich will dir folgen, will heute Nacht noch heimgehen und meine
+Leute um Verzeihung bitten, aber--es nützt nichts, _es ist zu spät!_
+... Gott behüte dich liebe Freundin!"
+
+Verzweiflungsvoll schaut der Benedict zum sternenreichen Nachthimmel empor,
+wischt zwei große Thränen ab und geht, geht jedoch nicht heim, sondern
+zuerst vor das Kammerfensterlein des Besele, dann vor das der Marzell, hört
+bei Beiden dasselbe, was die Susanne gesagt und pöpperlet mit bangem
+klopfenden Herzen endlich noch bei der Margareth an.
+
+Diese benimmt sich ganz so, wie ihre besten Freundinnen es vorausgesagt
+haben, versöhnt sich mit ihm und schließt ihre Predigt also:
+
+"Wie oft, wie oft, Benedict, hat das schneeweiße Bäbele selig von dir
+gesagt, es sei nicht alles Gold, was glänze! ... Sei aber fortan jetzt brav
+und redlich, ich bitte dich um Gotteswillen, Allerliebster! ... Denk´ jetzt
+an unsern Herrgott, bete und arbeite, wie dein Vater, der brave Jacob sagt
+und thut! ... Laß solche Sachen bleiben, dadurch wird kein Mensch
+glücklich, wie du ja selbst schon oft gesagt hast!"
+
+Schon bricht der Tag an, die Schwalben zwitschern, es ist Zeit, den
+Marktkorb endlich zu holen, er geht heim, Vater und Mutter sprechen mit
+ihm, als ob gar nichts vorgefallen wäre, Benedicts Entschluß zur Besserung
+steht fest, ist aufrichtig, aber--zu spät!
+
+Drei Tage früher und der Duckmäuser hätte wohl den armen, stets
+verachteten, ungeliebten und durch die Lieblosigkeit der Menschen zumeist
+verderbten Zuckerhannes niemals kennen lernen!
+
+Wunderbar ist die Macht, welche von einer unschuldigen, tugendhaften,
+christlich gesinnten Jungfrau nicht nur auf das Gemüth eines unverderbten,
+sondern auch eines verderbten, ja lasterhaften Jünglings ausgeübt wird. Die
+hohe Verehrung, welche ächte Katholiken der Jungfrau Maria zollen, wurzelt
+im tiefsten Geheimniß des menschlichen Herzens und wer die Liebe der
+jungfräulichen Mutter nicht versteht, lernt nur schwer die Liebe des
+Gottessohnes zum Menschengeschlechte verstehen. Ein Verächter Marias ist
+gewöhnlich ein schlechter oder mindestens sehr befangener Christ und wer
+die Jungfrauen nicht achtet, ein roher und noch häufiger ein schlechter
+Mensch. Schade, daß heutzutage christlich gesinnte Jungfrauen nicht
+häufiger sind! Hat Satan nicht zuerst die Eva und dann erst, als diese
+gesündigt hatte, durch sie den Adam verführt? Hat die Susanne, welche noch
+lebt und über den universellen Sieg der rothen Schwitt im Dörflein trauert,
+nicht den grenzenlosen Leichtsinn und tief eingewurzelten Hochmuth des
+Benedict in Einer Stunde gebrochen? Wie wäre er sonst unter das Fensterlein
+der Margareth und nach Hause gekommen? ... Mit dem Marktkorbe auf dem Kopfe
+wandert Benedict wiederum der Stadt zu, zuerst holt ihn das Besele, dann
+die Marzell und zuletzt auch die Susanne auf dem Wege ein, alle drei
+sprechen leise und angelegentlich mit ihm und stumm hört er ihre Reden an,
+antwortet zuweilen nur mit einem schmerzlichen: Ach, ich!--
+
+Die "Alltagsmarktweiber" des Wochenmarktes stecken ihre Köpfe zusammen und
+verwundern sich ebenso sehr über die fremdgewordene Erscheinung des
+Benedict als über das nachdenkliche Gesicht und zerstreute Wesen desselben,
+denn heute bringt er auch nicht einen seiner sonstigen Marktwitze und
+fröhlichen Späße vor.
+
+Auf dem Wege waren ihm noch früher als das Besele drei Gensdarmen begegnet;
+diese gingen seinem Dörflein zu, ein schwüles, banges, unheimlichem Ahnen
+erfüllte seine Seele, er sah immer nur die drei Gensdarmen, welche dem
+Hause seiner Eltern zugingen und hörte nur immer, wie dieselben nach ihm
+fragten!
+
+Er verkaufte den Marktkram und ging dann in die Apotheke, um Arznei für
+sein krankes Brüderlein zu holen. Ihm folgt jedoch einer der drei fatalen
+Gensdarmen und als Beweis, daß derselbe bereits wieder aus dem Dörflein
+komme, folgt auch der kleinere Bruder, der Hannesle deutet bleich und
+zitternd auf den Aeltesten und sagt: das ist unser Benedict! ... Der
+Hannesle wartet auf die Arznei, der Verhaftete übergibt demselben den Korb
+sammt dem Marktgelde und wird vom Gensdarmen in das Amtsgefängniß geführt.
+Man fand nicht mehr bei ihm, was man suchte, doch er dachte an die
+verflossene Nacht, gestand seine ganze Schuld dem Assessor, welchem er
+vorgeführt wurde und kehrte noch am Abend desselben Tages in sein Dörflein
+zurück.
+
+Der Jacob schmierte gerade ein Pflugrad, als er seinen Ungerathenen kommen
+sah, eilte zum Hause, stellte sich neben die Theres und beide erklärten
+einstimmig, _er_ habe kein Elternhaus mehr, sei für immer von ihnen
+verstoßen und sie wollten vergessen, jemals einen Sohn gehabt zu haben, der
+Benedict heiße.
+
+Diese furchtbare Erklärung brachte den Duckmäuser nicht außer sich, er
+behauptete, derjenige gar nicht zu sein, welchen die 3 Gensdarmen gesucht
+hätten; seine Unschuld sei gleich erkannt und deßhalb sei er auch gleich
+wieder freigelassen worden nach dem ersten Verhöre. Auf solche Weise
+_erschlich_ er den Eintritt ins Elternhaus.
+
+Viele Bewohner des Dörfleins jedoch glaubten nicht an seine Unschuld,
+bürdeten ihm zehnmal mehr auf, als er jemals gethan hatte und so wenig sich
+die Mehrzahl scheute, Ehre zu geben wem Ehre gebührt, so wenig scheute sich
+dieselbe, ihren Argwohn und ihre Verachtung dem Benedict ins Gesicht hinein
+zu werfen.
+
+Als ihm die Mutter ebenfalls den Markt und die häuslichen Arbeiten abnahm
+und dem Gregor übergab, zugleich nirgends einen Schlüssel mehr stecken
+ließ, wo etwas zu holen war, da entleidete dem Benedict das Leben im
+Elternhause und er wäre fortgegangen, wenn die Mädchen ihm nicht in dieser
+Zeit Proben wahrer Freundschaft und Liebe gegeben hätten. Diese scheuten
+weder Muthmaßungen noch Sticheleien und böse Nachreden, theilten ruhig und
+freudig seine Verachtung, gingen offen mit ihm um, kamen zur Mutter Theres,
+um diese zu trösten, zu beruhigen und derselben eine freudenvollere Zukunft
+zu versprechen, insofern solche von ihrem Aeltesten abhänge. Der Duckmäuser
+hatte die arglosen, unschuldigen Mädchen leicht von seiner Schuldlosigkeit
+überzeugt und sie glaubten an seinen guten Willen zur Besserung. Er hielt
+sich möglichst fern von den Leuten, seufzte im Stillen, denn Ruhe blieb
+seinem Herzen fremd. Böses erwiederte er nicht mit Bösem, nahm Alles in
+Demuth hin, betete viel und nach einiger Zeit gab es auch Stunden, wo er
+selbst an eine bessere Zukunft glaubte. Was thut, hofft, fürchtet ein
+junger Mensch nicht in arger Bedrängniß?
+
+Die treuen Mädchen, welche zur altmodischen Schwitt gehörten, standen mit
+ihrer Treue vereinzelt, denn die meisten Buben und Mädlen ihrer Parthei
+hielten das stille, ruhige, demüthige Benehmen des außer Kredit gekommenen
+Oberhauptes meist nur für einen Akt neuer Verstellung. Dagegen begegnete
+die rothe Schwitt dem Duckmäuser so freundlich, zuvorkommend und
+wohlwollend wie noch nie, denn sie glaubte, jetzt oder nie sei der rechte
+Augenblick da, um ihn ganz an sie zu fesseln.
+
+"Wie lange werden die treuen Mädchen der alten Schwitt noch zu dir halten?
+Wie lange wird es dauern, bis der letzte und ärgste Schlag im Hause
+geschieht? Bis du von den Besten unter den Guten verachtet, verlassen, aus
+dem Elternhause verstoßen sein wirst? Sind dann alle Deine Anstrengungen
+nicht vergeblich gewesen? Sei pfiffig, Benedict, bei der rothen Schwitt
+winkt Freude und Genuß, _gerade jetzt_ ist es die rechte Zeit zum
+festen Anschluß an dieselbe! Leben die Buben und Mägdlein der rothen
+Schwitt nicht auch im heimathlichen Dörflein? Haben sie nicht ihre Eltern
+hier, Verwandte und Gesinnungsgenossen genug in den umliegenden Dörfern?
+Stelle dich an die Spitze der rothen Schwitt, mache das Leben derselben zur
+Mode, dann wird die allgemeine Verachtung aufhören, sie muß aufhören!" Also
+flüstert in bangen, schlaflosen Nächten der Versucher dem Benedict ins
+Herz, mächtig kämpft die Erinnerung an die Nacht des Fensterleins, mit
+letzter Kraft die Liebe zur Margareth und deren Freundinnen gegen jene
+Stimme an--er erlebte grausam qualvolle Stunden, der unglückliche
+Duckmäuser! ... "Fort, fort von hier, das ist meine einzige Rettung!" sagt
+er an einem Sonntagmorgen zu sich selbst und geht.
+
+Nach der Vesper steht er jedoch mit dem Willibald, der ihn eine Stunde vom
+Dörflein traf und zur Umkehr bewog, unter der Linde und sein letztes Wort
+heißt: Ihr dürft auf mich zählen, Willibald, ich komme bestimmt!
+
+Nach dem Abendessen schleicht er ohne Wamms und Kappe zur Thüre hinaus in
+den Garten; hier hängt Wamms und Kappe an einem Rosenstocke, er zieht sich
+an, setzt die Kappe recht aufs linke Ohr und nach einigen Minuten steht er
+in der Mitte der rothen Schwitt, welche insgesammt im Hauptquartier beim
+Brandpeterle sitzt und ihn jubelnd bewillkommt.
+
+Die Hanne mit glühenden Bäcklein holt sogleich einen Hafen voll vom Alten,
+ihre Mutter überreicht ihm die Schlüssel zum Keller und zum Speicher, zur
+Fleischkammer und zum Geldkasten, erklärt ihn zu ihrem Eidam und spricht:
+
+"Hab's schon oft der Hanne gesagt, sag's täglich, Dich und sonst keinen
+Andern will ich im Haus haben, denn Keiner ist im ganzen Revier, der dir
+gleicht! ... Hast ganz Recht gehabt, ganz Recht gehabt, wenn du nur einen
+ganzen Maltersack voll, Maltersack voll bei so einem reichen Geizhals
+erwischt hättest! ... Man muß nicht so dumm sein, nicht so dumm sein, wenn
+man dazu kommen kann! ... Ich hab' eben lauter Esel, der Sepp, der Sepp, er
+muß bei dir lernen!"
+
+Toll und bunt geht es zu beim Brandpeterle, die rothe Schwitt rast vor
+Freuden über das neue Oberhaupt, selbst der Max hat allen Groll vergessen,
+doch schon um halb neun steht der Benedict auf, um fortzugehen.
+
+Alle erklären sich dagegen, er bleibt fest und die Alte meint: "Was, du
+willst fort? fort von deiner Schwiegermutter? Willst halt noch zu deiner
+Schläferin, gelt? ... Möcht' nur auch wissen, was du denkst! ... Du der
+lustigste Bueb im Dorf, im Dorf, magst mit einem so todten Mädle gehen, wie
+die Margreth eines ist, während die vornehmsten Mädlen, wie meine Hanne,
+die Hanne dort, die Finger nach dir lecken!"
+
+Vergeblich jedoch beschwört die Schwiegermutter den Eidam zum Dableiben,
+vergeblich ruft sie:
+
+"Hanne, schenke ihm ein, er darf nicht fort! ... Du behälst ihn bei dir
+heute Nacht und wenn seine fromme Mutter auch allen Heiligen die Füße
+abrutscht!"
+
+Doch der Duckmäuser geht, findet die fromme Mutter mit seinen treuen
+Freundinnen auf der Staffel des Hauses sitzend; sie fragen ihn, wo er
+gewesen sei, er gibt eine ausweichende Antwort, doch die Dasitzenden
+errathen die Wahrheit, ohne ihren Gedanken zu offenbaren, er redet wenig
+und legt sich bald zu Bette.
+
+Von nun an schwankt er haltlos hin und her, nirgends hat er sein Bleiben,
+auch bei der rothen Schwitt bleibt er nie lange und kommt nur, wenn er die
+bösen Geister, welche ihn plagen, im Wein und bei der Hanne ersäufen will,
+sucht dann in der Hölle Ruhe und Frieden und findet stets das Gegentheil
+davon.
+
+Der Mutter und den treuen Mädlen entgeht seine Haltlosigkeit nicht, sie
+bieten alle Macht ihrer Zärtlichkeit und Liebe auf und bringen ihn wirklich
+dazu, das Haus des Brandpeterle zu meiden, der Hanne und der ganzen rothen
+Schwitt mit Verachtung entgegen zu kommen. Aus dem leichtsinnigen Benedict
+scheint ein ernster, rechtschaffener Mann werden zu wollen, die Mutter und
+die Margareth glauben ihren Herzkäfer Gott und der Tugend gerettet zu
+haben, doch an einem Freitag Morgen tritt ein Zweifarbiger, nämlich der
+Amtsdiener in die Stube und meldet, der Benedict habe morgen früh um 9 Uhr
+vor Amt zu erscheinen.
+
+Derselbe stand gerade beim Hirzenwirth im Taglohn, erfuhr von der Einladung
+nichts, bis er Abends spät nach Hause kam.
+
+Da geht das Donnerwetter los, die Eltern meinten, er habe wieder irgendwo
+einen schlechten Streich gemacht und es fehlte nicht viel, so würden sie
+ihn noch in dieser Nacht fortgejagt haben.
+
+Mit bangem Herzen geht der Duckmäuser am folgenden Morgen vor Amt in die
+Stadt und macht den Rückweg erst wieder nach vier Wochen, weil der
+Gefängnißwärter nichts vom Heimgehen wissen will, bevor die Strafe
+erstanden sei.
+
+Während dieser Zeit saß die Mutter oft gar traurig und niedergeschlagen am
+Abend mit der Margareth, dem Vefele, der Marzell und der Susanne auf den
+Staffeln und gegen alle Tröstungen unzugänglich, sagte sie hundertmal:
+
+"Er hört nicht auf zu lügen, hierin liegt der sicherste Beweis, daß er sich
+nicht ändern will! Er hat über unser Haus jetzt eine Schmach gebracht,
+welche nie wieder hinwegkommt, so lange er darin ist, darum soll er auch
+nie wieder in dieses Haus treten, wenigstens so lange ich am Leben bin!"
+
+Die Mädchen meinten, Benedicts Strafe sei ja nur eine Folge des gewiß
+abgelegten Leichtsinnes, die Mutter habe ihm nach der Rückkehr von der
+mehrtägigen Wanderung Alles verziehen und dürfe also nicht so hart sein,
+wenn sie gerecht handeln wolle, doch Alles half nichts und wenn Theres
+nichts mehr zu erwidern wußte, begann sie zu seufzen oder zu schimpfen.
+
+An einem Mittwoch Morgen kommt der Benedict durch den Garten auf das Haus
+zu und steht auf der Schwelle der Hinterthüre; die Mutter stand am Heerde,
+jetzt wendet sie sich um, ihre Augen sprühen Feuer, sie eilt ihm entgegen
+und ehe er sich's versieht, spritzt das Blut aus einer Wunde an der Stirn
+und dann schlägt sie die Thüre vor ihm zu mit den vernichtenden Worten:
+
+"Du, Galgenstrick, kommst nimmer über die Schwelle dieses Hauses, so lange
+ich noch schnaufe! Wirst genug haben an diesem Willkomm, kannst damit
+hingehen, wohin du willst, mich _aber nenne nie mehr deine Mutter!"_
+
+Sie hat ihrem Sohne den Abschied mit einem scharfkantigen Holzscheite
+gegeben und er wird die Spuren der Wunde inwendig und auswendig ins Grab
+nehmen.--
+
+
+
+
+#JUNGES GLÜCK UND ALTER HOCHMUTH.#
+
+
+Es gibt nichts Lieblicheres und Wohltuenderes als die sonnenreichen, milden
+Tage, welche von Maria Geburt bis Allerheiligen und manchmal bis in den
+Dezember hinein der Herbst in das badische Land bringt. Oft schaut der
+Schnee von den höchsten Bergen des Schwarzwaldes dem paradiesischen
+Frühling und Sommer des Rheinthales tief ins Auge und der Blick in die
+Schweizeralpen gibt ihm Muth zum Dableiben und muß er sich endlich in die
+schattenreichsten Klüfte flüchten, zuletzt auch diese Schlupfwinkel meiden
+und als neutrales Gebiet zurücklassen, wo weder der Winter noch der Sommer
+herrscht und nur der Frühling sein neckisches Knabenspiel ein bischen
+treibt, so kehrt der Winter von seinem Besuche bei den Schweizerbergen doch
+frühzeitig wieder zurück und versucht es, seinen Schneemantel wieder über
+die Höhen des Schwarzwaldes zu werfen. Entdeckt der September einige Zipfel
+des Schneemantels, so lacht er darob und jagt den Winter mindestens in
+seine Klüfte mit einer etwas stark verbrauchten Sonnenstrahlenruthe zurück;
+der Oktober lacht auch noch, doch heult, lärmt und weint er immer mehr
+dazwischen, denn der Winter redet von seinen Burgen herab schon ein
+ernsthafteres Wörtlein und sendet wohl zuweilen seinen Spion, den Frost in
+das Land des Herbstes; dieser gibt den Gedanken an Eroberung der Burgen
+immer mehr auf, begnügt sich, in den stillen, heimlichen Thälern des
+Schwarzwaldes am Tage herumzuwandern und bekommt endlich genug zu thun, um
+sich den vom Gebirge herabstürzenden Vortrab des Winters vom Leibe zu
+halten; wenn der November endlich auf den Kampfplatz tritt, mit seinem
+wahren Diplomatengewissen und ebenso geneigt, mit dem Sommer und dem Winter
+zu unterhandeln und beide an der Nase herumzuführen, so schaut dieser
+manchmal griesgrämig und finster drein, wenn ihm der Oktober keinen guten
+Neuen credenzt und tüchtig einschenkt. Ist der Wein gut und ein bischen
+viel, dann bringts der November wohl noch dem Dezember zu und mehr als ein
+sonnenhelles Lächeln zuckt über das kahle, verwitterte Gesicht des sonst so
+kalten und menschenfeindlichen Alten, er lüftet wohl seinen Schneemantel
+oder schlendert denselben lustig auf die Schwarzwälderberge zurück und
+stirbt als treuloser Knecht des Winters in der süßen Trunkenheit, welche
+der Oktober, ein rüstiger lebensfroher Fünfziger und der grauwerdende
+November mit seinem abgelebten Intriguantengesichte über ihn gebracht
+haben.
+
+Am Tage, an welchem der Duckmäuser mit blutiger Stirn und blutendem Herzen
+dem Elternhaufe den Rücken kehren mußte, hatte der Oktober just scharfe
+Händel mit dem Winter bekommen, denn jener hatte den Schneemantel des
+letztern bereits auf den mittlern Bergen entdeckt und fürchtete für seine
+Vorhügel, wo der Wein noch vollends anszukochen war; beide lärmten und
+tobten, daß alle Bäume Reißaus nehmen wollten und weinten vor Zorn und
+Wuth, daß die Mutter Erde ob dem Verderben ihres zersetzten Unterrockes
+auch plätschernd schimpfte und kein trockener Faden an unserm Wanderer
+blieb.
+
+Seine Werktagskleider hatte der Benedict im Thurme ein bischen stark
+abgerutscht, war neben andern auch mit Flickergedanken heimgegangen, jetzt
+besaß er nichts auf der weiten Welt, denn zerrissene Kleider, ein
+zerrissenes Herz und einen magern Geldbeutel, und weil er doch nicht wußte,
+wohin er sollte, ließ er sich vom Sturm auf's Gerathewohl vorwärts treiben
+und trunken von Schmerz, gleichgültig gegen das Leben, fühlt er wenig vom
+wilden Kampfe der Jahreszeiten und noch weniger von Hunger und Durst.
+
+Würde ihm ein Gensdarme begegnen, so würde er nichts sagen über Wer, Woher
+und Wohin und ließe sich geduldig in irgend ein Gefängniß führen.
+
+Gegen Abend kommt er in ein fremdes Dorf und der Leuenwirth nimmt ihn auf,
+weil er demselben einiges Geld zeigen kann. Er ißt und trinkt wenig, weint
+jedoch viele bittere Thränen in sein Kopfkissen, weils ihm wird, als ob die
+Margareth, das Vefele, die Susanne sammt der Marzell in der Kammer wären
+und gar wehmüthig und traurig in das Bett des Verstoßenen hineinschauten,
+der nicht einmal Abschied von diesen lieben Seelen genommen hatte. Er weint
+und betet, redet im unsäglichen Wehe mit sich selber, da fährt ein Gedanke
+durch seine Seele, wie ein falber Blitz durch die stürmische Wetternacht.
+
+Lebt nicht einige Stunden von hier, in einem Dorfe in der Nähe des Rheines
+ein alter, guter Freund? Ist dieser Freund nicht wohlbestallter
+Schweinehirt seines Dorfes? Braucht ein solcher nicht einen Knecht, wenn
+die Zahl der unartigen, grunzenden Pflegebefohlenen ein bischen groß ist?
+Heißt der Freund nicht auch Mathes, wie neben dem Gregor der beste Freund,
+welchen der Benedict bei der schwarzen Schwitt besaß? Ist jener Mathes kein
+"göttlicher Sauhirte", so ist er doch ein gutmüthiger, lustiger Kamerad und
+ein Musikant dazu. Wie oft ließ er den Brummbaß schnurren an Kirchweihen
+und an der Fastnacht, bei Hochzeiten und sogar bei einigen Festen der
+schwarzen Schwitt und saß er nicht auf der Musikantenbank in der Nähe des
+Benedict, wenn dieser mit seiner Klarinette die schönsten Walzer und Hopser
+in den Tumult und in die Staubwolke des Tanzsaales hineinblies? Hatte er
+nicht manches Glas mit dem Benedict getrunken, diesen seinen
+"Herzgepoppelten" genannt, ihm von den Freuden des einsamen, stillen Waldes
+und des Lebens unter den Schweinen erzählt? Kannte der Mathes nicht die
+Margareth und die Marzelle und Alle, welche dem Duckmäuser jemals lieb und
+werth gewesen? Wo sollte in dieser Zeit sonst ein Plätzlein gefunden
+werden, wo der verstoßene Bueb überwintern konnte?
+
+Ganz beruhigt schläft Benedict ein, erwacht sehr frühe und lauscht, bis ein
+Getrabe im Wirthshause entsteht, darf nicht lange darauf warten, läßt sich
+den Weg ein bischen sagen und dieser ist nicht schwer aufzufinden. Die
+Sterne stehen noch über den finstern Höhen des Gebirges, als er sich auf
+den Weg macht und es wird nicht Mittag, so findet der Benedict den
+schweinetreibenden Mathes mitten unter seiner Heerde im Eichwald.
+
+Der Hirtenhund des Mathes würdigt den Gast keines Blickes, denn er erkennt
+in demselben kein rechtes Schwein und was nicht Schwein heißt, existirt für
+ihn gar nicht auf dieser Welt; dagegen hört der Trüffelhund des Mathes mit
+Scharren auf, bellt lustig und rennt dem Ankömmling entgegen, sein Herr
+thut dasselbe und nach 3 Minuten weiß der Benedict, daß er zu keiner
+gelegneren Zeit hätte kommen können.
+
+Der Mathes erkennt im Unglücke des Freundes eine Schickung des Himmels,
+welcher sich auch eines geplagten Schweinehirten erbarmt; gerade gestern
+ist der Knecht entlaufen, "'s war ein Ueberrheiner, ein Spitzbube", sagt
+der Hirt und installirt sofort durch Ueberreichung des Hörnleins den
+Benedict als neuen Knecht.
+
+Wie der schmucke Benedict, der trotz des armseligen Gewandes ein hübscher
+Bursche blieb und durch das Tuch um den Kopf etwas Rührendes und
+Malerisches gewann, am andern Morgen mit seinem Horn die Ringelschwänze des
+Rheindorfes zusammenbläst, grüßt ihn von manchem Hofthor herüber manch
+liebliches und freundliches Gesicht, und es kommt ihm vor, die Leute seien
+hier wohl besser als daheim im Dörflein.
+
+An den letzten Häusern bläst er noch einmal recht herzhaft und freudig und
+wäre das Hörnlein eine Klapptrompete gewesen, so würde er in langgezogenen
+Tönen und raschen Tonläufen der neuen Heimath einen feierlichen und
+jubelnden Morgengruß zugeblasen haben. Jetzt treibt ein gar reinlich
+gekleidetes und nettes Mädle mit brennend schwarzen Augen, zarten rothen
+Wangen und freundlichem Munde ein Mutterschwein sammt drei Ferkeln zur
+grunzenden Armee, blickt auf, steht wie versteinert, geht auf den Benedict
+zu, nennt ihn beim Namen, faßt dessen Hand, begrüßt ihn als Freund und
+ladet ihn dringend ein, doch so bald als möglich in ihr Haus zu kommen.
+
+Gewiß hat noch kein Feldherr sein siegreiches Heer mit seligeren
+Empfindungen in die Heimath zurückgeführt, als jetzt der Duckmäuser seine
+Ringelschwänzlein zum Walde trieb.
+
+Er hat Brod, hat einen Freund, hat eine liebe Freundin, was will der Mensch
+mehr? Bis zum Abend muß er im Walde bleiben, der Mathes ist ein
+kurzweiliger Gesell, doch von zarten Gefühlen und schwärmerischen
+Empfindungen versteht er nichts, dem Knechte kommt es vor, als ob der
+kurze, trübe Oktobertag mit seinen dampfenden Bergwäldern ein endloser
+Junitag voll Blüthenduft und Sonnenlicht und herrlicher, doch gar zu
+langsam reifender Früchte sei und kaum sind seine Pflegebefohlenen freudig
+grunzend und lustig schreiend heimgesprungen, kaum sind die letzten von den
+Bäuerinnen unten im Dorfe in die Ställe gelockt worden, so steht der
+Benedict vor der Schulkamerädin und Landsmännin, der freundlichen Rosa; ihr
+Pflegevater, der alte Straßenbasche, ein ehemaliger Unteroffizier, jetzt
+ein zufriedener Bauer und fleißiger Straßenknecht dazu, ladet ihn zum
+Nachtessen ein und die Pflegmutter springt fort, um bei der Scheckenbäurin
+drüben die versprochenen Trauben und beim Adlerwirth eine Flasche
+Ueberrheiner zu holen.--Lange Jahre haben sich Rosa und Benedict nicht mehr
+gesehen; sie kam fort, ehe die beiden Schwitten im Werden waren und ihre
+Geschichte ist eine in jeder Hinsicht zu wahrhaftige Dorfgeschichte, die
+Rosa spielt fortan eine zu erhebliche Rolle, als daß wir nichts Näheres
+erzählen sollten.
+
+Rosas Eltern wohnten einst nicht weit vom Schulhause, in welchem der
+Benedict als Unterlehrer und als "der Leichtsinnigste von Allen"
+Knabenlorbeern pflückte. Sie liebte den Unterlehrer, denn er sagte auch ihr
+ein, machte auch ihre Aufsätze, beschützte auch sie beim Schuckballen und
+Ziehen auf der Wiese gegen den Unverstand und die Rohheit des Max,
+Willibald und anderer gar früh keimender Lümmel der rothen Schwitt, welche
+Freude daran fanden, die Mädchen zu necken, zum Weinen zu bringen, ihre
+Kleider zu zerreißen und in den Kinderhimmel derselben hineinzubengeln, bis
+sie sich schüchtern mit Zusehen begnügten oder schreiend heimsprangen. Die
+Freundlichkeit, Güte und Liebe des starken Benedict gegen die schwachen
+Mädlen war auch der Rosa unvergeßlich geblieben, deren Geschick sich minder
+freundlich gestaltete, als das der Kameradinnen, so daß sie ohne Gottes
+besondern Schutz leicht ein weiblicher Zuckerhannes hätte werden mögen,
+deren es jährlich mehr im Badischen wie anderwärts gibt. Rosas Eltern waren
+weder reiche noch arme, sondern mittelbegüterte, dabei grundehrliche,
+gottesfürchtige Leute vom alten Schlage.
+
+War Benedicts Vater ein bischen zu finster und in Geldangelegenheiten oft
+karg und hart, so war der Vater Rosas fast zu leutselig, zu gut und
+barmherzig, schenkte Jedem gleich sein Zutrauen und litt an der
+Schwachheit, niemals eine Bitte abschlagen zu können, wo das Helfen
+irgendwie in seiner Macht stand.
+
+Kommt eines Tages ein naher Vetter zum Klaus, wie Rosas Vater hieß, der
+überall der "ehrliche Klaus" genannt wurde und dessen Wort mehr galt als
+heutzutage doppelte gerichtliche Versicherung; der Vetter aber klagte
+erbärmlich, denn er hat Schulden, die Gläubiger wollen entweder bezahlt
+sein oder einen guten Bürgen haben. Klaus redet mit seiner Alten, leistet
+richtig Bürgschaft und sein bloßes Versprechen, im Nothfalle Selbstzahler
+werden zu wollen, beruhigte und befriedigt die Gläubiger des Vetters.
+Dieser jedoch gehört zu den vielen gewissenlosen Schuften, die gar stolz
+und eingebildet im Bauernrock und Herrenmantel an Zuchthäusern
+vorüberwandeln und sich darüber freuen, daß man in der Welt gemeiniglich
+nur die kleinen Spitzbuben hängt, die großen dagegen laufen läßt. Er
+benützt Klausens gutmüthige Schwachheit noch weiter, nimmt auf dessen
+Bürgschaft hin ein ordentliches Kapital auf, macht im Stillen Haus und Hof
+zu Geld und eines schönen Morgens verschwindet er aus dem Dorfe und kommt
+nicht wieder; nach einigen Monaten wandern die Seinigen ihm nach und zwar
+nach Amerika, wo allmälig alle Spitzbuben und Schurken der Welt sich gerne
+ein Stelldichein geben und den ehrlichen Leuten das Spiel verderben.
+
+Jetzt kommen einige Gläubiger des saubern Vetters zum Klaus, doch ihre
+Hoffnungen sind schwach, denn der Klaus ist kein reicher Mann, hat ein Weib
+und vier unschuldige, unerzogene Kindlein, zudem besitzen sie nicht Schwarz
+auf Weiß und das Ja, welches ehemals aus Klausens Lippen tönte, verhallt
+gewiß unter dem Nein aller Gründe, welche Klugheit, Selbstliebe und
+Pflichtgefühl eines Familienvaters einzugeben vermögen.
+
+Einige Gläubiger klopfen gar nicht an, sie wollen den biedern, ehrlichen
+Mann nicht einmal durch eine Frage ängstigen.
+
+Zu den Andern dagegen spricht der Mann wörtlich:
+
+"Mit all dem Geld, für welches ich gutstand, könnte ich meine Ehre und die
+Reinheit meines Gewissens nicht erkaufen. Ich hab' Euch mein Wort gegeben
+und bin jetzt schuldig mein Wort zu halten, werde es thun, so gut ich's
+eben vermag!"
+
+Einige Wochen später wird Klausens Häuslein sammt Allem, was darin und
+daran ist, versteigert; er hat deßhalb mit seiner Alten keinen Streit
+bekommen und mit ihr und den Kindlein beim Rindhofbauern, dem Fidele und
+allzuschwachen Vater des schlimmen Max, vorläufig ein Kämmerlein und Brod
+bekommen, doch am dritten Tage nach der Steigerung ist dem Klaus das Herz
+gebrochen, er legt sich ins Bett und stirbt nach wenigen Stunden, während
+er wörtlich also betet. Herr, du hast mich arm gemacht, darum komm' ich
+jetzt zu dir und übergebe dir die Sorge für mein Weib und meine Waislein!
+
+Gott hat das Gebet erhört; acht Tage später bricht auch dem Weibe das Herz
+und sie folgt ihrem Klaus nach in ein Land, wo es keine Schuldgesetze,
+keine Bürgschaften und keine Versteigerungen gibt.
+
+Jetzt werden die vier Kindlein verloost und getrennt, sind noch viel zu
+jung zum Arbeiten, das älteste zählt kaum 10 Jahre, das jüngste kaum einige
+Wochen. Die siebenjährige Rosa wandert in das Haus eines wegen seines
+Unverstandes und seiner Rohheit gefürchteten und berüchtigten reichen
+Hofbauern, der nur darauf sinnt, wie das Kind sein elendes Bettlein und die
+Dienstbotenkost mit Zinsen vergüten könne.
+
+Rosa sollte noch lange zur Schule, doch täglich muß sie den schweren
+Milchkorb auf den Kopf nehmen und stundenweit in die Stadt marschiren,
+sobald der Morgen graut.
+
+Bei uns fehlt der Schnee gar oft im Dezember und Januar; am Tage regnet's
+und in der Nacht gefrierts, so daß auf allen Wegen und noch mehr auf dem
+Straßenpflaster das Glatteis am Morgen die Wanderer zum Fallen bringt.
+
+Ein Fehltritt, dann ist's geschehen und so ging es einmal dem Rosele,
+diesem schwachen Kinde; sein Fuß gleitete aus und der Milchkorb lag auf der
+Straße. Wie hat das Kind vor Angst und Schrecken gezittert und gebebt, als
+die Scherben der Milchtöpfe klapperten! Mit weinenden Augen schaut es zu,
+wie die bläuliche Milch in gefrorene Fußtapfen und Wagengeleise rinnt,
+fühlt schon den Seilstumpen sammt dem Farrenwedel des Pflegherrn auf dem
+Rücken, weiß nicht mehr, was es thut, liest endlich einige Kohlköpfe und
+Scherben zusammen, in welchen noch ein wenig Milch zurückblieb und läuft
+still weinend und schluchzend der Stadt zu.
+
+Vom Korbe herab tröpfelt die Milch noch immer über das grüne Biberkleidlein
+und das Kind sieht bald aus, als ob es einmal Milch geregnet habe, in
+seiner Todesangst hat es die Sache erst auf dem Wochenmarkte wahrgenommen.
+
+Hier begegnet es seinem ehemaligen Unterlehrer, dem Benedict, denn der
+Hofbauer, bei welchem Rosa lebt, wohnt nicht im Dörflein, sondern gehört
+nur noch zur Gemeinde desselben. Beide sehen sich sonst blutwenig, jetzt
+aber sieht er seine alte Schülerin wieder und hört die schlimmen
+Prophezeiungen der Weiber, welche den unmenschlichen Hofbauern kennen.
+Benedicts Geheimkasse hinter dem großen Getüchtrog ist gerade in Floribus,
+er schenkt dem Rofele gerade so viel als es heimbringen soll, kauft dazu
+neue Milchtöpfe, tauscht dieselben gegen alte aus und weil ein Milchtopf
+ziemlich wie der andere aussieht, geht das vor Freuden weinende Mägdlein
+mit dem Gelde und der vollen Anzahl seiner Töpfe aus der Stadt getrost
+wieder heim.
+
+Der Hofbauer erfuhr niemals etwas von der Milchgeschichte und das Rofele
+zählte zwölf Jahre, als es von dem Unmenschen erlöst und in demselben
+Rheindorfe beim Sraßenbasche ein Unterkommen fand, in welchem jetzt der
+verstoßene Duckmäuser als Knecht des "Saumathes" lebt.
+
+Der Straßenbasche ist, wie gesagt, ein alter pensionirter Unteroffizier,
+hat in den napoleonischen Kriegen große und kleine Kugeln tausendweise
+summen, singen und pfeifen hören und brachte er es im Felde bei aller
+Pflichttreue und Tapferkeit nicht weiter als zum Sergeanten, so brachte er
+es im Frieden und in der Ehe nicht einmal zum Vater. Er war von Hause aus
+ein armer Teufel, doch sein ehemals fuchsrother Schnurrbart zündete ein
+Flämmlein im Herzen eines braven und bemittelten Mädchens an, sein
+grundehrliches, biederes Soldatenherz brannte schon vorher ein bischen, der
+Pfarrer schloß den altmodischen Dorfroman mit einer Trauung und beiden
+Leutchen fehlte bei ihrem christlichen, genügsamen und deßhalb sorgenfreien
+Leben nichts zum Glücke außer einem Kinde.
+
+Gott, welcher den Seufzer des sterbenden Klaus gehört, lieferte dem
+Straßenbasche und dessen bravem Weibe das arme Rosele in Hände und Haus und
+vom zwölften Jahre ihres Alters lebte das Mädchen nicht als Magd, sondern
+als erklärte Tochter und künftige Erbin des ganzen Hauswesens beim
+Straßenbasche. Gar oft hatten die Pflegeeltern die Milchhafengeschichte
+gehört und mit der Erzählerin gewünscht, den edelmüthigen Helfer in der
+Noth kennen zu lernen, jetzt sitzt die seit sechs Jahren zur blühenden
+Jungfrau herangewachsene älteste Tochter des ehrlichen Klaus mit
+freudestrahlendem Gesichte dem Benedict gegenüber und dieser liest aus
+ihren Augen einen ganzen Himmel heraus.
+
+Der Straßenbasche küßt wahrhaftig in seiner Begeisterung ob der
+Milchgeschichte die Hand des armen Gastes, er und seine Frau betrachten den
+Liebesdienst, als ob er ihnen erwiesen worden wäre, die Rosa hat heute
+wieder Alles lang und breit erzählt, der Benedict fängt bereits an stolz zu
+werden, doch plötzlich fängt die Rosa auch an, in Gegenwart der
+Pflegeeltern dem Staunenden alle Streiche, welche er daheim ausgeübt, von A
+bis Z herzuzählen; an jeden Streich knüpft sie sammt dem Straßenbasche gar
+zärtliche Mahnungen und liebreiche Warnungen und schließt endlich die lange
+Strafpredigt mit den Worten:
+
+["]Ueberlege, Benedict, überlege nur, was ein Gottloser stiften kann. Du
+hast meine Eltern gekannt und weißt, daß wir Kinder noch glücklich in ihren
+Armen leben könnten, wenn nicht ein schlechter Mensch gemacht hätte, daß
+beide fast mit einander gesunden Leibes ins Grab sanken. Gott gebe ihnen
+ewige Ruhe und ihrem Mörder den Frieden, mir aber Segen, dich für die
+Rechtschaffenheit zu gewinnen. Meinst du, ich hätte dich und jenen
+Marktmorgen je vergessen? Einen leichtsinnigen Streich nach dem andern
+mußte ich von dir hören und das kränkte mich tief in die Seele hinein! ...
+Darfst es glauben!"
+
+Sie konnte vor Weinen nicht mehr reden, dem Straßenbasche rannen auch die
+hellen Thränen in den halbrothen Bart, sein Weib, die weichherzige Klara
+schloß die fromme Pflegetochter in die Arme, küßte dieselbe und konnte nur
+die Worte hervorbringen: Oh Rosele, mein Kind, mein liebes Kind!
+
+Regungslos hat der Duckmäuser bisher am Tische gesessen, jetzt steht er
+tief erschüttert auf, um die Hand der Schulkameradin zu küssen und
+feierlich zu geloben, ihr zu folgen, den Leichtsinn und Hochmuth von heute
+an ganz fahren zu lassen und ein Christ in Wahrheit zu werden.
+
+Spät geht er vom Straßenbasche weg und dieser sammt der Klara haben ihm
+herrliche Aussichten in ein friedsames, ländliches Stillleben mit der
+Pflegetochter, ihrem einzigen Kinde gemacht, wenn er sich nur bessern
+wolle.
+
+Der Benedict führte sich brav und klaglos auf. Er besaß keine Kleider außer
+den elenden Lumpen, mit welchen er gekommen war, getraute sich nicht, von
+seinen neuen Eltern bessere zu fordern, doch schon vor Neujahr war er vom
+Kopf bis zu den Füßen neu gekleidet, konnte vier nagelneue weiße Hemden
+aufzeigen, dazu einige Sechsbätzner, um der Rosa einen Neujahrskram zu
+kaufen und was das Vornehmste dabei war, er durfte sich zum erstenmal in
+seinem Leben sagen, nur auf ganz ehrlichem Wege zu all diesen
+Herrlichkeiten gekommen zu sein.
+
+Den ganzen Tag war er mit dem Mathes im Walde bei der Armee; die viele
+freie Zeit benutzte er, um Birkenreiser zu schneiden und Besen daraus zu
+machen, die Besen aber sendete er auf den Markt. Einmal bekam er auch
+Gelegenheit, einem schönen Hasen, der mit offenen Augen hinter einem
+Pfriemenstocke schlief, das Peitschenholz zwischen die Löffel zu legen und
+verkaufe das kleine Vieh an den Adlerwirth. Wenn er Morgens seine
+Ringelschwänzlein zusammenblies, kam manchmal auch eine Bäurin und schenkte
+dem treuen, braven Hirten einige Kreuzer und zu all diesem kamen zwei
+Hochzeiten, wobei der "Saumathes" den Brummbaß wieder schnurren ließ, sein
+Knecht neben ihm die Klarinette blies, daß es fast die französischen
+Zollwächter drüben hörten.
+
+Bei diesen Hochzeiten trank er auch wieder ein Schöpplein, doch keinen
+Rausch nach Musikantenart; vorher und nachher sah er das Innere einer
+Wirthsstube nicht bis zum Neujahrstage, wo er zum erstenmal mit seiner Rosa
+in den Adler hinüberging, der Straßenbasche mit der Klara kamen später
+auch, ein Freudlein in Ehren kann niemand verwehren!
+
+Wie daheim, luden ihn die Leute unaufhörlich in ihre Kunkelstuben ein, doch
+er blieb weg, denn entweder hatte er mit seinen Besen zu thun oder er saß
+im stillen, frommen Kreise beim Straßenbasche. Noch in den letzten Tagen
+des alten Jahres bemerkte der Benedict beim Ausfahren, welche Augen und
+Geberden eine Katharin machte und wie sie mit Schauen, Grüßen und Reden
+nicht fertig werden will, am Neujahrstag sagt ihm im Adler die Tochter des
+Mathes: "Käther will Dir fünf Kronenthaler geben, wenn Du sie ins
+Wirthshaus nimmst!"--"Soll sie nur einem Andern geben, ich habe schon
+soviel, als ich und das Rösele brauchen!"--"Bist aber doch recht dumm, wenn
+mans so haben kann!"--"Laß mich dumm sein, Fränz, und bleibe Du gescheidt!"
+
+Richtig sitzt er am Neujahr neben dem Rösele im Adler und die Wirthin hat
+ihn glücklich gepriesen, wiewohl das Pärlein den ganzen Abend nur zwei
+Flaschen Batzenvierer trank.
+
+Hatte er doch in kurzer Zeit nicht nur die innige Liebe der alten
+Schulkameradin, sondern auch die volle Zuneigung des braven Basche und
+dessen Weibes errungen, war wohlgelitten bei Jung und Alt und verlebte hier
+die seligsten Tage seines Lebens!
+
+Weil er in keine Kunkelstube ging, kamen allmählig und besonders nach
+Neujahr Buben und Mädlen, Weiber und Mannen zu ihm in die Behausung des
+"Saumathes," dessen Stube bald zu klein wurde, wenn der Knecht darin zu
+finden war.
+
+Am Neujahr hätte dieser den Schweinhirtendienst aufgeben können und wurde
+arg von den Leuten im Adler geplagt, sich bei ihnen zu verdingen und der
+Basche selbst redet ihm scheinbar ernstlich zu, doch der Benedict meint:
+"Bah, bah, 's ist nichts; ein Wirthshaus, das wäre gerade der Platz für
+mich, um bald wieder in den alten Werktagshosen zu stecken!"--"Gelt, Du
+traust gewiß der Magd des Adlerwirths nicht?" lacht der Basche--"Nein,
+nein, ich traue mir nicht!" erwiederte der Benedict und gar wohlgefällig
+streicht der Alte den halbrothen Schnurrbart.
+
+Schon seit jenem Tage, an welchem der Duckmäuser bei der ersten der beiden
+Hochzeiten, welche seit Oktober im Adler gehalten wurden, lief sich der
+blinde Michel fast die Füße aus dem Leib, weil er Klarinettblasen lernen
+wollte, der Vater desselben kam auch oft, bat inständig und machte große
+Versprechungen, doch Alles nützt nichts, denn der leiblich blinde Michel
+hat einen geistig blinden Vater und das Haus desselben ist gerade
+dasjenige, in welchem sich die Rothschwittler des Rheindorfes häufig sehen
+lassen. Zwar geht der Basche selbst zuweilen zum Nachbar hinüber, andere
+ehrbare Leute thun es auch, doch der Duckmäuser glaubt, Gelegenheit zu
+meiden sei mindestens für ihn das Ersprießlichste, die Leute, welche ihm in
+die Stube des "Saumathes" nachrennen, bringen ohnehin Anfechtungen und
+Versuchungen genug. Endlich bittet ihn das Rösele, sich des blinden Michels
+zu erbarmen und demselben in der Stube der Pflegeeltern das Klarinettblasen
+zu lehren und jetzt thut er es wirklich.
+
+Als freundlicher, gefalliger, hübscher Bursche und Geschichtenerzähler
+steht der Duckmäuser längst in hohem Rufe, jetzt wird der Straßenbasche ob
+dem "musikalischen Scheine" desselben schier ein Narr und räth ihm eines
+Abends, zum Militär zu gehen und "Hobist" zu werden und meint, bis zum
+Kapellmeister könne er's leicht bringen. Dieses Wort zündete, denn Hobist
+zu werden, war einer seiner alten Jugendträume und der Gedanke an Erfüllung
+dieses Traumes ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe mehr.
+
+Wem dies am wenigsten gefiel, war das Rösele und am dritten Abend, wo der
+Basche wieder vom Hobistwerden spricht und der Benedict sich streckt, als
+ob er just unters Maaß stehen wolle, meint sie. "Die Kasern' ist für den
+Benedict noch gefährlicher als der Adler, lieber will ich ihn zeitlebens
+beim Mathes sehen denn beim Regiment!"--Das heißt den alten Unteroffizier
+ein bischen an der Ehre angreifen und er sagt: "Wer liederlich sein und
+bleiben will, kanns bei der Sauheerd' so gut und wohl noch besser als beim
+Regiment; 's gibt schlechte, gottvergessene Sauhirten und brave
+gottesfürchtige Soldaten!"--"Wohl, doch kommt Alles auf die Anlage an, die
+Einer hat!"--"O närrisches Kind, gerade der Anlagen wegen sollte der
+Benedict Hobist werden; 's hat schon Mancher sein Glück beim Militär
+gemacht und er machts auch, das weiß ich zum Voraus!"--"Ja, wenn er nur
+lauter gute Anlagen hätt', doch hat er auch Anlagen, die bei den Soldaten
+reichlich ... ich will gar nichts weiter sagen!"--"Bist viel zu ängstlich,
+Rösele; bei den Soldaten ist eine Zucht, wo diese Anlagen, welche dir bange
+machen, zurückweichen müssen; haut er über die Schnur, mein! wie wird er da
+gezüchtiget! ... Übrigens ist er kein Spieler, kein Wirthshaushocker und
+Vieles Andere nicht, es läßt sich nur Gutes hoffen! ... Ich machte mir ein
+Gewissen daraus, gegen sein Glück zu sein!"--"O Vetter," sagt die Rosa sehr
+ernst und wehmüthig, "wenn der Benedict beim Regiment einmal gezüchtigt
+wird, dann ist's zu spät! ... er ist freilich kein Spieler und kein
+Wirthshaushocker, das ist wahr, doch ist er stolz, leichtsinnig und dabei
+der gute Jockel selbst, das habe ich als Kind auf dem Wochenmarkte schon
+erfahren!"--"Bah, baperlapap, unser Herrgott lebt auch noch!" meint der
+alte Unteroffizier und langt nach seinem Nasenwärmer, welcher unter der
+Tafel hängt, die seinen Abschied und das Dienstzeichen einrahmt.--"Ich will
+jetzt nichts mehr sagen, meint die Rosa, doch so lange ich ihn beim
+"Saumathes" sehe, habe ich für ihn gute Hoffnung, es ist der geeignetste
+Platz, um seine ... Anlagen niederzuhalten; dagegen gebe ich alle Hoffnung
+auf und spreche ihm alle Hoffnung ab, wenn er zu den Soldaten geht! ... Ihr
+werdet einmal an mich denken, Vetter!"
+
+Schweigend hat der Duckmäuser Alles angehört; Rosas letzte Worte wirkten
+auf sein Herz, wie Hagelschlag in Blüthenwäldern, das Blut drang ihm zu
+Kopfe und er mußte sich Gewalt anthun, um seinen Unmuth nicht zu äußern.
+Beim Fortgehen begleitet ihn die Rosa hinaus und unter der Hausthüre fängt
+sie noch einmal von der Sache an.
+
+Rösele wiederholt Alles, was sie drinnen gesagt hat, der Benedict entgegnet
+"Denk' doch auch an den Vetter, den Straßenbasche! Ist dieser nicht von
+früher Jugend bis ins gesetzte Alter Soldat gewesen und hat er Etwas zu
+bereuen?["]--"Wohl wahr, doch bevor er zu den Soldaten kam, hatte er auch
+nicht zu bereuen, was du bereuen mußt. Frag' ihn, ob er auch je so
+grenzenlos leichtsinnig gewesen sei, wie Du? Und ob er sich auch soviel
+eingebildet hat, wie Du? Wirst ganz andere Dinge hören, als man von Dir
+hören kann!"--"Hoh, Rösele, sei doch nicht so hart, was kannst Du mir denn
+seit Oktober vorwerfen und ist's nicht bald ein halbes Jahr?["]--"Liebster,
+ich sehe und höre wohl, daß Du der alte "Leichtsinn" noch bist und mit
+Gewalt deinen Leib und deine Seele verderben willst. _Jetzt_ stehst Du
+auf deinem Eigenthum, in deinem eigenen Hause und dies so lange, als Du
+hier bleibst, wenn Du aber in eine Stadt gehst, dann" ...--"Dann nimmst
+einmal einen Andern statt meiner ins Haus, he?" fragt der Benedict etwas
+verhofft.--"Nein, ich nehme keinen Andern, aber ebenso wenig Dich, wenn Du
+nicht vom Regiment wegbleibst."--"Rösele, lieb Rösele, sei doch nicht so
+ängstlich, wirst sehen, daß ich halte, was ich Gott und Dir und deinen
+Leuten versprochen habe. Der Vater hat schon gesagt, ich komme hinüber nach
+Freiburg, dann kann ich gar oft zu Dir kommen und siehst doch lieber Einen
+mit dem Säbel an der Seite und dem Kriegshute auf dem Kopfe, als wenn ich
+immer und ewig mit der Geisel und dem Hörnle im Dorf und Wald bei den Sauen
+herumtrummle!"--"Ja gerade das ist's, was mir so bange macht; ich sehe
+wohl, daß Du dich des Dienstes beim Saumathis schämst und könntest Dich
+nicht schämen, wenn Du deine Umstände nur ein wenig zu Herzen nähmest!"--
+"Gute Nacht, lieb' Rösele, bleib mir nur treu und gut, dann wird Alles
+recht werden!"
+
+In den letzten Tagen des Märzmonats wandert der Straßenbasche mit dem
+Benedict nach Freiburg; der Benedict kann die schöne große, vierstöckige
+Kaserne und die Offiziere, Unteroffiziere, Hobisten und Soldaten, welche
+blank und stolz aus dem Thore strömen, nicht genug anschauen; sein Herz
+bebt vor Freude und Bangigkeit, wie er mit seinem Begleiter die steinernen
+Stufen des der Kaserne gegenüber liegenden Kommandantenhauses hinaufsteigt.
+
+Der Oberst verzieht das ernste Gesicht mit dem grauen Schnurrbarte zu einem
+freundlichen Lächeln, denn der Straßenbasche hat als Unteroffizier unter
+ihm gedient, die Beiden haben Pulver genug mit einander gerochen und kennen
+sich noch recht gut; wenn der Basche ein Geschäft in Freiburg hat, muß er
+zuweilen seinen ehemaligen Hauptmann heimsuchen, 's kostet dem jetzigen
+Obersten nur ein Schöpplein vom Guten und er läßt sich's gar gerne kosten.
+
+Die Beiden werden also gar herablassend und freundlich empfangen, der
+Straßenbasche rapportirt, was ihm wegen des Duckmäusers auf dem Herzen
+liegt, der Oberst betrachtet den Rekruten und meint, die Sache habe gar
+keinen Anstand, wenn der Junge nur von den Aerzten für tauglich erklärt
+werde und ein gutes Sittenzeugniß aus seiner Heimath mitbringe.
+
+Wie der arme Benedict vom Sittenzeugniß hört, werden alle Luftschlösser zu
+Wasser, das Herz fällt ihm in die Hosen, er bekommt so ziemlich den
+Knieschlotterer und weil der Straßenbasche auf dem Heimwege auch einen
+bedenklichen Kopf macht und die Neuerungen mit den Sittenzeugnissen
+verflucht, verliert der Rekrut fast alle Hoffnung, jemals in seinem Leben
+Hobist zu werden.
+
+"Sechs Jährlein Soldatenstand machte den Benedict zu einem Prachtskerl für
+das Rösele, wenn er nur angenommen wird! Gottlob, daß der Oberst mein alter
+Kriegskamerad war!" sagt der Straßenbasche daheim und der Benedict muß
+gleich um ein Sittenzeugniß schreiben.
+
+Wer sich ob der Betrübniß des Benedict am meisten freut, ist außer der
+Mutter Klara natürlich das Rösele, welches laut darüber jubelt, weil der
+Himmel bereits ihr Flehen erhört habe.
+
+Am vorletzten Tag des Märzmonats sitzt die Rosa mit der Walburg und Lisi am
+Tische, sie nähen und spinnen und plaudern, die Mutter hat ihr altes
+Gliederreißen und ist gleich nach dem Nachtessen ins Bett gegangen, der
+Vater dagegen sitzt beim runden französischen Ofen, stopft den Nasenwärmer
+mit Dreimännerknaster, reicht dann das Päckle dem Benedict, dieser stopft
+seinen Mohrenkopf auch, zündet dann einen Fidibus an und hält ihn auf die
+Pfeife des Vaters. Der Straßenbasche thut jedoch gerade, was er
+allabendlich thut, nämlich er erzählt von seinen Feldzügen und diesmal von
+einem Gefechte in Spanien; statt tüchtig am Mundspitz zu ziehen, damit der
+Knaster anbrenne, erzählt er immer weiter, der Fidibus brennt beinahe ab
+und wie der Benedict daran erinnert, lacht der Straßenbasche und meint, ein
+Soldat müsse Feuer und Schwert ertragen können, sonst sei er ein Tropf. Auf
+dieses Wort hin hebt der Duckmäuser den eben weggeworfen flammenden Fidibus
+wieder auf, hält denselben wiederum auf den Nasenwärmer und zwischen den
+Fingern fest, bis er gänzlich verbrannt ist.
+
+Die Mädlen am Tische lachen sich schier krank ob solcher "Dummheit" und die
+Rosa meint sehr offenherzig: "Wenn Dir nur die Finger abgebrannt wären,
+dann würdest Du froh sein, Sauhirt bleiben zu können! ... Vielleicht wär'
+es in anderm Betracht auch noch gut gewesen! ... was kann man sagen!"----
+
+Der zweite Fidibus entzündet den Nasenwärmer des Straßenbasche und dieser
+beginnt, dem Benedict Verhaltungsregeln für den Militärstand herzuzählen,
+denn schon morgen muß der zweite und entscheidende Gang nach Freiburg
+gemacht werden, vielleicht liegt das Zeugniß des Rekruten bereits beim
+Kommando und--Probiren geht über Studiren.
+
+Der Vater kommt eben recht in Zug, da meint das Rösele unwillig: "Das ist
+nichts, Vetter, Ihr braucht ihm nicht noch zu sagen, wie er sich zu
+verhalten habe! ... Wißt Ihr, was er braucht? ... er braucht Etwas, das hat
+niemand, niemand kann ihm's geben... er bleibt bei mir!"--
+
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+#DER DUCKMÄUSER WIRD SOLDAT, SUCHT UND FINDET IN DER KASERNE VORBILDER#
+
+
+Am 31. März 183.----es war wiederum an einem Freitag, und Mittwoche mit
+Freitagen spielen im Leben unsers Helden eine merkwürdige Rolle--steht der
+Benedict im paradiesischen Zustande vor den Regimentsärzten der Freiburger
+Garnison und die Herren machen ein bischen seltsame Augen, Einer davon sagt
+den Grund: "Füße wie zwei Sicheln, Rücken wie das Grammische
+Bierkellergewölbe, vom Kinn bis zu den Knöcheln Eine Dicke, mein Gott, was
+soll denn aus dieser Figur gemacht werden?" ... "Wenn wir noch Einen dieser
+Art hätten, besäßen wir ein hübsches Gestell für die große Trommel!" sagt
+trocken ein grauer Chirurg, der bei Leipzig die Säge drei Tage lang nicht
+aus den Händen gebracht hat.--"Was hat denn der Mann bis jetzt gearbeitet?"
+fragt der Kritiker wieder.--"Ich bin ein Bauer!" stottert der Benedict und
+schnappt nach Luft.--"Ach, da ist der Rückenkorb viel getragen worden, man
+sieht's dem Rücken, den Füßen, dem ganzen Mann an!"--"Nein, meine Herrn!
+doch auf dem Kopfe habe ich viel und schwer getragen."--"Das sieht man
+wohl, 's ist eine Terrasse, worauf ein Ball arrangirt werden könnte!" meint
+der trockene Chirurg.--Nun, tröstet der Oberarzt, die Füße werden sich
+schon wieder strecken, der Tornister wird sich auch Platz machen, der Mann
+sieht gut aus, hat eine starke, ausdauernde Brust, er kann gut werden!--
+"Aber der kann doch den großen Bombardon noch nicht erspannen?" fragt der
+Graue.--"Weiß nicht, er hat ... lange Finger, er ist tauglich!" lächelt der
+Oberarzt, Eine Viertelstunde später mißt der Compagnieschneider im Zimmer
+der Staabscompagnie dem Benedict Rock und Hosen an und prophezeit, er werde
+die Montur meisterhaft machen, doch koste es ein Maaß Bier.
+
+Am ersten April sitzt er auf dem Gang des Hintergebäudes der Kaserne, wo
+die Hobisten hausen, und ein entsetzlich langer Tambour stutzt ihn mit Kamm
+und Scheere um ein Schnäpschen zu einem vollkommenen Hobisten um, hält ihm
+dann den kleinen Spiegel vor und der Rekrut kann sich in seiner nagelneuen
+Montur nicht genug bewundern.
+
+Schade, daß er nicht sofort zur Säbelkuppel greifen und zum Rösele ins
+Rheindorf hinüber marschiren darf; der Weg ist doch etwas weit und die
+Rekruten müssen zuerst Honneurs machen lernen, bevor sie zum Gitter
+hinauskommen.
+
+Am zweiten Sonntag nach dem ersten April sagt der Straßenbasche beim
+Mittagessen. "Rösele, am nächsten Samstag gehen wir wieder einmal auf den
+Wochenmarkt, nach Freiburg hinüber und wollen sehen, was er macht!"--"Ja,
+ich mag gar nichts mehr hören!"--"Sei doch nicht so einfältig, hast
+verweinte Augen und ganz umsonst; er ist ja kein Kind mehr und sieht an
+Andern, wie weit er mit dem Leichtsinn kommt."--In diesem Augenblicke
+springt des Nachbars kleine Johanne athemlos zur Thüre herein und keucht
+und sagt: "Rosa, dein junger Vetter ist wieder beim "Sanmathis!"... er ist
+kein Sauhirt mehr! ... hat einen Säbel! ... Soldat ist er!" "Was? ... Beim
+Hirt ist er? ... wirst nicht recht gesehen haben, Hanne!"--"Ho, er hat mir
+ja einen Wecken gegeben, da guckt, den Wecken hat er mir gegeben!"
+
+Der Straßenbasche sieht auf und will zur Thüre hinaus, im gleichen
+Augenblick öffnet sich diese und in der Stube steht ein schmucker Hobist,
+der militärisch grüßt und wohlgefällig lächelt.
+
+"Aber Röfele, kennst ihn noch? jetzt sag' nur nichts mehr, sonst--..." "O
+Vetter, ich bitt' Euch! ... will gern nichts mehr sagen, wenn einmal dort
+neben Eurem Abschied ein ähnlicher von ihm an der Wand hängt!"--
+
+Schon eilen Nachbarn und Freunde herein, Alle wollen den Hobisten sehen,
+sprechen, ihm gratuliren, sogar der blinde Michel tappt herein und greift
+an ihm herum, greift gleich einen Offizier heraus; Alles lobt, bewundert
+den Benedict, tadelt die unerbittliche Rosa und diese muß zuletzt, um den
+Straßenbasche nicht zu erzürnen, auch ein Wörtlein des Wohlgefallens von
+sich geben.
+
+Wie die Leute wieder fort sind, fragt der Alte: "Wie ist's mit dem Zeugniß
+vom Amt und Bürgermeister gegangen?"--["]Gar nichts weiß ich davon;
+entweder ist's vergessen worden oder die Offiziere haben es gar nicht oder
+im Wirthshause gelesen! Gewiß bleibt, daß zwei Andere fortgeschickt wurden,
+weil ihre Zeugnisse ein paar Tage ausblieben!"--"Ho, der Oberst hat eben
+deine Jugend in Anschlag genommen, er ist ein guter Herr, Alles vergißt
+sich leicht, wenn Du brav bleibst!"--"Ja, brav ist der Oberst! Gestern auf
+der Parade meldete ich mich und bat für heute um Urlaub, um
+Kleinmonturstücke zu holen. Da hat er mich ein wenig finster angeschaut und
+gefragt, ob ich denn eine Kaserne von einem Taubenschlage zu unterscheiden
+wisse. In der Todesangst nannte ich ihm Euern Namen, da strich er den
+großen Schnauz und gab mir Urlaub!"--"Wie lange?"--"Morgen früh bei der
+Tagreveille muß ich unterm Kasernenthor sein!"--"Ja, das sieht ihm gleich,
+er ist noch der alte Fuchser, bis er weiß, wen er vor sich hat!" lachte der
+Unteroffizier.
+
+Am andern Morgen oder vielmehr kurz nach Mitternacht eilt der Benedict mit
+einem ordentlichen Päcklein Freiburg zu. Mutter Klara und Rösele haben
+feine, blendendweiße Leinwand, woran übrigens im gesegneten Breisgau kein
+Mangel ist, hergegeben, damit der bierdürstende Compagnieschneider 2 paar
+Sommerhosen daraus mache; die Mutter des blinden Michel sorgte für Leinwand
+zu Unterhosen und Kamaschen, die Mutter des Saumathes brachte Hemden und
+Schuhe, der Straßenbasche und Andere schwitzten etwas Geld, das Rösele
+legte 3 baare Gulden dazu; noch nach Mitternacht geben einige Buben dem
+Benedict das Ehrengeleite eine gute Strecke weit und kehren erst auf sein
+wiederholtes Geheiß singend und jodelnd ins Dorf zurück.--Das Rösele hat
+ihm mit weinenden Augen so dringend empfohlen, Gott vor Augen zu haben und
+sich an brave, erfahrene Kameraden zu halten, der Duckmäuser muß Vorbilder
+suchen und diese sich zu Freunden machen, hat bereits seine Augen prüfend
+umhergeworfen.
+
+Montags nach der Austheilung der Menage mißt ihm der _Feucht_, der
+Compagnieschneider die Sommerhosen an und während der Operation fällt es
+dem Benedict bei, dieser Schneider sei das erbaulichste Muster eines
+stillen, frommen, gottesfürchtigen Soldaten. Weßhalb? Er hat die Maaß Bier,
+welche der Benedict ihm wegen der Montur zahlte, noch nicht getrunken, ist
+ein alter Soldat, der schon zum vierten Mal für Andere einstund, ein
+ruhiger gesetzter Mann, welcher den ganzen Tag bei seiner Arbeit sitzt,
+sehr wenig redet, mit Keinem umgeht, sich in seinem Arbeitseifer ungern
+stören läßt; die einzige Gelegenheit, bei welcher er zornig wird und in
+seiner Seehasensprache furchtbare, niegehörte Flüche zum Besten gibt, ist
+die, wenn Einer ihn necken will oder ihm Wachs, Zwirn, die Scheere, Maaße
+und dergleichen verlegt oder wegstipitzt oder nach seinem Ausdrucke "Dreck
+schwätzen" will.
+
+So lange der Benedict unter den Zweifarbigen steckt, hat sich Meister
+Feucht noch nicht herausgewichst, nicht einmal den ungeheuern rothen
+Schnurrbart gekämmt und wozu hätte er es thun sollen? An Werktagen wie an
+Sonntagen arbeitet der Schneider und kommt kaum zur Stubenthüre, geschweige
+zur Kaserne hinaus.
+
+Solch Muster der Eingezogenheit und Solidität hätte Benedict nicht unter
+den Hobisten gesucht; diese sind ein ziemlich lustiges und leichtes
+Völklein und der Feucht beinahe der Einzige, an welchen er sich getrost
+anschließen möchte.
+
+Doch jedes Wort, was der Straßenbasche vorgepredigt, klingt fort in unserm
+Rekruten und so oft er sich dem Compagnieschneider nähern will, glaubt er
+aus dem ernsten, strengen Gesichte desselben folgende Worte des
+Straßenbasche zu lesen:
+
+"Ein Rekrut soll sich vor allen längerdienenden Leuten stets in
+ehrerbiethiger Stellung und Entfernung halten, sich nicht vorwitzig oder
+gar frech in deren Reden mischen und Vorgesetzten jedes Ranges nur wenn er
+von diesen Etwas gefragt wird, anständig, bescheiden, kurz und wahrhaftig
+antworten!"
+
+Unter solchen Umständen mußte sich der Duckmäuser einstweilen begnügen, den
+Meister Feucht aus naher Ferne zu bewundern und mit dem Spruche trösten:
+Kommt Zeit, kommt Rath, dann folgt die That!--
+
+Am 5. Mai steht der Schneider in aller Frühe auf, bürstet mit der
+Silberglätte die rothgewordenen Messingknöpfe seines Monturfrackes, den
+Säbel, die Bataillenbänder des Tschako's, klopft dann drunten im
+Kasernenhofe Rock und Hosen aus, kleidet sich an und geht zum ersten Mal
+seit 5 Wochen im vollen Staate zur Thüre hinaus.
+
+Der Benedict besitzt nicht den Muth, Einen um Erklärung des so räthselhaft
+gewordenen Betragens seines Vorgesetzten zu bitten, denn er ist der Jüngste
+von Allen und diesmal sicher auch der Gespannteste. Um 8 Uhr geht der
+Schneider zum Rapport, wird unsichtbar bis um 9 Uhr, wo derselbe mit
+geröthetem Kopfe zur Probe kommt. Letztere ist beendigt, Meister Feucht
+nähert sich seinem Bette, doch zieht er den Frack nicht aus, sondern kämmt
+nur seinen feuerrothen Schnurrbart recht sorgfältig und eilt dann abermals
+raschen Schrittes zur Thüre hinaus.
+
+Der Schneiderstuhl bleibt heute den ganzen Tag unbesetzt, nicht Eine Nadel
+fädelt dessen Inhaber ein, weil er sich weder beim Mittagessen, noch beim
+Verlesen sehen läßt.
+
+Abends macht der Duckmäuser einen Spaziergang; kurz vor dem Zapfenstreich
+kehrt er zurück, die Tambours spannen ihre Trommeln, beim Kasernenthor aber
+hält ein Bauer mit einem Mistwagen; er trägt einen Tschako in der einen,
+die Geisel in der andern Hand, auf dem Mistwagen aber liegt lang
+ausgestreckt ein Soldat, ein Hobist, stöhnend, ächzend und unverständlich
+fluchend. Der Benedict erschrickt nicht wenig, wie er in diesem Hobisten
+sein nachahmungswürdiges Muster, nämlich den Compagnieschneider Feucht
+erkennt. Doch, wem ein Unglück begegnet ist, pflegt nicht Versuche zum
+Singen zu machen, der ganzen Welt Brüderschaft anzubieten und vor der
+Kaserne in seligem Entzücken zu jauchzen. Der gute Feucht ist schwer
+betrunken; der Bauer muß ihn abladen, singend legt er sich sofort auf den
+Boden, zwei Soldaten tragen und schleppen ihn zunächst auf die Stockwache,
+von da in den Dunkelarrest für Unteroffiziere und hier mag er nach etwa 36
+Stunden aus überirdischen Sphären wieder zum Bewußtsein seines soldaschen
+Schneiderthumes gelangen.
+
+Benedict erzählt den Musikanten, was ihrem Schneider begegnet sei, doch
+Keiner verwundert sich darob und der Nachbar zählt kurz Meister Feuchtens
+Erlebnisse auf. Nach drei Tagen wird dieser wiederum erscheinen, sich ruhig
+auf den Schneiderstuhl setzen, genau sechs Wochen lang die Nadel und das
+Bügeleisen schwingen, schweigsam, unermüdlich, ruhelos, denn sechs Wochen
+hat er Kasernenarrest und nur so lange der Schneider von diesem
+festgehalten wird, ist Hoffnung da, daß die Hosen und Röcke der Hobisten
+geflickt werden. Heute über 6 Wochen wird Feucht sich wieder putzen, um 8
+Uhr zum Rapport gehen, um sich als freier Mann zu melden, um 9 Uhr mit
+rothem Kopfe, doch taktfest die Deckel schlagen, um 10 Uhr verschwinden,
+Abends kurz vor dem Zapfenstreich von einem Bauer vom Mistwagen geladen,
+von zwei Soldaten der Kasernenwache in den Dunkelarrest für Unteroffiziere
+geschleppt werden und so fort bis in ferne Zeiten.
+
+Also hat's der Compagnieschneider Feucht vom Bodensee seit vielen Jahren
+gehalten; alle Obersten und Generale Europas würden ihn nicht dazu bringen,
+frei und freiwillig eine Nadel zu berühren, im Arrest dagegen ist er
+anerkannt der eifrigste und beste Schneider des ganzen Regimentes und
+dereinst wird er im Arrest oder im Rausche Abschied von der Welt nehmen und
+diese wird um ein Original ärmer geworden sein.
+
+Der Duckmäuser hörte auf, den Compagnieschneider als sein Vorbild zu
+betrachten, er dachte an Rosa und seufzte.
+
+Unter 30 bis 40 Mann sollte es keinen braven und frommen geben? Nein, unter
+den Musikanten des Regimentes gibt es nachahmungswürdige, wackere und
+geschickte Leute, vorzüglich unter den Hobisten erster Klasse, doch diese
+sind verheirathete Männer, wohnen gar nicht in der Kaserne, lassen sich
+nicht zu einem jungen Menschen herab, kommen nur Morgens mit dem
+Kapellmeister zur Probe und der Benedict darf ihnen höchstens die
+Säbelkuppel anstreichen, die Knöpfe und Anderes recht glänzend putzen.--
+
+Im Zimmer befindet sich ein junger Mann, auf welchen das Auge des
+Enttäuschten fällt. Derselbe spricht fast noch weniger als Meister Feucht,
+geht auch mit Niemanden um, er liest beständig. Er liest vor und nach der
+Probe, liest während des Mittagsessen, liest den ganzen Nachmittag und wenn
+er Abends zuweilen ausgeht, nimmt er jedesmal einen Pack Bücher mit und
+bringt einen andern zurück. Schon lange hätte ihn der Duckmäuser gerne um
+eines seiner interessanten Bücher gebeten, doch er getraute sich dessen
+nicht, Straßenbasche's Ordre kommt ihm nicht aus dem Sinn; bald eilt ein
+glückliches Ohngefähr dem Schüchternen zu Hülfe. Eines Morgens steht der
+Lesefreund sehr frühe auf, setzt sich ans Fenster, liest und vergißt vor
+lauter Lesen das Morgenessen, liest fort, bis der Kapellmeister erscheint.
+
+Jetzt steht er auf, schleppt seine große Trommel an ihren Platz, haut
+während der Probe ingrimmig auf das Kalbsfell hinein, schlägt einigemal
+fehl und erhält dafür 2 Tage Zimmerarrest, um die Gedanken zu sammeln.
+Mittags kommt er zum Benedict, ersucht denselben, ihm einen Pack Bücher in
+die Leihbibliothek Waizeneggers zu tragen und alle zu bringen, deren
+Nummern auf dem beigelegten Zettel ständen. Freudig geht der von
+Kindesbeinen an dienstfertige Duckmäuser mit den Büchern fort, läuft jedoch
+nicht die Kaiserstraße, sondern den Löwenrempart hinauf; auf diesem kleinen
+Umwege ist er sicherer vor honneurswüthigen Unteroffizieren und Offizieren
+und kann ein bischen in die Bücher hineinschauen. Ein leidenschaftlicher
+Geschichtenerzähler ist der Duckmäuser von jeher gewesen, die Titel dieser
+Bücher eröffnen ihm eine neue Welt, er begreift die Lesewuth des großen
+Trommelschlägers, indem er liest: Bruckbräu oder der baierische Hiesel
+geschildert als Wildschütz, Räuberhauptmann, und landesverrufener
+Erzbösewicht--Simon Tanger der furchtbare Seeräuber--die sechs schlafenden
+Jungfrauen, eine Ritter- und Geistergeschichte--Ritterkraft und
+Mönchslist.--Die Grafen von Löwenhaupt--Tausend und Eine Ausschweifung.
+
+Zitternd vor Freude, denn jetzt hat unser Rekrut gefunden, an was er sich
+halten soll, was ihn vor aller Gefahr wahrte und damit sein zeitliches und
+ewiges Glück feststellt, tritt er in die Bibliothek und die langen Reihen
+aufgestellter Bände entflammen vollends die längst gehegte Sehnsucht nach
+recht vielen Büchern zur Leidenschaft. Bisher hatte er leidenschaftlich
+Musik getrieben, denn in der Kaserne hatte er am ersten Tage den gewaltigen
+Unterschied zwischen der Dorfkirchweihenmusik und der Musik einer
+militarischen Musikbande entdeckt, unter welcher wahre Künstler und
+Virtuosen steckten; die Regimentsmusik, versetzte ihn in trunkenes
+Entzücken und kein Hobist übte sich fleißiger auf seinem Instrumente, denn
+der Duckmäuser. Doch Clarinettblasen konnte er auch nicht den ganzen Tag
+und weil er stets dachte, alle Gelegenheit meiden sei das Beste und fast
+immer zu Hause blieb, so fühlte er oft herzliche Langweile.
+
+Nunmehr wollte er seine ganze Zeit theilen zwischen der Clarinette und den
+Büchern und er thats. Bald unterschied er sich vom großen Trommelschläger
+nur noch dadurch, daß er durch seinen Eifer für Musik sich die ganze
+Achtung und Liebe seines Kapellmeisters erwarb, bald keiner Belehrung mehr
+bedurfte, Alles vom Blatte wegblies und ein ordentlicher Künstler wurde.
+
+Er hätte einen wirklichen Virtuosen abgeben und zugleich mehrere
+Instrumente erlernen können, doch dazu reichte die Zeit nicht hin, denn
+wenn er gerade mit einem rechten Bücherhelden zu thun hatte, vergaß er oft
+Essen, Trinken und Schlafen, bis er Alles wußte, was derselbe gethan und
+welches Fräulein er beglückt oder welchen Tod er erlitten habe.
+
+Die Clarinette und der Katolog Waizeneggers verschlangen über ein Jahr
+eines stillen, glücklichen, genußreichen Lebens, ließen ihn alle
+Bierschenken, Wirthshäuser und Stadtmamsellen vergessen; alle Vorgesetzten
+achteten und liebten ihn, die Spöttereien und Neckereien leichtfertiger
+Vögel berührten ihn wenig, er gewann durch seine Freundlichkeit und
+Dienstfertigkeit die meisten Kameraden für sich, ohne ihre Einladung zum
+Ausgehen anzunehmen. An Samstagen fehlte er niemals auf dem Münsterplatze,
+wenn er glauben durfte, die Rosa zu treffen, Abends schrieb er zuweilen
+Briefe voll Gluth, Inbrunst und Tugendsinn und wenn er Urlaub bekommen
+konnte, eilte er ins Rheindorf hinüber.
+
+Von Zeit zu Zeit brachte er seinem Rösele kleine Geschenke, vergaß niemals,
+dem Straßenbasche einige Päcklein ächten Portorikos, der kleinen Johanna
+und andern Kindern Milchbrödlein mitzubringen. Der alte Unteroffizier
+wußte, was ein stets ordentlich gefüllter Geldbeutel bei einem Soldaten und
+insbesondere bei einem Hobisten zu bedeuten habe, sah das gesunde Aussehen
+und die Nüchternheit des künftigen Schwiegersohnes, hörte, wie begeistert
+derselbe von seinem Stillleben in der Kaserne sprach und wie fremd ihm die
+Stadt blieb, er jubelte vor Freuden und die vornehmsten Bürger des Ortes
+sammt dem alten, ehrwürdigen Geistlichen eilten in das Haus des
+Straßenbasche, wenn es hieß, der Zweifarbige sei im Dorfe wieder gesehen
+worden.
+
+Als noch im nächsten Frühling die Hobisten der Rosa auf dem Wochenmarkte
+dasselbe bestätigten, was sie im vorigen Sommer schon gesagt, daß nämlich
+der Benedict sicherlich durch sein ewiges Lesen noch ein "Pfaffe" werde und
+in ein Kloster wandere, da verloren sich auch ihre Besorgnisse, sie glaubte
+an die vollkommene Besserung ihres Geliebten und fühlte sich glücklich.--
+
+Eines Tages sitzt der Duckmäuser mit dem Leibe auf dem wieder einmal
+verwaisten Schneiderstuhle des Meister Feucht, mit den Gedanken jedoch
+schwärmt er in überirdischen Regionen und mittelalterlichen Zeiten.
+
+Während der Hobist an einem Stücke Komißbrod kaut, hält der Romanleser just
+auf einem glänzend schwarzen Streitrosse, den Leib mit einer silbernen
+Rüstung bedeckt, auf dem Haupte einen goldenen Helm mit wehendem
+Federbusche und hinaufgezogenem Visir als Sieger beim Turnier auf der
+Todesklippe vor dem Balkon der Ritterfräuleins. Die Königin aller
+Schönheit, die bezaubernde 17jährige Gräfin Etietta, um welche sich binnen
+kurzer Zeit 700 Ritter, 300 Grafen, 90 Herzoge und 11 kaiserliche und
+königliche Prinzen bereits todtgeschlagen, reicht ihm eine mit Gold und
+Edelsteinen reich geschmückte himmelblaue Schärpe und heftet zum Zeichen,
+daß sie ihn unter Allen einzig und allein liebe, eine rothe Schleife an
+seine Lanze. Eben will er in die Schranken zu den Rittern zurücksprengen,
+als ein dickköpfiger Füselier zur Stube herein und gerade auf ihn losgeht,
+um zu melden, Hobist Benedict werde im Münster von 2 Frauen erwartet.
+
+Er plumpt in die schaale, prosaische Wirklichkeit zurück, doch bang und
+freudig zugleich schlägt sein Herz fort, denn augenblicklich denkt er an
+Etwas, dessen Mangel einzig und allein die Seligkeit seines Kasernenlebens
+stört.
+
+"Der Eltern Segen baut den Kindern Häuser, ihr Fluch reißt sie darnieder!"
+hat er als Unterlehrer viele hundertmal gehört, gelesen und geschrieben und
+das furchtbare Wort "Nenne mich nie mehr Deine Mutter!" tönt wie Todtensang
+und Eulenschrei in den sonnenhaften Himmel der Gegenwart hinein.
+
+In aller Eile putzt er sich, eilt zur Kaserne hinaus, doch läuft er weit
+langsamer, wie er bei der Post aus der Kaiserstraße auf den Münsterplatz
+einlenkt, er muß sich erinnern, daß er vor kurzem Sieger im großen Turnier
+bei der Todesklippe gewesen sei und als Hobist mindestens so vielen Muth
+besitzen müsse, um im Nothfalle vor einer alten Frau zu erscheinen.
+
+Durch eine Seitenthüre tritt er in den herrlichen Tempel, wandert durch den
+Säulengang emsig umherspähend hinauf und entdeckt endlich die Rosa, welche
+betend vor einem Nebenaltare kniet. Dieselbe ist allein; doch nein! Die
+gigantische Säule hat Rosas Nachbarin verborgen, er kennt dieselbe nicht
+recht, doch sieht er soviel, daß es ein altes Mütterchen und sein pochendes
+Herz sagt ihm, wer es sei. Er bleibt stehen, hustet ein wenig, Rosa schaut
+um, steht auf, nimmt das ebenfalls sich erhebende Mütterchen bei der Hand,
+beide kommen auf den Hobisten zu--das Mütterchen ist Mutter Theres.
+
+Welch Zusammentreffen, welch Wiedersehen!
+
+"Das ist Euer Sohn, mein geliebtester Freund!["] sagt die tiefbewegte Rosa;
+laut weinend wankt das Mütterlein heran, sieht vor Thränen die Hand nicht,
+welche ihr der Sohn entgegenstreckt und erst als er fragt: "Mutter, seid
+Ihr mir noch immer böse" spricht sie leise schluchzend: "Nein, Benedict, Du
+bist wieder mein Kind!" und reicht ihm die verwelkte Hand.
+
+"Gott sei Lob und Dank!" jubelt der Hobist und tritt in einen Kirchenstuhl,
+um für die Erfüllung seines einzigen Wunsches zu danken, die Mutter und
+Rosa thun das Gleiche.
+
+Alle Drei gehen in die Kaserne, der Benedict freut sich, den Weibern, die
+vom Inwendigen einer Kaserne gar wunderliche Vorstellungen herumtragen,
+Alles zeigen und erklären zu dürfen und ermangelt nicht, die Freude
+derselben durch Vorzeigung einiger seiner lieben Bücher vollständig zu
+machen. Aus der Kaserne geht's in den Löwen hinüber, ein guter Markgräfler
+wird aufgestellt, der Hobist weiß schon, daß Mutter und Geliebte nicht alle
+Jahre zu einem Gläslein vom Besten kommen.
+
+Das Aussehen und die schöne, ehrende Kleidung sammt den Reden und Benehmen
+des Duckmäusers versetzten im Bunde mit dem Gläslein dessen Mütterlein in
+den siebenten Himmel, sie reicht ihm alle Augenblicke die Hand, ihr Auge
+ruht unbeweglich auf ihm und sie kann ihn nicht oft genug ihrer Liebe
+versichern und um Verzeihung bitten.
+
+Mutter und Geliebte begleiten den Helden um 5 Uhr Abends zum Verlesen, der
+alten Frau schießen Zähren in die Augen, wie sie ihren verlornen und
+wiedergefundenen Sohn so blühend und stattlich im geschlossenen Gliede
+stehen sieht und wie dessen Name verlesen wird, meint sie, die ganze
+türkische Musik mit den lieben Engelein im hohen Himmel müsse einen
+Freudentusch darauf folgen lassen und vergißt alle Schmerzensthränen,
+welche er ihr schon ausgepreßt hat.
+
+Abends sagt sie beim Abschied mit weinenden Augen: "Schau' Benedict, schon
+lange und viel tausendmal habe ich gewünscht, sterben zu können, mein Jakob
+hat's ebenso gehabt, nun aber wünsche ich mir, noch lange zu leben, denn
+ich bin wieder eine glückliche Mutter; viel Thränen hab' ich vergossen um
+deinetwillen, diese aber, die jetzt über meine alten Backen fließen, sind
+süß, es sind Freudenthränen!"
+
+Mutter und Sohn sind glücklich, am glücklichsten ist das Rösele, welches
+bald mit ihr vor Freuden weint, bald ihn wie ein Engel anlächelt und sich
+von diesem Tage kindlich an Mutter Theres anschmiegt.
+
+Am nächsten Morgen trennen sich alle Drei, sie versprechen bald möglichst
+wieder zusammenzukommen, die Mutter hat fahren sollen, doch es durchaus
+nicht gethan, der Sohn hat zuerst dem Rösele ein kleines, dann der Mutter
+ein großes Geleit gegeben und kehrte glücklicher als je in die Kaserne zur
+Klarinette und zu den Büchern zurück, welche der große Trommelschläger
+indessen für ihn ausgelesen hat.
+
+Wo und wie kamen Mutter Theres und das Rösele zusammen?
+
+Auf dem Wege von Freiburg nach Sanct Georgen steht bis zur Stunde links an
+der Landstraße ein winziges Kapellchen; die Rosa war vom Straßenbasche nach
+Freiburg geschickt worden und hörte in diesem Kapellchen weinen und beten.
+Sie trat hinein und kniete neben der Mutter Theres, jedoch ohne dieselbe zu
+kennen, denn erstens ist das Kapellchen winzig wie die Neuzeit und
+dämmerungsreich wie das Mittelalter und zweitens ist's schon eine schöne
+Zeit, seitdem der ehrliche Klaus am Herzbruch starb, weil er keinen
+Wortbruch begehen wollte, das Rösele sammt den Geschwistern ist aus dem
+Dörflein fortgezogen und ein großes, stattliches "Maidle" geworden.
+
+Tief und schwer seufzt, bitterlich weint das Mütterchen und aus ihren Reden
+entnimmt Rosa, daß schwerer Kummer um eines Ungerathenen willen ihr Herz
+drückt und daß sie eine Landsmännin vor sich habe, welche im Begriffe
+stehe, eine Wallfahrt nach Marien Einsiedeln zu machen, was bei einer so
+alten, gebrechlichen Frau schon Etwas heißen will. Nach wenigen Fragen weiß
+das Mädchen, Benedicts Mutter stehe neben ihr, das liebende Herz wallt auf
+und fragt, ob das Mütterlein schon lange nichts mehr vom Sohne gehört habe
+der Benedict heiße. Doch die Frage wirkt arg, das Mütterlein schreit auf
+und bricht fast zusammen, fleht unter Thränen, diesen Namen nicht mehr zu
+nennen, kein Wort mehr von dem Sohne zu reden.
+
+Daheim im Dörflein schämten sich die Eltern des Duckmäusers so sehr, daß
+sie um keinen Preis nach demselben gefragt oder auch nur dessen Namen
+genannt hätten. Die Dorfbewohner wußten dies, schonten deßhalb die
+unglücklichen Leute, doch wußten diese von der Margareth, daß der Benedict
+am Rheine drüben die Schweine hüte, denn der "Saumathis" sagte es bei einem
+Besuche der Verwandten, welche er im Dörflein besaß. Kein Mensch wußte
+jedoch, daß der Schweinhirt zum Hobisten geworden und in der Kaserne zu
+Freiburg sei, Mutter Theres hatte sich ihr banges und doch halbfreudiges
+Ahnen beim Durchmarsche durch Freiburg auch nicht erklären können. Jetzt
+sagte das Rösele, was und wo der Benedict zu finden, gab sich selbst zu
+erkennen und suchte die Alte zu bewegen, mit ihr in die Stadt
+zurückzugehen. Lange und harnäckig bleibt die Mutter dabei, den Sohn nicht
+sehen zu wollen, aber das Rösele hört mit guten Versicherungen, Bitten und
+Betteln nicht auf und so kam es zuletzt doch, daß die Beiden zusammen durch
+das Breisacherthor in die schöne, freundliche Kaiserstraße und beim Museum
+hinüber in das Münster wandelten, in welchem Bernhard von Clairvaux den
+Kreuzzug gegen die Ungläubigen im fernen Morgenlande, heuer die Jesuiten
+wahrhaft zeitgemäß den Kreuzzug gegen den Unglauben im Herzen der Zuhörer
+predigen.
+
+Ein Soldat schlägt einem hübschen Mädchen selten oder niemals eine
+freundliche Bitte ab und so geschah es, daß ein dicker Füselier, der auf
+dem Münsterplatze stand, die Zähne am Winde trocknete und am wunderbar
+schönen, durchbrochenen Münsterthurm schwindelnd und staunend hinaufsah,
+auf Rosas Geheiß eiligst zur Kaserne trabte und den Hobisten Benedict
+mitten im Siege von der Gräfin Etietta weg ins Münster zum armen Mütterlein
+und zur Pflegetochter des Straßenbasche zauberte.
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+# DIE KIRCHWEIHE#
+
+
+Vater Jakob zählt dem Hannesle just aus dem ledernen, eingeschrumpften
+Opferbeutel vier rothe Batzen als Kirchweihgeld auf den Tisch, dieser hält
+jeden sorgfältig zum Licht, um etwas höchst Ueberflüssiges zu untersuchen,
+nämlich ob es auf dieser Erde auch Falschmünzer gebe, welche auf den
+Einfall gerathen sein könnten, falsche Schweizerbatzen zu machen; das
+Vefele sitzt mit der kleinern Schwester auf der Ofenbank und redet mit
+Benedicts Schwestern, die Susanne nennt alle Buben, mit welchen sie auf der
+Kirchweih tanzen und nicht tanzen werde, Mutter Theres sitzt am
+Spinnrädlein und netzt den Faden, da--klopft es leise und bescheiden an der
+Thüre. Die Mutter denkt an einen muthwilligen Buben, am allerwenigsten an
+ihren Sohn, von dessen Wiedersehen sie einzig und allein ihrem Alten gesagt
+hat; sie weiß, derselbe sei nicht mehr in Freiburg, sondern mit seinem
+Regimente in Carlsruhe drunten und gegenwärtig mache derselbe die große
+Revüe mit. Sie sagt deßhalb nicht "Herein," sondern: ["]d'Herren sind
+draußen, d'Bettelleut drinnen!" und die Susann' ruft mit ihrer
+glockenhellen Stimme: "Wir sind nit gärn klopft!"
+
+Aber die Thüre geht auf, außer der Mutter erschrecken Alle gewaltig, denn
+ein großer, glänzend geputzter Soldat mit Tschako und nachläßig
+überhängendem grauem Mantel steht mitten in der Stube und lächelt, daß der
+keimende kohlschwarze Schnurrbart beträchtlich in die Länge wächst.
+
+Der Hannesle macht Augen wie Pflugräder, die kleinern Kinder schleichen
+schüchtern hinter dem Ofen, der Jakob steht befremdet auf, doch die Susanne
+schreit mit dem Vefele aus Einem Munde: "Ohje 's isch jo Euer Duckmäuser!"
+
+Er ist's richtig, denn der Oberst hat ihm nach der Revüe Urlaub auf 14 Tage
+gegeben, obwohl er diesmal nicht zum Straßenbasche wollte. Nach der Revüe
+nehmen ja die meisten Hobisten Urlaub und hätte der Benedict nach
+jahrelangem Besinnen sich nicht wieder einmal im Dörflein sehen lassen
+sollen? ...
+
+Jetzt fängt das Händedrücken, Küssen, Grüßen und Fragen an, der finstere
+Jakob thaut ordentlich auf, die beiden Mädchen wissen nicht, was sie vor
+Freuden thun sollen, denn sie möchten ebenso gern bleiben als die
+unverhoffte Ankunft des alten Herzkäfers den Kammerädinnen ansagen. Endlich
+rennt das Vefele ins Unterdorf, die Susanne ins Oberdorf und ehe eine halbe
+Stunde vergeht, hat Benedict all den alten Lieblingen in die klaren
+Aeuglein geschaut und herzinnige Freude über seine Ankunft darin
+herausgelesen. Allen? Wir irren, denn zwei fehlen, erstens Maxens Rothe und
+zweitens die Sabine. Die Rothe ist in Folge ihres unordentlichen Lebens bei
+ihrer Schwitt nach langer, schmerzlicher Krankheit schon im 18. Jahre
+gestorben, die Sabine, zur rothen Schwitt desertirt, trägt eine Frucht
+ihres aufgeklärten Lebens auf den Armen und verbirgt sich gleich einer
+Eule, weil sie noch nicht so weit gekommen, gleich 5 Kameradinnen, welche
+zur alten Garde der rothen Schwitt gehören und mit ihren Verdiensten um
+Vermehrung des Menschengeschlechts stolz thun.
+
+Die Meisten jedoch stehen und sitzen fröhlich und freudig in Jakobs Stube,
+erst nach Mitternacht bringen sie es über sich, dieselbe zu verlassen, doch
+keine schließt daheim ein Auge, jede hat's am andern Morgen gestanden.
+
+Am andern Tage wandelt an der Hand des alten Lehrers der Benedict der
+Kirche zu; der rothe fliegende Haarbusch auf seinem glänzenden Tschako
+scheint die Oriflamme zu sein, welcher das ganze Dörflein in Einem Truppe
+folgt, mehr als ein bejahrter Mann und mehr als Einer wird lediglich durch
+das Gedränge verhindert, dem ehemaligen Dorfhanswurst, welchen sie als
+kleines pausbackiges Büblein mit schwarzen Augen voll Leben und
+Beweglichkeit gesehen und geliebt, öffentlich einen Kuß zu geben.
+
+Nur die Buben der rothen Schwitt ließen sich nicht herbei und die Mädlen
+derselben thaten gleich verscheuchten Hühnern.
+
+Während der langen Abwesenheit des Duckmäusers hatte die rothe Schwitt im
+Dörflein große Siege gefeiert, denn es gab keinen Burschen, welcher dem
+reichen, wüsten und wilden Max herzhaft und beharrlich mit Glück
+entgegentrat, die schwarze Schwitt hatte ihr Haupt verloren und zerfiel.
+Mancher Bube und manches Mägdlein trat zur rothen Schwitt über, weil sie
+auch ein Vergnügen oder mindestens ihre Ruhe haben wollten. Seit 2 Jahren
+gebot der Marx auf allen Tanzböden und in allen Wirthshäusern, über alle
+Vergnügungen der Dorfjugend, schloß alle "Altmodischen" davon ab und weil
+die rothe Schwitt auch in den umliegenden Ortschaften ihre Anhänger und
+Verbündeten zählte, welche ebenfalls emporkamen, so wurden diejenigen,
+welche hartnäckig altmodisch bleiben wollten, nicht nur von allen Freuden
+und Festen ausgeschlossen, sondern auch noch auf alle möglichen Weisen
+verfolgt und gekränkt. Max sah immer noch die verhaßte schwarze Schwitt
+fortbestehen, so lange nicht _alle_ Buben und Mädlen ihm anhingen und
+wirklich gab es Viele, welche beharrlich von allen Festen wegblieben und
+Alles erduldeten, denn Solches thaten.
+
+Die Treuesten unter den Altmodischen waren Söhne und Töchter recht
+christlich gesinnter Eltern, denn wie konnten diese ihre Kinder bei einer
+Gesellschaft sehen, deren Anführer der Max vom Rindhofe war? Zog sich der
+Max durch sein abscheuliches, gottloses Leben nicht einen Leibschaden zu,
+so daß er auch leiblich verkrüppelte? Bezeugte nicht der eigene Vater
+desselben, sein Einziger werde mit jedem Jahre liederlicher und bringe ihn
+frühzeitig in die Grube? Weinte der herzensgute Fidele nicht oft bei seinen
+Nachbarn die bittersten Thränen über den ausgearteten Sohn und ließ sich
+nur dadurch trösten, weil er demselben weder durch Rede noch That jemals
+ein böses Beispiel gegeben habe? Lagen die Gesinnungen der rothen Schwitt
+nicht in täglich sich häufenden Werken offen und erschreckend zu Tage?
+
+Alles dies bewirkte, daß trotz dem Zerfallen und Zusammenschmelzen der
+schwarzen Schwitt nach Benedicts Abfall stets ein kleines Häuflein braver
+Buben und Mädlen altmodisch blieb, man mochte gegen sie unternehmen was man
+wollte.
+
+In der letzten Maiennacht zeigten die Rothschwittler so recht ihre Bosheit
+und ließen dieselbe an der armen Margareth und deren Schwestern aus, deren
+Wohnhaus mit mehr als 500 Maien ganz umstellt wurde. Nahe am Kammerfenster
+entdeckte man am Morgen des ersten Mai einen Strohmann von abscheulicher
+Gestalt, einen Besen, mit Dünger bestrichen und mit einem Rosenkranze
+behängt, eine Ofengabel mit Salbhäfelein; da einen Stab mit einem alten
+Kochhafen, dort einen mit einigen Rinderschuhen, viele andere mit
+Ochsenohren, Hahnenkämmen, Gansschnäbeln, Schwänzen von Katzen und Hunden,
+der Eierschaalen, Nachttöpfe, Schlapphüte, weiblichen Zwilchröcke und
+dergleichen gar nicht zu gedenken.
+
+Heuer an der Kirchweih wollte der Max das Oberkommando in zwei Dörfern
+führen und, da er als Krüppel doch den Willibald Tanzkönig sein lassen
+wollte, vor Allem dafür sorgen, daß die "Altmodischen" zu keinem Freudlein
+gelangten--die plötzliche Erscheinung des Duckmäusers am Kirchweihsonntage
+machte jedoch einen gewaltigen Strich durch seine Rechnung und er merkte
+gleich, die meisten der ehemaligen Schwarzen seien eben doch keine rechten
+Rothen geworden.
+
+Begleitet von Alten und Jungen, von Altmodischen, deren Gesichter vor
+Freude strahlen und von Neumodischen, die den Stiel rasch umkehren, weil
+sie keine aufrichtigen Rothschwittler sind, tritt der Benedict in die
+Kirche; die beurlaubten und alten Soldaten aber weisen ihm den ersten Platz
+im Soldatenstuhle an und versprechen, aus allen Dörfern des Stabes ihm zu
+Gefallen auf die Kirchweihe seines Dörfleins zu kommen. Kaum ist der
+Nachmittagsgottesdienst beendet, so beginnen 6 Musikanten im Hirzen
+Straußische Walzer zu spielen, das Wirthshaus und der Tanzsaal wimmelt von
+Infanteristen, Dragonern und himmelhohen Kanoniren, welche der Benedict aus
+der Kirche mitgebracht hat, andere fremde Buben und Mädlen kommen auch und
+die Rosa ist verabredetermaßen bereits seit Mittag nach langen Jahren
+wieder einmal im Heimathdörflein und hat das Grab der rechtschaffenen
+Eltern bereits besucht; das ganze Dörflein ist voll Leben und Freude und
+die seit zwei Jahren von jeder Lustbarkeit ausgeschlossenen Getreuen der
+ehemaligen schwarzen Schwitt werden die Heldinnen dieser Kirchweihe, mit
+Ehrenbezeugungen und Lobreden von den achtbarsten Bürgern, geschweige von
+den Jungen, überschüttet.
+
+Kein rechter Rothschwittler durfte sich diesmal im Tanzsaale blicken lassen
+und ihre entehrten Mädlen, welche sonst die vornehmste Rolle zu spielen
+pflegten, dürfen sich nicht einmal dem Hirzen nähern.
+
+Einige reiche Bauern, wie der Fidele, Maxens Vater und der Liebhardt,
+legten einige Kronenthaler zusammen, um den getreuesten Mädlen der
+schwarzen Schwitt, welche rasch wieder auflebt, eine Freude zu machen, am
+Kirchweihmontag wurden schöne Halstücher gekauft und dieselben am Dienstag
+ausgetanzt.
+
+Schon am Montag traten einige rechtschaffene Männer, denen das Treiben beim
+Brandpeterle und Andern längst ein Gräuel gewesen, im Hirzen in den Bund
+der schwarzen Schwitt und gelobten auf Benedicts Zusprache öffentlich und
+feierlich, fortan über die Sitten der christlichen Jugend des Dörfleins zu
+wachen, die ehr- und schamlosen Maxianer zu vertilgen.
+
+Dies und noch weit Aergeres muß der Max mit anhören, der mit dem Willibald
+und zwei Anderen in einem Winkel der Wirthsstube würfelt.
+
+"Dort hinten, sagt der tiefbewegte Fidele und deutet auf den Max, dort
+hinten hockt mein Schöner, den ich wohl noch am Galgen sehen muß!" ... Zum
+Vater des Duckmäusers, zum Jacob gewendet, der heut mehr als ein Hälbsle
+schluckt, sagt er weinend:
+
+"Euer Sohn hat Euch viel Kummer gemacht und manche Thräne ausgepreßt, denn
+er war leichtsinnig, aber doch nie so liederlich und so bis ins Innerste
+verdorben, wie mein Einziger dort hinten! ... Dieser macht Euch jetzt
+wieder Ehre, Freude und Trost, der meinige wird mir Kummer bereiten bis zum
+Grab und mein einziger Trost bleibt, daß Gott und Ihr wisset, wie ich meine
+Pflicht als christlicher Vater erfüllte! ... Hab´ Alles gethan, ihn an Leib
+und Seele gesund zu erhalten, jetzt ist er doch an Leib und Seele ein
+Krüppel!"
+
+Der Max schüttelt in seinem Winkel den Würfelbecher sehr lebhaft und thut,
+als ob er den Vater gar nicht höre; solch Benehmen empört alle Anwesenden,
+der Benedict stachelt den Hansjörg, mit dem er einst auf dem Katzenbänklein
+gesessen und Andere auf, nach zwei Minuten fliegt der Max zum Hirzen hinaus
+in den Straßenkoth, der Willibald und die Andern schleichen eiligst davon.
+
+Von dieser Stunde an haßt der Max den Benedict tödtlich und schon am Abend
+wird letzterer gewarnt, sich wohl in Acht zu nehmen, weil der Max mit
+geladener Pistole auf ihn lauere, doch Jener fragt wenig darnach und
+gebraucht blos die Vorsicht, während der Urlaubszeit Abends nie ohne Säbel
+auszugehen.
+
+Am glücklichsten fühlten sich während dieser Kirchweihe die alten Herzkäfer
+des Duckmäusers, die geehrten und beschenkten Jungfrauen der schwarzen
+Schwitt und nur Eine bekennt, daß sie nicht so glücklich sei, wie dies der
+Fall sein könnte. Diese Eine ist Margareth, Benedicts alte Geliebte, welche
+die Rosa an dessen Hand sieht. Die Rosa merkt dies wohl, spricht mit dem
+Benedict und sogar mit der Margareth selbst hierüber und erklärt, sie wäre
+bereit, für den Duckmäuser das Leben zu opfern, doch wenn er der älteren
+und damit mehr berechtigten Freundschaft gedenken wolle, so wolle sie
+entsagen.
+
+Die Margareth jedoch meint, nicht sie, sondern das Rosele habe den Benedict
+vor gänzlichem Verderben gerettet, die Entsagung müßte dem Rosele schwer
+fallen und könne ihr nicht zugemuthet werden. Beide Mädchen meinten es
+aufrichtig und wohlwollend mit einander und ebenso mit dem Benedict, ihr
+liebreicher Streit gab den sehr zahlreich anwesenden Gästen Anlaß zu einem
+Gespräche, wie es wohl in einer Stadt sehr selten vorkommen mag.
+
+Die Meisten kannten den Duckmäuser von Kindesbeinen an, sie wollten den
+Schiedsrichter zwischen der Margareth und dem Rosele machen und bei dieser
+Gelegenheit wurden alle Streiche, welche der Gegenstand ihres Streites
+jemals begangen, öffentlich besprochen; er erfuhr, daß die Wände Ohren
+haben; gar Vieles kam jetzt erst zur allgemeinen Kenntniß und er selbst war
+gescheidt und edel genug, bei der Aufdeckung seiner unsaubern Stücklein
+selbst mitzuwirken; dafür redeten Viele auch vom Guten, was er an sich trug
+und vollbracht hatte.
+
+Endlich erhebt sich der älteste und ehrwürdigste Mann der Gemeinde, der
+eisgraue Korbhannes, welcher seit mehr als zwanzig Jahren kein Wirthshaus
+inwendig gesehen hat, heute seinem Liebling zu Ehren kam und seinen Sitz
+zwischen dem alten Schulmeister und dem Stabhalter nehmen und sich von
+diesen zechfrei halten lassen mußte. Er nimmt langsam die Zipfelkappe herab
+vom zitternden Haupte, es wird so still in der dichtgedrängten Stube des
+Hirzenwirths, daß man hätte können eine Stecknadel fallen hören und dann
+spricht der Greis, während er mit glänzenden Augen umherschaut:
+
+"Ich weiß, daß ich von Gott und der Welt geliebt und geehrt werde; von
+Gott--dies beweist mein alter grauer Schädel,--von der Welt--dies sehe ich
+mit meinen Augen in diesem Augenblicke ... Heute ist noch ein Freudentag
+für mich vor meinem Tode, an welchem ich wie ein Jüngling mit Euch und dem
+lieben Herrgott Gesundheit trinken werde! Es ist ein glücklicher Tag, denn
+ein Verlorner unseres Dörfleins ist ja wieder gefunden--das allein macht
+mich heute so jugendlich und ist ja auch die einzige Ursache, daß der Vater
+Steffen dort und die Mutter Ursula dort drüben in ihrem hohen Alter noch
+einmal zu der ledigen Jugend auf der Kirchweihe sich gestellten! ... Es ist
+der größte Schmerz für rechtschaffene Eltern, ein ungerathenes Kind zu
+haben, aber auch der seligste Augenblick, wo ein verirrtes Kind wieder in
+ihre Elternarme zurückkehrt. Davon haben wir heute einen sprechenden
+Beweis, denn wer könnte wohl theilnahmlos bleiben an der Freude der Theres
+und des Jacob? ... Möge Gott dem Benedict auch ferner Seine Barmherzigkeit
+erzeigen, daß wir einst so wie jetzt hier voll Freuden in der Ewigkeit
+beisammensitzen dürfen! ... Gott weiß es, wie ich den Benedict liebte,
+seitdem er die ersten Hosen an hatte und diese Liebe ist nicht
+verschwunden, als er, mit Schande und Fluch bedeckt, sich aus dem Dörflein
+entfernte! ... Heute, da wir ihn als Mann und Christ wieder unter uns
+haben, brennt mein Herz recht für ihn und wird ewig brennen! Ich sage:
+ewig, denn gar bald wird mich Gott zu sich nehmen und daher glaube ich auch
+vor Euch Allen ein Vorrecht zu haben, dem Benedict zu rathen, wie er
+glücklich bleiben wird!"
+
+Sich zum Duckmäuser wendend, fahrt der Alte fort:
+
+"Dir rathe ich nun, fürchte Gott und halte Wort, dann kannst du einst mit
+derselben Ruhe und Freude in die Ewigkeit schauen, wie du es an mir siehst
+und nun, was diese zwei Mädlen betrifft, die dich mit gleicher Liebe
+lieben, so entscheide du selbst, denn Eine nur kann´s sein!"
+
+Nach dieser Rede setzte sich der Greis, kein Beifallsgeklatsche ließ sich
+hören, doch in mehr als Einem Augenpaar standen Thränen, der Benedict
+jedoch betrachtet arg verlegen bald die Margareth, bald die Rosa und dann
+wieder seine Mutter, welche neben Margarethens Großmutter, der alten Ursula
+sitzt.
+
+Er weiß nicht, was er reden soll, hofft, Mutter Theres werde entscheiden,
+doch diese ist zu gewaltig erschüttert von der Rede des Korbhannes und dem
+Edelmuth der beiden Mädlen, es entsteht eine lange, peinliche Pause, bis
+sich endlich gar die bereits 81jahrige Ursula erhebt und redet:
+
+"Wie der Korbhannes vorhin gesagt hat, so muß ich auch sagen: ich habe den
+Benedict da von seiner Kindheit bis jetzt mütterlich geliebt und er allein
+ist´s, der mich, eine 80jährige Großmutter, noch einmal aus der stillen
+Stube in den Hirzen brachte und mir vor meinem Tode den Vorgeschmack ewiger
+Seligkeit kosten läßt;--aber ich bin der Meinung, er sei noch lange nicht
+aus allen Gefahren! ... Ich will mit diesen Worten den Ernst seiner
+Besserung nicht bezweifeln, allein er ist noch zu jung und unerfahren, um
+sich an fremden Orten unter fremden Leuten stets auf dem ebenen Wege
+halten zu können. Wir können noch wohl Ursache bekommen und besonders ihr
+Jüngern, über ihn so zu trauern und ihn so zu beklagen, wie wir uns heute
+über ihn freuen; er ist noch nicht gewonnen, so lange er von Fremden
+umgeben ist. Darum aber bin ich der Meinung, es sei am besten, er bleibe
+seiner einstweiligen Retterin, wie ich das brave Rosel nennen muß,
+anvertraut! ... Dieses Mädchen, von der uns oft unbegreiflichen Vorsehung
+gar früh in die fremde Welt hinausgeschleudert und der rohesten Behandlung
+preisgegeben, hat sich trotz allen widrigen Umständen gar lieblich, Gott
+und Menschen wohlgefällig entfaltet! ... Das Rosele bekam von Gott die
+Gnade, zu bewirken, was wir alle sehnlichst zu wirken wünschten und doch
+nicht vermochten! ... Alle unsere Ermahnungen, Warnungen und Strafen
+blieben fruchtlos bei diesem Verirrten, das Rosele aber hat ihn durch ihren
+Blick wieder zu einem Christenmenschen gemacht, dessen wir uns heute alle
+freuen! ... Dies scheint mir ein Beweis zu sein, daß er für keine andere
+als für das Rosele und das Rosele für keinen andern als für ihn geboren
+sei! ... Wohl mag ihr durch den Benedict noch Bitteres genug zustoßen, doch
+sie ist wie keine andere von Allen, die hier sitzen, so für Ausdauer in
+Leiden und Widerwärtigkeiten gemacht, daß sie ihn wohl zum zweiten und
+drittenmal retten könnte, wenn's, was Gott verhüte, die Noth erfordere! ...
+Gewiß bleibt, daß dem Rosele eine Kraft und Gnade innewohnt, um seine Seele
+zu bewahren, daß dieselbe nicht ganz für Religion erkalte und ersterbe! ...
+Die Hoffnung und das Zutrauen auf dieses Mädle kann mir Niemand nehmen und
+darum sag' ich: unsere Margreth soll dem Rosele nicht in den Weg treten!"
+
+Alles stimmte bei, die Margareth verzichtet mit einem Kusse, welchen sie
+der Rosa gibt und wobei ihr doch Thränen in die Augen schießen, die sie
+mannhaft zurückdrängt, die Rosa aber hat während Ursulas Rede oft die
+Gesichtsfarbe gewechselt und später dem Benedict, welcher sie deshalb
+befragte, gesagt, erstens habe sie bei der Aufzählung seiner alten Fehler
+einen großen Schmerz empfunden und sich denken können, wie wehe es ihm
+thue, zweitens habe die Großmutter alle bangen Ahnungen vom Soldatenleben,
+welche sie gewaltsam unterdrückte, wieder auferweckt, es sei ihr gar
+seltsam und unheimlich ums Herz.
+
+Der Duckmäuser sagt, bei der Aufzählung seiner Sünden sei es ihm gewesen,
+als ob man Alles nur sage, um Andere zu warnen und vor Schaden zu behüten
+und beruhigt die Geliebte ein wenig, so daß sich dieselbe zur Mutter Theres
+setzt und mit dieser sich unterhält.
+
+Der Benedict nimmt dann die 80jahrige Ursula in den Tanzsaal und noch heute
+redet man davon, wie er zuerst mit der alten Prophetin und nachher mit der
+schwächlichen Mutter Theres tanzte und wie gewaltig die Freude diese beiden
+Frauen verjüngte und kräftigte, so daß sie es zur Verwunderung aller
+Anwesenden aushielten bis zum letzten Ton, wiewohl von keinem bedächtigen
+Menuett, sondern von einem Bauernwalzer die Rede gewesen ist.
+
+Freilich war der Hobist auch der beste Tänzer der Gemeinde und trug die
+zwei Alten fast immer schwebend im Kreise herum. Nach drei Kirchweihtagen
+wußte er wieder einmal, Tanzen sei auch eine Arbeit und das Rosele pries
+sich glücklich, weil er mindestens nicht bei ihr seine Müdigkeit und
+Abgeschlagenheit aller Glieder geholt hatte; die alten Herzkäfer der
+schwarzen Schwitt dagegen meinten, er habe ihnen unsäglich viel Ehre
+angethan, doch hätte er mit Jeder noch ein bischen mehr walzen können!
+
+Auf große Freud' folgt großes Leid! heißt ein altes Sprichwort und daß es
+gar oft ein wahres werde, erfuhr der Held der herrlichen Kirchweihe bald,
+ja das Leid trieb ihn aus dem Dörflein in die Garnison zurück, noch ehe
+sein Urlaubspaß abgelaufen war.
+
+Er sitzt eines Abends, wo das Rosele wieder daheim beim Straßenbasche
+sitzen und diesem von der seit urdenklichen Zeiten unerhörten Kirchweihe
+ihres Geburtsortes erzählen mag, mit Vater, Mutter und einigen Hausfreunden
+am Tische; das Gespräch kommt auf die Leichenbegängnisse und das Leidtragen
+der Soldaten. Der Duckmäuser erklärt, jeder Soldat, welcher Leid tragen
+wolle, trage einen schwarzen Flor am Arme oder auch nur eine schwarze
+Schleife auf der Brust, je nachdem ihm an der verstorbenen Person mehr oder
+weniger gelegen sei.
+
+Darauf fragt die Mutter:
+
+"Nun, wenn ich einmal sterbe, dann wirst du gewiß einen recht großen Flor
+tragen?"
+
+Rasch und lächeld [lächelnd] meint der Benedict:
+
+_"Wenn Ihr einmal sterbet, dann stecke ich einen weißen Federbusch auf
+meinen Kriegshut!"_
+
+Hat jemals Einer Grund bekommen, einen unbesonnenen Scherz bitterlich zu
+bereuen, so ist dieser Eine der arme Hobist.
+
+Kaum ist das Wort aus seinem Munde, so wendet ihm die Mutter den Rücken zu
+und unfähig, ein Wort zu reden, beginnt sie so heftig und laut zu weinen,
+daß alle Dasitzenden erschrecken. Was half es, daß Alle die Weinende zu
+beruhigen suchten und ihr den Scherz erklärten? Daß der Benedict endlich
+selbst mitweinte und sich anbot, unter ihren Händen augenblicklich zu
+sterben, wenn er damit beweisen könne, wie aufrichtig er sie liebe?
+
+Das von unsäglicher Liebe erfüllte Mutterherz scheint in Einem Augenblicke
+gänzlich versteinert zu sein; sie hört später mit Weinen auf, doch bleibt
+sie unerbittlich, kein gutes Wort kommt mehr gegen ihn aus dem Munde, sie
+mag und will ihn nicht mehr sehen, er muß aus dem Hause, soll es bei ihren
+Lebzeiten nicht mehr betreten.--Der Wunsch ging in Erfüllung.
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+#WIE EINER FAST OHNE SCHULD DES TEUFELS WERDEN KANN#
+
+
+Von Allen, welche ihn liebten und fruchtlos versucht hatten, den Duckmäuser
+mit der Mutter auszusöhnen, tief bedauert, kehrte derselbe in die Garnison
+zurück.
+
+Das Erste, was er erfährt ist, daß sein Regiment nach Freiburg zurück
+verlegt wird. Rasch schreibt er diese frohe Nachricht seiner Rosa und
+bittet dieselbe, ihn doch um Gotteswillen mit der Mutter auszusöhnen, auf
+ihr ruhe hierin noch seine einzige Hoffnung.
+
+Der Abmarsch nach Freiburg wird so rasch angetreten, daß er Gelegenheit
+bekommt, die Antwort auf den Brief selbst zu holen, weil dieselbe doch
+etwas lange ausgeblieben ist.
+
+Freudig wird er vom Straßenbasche, Saumathis, vom Rosele und allen
+Bekannten empfangen, doch--Roseles Antwort lautet untröstlich genug. Was
+er, der Vater, die Geschwister, die Mädlen der schwarzen Schwitt, der
+Korbhannes sammt der Ursula und vielen Andern nicht vermocht hatten, setzte
+auch das Rosele nicht durch, im Gegentheil erging es ihr am schlechtesten.
+
+In ihrer Unschuld und Liebe bat sie am eindringlichten, versicherte, nicht
+weichen zu wollen, bis ihrem Benedict der übel angebrachte, doch arglose
+Scherz verziehen sei, dafür fiel auch sie bei Mutter Theres in volle
+Ungnade und diese wies sie aus ihrem Hause, um niemals wieder über die
+Schwelle desselben zu treten.
+
+Solche Kränkung schmerzte, empörte, allein die Liebe duldet Alles und das
+Mädchen bedauerte nur, daß auch seine Bemühungen vergeblich gewesen, der
+Straßenbasche mit seinem Weibe schüttelt den Kopf und meint, die Weiber
+seien ein wunderliches, unergründliches Volk.
+
+Kaum ist der Benedict wieder in die Garnison zurück, so entdeckt er den
+Nebelspalter des Vaters und richtig steht dieser bald vor ihm und erzählt,
+die Mutter habe ihn hergeschickt, damit er dem Herrn Kapellmeister
+empfehle, den Hobisten Benedict recht strenge zu halten und niemals wieder
+zu beurlauben.
+
+"Abschlagen hab ich´s der Mutter nicht können; seit jenem Abend redet und
+deutet sie wenig, nimmt grausig ab und ist kränklich, bin halt zum Herrn
+Kapellmeister gegangen und hab´ ihn zuerst gefragt, wie du dich
+aufführtest. Er hat dich sehr herausgestrichen, deßhalb habe ich meinen
+Auftrag auch nicht ausgerichtet, ´s wär eine Ungerechtigkeit. Halte dich
+nur brav, die Mutter wird auch wieder anders werden!"
+
+So sprach der Vater, als er vom Sohne Abschied nahm.
+
+Das Mütterlein wurde jedoch nicht anders, sondern sandte an der Stelle
+ihres Alten die Salome zum Herrn Kapellmeister. Salome war ein lediges,
+jedoch mit fünf lebendigen Kindern gesegnetes Weibsbild, trug Gebetbuch,
+Rosenkranz, den Loosungsgroschen und die Karte zum Kartenschlagen stets in
+Einer Tasche, übernahm Wallfahrtsgänge für die halbe Welt, deßhalb auch die
+Wallfahrt zum Herrn Kapellmeister, zumal Mutter Theres ihr ordentlich
+spendirt und noch mehr versprochen hatte, wenn sie etwas ausrichte.
+
+Die Salome wußte gar ehrbare und erbauliche Gesichter zu schneiden, Alles
+gut einzufädeln, was sie einfädeln wollte und es war ihr ein Leichtes, den
+Kapellmeister, einen wackern, offenen Soldaten, der nicht gerne an
+Verstellung glaubte, weil er selbst aller Verstellung fremd war, gegen den
+Duckmäuser einzunehmen.
+
+Zuerst beschrieb sie demselben den answendigen, dann den inwendigen
+Benedict von der Geburt bis zur letzten Kirchweihe, erzählte alle Streiche
+desselben, wußte den unseligen Scherz mit dem Traueranlegen als Verbrechen
+darzustellen, beschrieb dann auch die Rosa als ein verdorbenes,
+gottvergessenes und heuchlerisches Geschöpf und schloß, indem sie den
+Kapellmeister im Namen der tief bekümmerten und gekränkten Mutter des
+Benedict bat, diesem keinen Urlaub mehr zu geben und ganz besonders auch
+die Ausflüge ins Rheindorf zum Rosele zu untersagen.
+
+Wer schon bei der nächsten Probe dem staunenden und betretenen Duckmäuser
+in Gegenwart aller Hobisten sein ganzes früheres Leben, seine "ganze
+verfluchte Duckmäuserei" und die schändliche Rede gegen die alte Mutter
+vordonnerte und ihm öffentlich aufs strengste verbot, jemals wieder einen
+Fuß zu der "liederlichen Fuchtel" ins Rheindorf zu setzen, das war der Herr
+Kapellmeister.
+
+Wie verächtlich betrachteten die ältern Hobisten jetzt den Benedict, wie
+schadenfroh lachten die jüngern und besonders die leichtsinnigsten über den
+"Klosterbruder!"
+
+Einen Brief nach dem andern, einer rührender als der andere, schrieb
+derselbe an die Mutter, um ihr Herz zu erweichen; nie erhielt er eine
+Antwort und weil er nicht mehr zum Rosele hinüber durfte, kam dieses mit
+und ohne den Straßenbasche zuweilen herüber.
+
+Solches wird dem Kapellmeister gesteckt, einem Hagestolz, der als Todfeind
+aller Bekanntschaften seiner Untergebenen, besonders der jüngern bekannt
+ist und jetzt den Umgeher seines Verbotes recht zu fuchsen sich vornimmt.
+
+Wo fehlen beim Militär jemals Gelegenheiten zum Strafen, wenn ein
+Vorgesetzter darauf ausgeht, Einem das Leben zu entleiden?
+
+Selten fand eine Probe statt, bei welcher der Kapellmeister den Hobisten
+Benedict nicht andonnerte oder strafte, dieser gewann bald Aehnlichkeit mit
+seinem ersten Vorbilde, dem Compagnieschneider, insofern auch er bereits
+immer Zimmerarrest hatte.
+
+Von der Kirchweihe bis zur Fastnacht hielt der Duckmäuser aus und machte
+seine Sache durch sein heißes Blut nicht schlimmer; das Romanlesen verlieh
+ihm Gleichgültigkeit und Erhabenheit gegen die Quälereien prosaischer
+Seelen und Genuß, weil er sich selbst für einen von Schicksalstücke arg
+Verfolgten halten mußte.
+
+An Fastnacht bekamen alle Hobisten, sogar Meister Feucht für 3 Tage Urlaub,
+Benedict sollte beim Adlerwirth im Rheindorfe drüben aufspielen--der
+Kapellmeister jedoch gab ihm an der Stelle des Urlaubes drei Tage
+Zimmerarrest.
+
+Am Fastnachtsonntag saß er mutterseelenallein im Zimmer, hatte deßhalb auch
+die Zimmertour und weil's gerade ein Brodtag war, so faßte er das Brod für
+die Hobisten und legte jedem seine zwei Laibe auf das Bett. Gegen Abend
+hielt ers nicht mehr aus, sah nur immer das weinende Rosele vor sich, nahm
+sich Urlaub aus dem eigenen Tornister, trat Abends zehn Uhr halberfroren in
+Straßenbasches Haus, verlebte im Rheindorfe zwei lustige Tage und kehrte am
+Aschermittwoch in die Kaserne zurück.
+
+Beim Eintritt in die Stube kommt ein Hobist auf ihn zu und klagt, weil ihm
+ein Laib Brod fehle; der Duckmäuser behauptet, jedem beide Laibe auf das
+Bett gelegt zu haben und wie er noch redet, wird er arretirt und wegen
+eigenmächtigen Urlaubes zum erstenmal ins Dunkle gesetzt.
+
+Kaum tritt er aus dem Arreste, so kommt der Oberlieutenant, fragt nach dem
+Laibe Brod, welcher dem Hobisten fehlte; der Benedict schwört hoch und
+theuer, das Brod richtig gefaßt und richtig ausgegeben zu haben, eine
+Untersuchung wird eingeleitet und der Duckmäuser wegen Unterschlagung eines
+Brodlaibes im Werthe von 7 Kreuzern standgerichtlich zu drei Tagen Arrest
+verurtheilt; ein standgerichtliches Urtheil hat aber stets die Entziehung
+der Einstandserlaubniß zur Folge und dies setzt den Bestraften in arge
+Betrübniß.
+
+Kaum ist er frei, so findet sich der Brodlaib; Alles beruhte auf einer
+Verwechslung mit dem Brode eines andern Hobisten, der Benedict fordert
+beide Hobisten dringend auf, seine Unschuld an den Tag zu legen; sie wollen
+ihn insgeheim mit einer kleinen Vergütung zum Schweigen bringen, doch er
+will nichts als seine Ehrenrettung, dazu lassen sie sich nicht bewegen, er
+verflucht und verwünscht Beide und--merkwürdig! beide starben noch in jenem
+Jahre, der eine ertrank, der andere bekam einen Blutsturz nach dem andern
+und starb gleichfalls.
+
+Benedict gedachte der bangen Ahnungen des Rosele; eine schöne Gelegenheit
+zur Erlernung des Schreinerhandwerkes bietet sich ihm an, er faßt ein Herz,
+geht zum Oberst und fordert seinen Abschied. Der grundehrliche, brave,
+jedoch barsche und rauhe Soldat nimmt den Degen, schlägt das Hobistlein
+nach Noten herum und poltert: "Ich will dir den Abschied auf den Rücken
+schreiben, du Hundsfötter, du! ... Wir müssen dich fuchteln, sonst stirbst
+du im Zuchthause, du verstellte, heimtückische Bestie!"
+
+Brav durchgewalkt kehrt der Verzweifelnde in sein Compagniezimmer zurück,
+welches er drei Frühlingsmonate nicht mehr verlassen darf. Er vergeht fast
+vor Schmerz, doch hält er immer ritterlicher aus, denn seine Romane
+verleihen ihm Trost, Muth, Heldenkraft. Zum Musiciren spürt er wenig Lust
+mehr, liest wie der große Trommelschläger den ganzen, lieben langen Tag,
+denkt und lebt sich ganz in seine Bücher hinein und ist fest entschlossen,
+nach dem Muster der heldenmäßigsten Ritter allen Flohstichen und
+Keulenschlägen eines widrigen Geschicks mannhaften Trotz zu bieten!
+
+Während der Verbannung im Compagniezimmer kam ein schwarz versiegelter
+Brief vom jüngern Bruder, vom Hannesle, welcher ihm meldete, die Mutter sei
+gestorben und habe ihm in ihrer letzten Stunde Verzeihung angedeihen
+lassen.
+
+Seit jenem Abende, an welchem Benedict harmlos scherzte, er werde für sie
+mit einem weißen Federbusche auf dem Kriegshute trauern, gab sich Mutter
+Theres einer Schwermuth hin, welche nicht mehr wich; sie wurde still und in
+sich gekehrt, suchte immer die Einsamkeit, aller Trost und alles Gerede
+blieben von ihr ungehört und den Namen ihres Sohnes durfte Niemand nennen,
+wer sie nicht in die furchtbarste Aufregung versetzen wollte. Von Tag zu
+Tag nahmen ihre Kräfte sichtbar ab, sie wurde bettlägerig, ihr Zustand
+verschlimmerte sich und die Aerzte mit ihrer Weisheit standen rathlos am
+Krankenbette.
+
+Schon zur Zeit der Fastnacht, an welcher die rothen und schwarzen
+Schwittler sich endlich in die Haare geriethen und barbarisch prügelten,
+wie dies im weinreichen Baden gar oft der Fall zu sein pflegt, erwartete
+man das Ende der Mutter Theres und die herrliche Margareth wich fast nicht
+mehr von deren Bette.
+
+Schwankend zwischen Leben und Tod lag die Dulderin viele Wochen; in ihren
+letzten Tagen nannte sie häufig den Namen ihres Sohnes, doch so oft man
+fragte, ob man denselben herbeiholen sollte, schüttelte sie verneinend den
+Kopf. Plötzlich schien sie von Neuem aufzuleben, die Krankheit gewichen zu
+sein, sie vermochte wieder deutlich zu sprechen, bat, den Benedict
+herbeizuholen, sie wolle und müsse demselben Alles verzeihen, wenn sie
+selbst Verzeihung bei Gott erlangen wolle, _denn Alles habe sie dereinst
+an ihrer eigenen Mutter verschuldet._
+
+Halb aufgerichtet im Bette legte sie vor allen Anwesenden das Bekenntniß
+ihrer Schuld ab und kaum war solches geschehen, so sank sie tod [todt] in
+ihr Kopfkissen zurück!
+
+Es gibt unzählige Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon sich die
+Philosophen gar nichts oder nicht gerne träumen lassen, weil jeder Luftzug
+aus einer überirdischen Welt ihre gar emsig und kunstreich gewobenen
+Spinnengewebe zu zerreißen im Stande ist.
+
+Werke sind besser als Worte, _Thatsachen_ lehren eindringlicher denn
+alle Spitzfindigkeiten der verständig gewordenen Vernunft, deßhalb mag die
+Jugendgeschichte der Mutter Theres das räthselhafte Benehmen während der
+letzten Zeit ihres Lebend erklären oder doch einigermaßen aufklären.
+
+Ihr Vater, ein vermöglicher und braver Mann starb sehr frühe, von einem
+zweiten Manne bekam ihre Mutter noch einen Sohn und zwei Töchter. Dem
+letzten Willen des Vaters gemäß sollte Theres, sein einziges Kind, die
+Hälfte seiner Hinterlassenschaft in Empfang nehmen, sobald sie das
+achtzehnte Jahr erreicht haben würde, die andere Hälfte jedoch erst nach
+dem Tode der Fränz, ihrer Mutter. Theresens Stiefvater war ein roher,
+wüster, leidenschaftlicher Mann, mit welchem Mutter Fränz recht unglücklich
+lebte und welcher sich immer mehr dem Trunke ergab. Geduldig ertrug Therese
+alle Unbilden und Mißhandlungen, welche ihr Stiefvater sammt den
+Stiefgeschwistern ihr alltäglich anthaten, wurde 18, 20, 22 und 24 Jahre
+alt, blieb bei der Mutter, deren einziger Trost sie war und dachte nicht an
+die Herausgabe des halben Vermögens.
+
+Armuth und Elend nahmen jährlich im Hause zu, der Stiefvater verkaufte, was
+ihm beliebte; von allen Seiten wurde Therese gewarnt, ihr Eigenthum zu
+retten und in ihrem 26. Jahre verließ sie endlich das Haus der Mutter und
+heirathete den Jacob.
+
+Bei dieser Gelegenheit kommt die schlechte, gewissenlose Wirthschaft des
+Stiefvaters an den Tag, Fränz schaut jammernd in die Zukunft und bittet die
+Obrigkeit um Hülfe, der Trunkenbold wird endlich mundtod [mundtodt]
+gemacht, mißhandelt die Fränz ärger als je, bis sich der Himmel erbarmt
+und die Arme von ihrem Quälgeiste erlöst.
+
+Theres hauste mit dem Jacob, ihre Stiefschwestern heiratheten auch kurz
+nach einander, die Fränz lebte jetzt allein mit ihrem Sohne, dem Paul.
+Dieser schlug seinem rohen, wüsten, trinklustigen Vater in Allem nach, doch
+war er noch jung und wurde vorläufig nur von Neid und Mißgunst verzehrt,
+weil er sehen mußte, wie die Therese, seine Stiefschwester, die schönsten
+Grundstücke und Hausgeräthe und Anderes dem Jacob in die Ehe brachte. Am
+meisten schmerzten ihn die beiden Rappen, seine Lieblinge, welcher der
+Schwager aus dem Stalle holte und wenn der Paul gar daran dachte, die
+Stiefschwester werde nach dem Tode der Mutter Fränz die andere Hälfte ihres
+väterlichen Vermögens beanspruchen, dann wußte er sich fast nicht mehr zu
+helfen vor Neid und Haß, zumal der eigene Vater mit all seiner Habe fertig
+und auf Unkosten der Fränz beerdiget worden war.
+
+Mutter Fränz mußte dem Paul ihre Vorliebe schenken, ob sie wollte oder
+nicht und dieser war kaum volljährig, so suchte er eine reiche Frau zu
+bekommen. Im Dorfe und in der Umgegend nicht sonderlich gut angeschrieben,
+durfte er nicht an jeder Thüre anklopfen, zuletzt erschlich er sich die
+Liebe eines sechszehnjährigen Mädchens, der hübschen, muntern und
+vermöglichen Christine und die Mutter derselben gab die Heirath zu, weil
+die ältere Tochter sich hatte verführen lassen und weil sie fürchtete,
+gleiche Schande an der jüngern erleben zu müssen. Der Vogt, ein
+unumschränkter Dorfmonarch und vielgeltender reicher Mann, war Christinens
+Vetter, hatte deren Heirath mit dem Paul ungerne gesehen, doch als diese
+nicht mehr verhindert werden konnte und geschehen war, nahm er sich des
+Paares gewaltig an.
+
+Bald redete Paul mit dem vielvermögenden Vetter, auf welche Weise die
+Therese um ihre halbe Erbschaft gebracht werden könnte; der Vogt versprach
+Alles zu thun und hielt Wort, bald entspann sich eine Dorfintrigue, worin
+Mutter Fränz, ihre Kinder aus zweiter Ehe und ihre Tochtermänner
+Hauptrollen spielten. Die Leute munkelten und redeten viel von diesen
+Intriguen, Jacob und Therese bekümmerten sich anfangs wenig darum, weil sie
+auf ihr geschriebenes und gültiges Recht pochten, doch wie endlich
+allgemein und laut gesagt wird, Fränz habe ihre älteste Tochter verstoßen
+und von der halben Erbschaft ausgeschlossen, geht Therese zur Mutter, um
+dieselbe über das Geschwätz zu befragen. Mutter Fränz erschrickt sichtbar,
+kann der Tochter nicht in die Augen schauen, gibt lauter ausweichende
+Antworten und dies beunruhigt natürlich diese gewaltig.
+
+Am andern Morgen langt Jacob seinen langen Rock aus dem Kasten, setzt den
+Nebelspalter auf und begleitet sein Weib zum Hofe des Dorfmonarchen.
+
+Der Vogt hört Alles ruhig an, dann donnert er los:
+
+"Du, Theres, bist eine eigensinnige, bösartige Tochter gewesen, kannst es
+vor Gott nicht verantworten! ... Thut deine Mutter wirklich also, wie du da
+klagst und fragst, so hat sie Recht, du hast's tausendfältig an ihr
+verdient! ... Als deine Mutter im größten Elende bei ihrem liederlichen
+Manne schmachtete, bist du fortgelaufen, hast einen Mann genommen, die arme
+Frau wie eine Räuberin ausgeplündert! ... Wäre ich damals Vogt gewesen oder
+hätte mich's angegangen, ich würde dir einen Strick um den Hals gelegt
+haben, du unbarmherziges Thier!"--Die Ungerechtigkeit der Mutter und
+Stiefgeschwister kränkte die schuldlose Therese zehnmal mehr, denn der
+Verlust der halben Erbschaft, doch vertraut sie auf ihr gutes Recht und
+Gott, und hütet sich, den Anklagen des Dorfmonarchen durch ein böses Wort
+gegen die Mutter eine Handhabe zu geben.
+
+Sie hütet sich nicht wochen-, sondern _jahrelang_ und es scheint Gras
+über die Angelegenheit gewachsen zu sein, über welche erst der Tod der
+Mutter Fränz Aufschluß und volle Gewißheit zu geben vermag.
+
+Eines Morgens kommt der mürrische, versoffene Paul zur Therese und fordert
+einen ausgehauenen Schweinstrog, welcher in Jacobs Hof steht, von ihr
+zurück, weil der Schweinstrog nicht ihrem, sondern seinem Vater zugehört
+habe. Therese lacht dem Paul ins Gesicht und gibt zu verstehen, sie sei im
+Stande, ganz andere Forderungen zu machen, wenn das Betragen der
+Stiefgeschwister es erheische.
+
+Jetzt fährt der Stiefbruder auf, schreit ingrimmig:
+
+"Was _du_ zu erwarten hast, das hast du schon und darfst dich
+glücklich schätzen, wenn du nichts herauszahlen mußt!" und poltert zur
+Stube hinaus, deren Thüre er zuschlägt, daß das ganze Haus und Therese vor
+Zorn und Entrüstung zittert. Wenige Minuten später kommt Mutter Fränz, weiß
+nichts von dem Vorgefallenen, klagt über Unwohlsein und die noch unwillige
+und aufgeregte Therese meint:
+
+"Sterbet in Gottes Namen, Ihr könnt nichts Besseres thun! ... _Nur sagt
+es mir zuvor, daß ich mir ein weißes Kleid kaufe zum Leidtragen für
+Euch!"_
+
+Diese Aeußerung kränkte Mutter Fränz bitter, sie verließ die Stube, kam nie
+wieder zurück, verfiel in eine langwierige Krankheit und ließ der ältesten
+Tochter erst wenige Minuten vor dem Tode Vergebung angedeihen. Mehrere
+Wochen saß diese Tag und Nacht beim Krankenbette der Mutter, die 3
+Stiefkinder kümmerten sich nicht im mindesten um die Sterbende, denn sie
+hatten, was sie wollten, nämlich ein schriftliches Testament, nach dessen
+Wortlaut Therese auch nicht Einen Kreuzer erhielt.
+
+Sterbend verlangt Mutter Fränz das Testament, welches gleich nach der
+ersten und letzten Beleidigung von Seite Theresens geschrieben worden,
+zurück, um es zu vernichten, doch ein Tochtermann hatte es in Verwahrung
+und war über Feld gegangen, der Vogt wird herbeigeholt und hört das letzte
+Wort der Mutter Fränz: "das Testament ist ungültig, un--" Kaum ist diese
+eine Leiche, so kommt der Tochtermann von der Reise zurück, zeigt das
+Testament, der Vogt erklärt, der Widerruf gelte nichts, weil die Sterbende
+nicht mehr bei Besinnung gewesen, Theresens halbes Erbe bleibt verloren,
+denn diese fängt keinen Prozeß an, sondern betrachtet die Enterbung als
+eine Strafe des Himmels.
+
+Mutter Theres war eine fromme, gottesfürchtige Frau; eine freudlose und
+leidenreiche Jugend hatte sie vorbereitet, mit dem finstern, strengen, doch
+dabei fleißigen, grundehrlichen und gerechten Jacob glücklich zu leben. Der
+Benedict war es, der ihr zumeist Sorge und Kummer bereitete, sie an alte
+Zeiten erinnerte und am Ende glauben machte, er sei von der Vorsehung
+bestimmt, an ihr die Verwünschungen zu erfüllen, welche Mutter Fränz nach
+dem erwähnten Auftritte gegen sie ausgestoßen hatte.--Der Besuch in der
+Kaserne und die Kirchweihe hatten ihre abergläubischen (wenn man's so
+nennen will!) Befürchtungen zerstreut; der, welchen sie von je am
+zärtlichsten geliebt und welcher sie am tiefsten betrübt hatte, war
+wiedergefunden. Sie liebte denselben von jeher mehr als eine gewöhnliche
+Mutter, mehr als alle andern ihrer Kinder, _warum_--wußte sie selbst
+nicht; die Kirchweihe weckte die ganze Gluth ihrer zärtlichsten und
+sicherlich nicht durch Romanlesen verminderten oder gesteigerten wahrhaftig
+leidenschaftlichen Liebe,--Der unglückselige Scherz, welchen der Hobist
+machte, in derselben Stube, in welcher vor vielen Jahren Mutter Fränz ihre
+Tochter verfluchte und in einer Stunde machte, wo das Licht noch nicht
+angezündet war, so daß sie nur die verhängnißvollen Worte vom _weißen
+Leidtragen_ hörte, die Miene des Sohnes jedoch nicht sah; dies
+überzeugte sie von Neuem, _der Fluch des Himmels laste noch auf ihr und
+ihr ältester, geliebtester Sohn sei geboren, um diesen Fluch zu
+erfüllen._
+
+Gewiß war sie selbst überzeugt, derselbe habe es mit den paar Worten nicht
+böse gemeint, doch diese paar Worte sprach nicht der Benedict, sondern
+sprach nach ihrer Ueberzeugung der zürnende Gott zu ihr.
+
+Sie hat den Sohn verflucht als ein Werkzeug des Fluches, hat ihm verziehen,
+weil der Tod sich ihrer nicht erbarmen wollte--wird der Fluch oder die
+Verzeihung sich als leitender Gedanke durch die fernere Lebensgeschichte
+ihres Sohnes ziehen?--
+
+Der Duckmäuser ward durch den Tod und die Verzeihung der Mutter nicht
+sonderlich ergriffen; er erblickte in diesem Vorfalle nur einen neuen
+Beweis für die aus seinen Romanen geschöpfte Ueberzeugung, zu einem
+abenteuerlichen Leben bestimmt zu sein.
+
+Ein von der Vorsehung zu wunderbaren Dingen ausgerüsteter Mann seiner Art
+läßt sich durch alle Anfechtungen der prosaischen Außenwelt wenig berühren,
+lebt in andern Zeiten und höhern Regionen und begnügt sich, prosaischen
+Vorgesetzten tiefe Verachtung und ritterlichen Trotz entgegenzusetzen und
+diesem "Gewürme", welches auf der Keule des Herkules herumkriecht,
+thatsächlich zu beweisen, daß man nach seinen kleinlichen und winzigen
+Chikanen so wenig frage, als nach den Ansichten und der Ordnung der
+gegenwärtigen prosaischen Welt überhaupt.
+
+Der Oberst hatte den Hobisten in den Zimmerarrest und damit in die ohnehin
+geliebte Romanenwelt hineingeprügelt, drei Monate lang lebte der Hobist dem
+Obersten zum Trutz sehr glücklich in Burgen, bei Turnieren, focht wacker
+gegen Sarazenen, befreite mehr als Ein Ritterfräulein mit blauen Augen und
+hochwallendem Busen, oder zog sich als weitgefürchteter Räuberhauptmann in
+unzugängliche Felsburgen zurück.
+
+Kaum während der Probe wußte der Glückselige Etwas von der prosaischen
+Wirklichkeit und mehr als einmal redete er bei seinen Erbsen und Kartoffeln
+laut genug von fehdelustigen Rittern, treuen Knappen und Fräuleins, welche
+ihm statt Gänseweines Nektar kredenzten. Wie die Hobisten von je den großen
+Trommelschläger verlacht und verspottet hatten, so verspotteten und
+verlachten sie jetzt auch den Benedict--hatte sich jener wenig daraus
+gemacht, so bewirkten sie bei diesem das Gegentheil. Mehr als einmal kamen
+gutmeinende Vorgesetzte und Offiziere, um dem Hobisten Benedict
+zuzusprechen, damit er nicht in Doctor Rollers Hände falle, allein Güte und
+Ernst prallten an ihm ab.
+
+Die drei Monate des Zimmerarrestes waren beinahe zu Ende, da tritt ein sehr
+beliebter, gebildeter und braver Adjutant in das Hobistenzimmer und macht
+dem Bedict [Benedict], der stets mit Rittern und Fräuleins redet, ganz
+ruhige, vernünftige und menschenfreundliche Vorstellungen. Doch dieser hört
+ihn kaum und wie der Adjutant ihm das Narrenhaus prophezeit, streckt er die
+Hand aus und spricht wörtlich also:
+
+"Du bist nicht als ein Apostel berufen und hast einem so unerschrockenen
+Ritter meiner Art durchaus keinen Vorwurf zu machen, deßhalb schweige, wenn
+ich dir nicht den Fehdehandschuh vor die Füße werfen und dir meine Kraft
+fühlen lassen soll!"--
+
+Die Antwort des Adjutanten lautete auf 3 Tage Dunkelarrest, der
+Dunkelarrest machte den Kopf des Duckmäusers nicht heller! ... Endlich sind
+die 3 Monate des Zimmerarrestes verflossen, beim Beginne derselben war der
+Frühling kaum im Werden, jetzt findet der Befreite Leben, Bewegung, Freude,
+Liebe und Schönheit allenthalben; Alles, was er sonst gleichgültig
+betrachtete, hat für ihn hohes Interesse, er fühlt sich gleichsam
+neugeboren und ein schöneres, höheres Leben ist in ihm wach geworden!--
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+Lesefrüchte
+
+
+Es steht zu vermuten, daß der Straßenbasche ein oder auch zweimal die
+Treppen des Commandantenhauses hinanstieg, um den Herrn Obersten, seinen
+alten Kriegsgefährten zu besuchen, die angetastete Ehre seines Rosele zu
+retten und für den Benedict ein gutes Wort einzulegen. Eines Tages nämlich
+sprach der Oberst zum Kapellmeister:
+
+"Hören Sie, Ihr Hobist, der Benedict, ist kein schlechter Kerl, aber er
+wird durch seine verfluchte Leserei ein größerer Narr, denn der große
+Trommelschläger! ... Der Kerl hockt noch im Zimmerarrest, dauert mich halb
+und halb und wenn zuweilen sein Schatz vom Rheine herüberkommt, um ihn zu
+besuchen, so wollen wir nichts dagegen haben. Es soll ein verständiges,
+braves Mädchen sein und ganz geeignet, den Kerl vor dem Narrenhaus zu
+bewahren!"
+
+Der Kapellmeister schrieb sich diese Ordre hinter die Ohren und wendete
+nichts dagegen ein, wenn Straßenbasches Pflegetochter an Sonntagen zuweilen
+in die Kaserne kam, um den gefangenen Träumer zu besuchen, wurde jedoch
+diesem nicht grüner.
+
+Die Veränderung, welche in diesem vorging, blieb der Rosa nicht verborgen,
+denn er sprach jetzt häufig in einem himmelhohen Style, welchen sie nicht
+verstand und die einst so demüthigen, bescheidenen und ergebenen Reden
+desselben nahmen allmälig ein Ende. Sie ermahnte ihn gar zu
+lehrmeisterisch, den Obern zu gehorchen und brav zu werden, langweilte ihn
+mit ihren prosaischen Predigten und obwohl er in ihrer Gegenwart die
+lichtesten Augenblicke hatte und niemals vergaß, hundertmal "auf Ritterwort
+und Handschlag" Gehorsam zu geloben, so hegte sie doch wenig Hoffnungen und
+kehrte jedesmal nachdenklicher zum Straßenbasche zurück.
+
+Jetzt stolzirt der Benedict an schönen Sommerabenden als freier Mann in der
+Gegend herum, die Gestalten seiner Romane steigen von den Burgruinen herab
+in die Ebene, wandeln um ihn herum und er entdeckt gar viel Ritterliches
+und Fräuleinhaftes in den schöngeputzten Städtern und Städterinnen.
+
+Außer den Mädlen der beiden Schwitten und der Rosa mit ihren Kamerädinnen
+hat er noch keine Weiber kennen gelernt, doch weiß er jetzt, jene seien
+prosaische, gefühllose, ungebildete "Bauerndötsche" in Zwilchröcken, mit
+sonnenverbrannten Gesichtern, braunen Armen und abgearbeiteten, rauhen
+Händen. Wie niedlich und zierlich sind dagegen die Städterinnen gekleidet,
+wie zart, von Liebesgram gebleicht oder von beglückter Minne verklärt die
+Wangen, wie grazienhaft der Gang, wie fein und tugendsam ihr Benehmen!
+Täglich sieht er Hunderte, für die er sofort Lanzen haufenweise brechen
+würde und täglich Eine, welche auf milchweißem Rosse mit fliegendem
+Schleier auf ihrem Zelter sitzt, neben ihm den steilen Burgweg
+hinaufreitet, der Burgwart stößt gewaltig ins Horn, die Knappen schwingen
+jubelnd ihre schartigen Flamberge, der alte Kuno macht seine Meldungen, der
+Ritter führt die Ritterin in den hohen Rittersaal und getheilt zwischen
+Minne und Kampf verlebt er in der neugebauten Burg seiner Väter endlose
+Jahre voll Seligkeit--bis in Freiburg der Tambour seine Kameraden zum
+Zapfenstreich herausschlägt und der zum Hobisten degradirte Ritter auf des
+Schusters bescheidenem Rappen in den prosaischen Kasernennothstall
+zurücksprengen muß! ... Der Straßenbasche trägt nichts Ritterliches und
+Knappenhaftes an sich, die Rosa bleibt ein ehrliches, gutes, doch plumpes
+und grobfühlendes Landmädchen, nur der große Trommelschläger versteht
+vollkommen Benedicts Seufzen, Fühlen und Denken, theilt dessen romantischen
+Weltschmerz; noch mehr, der Trommelschläger hat viele Bekanntschaften in
+der höhern Frauenwelt der Städte gemacht und versichert, neben zahllosen,
+prosaischen, abgeschmackten Klötzen gebe es unter den Dienstmägden und
+Bürgertöchtern zarte, empfindsame Seelen, der treuesten Minne würdig und
+von der anmuthigsten Hingebung!
+
+Geht der Duckmäuser über den Karlsplatz oder in den romantischeren
+Alleegarten, wo die Ritterfräuleins mit zarten Früchten der Minne sitzen
+und wandeln, dann richtet er sich stolz empor, nimmt das Schwert unter den
+Arm, schreitet mit Ritterschritten eines Niebesiegten an denselben vorüber,
+nicht ohne ihnen züchtige und minnigliche Blicke zuzuwerfen und ist voll
+Liebessehnen und Seligkeit! ... Wie oft steht er auf dem Schloßberge mit
+dem großen Trommelschläger und beide verfluchen die schaale Wirklichkeit,
+in %specie% den Klotz im Kommandantenhause und die Klötze in der
+Kaserne oder sie träumen von jener Zeit, wo der riesenhafte Münster noch
+nicht gebaut war, auf dem Kippfelsen drüben wohl mancher Lindwurm hauste
+und in der Ebene mannhafte Ritter prosaischen Pfahlbürgern ihren Kram
+abnahmen, dieselben zur Unterhaltung todtschlugen oder in schauerliche
+Burgverließe schleppten! Manchmal wandelt der große Trommelschläger mit
+einer Nymphe des Schwarzwaldes oder der Stadt durch die Auen, neben ihm der
+Duckmäuser mit klopfendem Herzen, unsäglichem Wonnegefühl und tiefer
+Wehmuth! Im Spätsommer bekommt Letzterer wieder einmal Urlaub, fliegt mit
+Ritterfräuleins liebestrunken in das Rheindorf, dessen schaale Wirklichkeit
+ihn ein bischen stark langweilt und bald zieht er durch das Land, um wo
+möglich irgend eine Burg und Abenteuer aufzutreiben.
+
+Er wandelt zwar allein herum für prosaische Augen, doch neben sich hat er
+stets die lustige, minnigliche "Itania." Alle Augenblicke breitet diese
+ihre Schwanenarme nach ihm aus, er drückt sie an den Ritterbusen, erklärt
+ihr die Schönheiten der Landschaften und redet von seinen und seiner Gegner
+Burgen, deren hohe Thürme sich in den Silberwellen der Flüsse spiegeln.
+
+Jeder verwitterte Steinhaufen und jeder epheuumrankte Thurm ist ein Magnet,
+welcher den Hobisten unwiderstehlich die steilsten Berge hinaufzieht und je
+höher er steigt, desto prachtvoller und einladender steht die Burg da im
+alten Glanze, desto lebhafter wird das Freudengetümmel im Schloßhofe und
+jede Distel scheint eine Trompete zu sein, welche dem Längstersehnten, von
+einer bösen Fee Verwunschenen, den Morgengruß einer neuen Zeit
+entgegenschmettert.
+
+Allenthalben und überall sucht er seinem Ritterthume Ehre zu machen; es
+kann nicht fehlen, der stattliche Bursche in der glänzenden Uniform erobert
+durch sein galantes, edles Benehmen, durch seine gebildet klingenden
+hochtrabenden Reden und durch Schilderungen seiner edeln Abstammung und
+Güter im Sturmschritte das Herz eines Fräuleins und dafür, daß er an keine
+Dulzinea von Tobosa geräth, ist schon gesorgt, weil er nicht in Andalusien
+oder Estremadura, sondern im Großherzogthum Baden und in einem Herbstnebel
+des 19. Jahrhunderts herumfährt! ... Die Erkorene ist freilich kein
+anerkanntes, sondern ein verwunschenes Fräulein, wie deren sogar an den
+Brunnen zu Freiburg und anderswo angetroffen werden, doch wohnt sie nicht
+nur auf einem Berge, sondern bei einer Burg, kann mindestens als Tochter
+eines Burgwartes gelten, der für anlangende Gäste zu sorgen hat und sucht
+sich allseitig über die Wirklichkeit zu erheben. Ist es unmöglich, die
+namenlosen Reize Itanias zu beschreiben, so begnügen wir uns mit der
+Angabe, das Töchterlein des Burgwartes sei ein recht hübsches und lebhaftes
+Kind von 16 Jahren, in Benedicts Augen natürlich die "engelgleiche Itania"
+von Kopf bis zu den Füßen geworden.
+
+Ein höflicher Vater, eine für Ritterlichkeit zugängliche Mutter, ein
+holdes, schuldloses, zutrauliches und plappersüchtiges Fräulein,
+vortrefflicher Wein, eine Burg vor Augen, ein Feenland am Fuße des Berges--
+was konnte unserm Ritter zur Glückseligkeit fehlen? Nichts, höchstens ein
+etwas längerer Urlaubspaß.
+
+Drei Tage voll Seligkeit verlebte er hier; die Seligkeit ward nur Eine
+Stunde gestört, weil ein Hornist seines Regimentes, welcher den Abschied
+genommen und im Heimathsorte am Fuße des Berges sich häuslich
+niedergelassen hatte, gleich einem Gespenst in das Paradies seiner Träume
+hineinstolperte und aus purem Neid über das Minneglück sogar schlechte
+Witze über die Arreste und Zimmerarreste des ehemaligen Kameraden riß.
+
+Am letzten Abend sah der Mond ein liebendes Paar innerhalb der zerfallenden
+Burgruine, fürchterliche Schwüre ritterlicher Treue hörte die Nachtluft,
+perlende Thränen im Augenpaar Itanias küßte der trauernde Benedict hinweg,
+denn morgen mußte er in die Welt hinaus, den Kampf mit den Tücken des
+Schicksals von Neuem aufzunehmen und nur die Gewißheit, die edelste Perle
+des Landes dereinst zu besitzen, gibt ihm Muth zum Scheiden, Trost im
+furchtbarsten Schmerze.
+
+Itania lebte auf dem Lande, doch schon ihr Wohnhaus hob sie hoch über die
+prosaische Alltagswelt empor; aus einem "Pensionate" kürzlich
+zurückgekehrt, trug sie noch Hut und Schleier, war ein zartgebautes,
+schlankes und belesenes Mädchen, liebte und verstand Ritterromane, kannte
+die Welt nur durch diese, denn zwei langweilige Religionsstunden
+wöchentlich geben weder Gottes- noch Weltkenntniß; auf diese Weise wird der
+kleine Roman des Hobisten begreiflich und das Unglück lag nur darin, daß er
+es weit ernstlicher mit diesem Romane meinte, als die 16jährige Itania
+selbst und daß es ihm gelang, sich rasch die Gunst der Eltern zu gewinnen.
+
+Auf dem Rückwege eilt er in sein Heimathdörflein, jedoch nicht, um das Grab
+der Mutter oder die Herzkäfer der alten Schwitt zu besuchen, sondern um den
+Vater zu drängen, damit ihm dieser augenblicklich 50 Gulden vom
+mütterlichen Vermögen herausgebe, welche er binnen einem Jahre
+zurückzuzahlen schwört. Jacob macht ein gar bedenkliches Gesicht, will
+wissen, wozu das Geld dienen solle und zudem hat er fast keines im Hause,
+doch der Duckmäuser weiß den Alten so zu täuschen und zu bereden, daß
+dieser noch in der Nacht den schweren Gang zum alten Liebhardt macht, die
+Summe holt und dem Sohne gibt.
+
+Kaum graut der Morgen, so eilt Benedict aus dem Dörflein, macht zuweilen
+Sätze wie ein Hirsch und kommt richtig wieder in seine Kaserne, wo er kaum
+erwarten kann, bis der große Trommelschläger aus dem Arrest erlöst wird, um
+diesen in das Geheimniß seines Glückes einzuweihen.
+
+Außer dem Kapellmeister und Benedict haben nämlich gerade alle Musikanten
+des Regimentes Strafen auf dem Hals, weil sie bei einem gemeinsamen
+Ausfluge Gelegenheit bekamen, ohnentgeldlich gut zu essen und beliebig zu
+trinken, des Guten zu viel thaten und deßhalb von der Ironie des Schicksals
+dahin gebracht wurden, sich auf dem Heimwege gegenseitig mit Fäusten und
+Säbeln zu belehren.
+
+Die innere Seligkeit treibt den Duckmäuser in das Gewühl des Wochenmarktes
+und wider Erwarten findet er hier das Rosele, welches ihm einen
+freundlichen Morgengruß entgegensendet, der von ihm gar kühl und betreten
+erwiedert wird.
+
+"Weßhalb so trotzig heut'? Bist bös mit mir oder was ist mit dir?"
+
+"Muß ich dir Alles sagen? Bin ich unter deiner Oberherrschaft, so daß ich
+über mein Verhalten Rechenschaft abzulegen habe?"--"Ei, ei, so gefällst du
+mir, wenn du auf diese Weise anfängst? Womit habe ich denn das verdient?"
+
+Benedict kehrt dem armen Mädchen den Rücken, plaudert mit der
+Sergeantenfrau, welche ihm die Hemden wäscht, kauft dann in Rosas Nähe
+einige Rettige und verschwindet im Gewühle.
+
+Am folgenden Tage Abende bringt ihm eine Frau einen Brief vom Rosele voll
+zärtlicher dringender Bitten um Aufschluß über sein befremdendes und
+kränkendes Benehmen, voll liebreicher Mahnungen und gutgemeinter Warnungen.
+Benedict sagt der Ueberbringerin einen Ort, wohin er am Sonntage kommen und
+die Antwort mitbringen werde.
+
+Richtig kommen Beide zusammen, er gibt dem Rosele einen Brief, sagt Adje,
+kehrt eilig um und rennt fort, ohne auf das Nachrufen des staunenden
+Mädchens zu hören, welches den Brief sofort erbricht, liest und mit
+zitternden Knieen beinahe zusammenbricht.
+
+Er lautet also:
+
+"Rosa! Du weißt, wie man mich seit Langem hier gehalten hat und nun habe
+ich die sicherste Nachricht erlangt, daß Du und nur Du die einzige und
+alleinige Schuld daran bist. Will ich mein Loos ändern, so muß ich Dich für
+immer meiden, was ich um so lieber thue, weil ich glauben darf, Du seiest
+nicht die bisher vermeinte fromme Rosa, sondern eine Schmeichlerin voll
+Falschheit und Trug. Besuche mich nicht, ich werde Dir fortan nur mit
+tiefer Verachtung begegnen. Glaubst Du Forderungen an mich zu haben, so
+schreibe Alles genau auf und schicke mir die Rechnung, ein anderes
+Schreiben werde ich nicht annehmen oder ungelesen zerreißen.
+
+ Hobist Benedict."
+
+Die edle Rosa ist des Schreibers Schutzgeist gewesen; noch vor acht Tagen
+war sie mit dem Straßenbasche beim Oberst und Kapellmeister und legte ein
+gutes Wörtlein für den wahrhaft Geliebten ein, sie hat ihn aus einem
+liederlichen Sauhirten zu einem Menschen gemacht, mit Güte und Wohlthaten
+überhäuft und--dann den Lohn der Welt empfangen, der sie vernichten würde,
+wenn sie nicht um Gottes und der unsterblichen Seele des Benedict willen
+gehandelt hätte.
+
+Gott meinte es wohl mit Rosa, als Benedict es böse meinte.
+
+Er opferte seinen Schutzengel einem Trugbilde und that es auf eine Weise,
+welche uns vollkommen an ihm irre machen müßte, wenn nicht ein geheimer
+besonderer Beweggrund ihn bei Abfassung des Schreibens geleitet hätte.
+
+Dieses war jedoch der Fall.
+
+Von Kindesbeinen an strebte er nach der Gunst der schönern und bessern
+Hälfte des menschlichen Geschlechts, das heißt, nach der Gunst der Mädchen
+und Frauen, mit welchen ihn sein Leben in Berührung brachte. Als Schulknabe
+und Unterlehrer beschützte er die Kamerädinnen gegen Rohheiten, half
+denselben in der Schule und bei Schularbeiten, that Alles, um sie angenehm
+zu unterhalten und für sich einzunehmen. Was der Knabe erstrebt und
+gewonnen, wollte der Jüngling nicht einbüßen, sondern erhalten und
+vermehren und hieraus erklären sich großentheils seine Tugenden und
+Verirrungen, jedenfalls seine Nüchternheit, Mäßigkeit, Scheu vor
+Geldspielen und die Sucht, Geld auf alle Weisen und durch alle Mittel zu
+erhalten. Er sparte, betrog, stahl, um seine Rolle als Haupt der
+altmodischen Schwitt behaupten und den Anhängerinnen derselben kleine
+Geschenke und frohe Stunden machen zu können. Wie viele seiner Herzkäfer
+hat er in einer Reihe von Jahren erfreut, welche Opfer hat er oft gebracht,
+um der Margareth, dem Vefele, der Marzell oder einer Andern ein kleines
+Geschenk machen zu können! ...
+
+Seitdem er in der Montur steckt, ist es die Rosa, welcher er Geschenke
+aufdrängt, um ihr seine Liebe, dem Pflegvater seine Sparsamkeit zu
+beweisen. Er wandelt auf ehrlichen Wegen, muß sich Alles am eigenen Munde
+absparen und wenn die Geschenke auch nur lauter Kreuzer kosteten, so machen
+60 Kreuzer bereits einen Gulden und ein Gulden ist für einen Hobisten schon
+ein Sümmchen.
+
+Jetzt hat sich der demüthige Hobist zu einem stolzen, mannhaften Ritter
+gruduirt [graduirt], welcher jedem Adjutanten den Fehdehandschuh kühn vor
+die Füße wirft; der Ritter hat bitterlich gespart, um eine Ritterfahrt
+unternehmen zu können, auf dieser Fahrt fand er das Idol, wornach sein
+überhirnter Verstand und sein fieberhaft pochendes Herz dürstete. Die
+holdselige 16jährige Itania winkt im langen Kleide und mit fliegendem
+Schleier von der Burg herab Tag und Nacht dem armen Hobisten in seiner
+Kasernenstube zu. Großartig ist ihm die Einzige entgegengetreten, großartig
+hat der Ritter sich gezeigt, großartig muß das erste Geschenk sein, welches
+er seiner Gebieterin zu Füßen legen will.
+
+Der Hobist log sehr unritterlich beim Vater, um 50 Gulden zu erhalten, er
+handelte mehr als unritterlich an Rosa, um sich desto ritterlicher gegen
+Itania zeigen zu können. _Die Geschenke an Rosa müssen aufhören!_--
+hierin liegt der Schlüssel zu dem herzlosen, lügnerischen und
+niederträchtigen Abschiedsbriefe, welchen er derselben in die Hand drückte
+und dann vom bösen Gewissen getrieben fortrannte.
+
+Die bisherige Geliebte muß wissen, _weßhalb_ er ihr keine Geschenke
+mehr macht; ein allmäliges Abbrechen und Sparsamwerden würde ihm bei ihr
+und dem Straßenbasche nichts nützen und viel schaden, geschweige daß die
+himmelanstrebende Itania keinen knickischen und knausigen halbgetreuen
+Ritter zu ihren ätherischen Füßen sehen will! ...
+
+Die 50 Gulden reichen noch zu keinem großartigen Geschenke hin, die
+Ersparnisse bei Rosa machen wenig aus, das ritterliche Einkommen muß durch
+Sparsamkeit und Arbeit vermehrt werden, denn um Unverlornes mit "kühnem
+Griffe zu finden," dazu ist der Benedict doch allzu ritterlich gesinnt und
+allzu prosaisch gewitziget worden.
+
+Bisher bekam der Tabaksverkäufer monatlich 40 Kreuzer für Tabak, der
+Apotheker 12 für Pomade, die Leihbibliothek 48 für Entzückungen und
+Verzückungen, die Wirthshäuser nur 36 bis 40 Kreuzer, endlich trug er auch
+dem kleinen Liebling der Rosa, nämlich der Johanna und dem Schwesterlein
+des blinden Michel Milchbrödlein und dergleichen Geschenke zu.--Itania
+winkt vom hohen Söller herab und die bisherige Monatsrechnung des Hobisten
+reducirt sich auf Null.
+
+Der große Trommelschläger ist noch immer ein lesender Narr, der Duckmäuser
+hat den Rubikon zwischen Idee und Wirklichkeit überschritten und ist zum
+_handelnden_ Narren geworden.
+
+Er verkauft seine beiden Tabakspfeifen, thut alles, um ja Niemanden zu
+begegnen, mit dem er anstandshalber einen Schoppen Bier trinken müßte,
+unterrichtet mit allem Eifer zwei Damen der Stadt, die seidenrauschende und
+juwelenstrahlende Tochter eines halbverzweifelten Bierbrauers und die den
+hohen Adel durch ihren Aufputz beschämende Primadonna des städtischen
+Theaters auf der Guitarre, musizirt im Orchester des Theaters, wodurch ihm
+die Leihbibliothek mehr als ersetzt wird, endlich schreibt er in jedem
+freien Augenblicke Noten für Damen und Offiziere ab und vermehrt dadurch
+sein Einkommen ganz gewaltig.
+
+Doch noch nicht genug--der Benedict verzehrt monatlich nur einen einzigen
+Laib prosaischen Komißbrodes, verkauft 14 andere monatlich um 3 Gulden 30
+Kreuzer; für das Fleisch erhält er jeden Mittag einen Groschen, endlich
+schnürte der Held seinen widerspenstig knurrenden Magen mit einer vom
+Meister Feucht zur guten Stunde erbettelten Binde immer fester zusammen und
+träumt allnächtlich von vollen Humpen und Wildschweinköpfen, welche ihm
+Itania kredenzt und vortrefflich zubereitet.
+
+Der große Trommelschläger bleibt der Einzige, welcher den Ritter Benedict
+lobt, bewundert, tröstet, die andern Musikanten spotten und lachen oder
+schimpfen beide "Büchernarren" brav aus.
+
+In der Stadt wurde er von seinen Zöglingen oft eingeladen, Etwas zu
+genießen--doch ein Ritter ist kein Schmarotzer, läßt sich nur so weit
+herab, zu nippen oder einen einzigen Bissen zu genießen, um den Anstand und
+Ruf zu wahren und sprengt dann hungrig weiter.
+
+Meister Feucht vom Bodensee aß wie ein Löwe und soff alle sechs Wochen
+trotz einem Urgermanen, blieb dabei spindeldürr und schüttelte jetzt
+unaufhörlich den Kopf, weil Ritter Benedict nicht aufhörte, ganz ordentlich
+und blühend auszusehen.
+
+Große Affekte und Leidenschaften sättigen auch den Leib, wenn sie Kinder
+des Glückes sind, davon wußte Meister Feucht sammt seinen Kameraden wenig
+oder dachte nicht daran.
+
+Benedict hielt mondenlang aus, machte sogar eine große Revüe mit und dankte
+Gott, der ihm schon als Knabe die Fähigkeit gegeben zu hungern, um den
+Mädlen Geschenke machen zu können.
+
+Die Revüe nützte seinem Magen, schadete jedoch seinen Finanzen so gewaltig,
+daß er sich selbst in seinem letzten und wohlfeilen Vergnügen
+beeinträchtigte. Bisher war die Dämmerungszeit sein gewesen; er hatte neben
+dem großen Trommelschläger tiefergreifende, sehnsuchts- und wehmuthsvolle
+Septimen- und Mollakkorde den Lüften anvertraut, um sie der angebeteten
+Itania melodisch zuzuflüstern--jetzt übernahm er es, zwischen Licht und
+Dunkel Monturstücke, Waffen und anderes Zeug für den Regimentsfourier und
+Verwaltungsfourier zu putzen und erhielt von jedem derselben monatlich
+anderthalb Gulden.
+
+Nebst einem herzbrechenden und hochbegeisterten Briefe hat er für mehr denn
+fünfzig Gulden Schmuckwaaren an Itanien gesendet, die Antwort voll
+Liebesgluth blieb nicht lange aus, deßhalb nahm er die Gelegenheit wahr,
+kaufte für 36 Gulden Zeug zu einem fräuleinhaften Gewande und sandte es mit
+einem bogenlangen Briefe ab. Er wartet mit fieberhafter Spannung auf
+Antwort, hungert und spart, spart und hungert, denn im Frühling will er die
+Burg besuchen und sich im vollen Glanze eines begüterten Ritters zeigen.
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+#ITANIA, DAS KASERNENHÄSCHEN, DER DESERTEUR.#
+
+
+Der Duckmäuser erhielt wirklich manchen Brief, in welchem Itania mit den
+schönsten zärtlichsten und wohlgesetztesten Worten ihre innigste Liebe und
+unverbrüchlichste Treue gegen ihn ausdrückte. Hundertmal des Tages zog er
+diese Briefe aus der Brusttasche, küßte und las sie und las sie noch
+einmal, bevor sie eingesteckt wurden. Der große Trommelschläger las
+Itaniens Briefe auch und wenn er von Itanien anfing, dann hafteten
+Benedicts Augen auf ihm, wie die eines Schwerkranken auf dem Arzte und
+beide überlegen, welche Geschenke an Neujahr der Huldgöttin zu Füßen gelegt
+werden sollten.
+
+Eines Morgens kommt der Glückliche vom Exerzierplatze heim, da erscheint
+der Briefträger, um ihm zu sagen, es sei ein Päcklein für ihn da und er
+möge es in seiner Wohnung holen. Eiligst geht er mit, erkennt Itanias Hand
+auf der Adresse, unterschreibt den richtigen Empfang, fliegt zurück ins
+Compagniezimmer und öffnet das Päcklein mit zitternder Hand, denn er
+erwartet das wohlgetroffene Bildniß wohleingewickelt zu finden, um welches
+er das Burgfräulein zu bitten wagte, und ein artiges Gegengeschenk.
+
+Doch--schreckensstarr und todtenblaß steht er da, denn all' seine Geschenke
+sieht er wohlgeordnet vor seinen Augen, glaubt zu träumen und aus seinem
+überirdischen Frühling plötzlich in den trostlosesten badischen
+Altweibersommer hineingeworfen zu werden! ...
+
+Meister Feucht streicht seinen Fuchsbart und lacht wie ein Spitzbube, der
+erste Fagotist schleicht hinter den schier zusammensinkenden Benedict und
+schaut hinter dessen Rücken in folgende Hiobspost hinein:
+
+"Freunt! Vergebe sie mer, wenn ich ihne mit diesem Schreiben und dem
+Zurikgeben des Bagets duschieren sollte. Sie seind mir lieb und werth, aber
+ich will, kann und darf Nix von Ihne wisse, meine Ehre erlaubt es nicht,
+denn wir wissen Alle sehr genau, daß Sie wegen schlechter Aufführung
+öffentlich bekannt geworden, mußten aus dieser Ursach das elterlich haus
+verlassen und stehen beim Regimend auch nicht in guter Haltung. So seind
+unsere genauesten Erfahrnisse. Ich bitte daher, kommen Sie mir zu Liebe ihr
+Lebtag nicht mehr auf die Burg, denn ich gebe mich durchaus in keiner
+Beziehung mit einem so schlechten Basaschier ab und schäme mich genug, nur
+Wohlgefallen an ihne gehabt zu haben.--Das Present aber (Gott was haben wir
+für Angst gehabt, bis es wieder aus unserm Haus), so große Freid ich daran
+hatte, könnte ich nicht behalten, weil ich befirchten mußte, daß es
+gestolenes Gut sei. Nehme Sie es daher wieder und geben Sie es Einer, die
+mit ihne gleich gesinnt ist, sonst schlagt mich der Vater tod, was übrigens
+nicht nöthig ist.
+
+Mit durchdolchter Liebe und bleibender Achtung bin ich in Eile
+
+ ihnige ehemalige treue Itania."
+
+Der Duckmäuser zittert vor Schrecken, Wuth und Schmerz, vermag weder zu
+reden, noch zu denken und zu handeln, sitzt wie ein Sterbender auf seinem
+Bett, bleibt etwa eine Stunde sitzen, dann zerreißt er den Brief in hundert
+Fetzen und zermalmt (der große Trommelschläger hat denselben abgeschrieben,
+um der staunenden Nachwelt einen Beweis der Herzlosigkeit unseres
+tintenkleksenden Saeculums zu geben!) die Fetzen zu Staub, ballt die Fäuste
+und knirscht. _"Warte, Karnali, du sollst's büßen!"_ Mit diesen Worten
+dachte er an Rosele, denn er glaubte, diese habe aus Rachsucht nach der
+Burg geschrieben und Alles verrathen.
+
+Der Seidenstoff war unter Itanias zarten Händen bereits zu einem
+Weiberrocke geworden, der Hobist packt denselben zusammen, um ihn einer
+Nätherin zu verkaufen. Hier trifft er mehrere junge Mädchen, schämt sich,
+ein Kleid auszukramen, geht unverrichteter Sache wieder fort, tritt in ein
+Bierhaus und die Kellnerin, ein etwas verblühtes doch hübsches Mädchen
+meint:
+
+"Das ist ein Wunder, daß Sie allein kommen und dazu noch an einem Werktage.
+Haben Sie sich heute verirrt?"--"Ich denke, es wird noch Mancher bei
+Straßburg über die Brücke gehen, ohne von Ihnen gesehen zu werden!"--"Um
+Vergebung, habe ich _den Herrn Ritter_ etwa beleidiget?"--"Nein,
+durchaus nicht, gnädiges Fräulein, ich bin nicht so leicht zu beleidigen!"
+
+Das Wort "Herr Ritter" hat die Gemüthsstimmung des Duckmäusers plötzlich
+verändert, er fängt ein langes freundliches Gespräch an, trinkt Bier dazu,
+überzeugt sich, daß die Kellnerin Agatha eine ganz gewaltige Romanenleserin
+gewesen sein muß, sich trotz dem duftendsten Ritterfräulein zu benehmen
+weiß und--schon am andern Tage bringt er derselben Itanias Gewand und alle
+Kostbarkeiten dazu als Weihnachtsgeschenk, beredet sie, das prosaische
+Bierhaus aufzugeben und einen gemächlichen Dienst zu suchen, dabei weniger
+auf Lohn, denn "auf gute Behandlung" zu sehen.
+
+Der große Trommelschläger war überzeugt, Itanias Brief sei ein Blendwerk
+der Hölle, ein Zwangsbrief und der Ritter könne durch einen neuen Brief
+wieder zu Ehren kommen, die Geliebte vielleicht aus unsäglichen Gefahren
+befreien, doch Agatha versteht es, den Benedict zu bezaubern und zu
+fesseln, in jeder Hinsicht die Seinige zu werden!
+
+Alles Arbeiten und Sparen hörte plötzlich auf, der Held war wenig mehr in
+der Kaserne, verlor Zeit, Geld und noch weit mehr bei der Agatha und diese
+benutzte die Gelegenheit vortrefflich, ihn in jeder Beziehung auszusaugen.
+Itanias Gewand und Schmuck taugte nicht zu ihren bescheideneren Kleidern,
+schöne Worte und Liebkosungen bewogen den Ritter, sie als Burgfräulein
+vollständig und standesgemäß zu equipiren, sein Geld flog weg wie Spreu,
+zum Arbeiten bekam er keine Zeit mehr und verlegte sich in der Raserei
+seiner durch die beständig gereitzte Sinnlichkeit aufgestachelten
+Leidenschaft auf--kühne Griffe, wobei ihn das Glück außerordentlich
+begünstigte, so daß es wieder Spätjahr wurde, ohne daß er
+Unannehmlichkeiten bekam.
+
+Uebrigens mußte Vater Jacob nicht nur erleben, daß die 50 Gulden, die er
+von Liebhardt geliehen, nicht mehr zurückkamen, sondern auch, daß sein
+ritterlicher Sohn häufig in der Nacht ins Dörflein kam und am Morgen mit
+einem Theile des mütterlichen Vermögens von dannen zog, dabei den
+Säbelgriff selten aus der Hand ließ.
+
+Nach der großen Revüe machte Ritter Benedict eine Luftfahrt mit Fräulein
+Agatha, verschwendete in 3 Tagen 20 Kronenthaler theils auf Rechnung seines
+Vermögens, theils auf Regimentsunkosten.
+
+Ein sogenannter Zufall ließ ihn während der Luftfahrt entdecken, die
+Tieffühlende und Hochpoetische habe schon vor Jahren als zartsinnige
+Jungfrau der badischen Regierung ganz unberufen zwei kleine Unterthanen
+geschenkt und sei unter dem Namen "Kasernenhäschen" bekannt gewesen. Solche
+unromantische Enttäuschung bewirkte, daß in grimmem Zorne der Ritter der
+bisher Angebeteten den Fehdehandschuh ins Gesicht schleuderte, ohne die
+Hand vorher aus dem Handschuhe herauszuziehen und dieselbe auf dem Wege
+verließ.
+
+Sein Urlaub lautete auf 8 Tage und weil nach 3 Tagen sein Geldbeutel leer
+geworden, hätte er in die Garnison zurückkehren sollen.
+
+Er that es nicht aus drei triftigen Gründen, nämlich erstens aus
+Liebesschmerz, zweitens aus Furcht vor einem Wauwau beim Regimente, der ihm
+gar bange Ahnungen machte und drittens aus Furcht vor der Zukunft, weil
+eine Hauptquelle seines Einkommens, sein mütterliches Vermögen, vom
+hartnäckigen Vater Jacob verstopft worden war.
+
+Nachts kommt er in das Rheindörflein, wo Rosa wohnt und wo er als Knecht
+des Saumathis so glücklich gelebt hat; er will in den Adler, da begegnet
+ihm sein alter Freund und Gutthäter, der Straßenbasche, packt ihn am Arm
+und zwingt ihn, mit ihm zu gehen. "Was hat's Rosele verbrochen, daß Du sie
+so verächtlich von Dir stießest?--Warum kannst Du so gegen uns sein, was
+haben wir Dir zu Leide gethan?--Bist Du denn nicht mehr unser Freund? Mein,
+wenn Du wüßtest, was alle Leute sagen!"--fragt und klagt der alte
+Unteroffizier, doch hartnäckig bleibt der Duckmäuser dabei, Rosa sei an
+allem Unheil Schuld, was ihm beim Regimente zustieß und wodurch jetzt sein
+Glück für immer zerstört sei!
+
+Mutter Clara weiß gar nicht, was sie für ein Gesicht machen, geschweige was
+sie reden soll, das Rosele sitzt neben ihr auf der Ofenbank, bringt vor
+Schluchzen und Weinen keine Silbe hervor, endlich geht er zur Thüre hinaus,
+läßt jedoch seine Kappe auf der Bank liegen. Rosa steht jetzt auf, geht ihm
+nach und hält ihn fest:
+
+"Wo willst jetzt hin?" fragt sie seufzend und schluchzend.
+
+"Fort, so weit als die Welt offen steht, um Dir aus den Augen zu kommen!"
+schnauzt er und will sich trotzig losreißen; sie hält ihn aus Leibeskräften
+fest und weil er alle Fragen unbeantwortet läßt, will sie nur das Einzige
+wissen, was er denn Schlechtes von ihr gehört habe, er möge es ihr
+unverhehlt ins Gesicht sagen.
+
+Er bleibt stumm, sie erinnert an das Leben im Heimathsdörflein, an
+Jugendzeit und Schuljahre, an die Zeit seines ersten Jahres bei den
+Soldaten, an die Kirchweihe und will Alles thun, um ihn von Neuem zu
+bessern, will ihm all ihr Geld freudig geben und zwar eine Summe, welche
+ihn mehr als gerettet hätte, doch er brummt: "Hab Deine paar Groschen nicht
+nöthig, behalte Du sie nur, Du wirst sie einmal nöthiger brauchen können!"
+reißt sich von seinem weinenden Schutzengel los und verschwindet in der
+finstern Nacht.
+
+Weil sein Urlaubspaß noch gültig war, hinderten die Zollwächter seine Fahrt
+über den Rhein nicht, zumal im nächsten französischen Dorfe gerade die
+Kirchweihe gefeiert wurde, wobei badische Gäste selten fehlen.
+
+Wir finden den Deserteur am andern Abend todesmüde vom Umherirren im
+"grünen Baum" zu "Wanzenau," einem etwa zwei Stunden von Straßburg
+entfernten Dorfe.
+
+Der Wirth, ein braver, als Elsässerfranzmann gegen "Deutschländer"
+pflichtgemäß ein bischen eingenommener Mann, hat nicht nur den Deserteur
+gern ins Haus aufgenommen, sondern sich von dem Schlaukopfe auch einen
+stattlichen Bären auf die Nase binden lassen.
+
+Der Hobist behauptete, auf den Rath seiner Angehörigen desertirt zu sein,
+um dadurch 50 Rohrhieben und dem sichern Tode zu entgehen, was ihm Alles
+wegen eines zerbrochenen Säbels drohe. Er habe nämlich bei einer Kirchweihe
+in einem badischen Dorfe aufgespielt, sein Säbel hatte an der Wand
+gehangen, die Tänzer hätten vorigen Dienstag eine schwere Schlägerei
+angefangen, sich seines Säbels bemächtiget, Verwundungen damit angerichtet
+und zur guten Letzt die Waffe gar zerbrochen. Am Mittwoch hätten die
+verhafteten Bursche von keinem Säbel Etwas wissen wollen, der Wirth habe
+geradezu geläugnet, vom Benedict einen solchen zum Aufheben bekommen zu
+haben, somit bleibe die "ganze Schmier" an ihm hängen und seine einzige
+Rettung, in Frankreichs großmüthigen Armen Schutz zu suchen! ...
+
+Den Wirth zum grünen Baum, zugleich Maire des wohlhabenden Ortes hat das
+Klarinettblasen des Duckmäusers dermaßen entzückt, daß dieser sein und gar
+rasch der Liebling der ganzen Dorfjugend geworden ist. Am Tage arbeitet er
+auf dem Felde, es kommt ihm sauer genug an, nachdem er so lange nur auf
+Kasernenbrettern herumrutschte, doch vergibt er dem deutschen Fleiß nichts
+gegenüber der französischen Landeskraft, Abends macht er in einem großen
+Saale, worin unter Tags die hübschen Elsässerinnen mit ihren hellen
+Aeuglein Welschkorn abschleizen, Musik und verdient schweres Geld.
+
+Alles geht vortrefflich, er läßt sich gerne neckend "Schwob" oder
+"Gelbfüßler" nennen und denkt nicht ans Heimgehen, sondern an eine große
+Hochzeit, welche einer der reichsten Bursche des Departements (die
+Stadtherren freilich ausgenommen) hier feiert. Diese Hochzeit lockt sehr
+zahlreiche Gäste herbei, währt drei Tage, der klarinettblasende Ritter
+hätte sich in Wein und Bier ersäufen können, wenn er gewollt hätte, doch er
+will dies nicht und aus guten Gründen. Der "große Maier," ein Schuster des
+Dorfes, der kürzlich von seinem Cuirassierobersten beurlaubt wurde, will
+dem armen Deserteur zeigen, daß er sich jetzt unter Franzosen befinde und
+veranstaltet eine Collecte, welche so bedeutend ausfällt, daß der Benedict
+ganz leicht ins Badische hätte zurückgehen und als ehrlicher Mann auftreten
+können, wenn er nur gescheidt gewesen wäre.
+
+Doch sein Hochmuth läßt's ihm nicht zu; bereits vor der Hochzeit haben ihn
+der große Maier, der Allis, der Stegenklemens, der Rappenschorsch und
+Andere liebgewonnen und wenn das Schwitzen auf den Aeckern nicht wäre,
+würde er wohl beim Wirth zum grünen Baum sein Lebenlang bleiben können!
+
+Während der Hochzeit wimmelt es im Wirthshause vom Dache bis zum Keller von
+Gästen, das ganze Rathhaus ebenso, die 5 Musikanten kommen gar nicht mehr
+zum Athmen, der lederne Instrumentenbeutel voll Franken und
+Fünffrankenthalern bleibt ihr einziger Trost, der Benedict aber macht der
+deutschen Musik unglaubliche Ehre.
+
+Man muß französische Musik mit deutscher verglichen haben, um dies leicht
+zu begreifen, denn Musikanten und Sänger sind die Franzosen nicht, lieben
+jedoch Musik und Gesang enthusiastisch und--Elsässer wollen in Allem
+Franzosen sein.
+
+Ein Friedensrichter wurde durch die "dütschen Walser" des Deserteurs
+dermaßen begeistert, daß er sofort mit dem Wirthe ausmacht, er soll den
+"Schwob" nach der Hochzeit zu ihm senden, er werde dann denselben nach Metz
+bringen und mit Hülfe seines Bruders, des Majors zu einem Hauptmusikanten
+des 35. Regimentes machen.
+
+Doch Alles sollte anders kommen, der Duckmäuser in keine französische
+Uniform, sondern in einen germanischen Zuchthauskittel schlüpfen!
+
+Am 4. Tage machten die Buben und Mädlen die üblichen Hochzeitspossen und
+Umzüge, die Musikanten mußten überall voranschreiten, die Lustigkeit währte
+tief in die Nacht und der dienstfertige Benedict suchte dieselbe auch auf
+andere Weise denn durch seine Klarinette zu erhöhen.
+
+Er hatte in der Heimath einmal zugesehen, wie der Max in einer Scheune
+seiner rothen Schwitt eine katholische Messe las und unternahm jetzt
+dasselbe vor einem großen Haufen junger Leute. Still und lautlos sahen ihm
+Alle zu bis zur Communion, wo er bei Nachäffung des kelchtrinkenden
+Priesters beinahe erstickte. Jetzt erhob sich ein fürchterliches Toben,
+Lärmen und hundert Stimmen riefen: "Meinst, wir seien lutherisch, Du
+Schwob!--Schlagt den Schwob tod!"[tod!]--Nieder mit dem Ketzer!"
+
+Der lange Maier streckt den Dorfhanswurst mit einer einzigen Ohrfeige der
+Länge nach auf den Boden, die Zunächststehenden fallen über ihn her, sie
+hindern sich gegenseitig durch ihre Anzahl im Zuschlagen und er würde
+sicher nicht lebendig davon gekommen sein, wenn nicht der alte Geistliche
+sammt dem hochgeachteten Notar des Ortes zu seiner Hülfe herbeigeeilt
+wären. Sie nahmen sich seiner barmherzig und kräftig an, die Fäuste ließen
+ihn los, die Bursche und Männer tobten und lärmten nur noch bunt
+durcheinander.
+
+Zu dem bleichen, zitternden Deserteur sagt der Adjunkt von Killstett. "Wir
+wissen wohl, daß bei Euch drüben die Geistlichen nur Vormittags eine Stunde
+geistlich, die übrige Zeit des Tages aber weltlich sind und daß ihr
+Gelbfüßler alle lutherisch seid, doch bei uns kommt ihr mit solchen Späßen
+nicht an!"
+
+Alle Freundlichkeit und Liebe gegen den Duckmäuser hat ein Ende, das
+Brautpaar läßt den Hochzeitgästen und Musikanten sagen, sie möchten den
+"gottlosen Schwob" ja nicht mehr ins Hochzeitshaus bringen, Gott könnte
+ihnen keinen Segen schenken, wenn sie einen solchen Menschen wissentlich
+unterhielten. Der große Maier macht bereits wieder Augen wie Pflugräder,
+die Gesichter Anderer verkündigen einen neuen Sturm, der ehrwürdige Pfarrer
+muß die Aergsten abermals beschwichtigen, Benedict sucht ängstlich
+Gelegenheit zum Fortkommen, findet solche und kommt mit einigen Tritten und
+Stößen glücklich ins Freie.
+
+Doch eilt er nicht sofort aus Wanzenau weg; der volle Instrumentenbeutel
+hält ihn fest, er getraut sich nicht zurückzukehren und seinen Antheil zu
+fordern, weil er im Dunkeln oder beim Wiedererscheinen gar zu leicht den
+verdienten Lohn für sein Messelesen ernten könnte; die Theilung des Geldes
+unter den Musikanten sollte erst am Ende der Hochzeit vorgenommen werden,
+somit befindet er sich in einer recht mißlichen Lage und klettert zunächst
+auf einen Baum, wo er sicher vor Entdeckung und im Stande ist, seine
+Gedanken zu sammeln. Er wartet bis die meisten Leute wieder zum Rathhause
+zurückgekehrt sind, klettert alsdann vom Baume herab, paßt eine gute
+Gelegenheit ab, schleicht trotz einiger nachläßig gewordener und theilweise
+betrunkener Aufpasser ins Haus zurück, erobert in der Geschwindigkeit nicht
+blos seinen Lohn, sondern den ganzen schwergefüllten Instrumentenbeutel und
+macht sich dann eiligst aus dem Staube.
+
+Jedoch noch nicht über die letzten Gärten und Häuser des Dorfes
+hinausgekommen, vernimmt er bereits Allarm, hört auf allen Seiten schreien
+und hinter sich einige Verfolger, darunter den großen Cuirassier, der
+ungeheure Sätze macht und seinen Sarras unter schrecklichen französischen
+und elsässischen Flüchen schwingt.
+
+Hat ein Romanenheld jemals den Silberschein des Mondes in die unterste
+Hölle verflucht, so ist dieser der Benedict gewesen, während der
+nächtlichen Galoppfahrt aus Wanzenau. Gleich einem Riesen der fabelhaften
+Vorzeit schreitet der große Maier mit blitzendem Pallasch brüllend durch
+die Mondnacht, hinter ihm quicken die gewöhnlichen, diesmal außergewöhnlich
+erbosten Menschenkinder, jede Sekunde erhöht die Todesangst des
+galloppirenden Benedict, denn jede Secunde bringt die Feinde näher und
+vermehrt deren Zahl, schon hört er die schweren Athemzüge des keuchenden
+Riesen, schon schwingt dieser die furchtbare Waffe und gebietet dem
+"Spitzbuben" Halt auf Leben und Tod--im entscheidenden Augenblicke läßt
+Benedict den schweren Instrumentenbeutel klirrend fallen, der Riese bleibt
+stehen, der Verfolgte jedoch stürzt sich verzweifelnd in die Brisch, welche
+breit und tief genug ist, um mit Dampfschiffen befahren zu werden, die
+Todesangst verzehnfacht seine Kraft und glücklich erreicht er das
+jenseitige Ufer.
+
+Drüben stehen die Verfolger, der große Maier ist im Besitze des
+Instrumentenbeutels, man findet es nicht mehr der Mühe werth, den Deserteur
+anders denn durch Schimpfnamen und Verwünschungen zu verfolgen, von denen
+dieser bald nichts mehr hört, weil er triefend doch wohlgemuther auf's
+Gerathewohl vom Flusse ins Land einwärts läuft.
+
+Mit Tagesanbruch kommt er in ein Dörflein, sein Geldbeutel ist auch ohne
+den Instrumentenbeutel ordentlich gespickt, im Wirthshause legt er sich
+sofort ins Bett, schläft volle 36 Stunden; seine Kleider sind indessen
+getrocknet, Nöthiges schafft er an, wandert nach Straßburg "der
+wunderschönen Stadt," meldet sich auf der Mairie nach Algier, wird von da
+auf die Praefektur, von hier zum Rekrutirungskapitain, von diesem mit einem
+Schreiben zu einem Komissaire beim Metzgerthor geschickt. Das Schreiben muß
+ein Uriasbrief gewesen sein, denn der Komissaire ließ den verwunderten
+Duckmäuser in den Neuthurm führen und hier volle 23 Tage Betrachtungen über
+die Artigkeit und Zuneigung französischer Behörden gegen deutsche
+Deserteurs anstellen.
+
+Nach dieser Frist ward unserm Helden eröffnet, bis auf weitere Ordre werde
+Niemand nach Algier angeworben, somit müßte er die Reise nach Afrika
+aufgeben; verstehe er jedoch ein Handwerk, so erhalte er einen für ganz
+Frankreich gültigen Paß, widrigenfalls nur einen Paß in die Schweiz oder
+über die Kehlerbrücke.
+
+Weil er kein Gewerbe erlernt hatte, begnügte er sich seufzend mit einem
+Passe nach der Schweiz, wurde freigelassen, ging in den rothen Löwen und
+setzte sich etwas tiefsinnig hinter ein "Kännle" Bier.
+
+Hier zieht er seinen Paß hervor, studirt vergeblich an dem französischen
+Geschreibsel herum, möchte es ums Leben gern verdeutschen, flucht im besten
+Deutsch leise vor sich hin, bis ein Herr, der in der Nähe sitzt und sich
+nicht schämt, ein deutsches Wort zu sprechen, welche Schaam bei manchem
+Philister der guten alten Reichsstadt Straßburg gefunden wird, ihm endlich
+aus der Noth hilft. Dieser Herr setzt einen Nasenklemmer auf die nach
+altdeutscher Sitte riechende Kupfernase, steckt dieselbe tief und gründlich
+in den Paß und eröffnet dem erschreckenden Hobisten, daß er mit diesem
+Passe nicht weiter als bis Basel komme, von dort aber nach Deutschland
+ausgeliefert werde, weil in dem Passe bemerkt wäre, er sei ein Deserteur.
+
+Solch' ächtwälsche Hinterlist empört den aufrichtigen Duckmäuser ganz
+gewaltig; er beschließt im Zorn, sich den Weg nach Basel zu ersparen und
+gleich über die Kehlerbrücke zu spazieren, wo ein Häuflein alter
+Waffengefährten stets zu finden, doch der Herr bemerkt, es sei noch nicht
+aller Tage Abend und etwa um 20 Fränkchen ließe sich wohl auch noch ein
+anderer Paß auftreiben.
+
+Der Duckmäuser geht den Handel ein, zahlt die 20 Franken in der Freude
+seines Herzens, macht aus dem alten Uriasbrief Fidibus und dämpft ein
+halbes Dutzend kölnische Pfeifen, während er die Rückkehr des Herrn mit dem
+neuen Passe erwartet. Erst als Abends die Lichter im rothen Löwen
+angezündet werden, geht unserm Helden auch ein Licht auf, doch ein ziemlich
+düsteres; er stolpert durch die Stadt und Wälle bis zum Denkmal des wackern
+Generals Defaix und weiß nicht, ob er sich in den "freien, deutschen Rhein"
+stürzen und dadurch allen Verfolgungen und Gefahren des Erdenpilgerlebens
+entgehen oder über die Brücke wandern und gute Miene zum bösen Spiel machen
+soll.
+
+Nachdenklich setzt er sich auf einen Stein, schaut nach dem fernen
+Schwarzwalde hinüber und träumt melancholisch von Itanien, bis ihn ein
+kleiner Mann anredet und seinem Geschicke eine neue Wendung gibt; leider
+schlägt dieselbe abermals zum Unheile und diesmal zum größten alles
+erdenkbaren Unheiles aus.--
+
+Bis hieher mag unsere Erzahlung gehen, den weitern Verlauf mag der Held
+derselben selbst erzählen, weil wir jetzt doch wissen können, wen wir vor
+uns haben und in das Zuchthaus zurückkehren müssen.
+
+
+ * * * * *
+
+
+Die Nacht hat ihren sternbesäeten Schleier über die wunderliebliche
+Landschaft ausgebreitet, durch welche das Auge manches kranken Gefangenen,
+der sich an einem der Fenster des Krankensaales der warmen Sonnenstrahlen
+freute, sehnsüchtig und träumerisch hinschweifte.
+
+Im Krankensaale, worin heute der Duckmäuser einzelne Abschnitte seiner
+Geschichte mit vielen Verbesserungen und Verzierungen einigen Mitgefangenen
+zum Besten gegeben, brennt nunmehr eine Laterne und vertheilt Licht und
+Schatten ohne alle Rücksicht auf Kranke und Hausordnungen ziemlich
+unzweckmäßig.
+
+Von der Außenwelt vernimmt das Ohr nur noch den regelmäßigen Schritt der
+Hofwachen, zuweilen ein fern vorüberfliehendes Rollen der Kutschen oder die
+muntern Lieder der Fidelen, welche in der nächsten Brauerei des Lebens
+Unverstand mit und ohne Wehmuth genießen und wacker Bier dazu kneipen.
+
+Im Krankensaale dagegen hat die Nacht manche Unterbrechung der tiefen
+Stille zu verdoppeln. Das Murmelthier schnarcht seinen kellertiefen
+Grundbaß, der Seeräuber versucht von Zeit zu Zeit mit einem
+ohrenzerreißenden Tenor einzufallen, der Exfourier flucht zuweilen leise
+zuweilen laut über die Störenfriede, welche ihn nicht einmal an seine
+Braune denken, geschweige einschlafen lassen, der Wirthssohn beneidet die
+tiefen, schweren Athemzüge einiger genesenden Nachbarn und wälzt sich
+ruhelos im Bette hin und her, die Auszehrenden hüsteln und ächzen, ein
+Fieberkranker phantasirt von einem Amtmanne mit krummer Nase und scharfen
+Klauen, der Patrik vom Hotzenwald droht von Zeit zu Zeit am Husten zu
+ersticken, der glückselige Donatle lacht im Traume laut auf, der brave
+unermüdliche Krankenwärter spazirt auf Socken aus und ein, denn in der
+nächsten Stube liegt Einer, dessen Laufpaß in die ewige Heimath beinahe
+unterschrieben ist und zum Ganzen gibt der Pendel der Schwarzwälderuhr den
+schwerfälligen, melancholischen Takt.
+
+Der Duckmäuser schläft auch noch nicht, denn er muß dem Zuckerhannes,
+welchem er Hoffnung auf Genesung und Befreiung eingeredet hat, seine
+Geschichte vollends erzählen.
+
+Dieser glaubt nicht, den Todeskeim aufgeblüht in der leidenden Brust zu
+tragen, sondern an Genesung und Befreiung und für letztere mindestens
+scheint dem Unerfahrenen kein Strohhalm, sondern eine Schiffsladung von
+Hoffnung vorhanden zu sein.
+
+Ist nicht am ersten Montage des laufenden Monats als am üblichen Besuchtage
+die Emmerenz vom Hegäu herabgekommen und wie ein rettender Engel vor dem
+Drathgitterfenster des Flechtwaarenmagazins gestanden und hat dem
+ehemaligen Schatz Trost und Muth eingeredet? Erzählte sie nicht voll
+Freuden, der Fesenbauer sei ins Dörflein und zu ihr gekommen und habe
+merken lassen, er bereue die Sünden, welche er gegen die Brigitte begangen
+und das Unglück, welches er über den Hannesle gebracht? Hat besagter
+Fesenbauer nicht geschworen, er gäbe gerne seinen kleinen Finger, wenn er
+damit dem Hannesle aus dem Zuchthause verhelfen könnte? Hat ein reicher
+Bauer kein Gewicht beim Amt, bei der Regierung, den Landständen und beim
+Großherzog und wird das einmal rege Gewissen des Michel wieder verstummen?
+Wird dieser nicht Alles thun, um eine neue Untersuchung einzuleiten und
+wird für seinen Sohn dieselbe nicht gewaltige Verminderung der Strafzeit,
+baldige Begnadigung oder gar sofortige Freilassung zur Folge haben?
+
+Also sprach die Emmerenz am Besuchtage, ebenso heute morgen wieder der
+Duckmäuser, welcher aufrichtig an die Möglichkeit der Befreiung,
+zweifelhaft jedoch an das Wiederaufkommen seines Freundes glaubt und wie
+sehr haben die hoffnungsreichen Reden der Beiden das kranke Herz des
+kranken Zuckerhannes erquickt!
+
+Hoffnung und Freude sind für Kranke oft die wirksamsten Arzneien, der
+Zuckerhannes hat's erfahren; er kann vor Aufregung nicht schlafen und hört
+dem Duckmäuser zu, welcher ihm den Rest seiner Geschichte in die Ohren
+flüstert, nämlich seiner auswendigen Geschichte, welche mit dem Eintritte
+ins Zuchthaus schließt, während die inwendige noch nicht in den rechten
+Gang gekommen ist und erst in der Zelle zu Bruchsal dazu kommen wird.
+
+Jetzt erzählt er vom rothen Löwen zu Straßburg, vom Steine beim Denkmal des
+Generals Defaix, wir spitzen die Ohren und hören weiter Folgendes erzählen:
+
+"Wie ich so verlassen ohne Paß dahocke und recht betrübt an die Itania
+denke, von der mich sichtbare und unsichtbare Berge trennen, kommt ein
+klein, klein Männle auf mich zu und fragt gar sanft, was ich denn da
+mache?["]--"Ho Nichts!"--"Nichts? wenn der Mensch nichts macht so sündigt
+er!"--"Ja und wenn er Etwas macht, so kommt er in des Teufels Küche, wie
+ist da zu helfen?"--"Was haben Sie für eine Religion?"--"Ho, ich bin
+katholisch!"--"Katholisch? ... armer Mensch!"--"Ja, ein armer Teufel bin
+ich, doch nicht weil ich katholisch, sondern hier fremd bin!"--"Hier fremd
+und dort fremd, armer, armer Bruder!"--
+
+Kurz, das Männlein fängt ein Gespräch mit mir an, ich merke, daß es sehr
+fromm ist, thue auch fromm, erfahre, er sei kein Straßburger, sondern habe
+blos einen kleinen Spazirgang gemacht, weil er vor lauter Liebe zum Lamme
+oft nicht mehr recht schnaufen könne, wohne mehrere Stunden oberhalb
+Straßburg, heiße Meister März und sei ein vom Herrn mit zeitlichen Gütern
+reichgesegneter Mann, der in diesen Zeiten babylonischer Verwirrung seinen
+Brüdern, welche die "Diener am Worte" und den Herrn Jesum Christum hoch
+hielten, gerne unter die Arme greife, aus zeitlichem Elend und dem ewigen
+Höllenpfuhl errette.
+
+Natürlich stellte ich mich immer frömmer, Meister März entdeckte mir bald,
+er sei am 5. October 1831 Abends zwischen 5 und 6 Uhr in dem an zeitlichen
+Gütern und gottseligen Seelen so reichen Basel bei Mariot in den Stand der
+Gnade gekommen. So Etwas sollte mir passiren, ich könnte den Gnadenstand
+brauchen! meinte ich und wer mich beredete, nach Straßburg zurückzugehen,
+um zu übernachten und morgen mit ihm heimzufahren, der war mein Meister
+März.
+
+Derselbe logirte bei einer gottseligen Wittwe in der Nähe des
+Kleberplatzes; ich übernachtete in einem Wirthshause... ich glaube, es hieß
+zum goldenen Apfel! ... und am andern Morgen holte mich Meister März ab und
+freute sich sehr, weil ich just in einer großen Bibel las, die der kleine
+Wicht mir schon am Abend nebst vielen abscheulich langweiligen Traktätlein
+verehrt hatte.
+
+Er führte ein Wägelchen bei sich und ich sah auf den ersten Blick, daß er
+ein gutes Männlein sei gegen Gleichgesinnte und das Gute oder Schlimme an
+sich trug, alle Leute gleichgesinnt machen zu wollen. Die gottselige Wittwe
+hat ihm viele Bibeln und ganze Päcke erbaulicher Flugschriften mitgegeben,
+auf der Landstraße verschenkte er seine Bibeln an Handwerksbursche,
+Marktweiber, Bauern und Bettler und als ich beim Ausstreuen und Vertheilen
+der Traktätlein half, lächelte er gar lieblich... Stelle dir ein
+hellbraunes Männlein vor, mit zarten Löcklein vor jedem Ohre, das Köpfchen
+etwas zur Seite geneigt, die Augen den ganzen Tag voll Wasser und
+Freundlichkeit, mit bleichen Wangen, einer löschhornartigen Nase, fromm
+verzogenen und selig lächelndem Munde, im ganzen Gesichte kein Härlein
+außer etwa 10 bis 12, welche einen Backenbart vorstellen sollten, ganz
+einfache doch hübsche Kleider und du hast den Meister März, dessen feine
+zarte Händlein eher einem Schulmeisterlein, denn einem Schreiner
+anzugehören scheinen.
+
+Er redete lauter gottselige Dinge von Zion, Babel, den Freuden des
+Lämmleins, von der Sündhaftigkeit des Menschengeschlechtes, vom Gnadenstand
+der Anhänger des "lieben, einfältigen Evangeliums," vom "treuen
+Gottesmanne" Martinus Luther, vom Antichrist und von der babylonischen Hure
+und ehe ich mit ihm heimkam, wußte ich schon, die Offenbarung Johannis
+werde von uns fleischlichgesinnten Papisten seit 18 Jahrhunderten
+_nicht_ verstanden, doch _er_, der Meister März und andere
+gottselige Leute, bei denen der heilige Geist täglich sein Absteigequatier
+nehme, wüßten, daß das tausendjährige Reich und die Zerstörung des
+römischen Babel in ganz naher Aussicht ständen und daß der Teufel jeden am
+Schopfe nehmen werde, welcher es zuließ, daß die katholische Abgötterei
+"die Geister gedämpft" habe.
+
+Er beredete mich unterwegs einen falschen Namen anzunehmen und mich für
+einen von den "römischen Geistlichen schwer verfolgten Freund der Diener am
+Worte" auszugeben, welcher wegen Verbreitung von Schriften der Anhänger des
+lieben einfältigen Evangeliums um sein Brod gekommen sei. Zunächst
+versprach er dagegen, mich in seinem Hause aufzunehmen, das
+Schreinergewerbe, zu welchem ich stets Freude hatte, lernen zu lassen und
+mit allem auszurüsten, was zu einem behäbigen und wohlanständigen Leben in
+Gottseligkeit gehört, wenn ich etwa als einen "Praedestinirten" mich
+erwiese!
+
+Kannst Dir leicht denken, daß mich Meister März arg langweilte, doch habe
+ich mich stets nach den Leuten gerichtet, diesmal befand ich mich in der
+höchsten Noth, er versprach mir Alles, was ich brauche und der Wein sammt
+dem Likör, welchen er neben seinen Bibeln in der Truhe des Wagensitzes
+hatte und gegen Abend so wacker genoß, daß ich an den Compagnieschneider
+Feucht dachte, setzten mich so ins Feuer, daß ich schon auf dem Wege ein
+geistliches Lied von ihm erlernte, welches er abwechselnd unter Weinen und
+Lachen sang und dessen Melodie ich auf der Klarinette nachspielte. Meine
+Geschicklichkeit entzückte ihn dermaßen, daß er laut weinte, mir die Zügel
+um den Arm band, auf die Knie sank und mit gefalteten Händen die ersten
+Strophen seines Lieblingsliedes sang.
+
+Es war gut, daß es Nacht war und uns Niemand begegnete, ich blies so
+rührend als möglich und er sang unter Thränen:
+
+ Was ist ein Kreuz-Luft-Hühnelein?
+ Laßt's auch nur Kreuz-Luft-Putchen sein:
+ Ein Thierlein, das die Henne reucht,
+ Mit welcher sich das Lamm vergleicht
+ Dort bei Jerusalem! ...
+
+... Auf dem Wege sprach Meister März in keinem Wirthshause ein, doch
+beinahe in jedem Dorfe saß eine gottselige "Schwester", welche mit ihm in
+die Nebenkammer ging, um dem Lamme für die glückliche Ankunft des Bruders
+zu danken und uns dann besser bewirthete, als es der Grünbaumwirth in
+Wanzenau bei allem Reichthum hätte thun können.
+
+Spät in der Nacht kamen wir im Wohnorte und Hause des Meisters März an;
+eine Schaar andächtiger Frauen und gottseliger Männer sammt zwei jungen,
+äußerst bleich und fromm aussehenden "Dienern am Worte" waren in einem
+Hintergebäude des Hauses noch in Gebet und Betrachtungen versunken, Meister
+März stellte mich denselben vor und ich sah, wie große Augen alle machten
+und zusammenschauderten, als sie hörten, ich sei ein "Papist aus
+Dütschland."
+
+Einige liebliche Mädlen und gottselige Wittwen versprachen, für mich, den
+in den Banden des Irrthums, der Ungnade und des Satans gefangenen Mitbruder
+inbrünstig zu bitten und ihre Liebe rührte mich dermaßen, daß ich helle
+Thränen vergoß!
+
+Du weißt, Zuckerhannes, daß ich wohl der geschickteste Schreiner des
+Zuchthauses bin, ich habe als Gefangener dieses schöne Gewerbe in einer
+Reihe von Jahren vom Fundamente aus gelernt, doch den ersten Grund dazu
+legte ich bei Meister März.
+
+Meister März arbeitete nicht selbst; er führte mit einem Gehülfen und
+Obergesellen das Geschäft und betete, machte Besuche und Reisen, hielt in
+der großen Werkstätte Versammlungen, gab mir Essen, Trinken, Kleider, ließ
+mich nicht als Lehrjungen, sondern als Bruder behandeln, betete stündlich
+um meinen Gnadenstand und suchte mich auf jede Weise zu überreden, der
+"römischen Abgötterei" zu entsagen.
+
+Er hielt viel auf meinen gescheidten Kopf und meine frommen Gesinnungen und
+ich darf wohl behaupten, daß ich jetzt einer der reichsten Schreiner des
+Elsasses und leicht der Schwager meines Meisters wäre, wenn ich es nur über
+mich gebracht hätte, meinen Glauben abzuschwören!
+
+Nach und nach erzählte ich ihm viele Streiche und Verirrungen meines
+Lebens, aber er ließ deßhalb nicht nach mit Zudringlichkeit und meinte, der
+Mensch sei unfähig ein gottgefälliges Werk zu vollbringen, die Werke des
+Menschen seien ohne Bedeutung und der Glaube allein mache selig, ich aber
+müsse noch zum Glauben und Gnadenstand gelangen, das habe ihm eine
+wunderbare Erscheinung schon in Straßburg angekündiget und er sei das
+Werkzeug, welches mich aus einem heidnischen Gefäße des Zornes zu einem
+christlichen Gefäße der Gnade mache.
+
+Mein Meister hatte schon manche Seele für "das Wort" gewonnen, bei mir
+machte er sammt seiner arg verliebten Schwester große Versprechungen, kam
+doch nicht rasch genug zum Ziele und merkte, daß es mir nur darum zu thun
+sei, geschwind ein Schreiner zu werden und dann in die sündige Welt
+hinauszuwandern, in Paris statt in Zion Arbeit zu suchen! ... An der
+katholischen Religion liegt mir in der That wenig; man vergißt dergleichen
+Dinge in der Kaserne, wo Evangelische und Juden darüber spotten und im
+Zuchthause ist es ebenso, aber ich brachte es nicht über mich, meinen alten
+Glauben abzuschwören, wiewohl ich mit den Lutherischen in ihre Conventikel
+und Predigten ging, aus Klugheit und zur Unterhaltung die Schriften von
+Jung-Stilling und Anderen las, auch das alte Testament fast auswendig
+lernte und Mariotts wässerige Traktätlein fleißig vertheilte.
+
+Daheim im Dörflein hat meine Mutter von den Lutheranern mir früh viel Arges
+erzählt; ich verabscheute dieselben beinahe, wie ich die Juden fürchtete,
+hielt sie für böse Geister, aus welchen einmal der Antichrist erzeugt werde
+und konnte mich von dem Aberglauben nicht losreißen, ein abgefallener
+Katholik sei ewig ein Kind der Hölle und des Teufels. Vieles, was ich im
+Hause meines Meisters sah und hörte, bestärkte mich im Aberglauben der
+Mutter; Hochmuth und Wollust spielen bei den Muckern eine wüste und
+unerträgliche Rolle und so oft ich auch versprach, meinen katholischen
+Glauben fahren zu lassen, wenn man mir noch ein wenig Frist lasse, ebenso
+oft trat ich zurück, wenn die Frist vorüber war.
+
+Eines Abends, wo der Meister mich schon recht kühl und bissig behandelte,
+so daß ich gerne fortgelaufen wäre, wenn ich nur einen Paß und Geld gehabt
+hätte, spottete ich über die Frömmigkeit einer Betschwester, die ich bei
+einem Andern als ihrem Manne ertappte.
+
+Am andern Morgen kommt der Mann der Betschwester, verflucht meine böse
+Zunge und babylonische Herzensverwirrung, der Meister März seufzt, verdreht
+die Augen und lispelt: ["]Benedict, du bist und bleibst ein abgöttischer
+Papist, entweder nimmst du noch heute meinen Glauben an oder gehst aus dem
+Hause, denn mein Gewissen duldet es nicht, mich mit einem Unmenschen deiner
+Art abzugeben, der eine fromme Schwester verläumdet!" Ich antworte patzig,
+das fromme Männlein wird ganz wüthend, verdammt mich in die unterste Hölle,
+ich gehe den Bündel zu schnüren und wenn Meister Märzens Schwester mir
+nicht gesagt hätte, mich augenblicklich aus dem Staube zu machen und ihrer
+angenehmen Nächstenliebe eingedenk zu bleiben, so würde mich der Gensdarm
+erwischt haben, denn dieser war keine zehn Schritte mehr vom Hause, als ich
+zur Hinterthüre hinausschlich.
+
+Ohne Paß und Kleider, besaß ich nichts außer einem Fünflivre, den Mamsell
+März mir in der Eile zugesteckt hatte, lief gleich einem Feuerreiter Tag
+und Nacht und kam halbtod [halbtodt] wieder nach beinahe vierteljähriger
+Abwesenheit in Straßburg an.
+
+Hier blieb ich über Nacht, spazirte bei Kehl über die Brücke und schlug den
+Weg nach meinem Heimathdörflein ein, um den Rest meines mütterlichen
+Vermögens oder doch einige Napoleons zu holen und mich damit in die Schweiz
+zu machen. Glaubst du es, mein lieber Zuckerhannes?
+
+... Schläfst du? ... Nun, s'ist gleich aus; ich reiste zu meinem Vater auf
+ähnliche Weise, wie du, hungerte am Tage, lief bei Nacht und fand auch eine
+kühle, böse Aufnahme! Du weißt es! Alles im Dörflein ist todtenstill, wie
+ich hinkomme, nur einige Hofhunde bellten in die Nacht hinaus, zu Hause lag
+Alles wie der Vater im Schlafe; ich klopfe, er steht auf, schaut zum
+Fenster heraus, erkennt mich, rennt fort, um die Flinte zu holen und droht,
+mich elenden Spitzbuben über den Haufen zu schießen, wenn ich nicht
+augenblicklich fortgehe.
+
+Die Verzweiflung macht mich rasend, der Teufel zeigt mir einen Bengel, der
+mitten im Hofe lag, ich packe denselben und schlage so wüthend auf die
+Thüre los, daß alle Geschwister und die Nachbarn wach werden und laut
+rufen.
+
+Plötzlich öffnet der Vater die Thüre, drückt die Flinte auf mich ab, die
+Kugel streift aber blos die Achsel ["]... schau da, Zuckerhannes, dies
+Wundmal ist die ewige Erinnerung an jenen fürchterlichen Augenblick! ...
+ich haue in blinder, besinnungsloser Wuth mit dem langen, knorrigen Bengel
+in den dunkeln Hausgang hinein und ehe ich den dritten Schlag thue, packen
+mich des Liebhardts Knecht und der Hansjörg, der mit mir so lange auf dem
+Katzenbänklein gesessen, von hinten, der Hannesle stürzt mit dem Lichte und
+einem alten Säbel aus der Thüre und ... ich schaudere, wenn ich daran
+denke, du magst dir alles Andere selbst denken!" ... Schaudernd kehrt sich
+der Duckmäuser ab, schlüpft mit dem Kopfe unter den Teppich und es bleibt
+ungewiß, ob er weine oder schlafe.
+
+Der altersgraue, finstere und allzuharte, doch sonst brave Jacob lag
+blutend damals in der Hausflur, der Kopf war ihm auf einer Seite ganz
+zerschmettert, er stöhnte und röchelte nur noch wenige Augenblicke und
+verschied, ehe irgend eine Hülfe kommen konnte.
+
+Sein Sohn, der ehemalige Unterlehrer, Dorfhanswurst, Anführer der
+Altmodischen, Schweinehirt, Hobist und Schreiner ist ein _Vatermörder_
+geworden und sitzt als solcher jetzt schon lange Jahre im Zuchthause. Er
+ist gelassen, gleichmüthig, folgsam, arbeitsam, doch _gebessert_ ist
+er nicht, schiebt die Schuld seines Unglückes nur auf Andere und wenn er
+auch zugibt, der Teufel habe ihn schlecht und verbrecherisch gemacht, so
+weiß er doch nicht, auf welche Weise er der Herrschaft des Teufels zu
+entrinnen vermöchte.
+
+
+ * * * * *
+
+
+
+#DER DUCKMÄUSER LÄßT SICH ETWAS ERZÄHLEN.#
+
+
+Der Duckmäuser liegt im Schlafsaale und flüstert zum Kameraden hinüber:
+
+"Schau, es geht jetzt ins 10. Jahr--bis Peter und Paule wird's just zehn,
+daß mich die Gensdarmen geholt haben und darfst glauben, daß ich wenig
+Freuden erlebte und nur so mitmachte von einem Tag zum andern und war froh,
+wenn ich recht ermüdet im Schlafsaal lag. Der Zuckerhannes blieb der Erste
+und Letzte, mit Dem ich mich näher einließ und ihm meine wahre Geschichte
+erzählte. Er ist ein guter, armer Kerl, hat's auch im Zuchthaus besser
+gefunden als draußen und sie würden ihn schon wieder gekriegt haben, davor
+bin ich nicht bange! ... Ist Einer _einmal_ da gewesen, so geht's das
+zweite Mal viel leichter bei den Rechtsverdrehern und bei denen, die sie
+schon in den Klauen gehabt haben! ... 'S ist gut, daß er tod ist!"
+
+"Ja, weiß Gott, seufzt der Donat, 'n armer Teufel hockt geschwinder im
+Zuchthaus, als man eine Hand umkehrt. Bin jetzt das erste Mal da, aber ich
+hab' meine Sach in Amtslöchern und Correctionshäusern schon mitgemacht und
+es ist mir wunderlich gegangen, könnte ein Buch davon schreiben!"
+
+"Ei, draußen kannst du doch Einem aus dem Wege gehen, der dir nicht gefällt
+oder ihm Eins hinter die Ohren schlagen, aber hier? ... Seit der Teufel den
+Spaniolen hereingebracht hat, ist's mit meiner Ruhe aus; wenn ich den
+dürren Halunken mit seinen falschen Augen, die eine halbe Stunde weit im
+Kopf drinnen liegen, nur ansehe, ist mir das Leben verleidet und ich
+zittere an allen Gliedern und er regiert Alles, leitet Alles, kann's mit
+den Aufsehern, daß es ein Schade ist. Fünf Jahre war ich nie im Arrest,
+jetzt komme ich alle Augenblicke hinein und Alles ob dem Spitzbuben!
+
+"Der Spaniol ist ein Teufelskerl und ich meine immer, ich hätte ihn auch
+schon gesehen in Donaueschingen oder in der Neustadt ... nein es war in
+Lengkirch, wo er 3 oder 4 verschlossene Wagen mit fremden Thieren
+commandirte und auf die Freiburgermesse zog... Er mahnt mich an Einen, dem
+ich auch gerne mit der Holzaxt winkte!"
+
+"Verdammt, ich kann heut nicht schlafen, 's geht mir jedesmal so, wenn ich
+Beize kochen muß, das Geschäft ist zu leicht für mich! brummte der
+Duckmäuser;--weißt Du was, Donat, erzähle mir deine Geschichte, ich erfahre
+dann wieder, wie's draußen bei ordentlichen Leuten zugeht und lerne Dich
+kennen!"
+
+"Kann auch nicht schlafen, Du hast mir Deine Sache auch ausführlich
+erzählt, eine Ehre ist der andern werth! ... Wer hat heute Nacht die
+Wache?"
+
+"Der alte Moritz, der sieht nichts und hört nichts und wenn er kommt,
+rieche ich ihn von weiten."
+
+"Riechen? ich habe noch nichts gerochen! meinte der Donat."
+
+"Hoho, warte nur, bis Du ein, zwei, drei, fünf Jährle hockst, dann wirst Du
+Schnaps oder Tabak auf hundert Schritte riechen durch allen Gestank
+hindurch! ... Fange nur ruhig an, wir stecken die Köpfe unter den Teppich
+und ich halte die Ohren zu Dir, wie der Pfarrer, wenn er Beichte hörte!"
+
+"Ja, Du mußt mir aber _mehr_ glauben als er, er glaubt Keinem mehr,
+weil die Meisten ihn anlügen, und die vor Allem, die Begnadigung wollen.
+Der Stoffel hat mir erst gestern gesagt, er habe im Beichtstuhle mehr Gutes
+als Böses gebeichtet und zwar so, daß bei seinen Gutthaten jedesmal ein
+kleines Häkchen war, daß sie halb und halb wie eine Sünde aussehen! ... Er
+spielt den heiligen Crispin, der den Reichen Leder stahl, um den Armen
+Stiefel zu machen; es war gut, daß dieser nicht im Badischen lebte, wo sie
+allgemach das Almosengeben bei drei Gulden Strafe verbieten, wenn man sein
+eigen Sach' herschenkt!"
+
+"Nur zu, das gibt Rekruten fürs Zuchthaus! lachte der Duckmäuser. Wenn's
+Bettele verboten wird, wird das Stehlen erlaubter! ... Doch, fange an,
+kannst schon ein bischen laut reden, das Murmelthier schnarcht wie
+besessen, daß man sein eigen Wort kaum hört!"
+
+"Das Beste ist, daß man Gedanken nicht einsperren kann, ich hocke da, doch
+meine Gedanken streifen den ganzen Tag herum, und am liebsten nach dem
+Unterland oder das Höllenthal hinauf gegen Lenzkirch, denn dort ist meine
+Heimath, nämlich in jener Gegend, die für so rauh und wüst verschrieen wird
+und mir doch hundert Mal besser gefällt, als der Breisgau mit allem Wein
+und Obst und Kesten und der großen, schönen Stadt Freiburg dazu. Ich sehe
+wahrhaftig mein niederes Strohdach und die langen braunen, hölzernen Wände,
+den Milchbrunnen, den Misthaufen beim Hause und die Halde worauf es still
+und heimelig steht und hinabschaut in das Thal mit den zerstreuten Häusern.
+Ringsum lauter Tannenwald und dunkle Höhen, statt Trauben Tannenzapfen,
+statt Aprikosen und Kesten, Schlehen und Elzbeeren und statt Welschkorn und
+Tabak einzelne Hafer- und Kartoffelfelder, die selten gut ausgeben. Aber
+wie schön ist's, wenn der haushohe Schnee schmilzt, die würzige
+Frühlingsluft aus den Tannenwäldern herüberweht und die blitzenden Bächlein
+durch die Matten eilen, mit ihrem würzigen Grün, den gelben, rothen und
+weißen Blumen! ... Holz, Vieh, Milch und Schmalz gibt's bei uns auf dem
+Walde und kunstfertige Leute dazu und in so mancher Strohhütte steckt mehr
+Geld und Gut und vielleicht auch Bravheit, als hier wohl in manchem
+Herrenhause."
+
+"Wenn Du so anfängst, dann werden wir vor Morgen nicht fertig; rede nicht
+lang von der Heimath, sonst muß ich an meine denken, nein, _die_ ist
+schön! ... Der Mensch ist halt auch wie das Vieh, er geräth am besten, wo
+er daheim ist und ist ihm dort am wohlsten, wenn's in Sibirien wäre!--O
+Gott!"--
+
+"Sibirien? Ja, das badische Sibirien nennt man meine Gegend und noch mehr
+die rechts gegen den Schluchsen und Feldberg zu. Meinethalben, ich möchte
+doch mein Lebenlang gern als der ärmste Holzschläger oder Kohlenbrenner
+dort leben! Jetzt will ich erzählen, wie Du es wünschest, aber wie
+wünschest Du es? Ich kann halt nicht viel besser reden, als mir das Maul
+gewachsen ist und man kriegt so wunderliche Gedanken!"
+
+"Thatsachen will ich, lauter Thatsachen!" flüsterte der Duckmäuser.
+
+"Aha, Thatsachen! weiß was das ist, wer ins Zuchthaus soll, erfährts!
+Herrgott, wie haben sie mich mit den verdammten "Thatsachen" gequält, die
+Leuteschinder und am Ende doch wegen Etwas verurtheilt, was gar keine
+Thatsache ist! ... will also mit Dir reden, wie es der Asessor haben
+wollte, lauter Thatsachen! paß auf!"
+
+Gerade wie der Zuckerhannes hatte ich auch keinen Vater, daß heißt, der
+Halunke wollte nichts von mir wissen. Meine Mutter war bei Lenzkirch daheim
+und diente in Freiburg in der Salzgasse und später in der Egelgasse. Sie
+soll ein hübsches "Mensch" gewesen sein und ich glaube es, denn ihre
+schwarzen Augen und Haare und ihr kurzer stämmiger Leib blieb, als die
+rothen Backen längst verschwunden und der Mund nicht viel mehr lächelte.
+Die Studenten, Offiziere und andere Herren waren ihr sehr auf den Fersen,
+sie wußte davon zu erzählen, aber sie wollte lange gar keinen Liebhaber und
+am Ende doch lieber Einen, der sich offen mit ihr sehen ließ, als so einen
+Vornehmen, der nur ins geheim lockt und schmeichelt und jede Gans weiß,
+wohinaus das Ding will. Am Ende bekam sie ein Unteroffizier am Bändel, der
+ihr ganze Packe Briefe und Gedichte schrieb, in der Dämmerung niemals im
+Hausgange fehlte, lauter Liebes, Gutes und Süßes gelobte und nicht ruhte,
+bis ich da war. Er gab um Heirathserlaubniß ein, sagte und schwur es
+wenigstens, doch war er noch kein Einständer und als das Regiment nach
+Carlsruhe kam, war meine Alte petschirt und heulte sich fast die Augen aus
+dem Kopf. Sie that mich zu meiner Großmutter im Haus auf der Halde, das ich
+Dir beschrieb und ich verlebte dort meine besten Tage. Die Zeit, wo ich den
+ganzen Tag eine Rotznase hatte und im bloßen Hemd herumklunkerte, ist die
+schönste gewesen und ich wollte nur, daß ich wieder ein "Hemmetklunker"
+wäre! ... Ich ging ins achte Jahr und hatte schon einigemal die Schule
+besucht, wenn der Weg nicht verschneit war und auch die Mutter oft gesehen,
+die mir jedesmal die Nase alle Augenblicke putzte und mir Gutseln oder
+Butterwecken brachte, was ich um mein Leben gern aß, da legte sich die
+Großmutter hin und starb. Ich durfte nicht mehr in der Hinterstube bleiben,
+wo ich wie im Himmel gelebt, denn die andern Leute auf der Halde hätten
+mich zwar behalten, allein die Mutter war unten im Dorfe verheirathet und
+nahm mich zu sich.
+
+Der Gang von der Halde war der Gang in mein Unglück.
+
+Meine Mutter hatte einen Wittwer geheirathet, der für einen Uhrenmacher in
+Lenzkirch arbeitete, jedoch nicht in Lenzkirch sondern daheim.
+
+Dieser Wittwer besaß eine durstige Gurgel, einen Humor, wie ihn der Teufel
+nicht besser haben kann und 3 Kinder von der frühern Frau, die er unter den
+Boden gebracht hatte mit Schimpfen und Schlagen.
+
+Er zeigte mir, was es heiße, einen Stiefvater zu besitzen und plagte mich
+sammt der Mutter um die Wette, prügelte seine eigenen Kinder dazu und wer
+von Allen geschimpft, geschlagen, gestoßen wurde und kaum mehr als ein
+Kreuzschnabel zu fressen bekam, der war ich ... Meine Mutter mußte es vom
+frühen Morgen bis tief in die Nacht hören, daß sie ein Soldatenmensch und
+ich ein Bankert sei und wenn der Stiefvater besoffen von Lenzkirch kam, gab
+es oft die ganze Nacht keine Ruhe.
+
+Die Mutter schlug mich nie, aber tausend Mal sagte sie, um meinetwillen
+allein müsse sie leben wie ein Hund und es gereue sie, mich nicht in die
+Dreisam geworfen oder erwürgt zu haben, bevor ich recht auf der Welt war!
+Dafür mag der Teufel dem Unteroffizier danken!
+
+Die Leute im Dorfe waren nicht so arg wie die Landleute des Zuckerhannes,
+ich bekam es besser und trieb mich die meiste Zeit in andern Häusern herum,
+wo ich zu essen genug bekam, weil man wußte, wie mich der Stiefvater
+behandelte und mich sammt der Mutter bedauerte, die sich tagaus tagein
+schinden und plagen mußte und das ganze Jahr keine gute Stunde dafür bekam.
+Der Pfarrer sah das Elend und sprach sie von dem wüsten Kerl weg, der aber
+konnte mit dem Hauswesen und den 3 Kindern nicht allein fertig werden und
+weil meine Mutter sich doch nicht ganz scheiden lassen konnte, ließ sie
+sich durch seine Bitten und Versprechungen bethören und zog wieder mit mir
+zu ihm. Bald fing der alte Tanz wieder an, meine Mutter bekam auch ein Kind
+und dann gleich noch eines und seitdem konnte auch sie mich nicht mehr
+leiden und ich irrte Tag und Nacht aus einem Hause ins andere, wo man mir
+einen Platz am Ofen gönnte und etwas Warmes gab. Solches war auch nicht
+überall der Fall, ich mußte auch von fremden Leuten bittere Dinge hören und
+Schläge hinnehmen, doch hatte ich meine bestimmten Häuser und suchte mich
+wohl daran zu machen durch Viehhüten oder Botengänge nach Lenzkirch oder in
+die Neustadt oder was man mich sonst hieß.
+
+Ich besuchte auch die Schule und betete fleißig, denn oft genug sagte die
+Mutter "Donatle, bete und denke an Gott, du hast sonst Niemanden auf der
+Welt, ich kann Deine Mutter nicht sein, das siehst Du!"
+
+Gottlob, daß sie unter dem Boden ist, meine Kette da brächte sie sonst
+hinab; sie ist schon lange todt und habe ihren Leichenzug nicht gesehen,
+Gott schenke ihr die ewige Ruhe und Glückseligkeit! Auf der Welt hat sie
+wenig Gutes gehabt und war doch keine böse Frau, nur zu gut für den
+schlechten Stiefvater!
+
+Ich war bald 14 Jahre alt, da wurde unser Pfarrer versetzt und _den_
+Tag, wo der neue zum ersten Mal in die Schule kam, vergesse ich in meinem
+Leben nicht! Das fortwährende Schimpfiren und Verlästern der Geistlichen
+ist nicht schön und recht, es gibt gute Herren unter ihnen und der neue war
+Einer davon.
+
+Er betrachtete mich genau, weil ich gar elend dreinsah und keinen Fetzen an
+mir trug, den ein Lumpenmann hätte nehmen mögen, fragte mich, wer und woher
+und dies und das und heißt mich am andern Tage ... es war just ein
+Donnerstag und wir hatten "Vacanz"... in den Pfarrhof kommen.
+
+Kannst Dir denken, daß ich den Tag kaum abwarten konnte und hoffte, Etwas
+zu kriegen. Als ich zu ihm hineintrat, fragt er mich, ob ich den Weg nach
+Bonndorf wisse, ich sage: ja; dann fragt er, ob ich einen Brief an den
+Herrn Stadtpfarrer in Bonndorf besorgen wolle und ich sage: gern! Da mußte
+ich mich in ein anderes Zimmer setzen, die Köchin brachte mir Etwas zu
+essen und ein Glas Wein, daß ich meinte, jetzt auch einmal ein großer Herr
+zu sein. Nachher gab mir der Pfarrer noch einen Sechser und meinte, ich
+solle in Bonndorf etwas essen, doch ich hatte gegessen, einen Sechser in
+meinem Leben noch nicht gehabt und der Wein gab mir Kraft und Muth, daß ich
+gar nicht spürte, was für ein Wind von Sankt Blasien herpiff [herpfiff] und
+daß ich baarfuß herumzottelte. Ich flog wahrhaftig, denn in Bonndorf
+glaubte ich wieder Etwas zu bekommen, bekam auch einen Zwölfer und einen
+Brief retour. Als ich den Brief abgab, fragt der Herr, ob ich meinen
+Sechser gebraucht habe, ich zeigte ihm den Fetzen Papier, den ich zwischen
+Lenzkirch und Bonndorf gefunden, worin ich mein Geld eingewickelt hatte und
+streckte es hin, damit er es wieder nehme. Doch ließ er mir nicht nur das
+Geld, sondern schenkte mir auch einen Rock, ein paar Hosen und bezahlte den
+Schneider, der mir eine prächtige Montur daraus zuwege machte; kurz, der
+Pfarrer wurde mein Vater, ihm zu Liebe lernte ich besser in der Schule und
+es war ein großes Unglück, daß der gute Herr sehr bald aus der Gegend
+fortkam, denn er hat mir oft gesagt, ich müßte eine gute Profession lernen
+und wenn dieses geschehen wäre, läge ich nicht in einer Kette hier!
+
+Kann's nicht beschreiben, wie gut der Mann gegen mich elendes Kind gewesen
+ist, Gott wirds ihm entgelten und ich will froh sein, wenn er nichts von
+mir erfährt!
+
+Ich möchte noch Vieles sagen, lauter Thatsachen, Duckmäuser, könnte die
+halbe Nacht allein vom Pfarrer erzählen und thäte es lieber als das Andere,
+denn der Weg, den ich jetzt betrat, war kein guter. Aus der Schule
+entlassen, trieb ich mich einige Jahre in der Gegend herum, und trieb bald
+Dieses, bald Jenes, um leben zu können und den Stiefvater nicht um Etwas
+ansprechen zu müssen. Es ging mir gerade, wie den Hasen des Fürsten von
+Donn'schingen im Winter, nämlich es war Winter und ich hatte nichts zu
+beißen und zu nagen, da kamen ein Mann und eine Frau aus einem Zinken nicht
+weit von meinem Orte--ich traf sie in der Sonne zu Neustadt, nein, es war
+in der Post, ich sehe noch immer den dicken Posthalter mit der großen
+rothen Nase, wie er mit dem Schoppen herwatschelt und jedesmal sagt:
+"Gesegne's Gott, 's ist ächtes Breisgauergewächs!"--Also die Beiden
+brachten mir's zu und sagten nach längerem Hin- und Hergerede: "Weißt du
+was, Donatle? 'S ist Winter, hast Uebel Zeit, dein Stiefvater ist ein Lump,
+du hast erfahren genug wie er uns anfeindet, aber du bist ein änstelliger
+[anstelliger] Bursche, kein Mensch will sich Deiner erbarmen, komm zu uns,
+bis es besser wird. Du arbeitest, was es zu arbeiten gibt, viel ist's
+jedenfalls nicht und wenn Du auch Nichts kriegst, hast Du doch zu essen und
+ein Obdach!"
+
+Das kannst Du glauben, daß ich mich nicht lange besann, sondern einschlug;
+es war besser als Holzmachen oder Schneeschaufeln oder Leiternmachen, was
+ich schon thun mußte. Ich ging auf der Stelle mit dem Glasjakob und seiner
+alten Fränz, mit der ich ein Stück biblische Geschichte durch machte, bloß
+daß die Sache einen unbiblischen Ausgang nahm.
+
+Die Fränz hatte 48 Jahre auf dem Buckel, graue Haare und Runzeln genug,
+keine drei ganze Zähne mehr und eine Nase wie ein Ulmerkopf, kurz es war
+ein altes, wüstes, ungattiges Thier und hatte außer dem ältesten Sohne, der
+2 Jahre älter als ich war und längst mit dem Reff auf dem Buckel als
+Glashändler im Unterland hausirte, noch 5 Kinder und die beste Seele von
+der Welt zum Manne.
+
+Sie konnte recht gut meine Mutter sein, doch bald machte sie es wie
+Putiphars Frau und weil ich nicht der Joseph, sondern der Donat bin, hing
+sie mir bald am Halse und ich wurde bis über die Ohren in sie verliebt.
+
+Du magst es glauben oder nicht, so ein armer Tropf wie ich kommt nicht
+leicht zu einem Weibsbilde und hat doch auch sein Fleisch wie Andere, die
+Fränz war die Erste, mit der ich zu thun bekam. Sie wurde ganz und gar
+hirnverrückt und wüthend, und ich ein vollkommener Narr! ... Item sie
+schafft Rath, beredet ihren guten blinden Jakob, ihr einen Heimathschein
+ausfertigen zu lassen, lügt ihm vor, sie wolle ihre Freundschaft besuchen
+und in ihrer Heimath eine kleine Erbschaft holen, die sie gemacht habe, der
+Mann ist voller Freuden, sie geht, in Lenzkirch finden wir uns und reisen
+nicht gegen Bonndorf sondern durch das Höllenthal nach Freiburg und wutsch
+dich! saßen wir über dem Rhein, arbeiteten in einer Fabrik in Mühlhausen
+drüben und lebten wie Vögel im Hanfsaamen!
+
+Nach einigen Monaten hatte ich das Elsaß und die Fabrik und die Fränz genug
+und wollte sie mir vom Halse schaffen. Aber sie hängte sich an mich wie
+eine Klette, als sie den Butzen merkte und ich verließ sie bei Nacht und
+Nebel. 'S freut mich noch, wenn ich mir vorstelle, wie sie am Morgen
+aufwachte, nach mir griff und nichts fand als das leere Nest, was mag
+_Die_ für Augen gemacht, geschimpft und geflucht haben!--Ich hatte
+mich mit Kleidern gehörig ausstaffirt, trug ein wälsches Hemd oder eine
+Blouse, wie mans dort drüben nennt und ziemlich Geld in der Tasche, denn
+haushälterisch war die Fränz stets gewesen, das muß ich ihr nachsagen! Ich
+glaube wahrhaftig, daß ihre Verfluchungen mich verfolgten, denn geliebt hat
+sie den Donat, sonst würde sie nicht Mann und Kinder verlassen und mir
+angehangen haben!
+
+Also ich laufe einige Tage, da begegnet mir be- [bei] Karlsruhe drunten ein
+Mann, fragt woher, wohin und was und da er hört, ich suche einen Dienst,
+gleichviel was für einen, angagirt er mich als Knecht, das heißt, ich mußte
+immer Fische nach Karlsruhe schleppen und Fischhäuser hüten. Mir gefiel
+Alles außer dem frühen Aufstehen, aber die Herrlichkeit dauerte nur kurze
+Zeit.
+
+Muß ich just an des Großherzogs Geburtstag zu einem Wirth nach Karlsruhe
+und ihm sagen, er möge zu meinem Herrn fahren und die Fische holen, die
+bestellt worden seien; dieser läßt den Knecht einspannen und der
+Mathäubesle, also hieß der Knecht, ein fuchsrother Kerl voll Sommerflecken
+im Gesichte, der am Titisee daheim war, meint: Landsmann, fahr mit! ... Wir
+sitzen auf dem Wagenbrett, der Mathäubesle will zufahren, da fängt ein ganz
+verfluchtes Kanoniren an, der Gaul wird scheu, der Mathäubesle kann's nicht
+mehr halten, springt über die Leitern hinab, ich will unten durch, bleibe
+hängen und das wüthende Roß schleppt das Wägele sammt mir einige hundert
+Schritte weit, wo endlich einige Dragoner stehen und ihm den Weg
+versperren.
+
+Kannst Dir denken, wie ich zugerichtet war; halbtodt wurde ich in ein
+fürnehmes Spital getragen. Keinen Fleck am ganzen Leib gabs, der mir nicht
+wehe that, ich war nur Eine Wunde und Ein Pflaster, lag viele Wochen
+elendiglich darnieder und wäre wohl nicht davon gekommen, wenn die
+Karlsruher Aerzte mich armen Kerl nicht so fleißig und sorgfältig besucht
+und für mich gesorgt hätten, als ob ich nicht der Donatle vom Schwarzwald,
+sondern ein Prinz wäre.
+
+Die halbe Kost fing just an, mir recht zu schmecken, da wurde ich aus dem
+Spital entlassen und durfte nicht mehr zum Fischhändler, sondern wurde
+heimgewiesen mit dem Zeugniß, daß ich arbeitsunfähig sei und mich zuerst
+erholen müsse. Eines Theils war es mir nicht recht, denn der Fischhändler
+hatte ein Prachtsweib und dieses war zu mir in den ersten Tagen in die
+Kammer gekommen und hatte Dinge geredet, die mir klärlich zeigten, ein
+junger, starker Schwarzwälder sei ihr weit lieber als so ein alter,
+abgelebter Stockfisch, der ihr Mann hieß. Sie hätte mich gut gehalten, die
+Arbeit war ohnehin nicht weit her und große Lust zum Arbeiten hat mich mein
+Leben nie geplagt, wenn es nicht sein mußte. Anderseits gefiel mir aber
+auch das Herumziehen und als ich beim Sternen die Steig hinausging und mich
+wieder von meinen Bergen umschlossen sah, freute es mich gewaltig, doch
+dachte ich wieder ans Fortgehen nach einigen Wochen und die Sache kam so,
+daß ich bald gern ging von wegen der Fränz.
+
+"Wie ist's denn der alten Schachtel gegangen?" fragt der Duckmäuser
+begierig.
+
+"Besser als sie's verdiente!["] ... Nachdem ich sie verlassen, zog sie
+einige Tage im Breisgau herum, wurde mit dem längst abgelaufenen
+Heimathsschein erwischt, heimtransportirt und zunächst zur Abkühlung 8 Tage
+in Schatten gesetzt. Dann wurde der Jacob in die Neustadt citirt, befragt,
+ob er sein entlaufenes Weib wieder wolle, er sagte Ja und sie ging mit ihm
+heim. Da sie alle Schuld auf mich geschoben hatte, bekam ich bei der
+Heimkunft auch meinen Theil und mußte 14 Tage sitzen. Zum Jacob wollte und
+durfte ich nicht mehr, wollte auch nichts mehr von der Fränz wissen. Geld
+hatte ich keines, Schaffen wollte ich nicht so schwer, essen und trinken
+hält Leib und Seele zusammen und um Etwas zu bekommen, langte ich zu, wo
+war, anfangs mit erschrockenem Herzen, bald kecker. Die Mutter war todt,
+der Stiefvater warf mich aus dem Hause, ein Handwerk konnte ich nicht,
+Taglöhnern kostet Armschmalz, ich zog in der Gegend herum, wurde auf dem
+Michaelimarkt in der Neustadt arretirt und auf 2 Jahre zu den Blaukitteln
+nach Bruchsal geschickt. Dies war schlimm, doch schlimmer war's, als ich
+nach 16 Monaten begnadiget wurde und mit Laufpaß heim mußte. Ein paar
+Zwilchhosen, ein Wamms von Sommerzeug, ein grobes Hemd, welches mir die
+Strafanstalt gab nebst einem paar Schuhen und einer Kappe, die ich einmal
+einem Besoffenen vom Schädel gerissen, war nebst 42 Kreuzern Alles, was ich
+auf Erden besaß, wie ich heimkam.
+
+Wie konnte ich in solchem Aufzuge Arbeit suchen, mich vor den Leuten sehen
+lassen oder auch nur in die Kirche gehen? Die Fränz, kein Mensch wollte
+Etwas von mir wissen und doch war mir die Lust am Stehlen vergangen. Es
+gehört Spitzbubenglück dazu, ich hatte keine Fiduz und keine Courage mehr,
+um gleich wieder zuzugreifen. Ich ging hinüber in die Neustadt, trank mit
+den letzten 12 Kreuzern Muth und begab mich gerade zu auf das Amt, um zu
+melden: "ich _wolle_ nicht mehr stehlen, aber ich _müsse_ es,
+wenn ich keinen Heimathschein und keine Kleider sammt einigen Batzen
+bekäme, um _anderswo_ Arbeit zu suchen; im Grunde wär's mir lieber
+hier, aber niemand wolle mich beschäftigen." Ein Herr vom Amte zog
+mitleidig den Geldbeutel, der Amtmann gab mir einen Rock, denn ich heulte
+wie ein Schloßhund und um Martini darf man auf dem Swarzwalde
+[Schwarzwalde] kein Zwilchwamms und sonst nichts tragen, wenn man nicht
+erfrieren will. Ein Schreiben an den Bürgermeister verschaffte mir Alles,
+was ich brauchte, sogar mehr, nämlich Grobheiten, weil ich nicht zuerst zum
+Bürgermeister, sondern gleich vor die rechte Schmiede gegangen war. Ich
+kannte den Vogt schon, er war ein unmenschlicher "Packer," der ja wußte,
+woran ich war und doch kein Zeichen that, als ob er mir helfen wolle.
+
+Mit dem Heimathschein und einigen Batzen Geld zog ich ab, verkaufte in
+Freiburg den Rock des Amtmanns, weil ich ihn doch nicht ohne gehörige Hosen
+tragen und auch nicht zurecht machen lassen konnte und zog jämmerlich bis
+hinab nach Ettlingen, denn dort war Arbeit genug zu finden, weil eben die
+große Spinnerei gebaut wurde. Weil meine Papiere richtig waren, kümmerte
+sich die Polizei nicht um meinen Anzug und leeren Geldbeutel, denn Arbeit
+hatte ich auf der Stelle. Eine Wohnung zu finden, war keine Kleinigkeit,
+ich wurde an vielen Orten abgewiesen und wie eben die Armen am liebsten den
+Armen helfen, fand ich zuletzt bei blutarmen Leuten auch eine Wohnung. Kost
+konnten sie mir nicht geben, wollte auch keine, denn Kleider waren vor
+Allem nöthig; Kleider kosten Geld und mein Taglohn war nicht gar groß. Ja,
+der Donat _kann_ arbeiten und hungern, _wenn er muß_; drei
+geschlagene Monate sah ich kein Stücklein Fleisch und keinen Tropfen Wein,
+sondern erhielt mich fast nur bei Brod und Milch, schlief dabei recht gut
+und konnte das schönste Weibsbild ansehen, als ob ich ein Klotz geworden
+wäre! ... Nach drei Monaten hatte ich aber nicht nur Kleider, sondern auch
+das ganze Wohlwollen der Werkmeister und insbesondere das der Tochter
+meiner Hausleute, ohne daß ich letzteres wußte, weil sie nie ein Bröselein
+davon verlauten ließ, wenn sie aus ihrem Dienst von Karlsruhe auf Besuch
+herüberkam. Als die Fabrik so weit fertig und Maschinen eingerichtet waren,
+saß ich einmal recht bekümmert nach 12 Uhr bei einem der letzten Sandhaufen
+in der Sonne und dachte an die Zukunft, da kommt auf einmal der Director
+der Spinnerei auf mich los, ein braver Herr, der mich oft im Auge gehabt,
+jetzt aber just fast das erstemal mit mir redete und sagte: "Donat, weil Er
+als Fremd so lang und fleißig hier gearbeit hat, will ick Ihn in die
+Spinnerei nehmen als Lehrlink. In 3 Mond kann Er die Sack, kriegt täglich
+36 Kreuzer. Wenn Er keine dumme Deutsch ist, bekommt Er dann ein Maschin
+und verdient schön Geld! Was sagt er zu der Sack?"
+
+Kannst Dir einbilden, Duckmäuser, daß ich da stand wie aus dem Himmel
+gefallen und zehnmal in Einem Brumm "Ja" sagte; ich muß roth und recht
+einfältig dreingesehen haben, denn der Herr lachte und meinte:
+
+"Nehm' er nix für ungut, ich bin ein Franzos und sprecke etwas heroisch,
+bin hitzig, aber ick fresse keine Deutsch und meine es nit so böse!"
+
+Der Herr Director wurde mein zweiter Schutzengel, wie der Pfarrer mein
+erster gewesen; sein Auge blieb stets auf mich gerichtet, er gab mir viele
+Ermahnungen und hielt mich von Vielem ab, denn der Teufel juckte wieder
+hollops in mir. Die Spinnerei wollte mir nicht gefallen, die Lehrmeister
+waren lauter Franzosen und neidisch, einen Deutschen zu lehren. Der Herr
+Director machte, daß ich als Zuschläger in die Schmiede kam, wo ich einen
+andern Director und täglich einen Gulden erhielt. Konnte es nicht lange
+aushalten, bekam Blutspeien und wurde fremd. Eben stand ich in meiner
+Kammer, um das Bündele zu schnüren, da ließ mich der alte Director kommen
+und machte mich herunter, weil ich so mir nichts dir nichts davonlaufen
+wollte, ohne ihm ein Brösele zu sagen und fuhr mich dann an:
+
+"Gestern hab' ick die Mann, der an das laufende Maschin war, entlassen. Er
+liebt die Sauf und soll nit unglücklick werden. Will Er sick besser halten,
+als der Vorgänger, so thu' ick Ihn an seine Stell. Er bekam taglik einen
+Gulden zwölf Kreuzer, Ihm geb' ick acht und vierzig Kreuzer täglik, aber
+nock eine Gehilf, will Er?"
+
+Kannst denken, wie froh ich war und es kam noch besser, denn die Käth, also
+hieß die Tochter der Hausleute, kam nach Hause, weil sie krank gewesen war
+und den Dienst bei der Herrschaft verloren hatte, bei der sie 6 Jahre in
+Einem Zug gedient hatte. Sie hatte die "Durchschlechten" gehabt, war noch
+sehr schwach, doch ein braveres Mädle wächst im ganzen Unterland nicht; ich
+wurde in sie ganz anders verliebt als in die Fränz, betrachtete die Käth
+wie eine Heilige, sie und der Herr Director haben mich vor Vielem bewahrt!
+--Vier Monate später führt der Satan den rothen Mathäubesle auch nach
+Ettlingen und dieser leichtsinnige Passagir wurde mein Freund, weil er mein
+Landsmann war, zog mich zum Saufen und Spielen, so oft er konnte und war
+mit den Weibsleuten nicht heikel! ... Untreu wurde ich der Käth nicht oft,
+aber nach 6 Monaten verfehlten wir uns und ich wäre ein schlechter Kerl,
+wenn ich sagte, _sie_ sei schuld daran gewesen. Sie hat mich oft genug
+davor gewarnt und mir die Leviten gelesen, aber die Beste hat schwache
+Stunden und ich war in diesem Punkte kein Held wie Du, wenn's wahr ist!
+
+Als die Eltern die Sache merkten, sollte ich auf einmal aus dem Hause und
+ging auch, weil ich das Heulen und Schimpfiren nicht mehr sehen konnte.
+Alle Sonntage traf ich mit der Käth in Busenbach zusammen, doch die Eltern
+waren ihr auf den Socken und wollten auch dies nicht mehr leiden.
+
+Eines schönen Morgens muß ich vor Amt, der Asessor schnauzt und bellt mich
+an, ich müsse binnen 3 Tagen die Fabrik und den ganzen Amtsbezirk
+verlassen, wo nicht, so müßte mich der Gensd'arme holen. Ganz vertattert
+frage ich warum und da sagt er mir, ich hätte ein Mädchen mit einem Kind
+und sei auch schon in Bruchsal gesessen.
+
+"Ja, das ist wahr, sage ich, aber darf ein Mensch, der seine Strafe
+erstanden und sich ehrlich und redlich ernähren will, nirgends mehr
+arbeiten?"--"Er kann arbeiten, wo Er will, aber in diesem Amtsbezirk ist's
+mit Ihm Mathäi am Letzten!"--Jetzt sage ich, der Asessor soll mir in den
+Heimathschein schreiben, weßhalb ich nicht mehr hier arbeiten dürfte, er
+aber sagt, ich habe es gehört, was zu thun sei und soll mich packen!
+
+Ich besann mich auf dem Heimwege und blieb in der Fabrik.
+
+Acht Tage später werde ich richtig auf die Wachtstube gerufen, sind da 2
+Gensd'arme, führen mich vor Amt und der Asessor sagt, ich müsse jetzt 24
+Stunden ins Loch und wenn ich in 8 Tagen nicht fort sei, lasse er mich
+heimtransportiren.
+
+Bei der Rückkehr in die Fabrik nahm mich der Herr Director ins Verhör, wo
+ich gewesen sei und weil ich für ihn durchs Feuer gegangen wäre, entdecke
+ich ihm Alles haarklein und erfuhr wieder, was das für ein braver Mann war.
+Er spricht mir Muth ein, meint, wenn es Jedem der 1400 Menschen, die in der
+Fabrik arbeiteten, an der Stirne geschrieben stünde, was er schon gethan
+habe, müßte er Manchen fortschicken. Ich soll ihm und der Käth folgen und
+brav für mein Kind sorgen. Die acht Tage verstrichen und kein Mensch dachte
+daran, mich auf den Wald zu jagen.
+
+Gehe ich an einem Sonntage Mittag von Busenbach nach Ettlingen, die Käth
+ist bei mir und hat unser Kind auf dem Arm, kommt uns just der Asessor mit
+2 Herren entgegen, stellt mich auf dem Wege, thut aber ganz leutselig,
+erzählt Alles den andern Herren und sagt zu mir: "Er wisse, daß ich immer
+Kostgeld für mein Kind zahle, habe auch ein gutes Lob von den Herrn in der
+Fabrik, solle nur brav bleiben und für mein Kind sorgen und so fortmachen!"
+
+Solche Rede gefiel mir sehr wohl und wenn ich alles überlege, muß ich
+sagen, daß ich mein Glück selbst mit Füßen getreten habe und ein Narr
+gewesen bin, mehr auf den rothen Mathäubesle, als auf den Herrn Director
+und andere Leute gehört zu haben, die es gut mit mir meinten. Ich hatte
+eine neue Heimath gefunden und wenn ich gescheidter gewesen wäre, würde ich
+darnach gestrebt haben, die Käth zu heirathen, die längst wieder in einer
+Küche zu Karlsruhe stand. Für mein Kind zahlte ich immer redlich das
+Kostgeld, aber statt bei meinem schönen Verdienst zu sparen, zog ich mit
+dem rothen Kaiben und Fabrikmenschern herum und habe mehr als Eine Nacht
+ganz durchgesoffen und gespielt und allgemach Schulden bekommen.
+
+Wenn das Fabrikglöckle zur Arbeit rief, war ich oft voller Schlaf und
+halbbesoffen dazu und hätte einmal leicht bei meiner Maschine das Leben
+verloren, wenn nicht der Herr Director mich im letzten Augenblicke gepackt
+und irgendwo hingelegt hätte, um den Rausch auszuschlafen. Die Käth kam an
+Sonntagen, so oft sie konnte, hielt mich vom Saufen ab, wir Beide sollten
+nur Einen Schoppen trinken, gab mir die besten Vermahnungen, ich plärrte
+oft vor Rührung und fluchte oft wie ein Türke, denn ein Hitzkopf bin ich,
+Duckmäuser! ... He, schläfst Du?"
+
+"Warum nicht gar, doch mach's kurz, in der Stadt draußen brummelt die
+Lumpenglocke und bis halb Fünfe ist's dann nimmer so lang!"
+
+"Auch gut, wills kurz verlesen!["] ... Mein Mädchen predigte umsonst, der
+Herr Director stellte mir Himmel und Hölle vor, aber der rothe Mathäubesle
+und Andere bekamen immer mehr Gewalt über mich, ich triebs immer ärger und
+ärger und wurde endlich entlassen. Die Käth weinte sich schier die Augen
+aus dem Kopf, die Eltern schimpften kannibalisch, aber jetzt war Hopfen und
+Malz verloren, der Asessor schnitt ein böses Gesicht, that fuchsteufelswild
+und ich zottelte eben wieder in den Schwarzwald hinauf.
+
+Daheim bekam ich Arbeit beim Fürsten als Holzschläger und hielt's ein
+Vierteljahr mit dem Waldleben recht gut aus, obwohl die Arbeit ganz anders
+war als in der Fabrik, wo eigentlich der Arbeiter nur Befehlerles spielt
+bei der Maschine. In meinem Ort lobten mich die Leute sehr, weil ich so
+lange fort war, gut gethan und rechtes G'häs mitgebracht habe und als ich
+das Saufen wieder anfing, hätte mich ein Vorfall belehren können, daß ein
+armer Tropf schon deßhalb nicht versaufen sollte, was er auf und anbringt,
+weil man gleich glaubt, er habe das Geld dazu gestohlen.
+
+Kommt eines Abends--es war just beim Nachtessen und ich spedirte die
+Kartoffel Nro. Dreißig ins Unterquatier!--kommt so ein Gensd'arm, schaut
+mich an, fragt wer und was, sieht meine Uhr an der Wand und nimmt sie weg,
+muß ihm mein Trüchle öffnen; er nimmt einen Rock, zwei paar Hosen, ein paar
+nagelneue Stiefel, drei Hemder, einen Hut, Schirm, endlich einen Stutzen
+und zuletzt mein Geld, es waren 18 Gulden 12 Kreuzer--und die Hausleute
+hattens in Verwahrung, weil ich das Trüchle nicht gut schließen konnte.
+Auch der Donat selbst gefiel ihm so, daß ich im Amtsgefängnisse
+übernachtete und zwar 6 mal. Man hatte dem Accisor unseres Ortes 50 Gulden
+gestohlen und 100 dabei liegen lassen und ich stand im Verdachte, wieder
+"gekratzt" zu haben. Aber ich konnte nachweisen, woher all' meine
+arretirten Sachen waren, es stellte sich heraus, daß der eigene Schwager
+des Accisors die 50 Gulden weggekratzt habe--es war auch ein Lediger, der
+gern ein Mäßlein lupfte, wie ich und ein Spezel von mir, ein völlig
+g'scheidter Kerl und nicht so schlecht, wie der rothe Mathäubesle, der doch
+nie im Zuchthaus war!--kurz, ich wurde nach sechs Tagen wieder frei, der
+Amtmann sagte gleich, ich hätte beim Accisor nicht gestohlen, denn ich
+würde die 100 Gulden auch eingesackt haben und ich glaube, er hätte Recht
+gehabt, wenn mir nicht die rechte Spitzbubencourage überhaupt mangelte.
+
+Auf dem Heimwege--am Tage Mariä Geburt wars!--traf ich ein Weibsbild, das
+ich schon früher gekannt hatte und nicht viele Flausen machte. Diese
+Apollon war viel jünger und netter als die Fränz, dafür aber schlimmer,
+wollte überall sein, wo es lustig zuging, vertrieb mir die Lust zur Arbeit,
+machte mich leichtsinnig und allgemach ging alles Geld fort, ich verkaufte
+alle meine Sachen, vergaß die Käth sammt meinem Kinde ganz und gar!
+
+Höre Duckmäuser, Du hast Recht, es ist nicht das Aergste, daß Du den Alten
+umbrachtest, ich begreife, daß die Hannette oder Hindania oder wie das
+wälsche Mensch hieß, Dir weit mehr Gedanken macht!
+
+Die Käth kam aus dem Unterland herauf, um mich zu besuchen, es wurde mir
+gesagt und ich ging so lange fort, bis ich glaubte, daß sie die
+Höllensteige wieder hinab sei.
+
+Sie hinterließ mir bei der Adlerwirthin Wünsche für mein Glück und was ich
+suche, das werde ich schon finden, soll nur das Kostgeld für das arme Kind
+nicht ganz vergessen, sie bringe es nicht auf und ich kennte ja die Armuth
+ihrer Eltern!--Will's mir doch das Herz zersprengen, wenn ich jetzt in
+meinen Ketten an die Käth denke! ... Wie verlassen war _ich_ an Vater
+und Mutter, wie oft und viel habe _ich_ deßhalb schon geplärrt und
+jetzt mache ich's gerade wie der schlechte Unteroffizier!--Gottlob, daß der
+Vater der Käthe keiner ist, wie mein versoffener Stiefvater, der jetzt von
+seinen Buben in den alten Tagen gehauen wird trotz einem Tanzbären!--
+Käthe's Kind hat einen guten Großvater, er trug es immer auf den Armen
+herum, ohne daß er mich je leiden konnte und habe ihm doch mein Lebenlang
+nicht ein Augvoll Böses gethan! ... Ich fand bald, was ich suchte, nämlich
+das Zuchthaus, wohin mich eine That brachte, zu welcher ich von der
+erzliederlichen Apollon in der Besoffenheit beredet wurde. Wurde wegen Raub
+verurtheilt, Gott weiß, daß ich nie an Raub dachte, obwohl ich vielleicht
+bald wieder zum Stehlen gebracht worden wäre. Man hat mir nicht geglaubt,
+doch Du wirst mir glauben, Duckmäuser, denn wozu sollte ich hier lügen, wo
+Stehlen und Rauben fast Ehrensache sind? Verurtheilt bin ich, kann nichts
+daran ändern und denke eben, ich hab' die schwere Strafe an der Käth
+verdient und an meinem Kind, an denen ich schlecht genug handelte... Wegen
+Raub bin ich verurtheilt, doch höre, wie Alles zuging, pure Thatsachen!
+
+Am 13. Juni heuer, es war an einem Sonntagmorgen und wunderschönes Wetter,
+beredet mich die Apollon sie zu begleiten, sie wolle nach Aha 'nauf, um
+eine alte Kamerädin zu besuchen. Wir gehen; der Himmel wölbte sich wie ein
+seidenes Sonnendach über die Berge, alle Matten prangten mit Millionen
+Blumen, der Titisee glänzte wie ein Metallspiegel, die alten braunen Hütten
+mit ihren Strohdächern sahen aus, wie großmächtige Aschenhaufen, wo die
+Buben und Mädle, der neumodischen steinernen kalten Paläste Johannisfeuer
+angezündet hatten, die Luft wehte mild und frisch aus den noch dampfenden
+Thälern am Feldberge, man hörte nichts als den Klang der Glocken, der durch
+die Tannenwälder zitterte, zuweilen einen Vogel oder einen Schuß oder einen
+Peitschenknall und hätte die Gegend für ausgestorben halten können, wenn
+nicht die stämmigen Mädle mit den gelben Strohhüten und altfränkischen
+Juppen mit ihren Burschen und das Herrenvolk aus Lenzkirch auf der Straße
+hin- und hergewandelt und aus allen Kirchen die Anhöhen hinauf und ins Thal
+hinab heimgegangen wären. Ich rauche gemüthlich das Pfeifle, betrachte
+Alles und sage endlich zu der Apel, die in Einem Zug fortschwätzt, ohne daß
+ich auf sie hörte: "Apel, ich glaubte, es ginge in eine Kirche; mir ist's,
+als ob meine Mutter auferstanden wäre, dort zwischen den Weißtannen immer
+herüberschaute und sagte: "Donatle, denk an Gott und bete, hast Niemanden
+auf der Welt!"["]
+
+Die Apel lacht laut auf und sagt: Hab's schon gemerkt, daß ein halber Narr
+neben mir wandelt. Du weißt, daß ich geschworen habe, erst wieder in
+d'Kilch zu gehen, wenn ich die Granatenhalsschnur habe, nach der du mir das
+Maul schon hundertmal wässerig gemacht hast. Gehe meinethalben in die Kilch
+oder zu der bucklichen Hanne, du Tropf und laß mich mit Frieden, hast mich
+doch nicht gerne!
+
+"Apel sage ich--du kriegst die Halsschnur, sobald ich Geld habe. Aber wir
+hätten nach der Kirche auch noch den Weg nach Aha gefunden!"
+
+Jetzt wird sie ernstlich böse, geht auf die andere Straßenseite, sagt:
+"Geh' in die Schweiz und werde Kapuziner, du Lalle! Ist da draußen nicht
+auch die Kilch? Bin ich schlechter als die Andern, die den ganzen Tag den
+Rosenkranz drillen? Na, na, die wüste "Unterländersau" steckt dir im Kopf,
+hast die Apel satt und willst anderes Futter, du schlechter, ehrloser
+Kerl!"
+
+Sie sagt kein Wort mehr, ich habe nicht übel Lust, ihr von wegen der
+"Unterländersau" den Hals zuzuschnüren, daß ihr die Lälle zum bösen Rachen
+heraushängt, aber sie springt voraus, nachher reuts mich wieder und mache
+gutes Wetter. Ich sah wohl, daß die Apel mein Unglück sei, doch ich habe
+Niemanden auf der Welt und ein Weibsbild _muß_ ich haben!--Wir laufen
+und laufen wieder selbander und kommen bald zum Rößle, wo es die Steig
+hinabgeht und links über die sumpfigen Matten durch Hinterzarten den Wald
+hinein, bergauf bergab nach Aha 'nauf. Sie wollte haben, daß ich mit ihr in
+den Sternen hinabginge und dort Forellen bezahlte, denn die Forellen der
+Posthalterin sind im ganzen Land berühmt und das Herrenvolk, das mit dem
+Eilwagen fährt, frißt im Sternen Forellen und sauft Markgräfler dazu, daß
+ihm der Ranzen zerspringen möchte. Die Apel that gar gern wie
+Herrenmenschen thun, war auch in der Hoffnung, wo man den Weibern nichts
+abschlagen soll, aber _ich_ ging dennoch nicht in den Sternen, der
+Teufle führte mich in das Rößle ob der Steig und die Apel blieb nicht
+draußen und lief nicht allein weiter, wie sie gedroht hatte.
+
+Wir fressen einen Kalbsbraten, 's war ein Stück so groß wie ein Roßkopf,
+dazu ein Scheffel Salat; der Wein ist ganz gut, die Apel und ich bürsten,
+daß es eine Art hat, obwohl wir nicht mehr einen Brabanter im Vermögen
+besitzen.
+
+Auf einmal geht die Apel hinaus, steht vor dem Rößle, hält die Hand über
+die Augen, stiert immer auf den Weg, der von Hinterzarten durch die Matten
+führt, kommt herein und thut wie ein Narr, daß ich bezahle und mit ihr
+fortgehe.
+
+"Komm, Donat, geschwind, wir gehen nicht nach Aha, es thut's ein andermal
+auch, wollen zurück gegen Lenzkirch!" drängt sie. Ganz verwundert zieht sie
+mich an der Lafette vorbei, wo der Wirth gerade aus dem Fenster schaut und
+wahrscheinlich ob unsern rothen Gesichtern lacht. Hinter dem Bären schlagen
+wir die Straße nach Lenzkirch ein, im nächsten Wäldchen steht sie still und
+sagt gar freundlich:
+
+"Donat, _jetzt_ will ich den größten Beweis von Liebe, den du mir
+geben kannst und wenn du's _nicht_ thust, adje Parthie!"
+
+Ich hätte damals dem Teufel den Schwanz ausgerissen, wenn die liebe Apel
+gewunken hätte und schwöre ihr Alles zu thun, außer Stehlen und Umbringen.
+
+"Komm ein bischen hinter die Tannen, wir wollen passen. Es ist hoher
+Mittag, weit und breit kein Mensch, doch kommt in einigen Minuten ein
+Maidle von Hinterzarten, das mich schwer erzürnt hat am Georgentag, wo ich
+auch nach Aha ging und in Hinterzarten einkehrte. Sie hat mir vor einer
+Stube voll Leut alle erdenklichen Schandnamen gesagt und gemacht, daß ich
+fort mußte. _Die_ packst du an, schleppst sie in den Wald, im
+Nothfalle bin ich auch da, sie kennt dich nicht, aber mich, deßhalb komme
+ich nur im Nothfalle. Ist gar stolz auf ihre Larve; du sollst sie recht
+demüthigen, das übermüthige Ding; es kommt nichts heraus und zu nehmen
+brauchst du ihr weiter nichts! ... Hat sie ihren Theil, so lassen wir sie
+wieder springen, willst du, Herzensdonätle?["]
+
+Ich war stark benebelt, die Sache kam mir recht spaßhaft vor, richtig da
+kommt das Mädle und sieht aus, wie der Tag im Vergleich zu der Apel. Ich
+schlich hinter ihm her, die Apel blieb abseits im Walde, das Herz klopfte
+mir, daß ich fast keinen Athem mehr bekam, die Apel winkt immer wie
+besessen, endlich fasse ich ein Herz, packe das Maidle und zerre es den
+Straßengraben hinab in den Wald. Es schrie wie ein Dachmarder, wehrte sich
+aus allen Kräften, ich riß ihm unversehens eine Granatenschnur mit einem
+goldnen Kreuze weg, was später im Grase gefunden wurde und warf es zu
+Boden!--Ihr vermaledeites Geschrei führte zwei Bauernbursche her, die von
+Lenzkirch die Höhe rasch heraufgestiegen waren. Diese halfen dem Maidle,
+prügelten mich kreuzlahm, banden mir dann die Hände mit meinen eigenen
+Hosenträgern und schleppten mich nach Lenzkirch!"--Das ist meine Geschichte
+und jetzt urtheile du, ob ich einen Raub begangen habe und gerecht oder
+ungerecht leiden muß! Ich erzählte Alles haarklein, wie es gegangen war,
+doch mußte halt ein Räuber sein, da half Alles nichts mehr. Mich reut's bis
+auf's Blut, daß ich nur ein Brösele gestanden habe."
+
+"Nein, bist kein Räuber, armer Tschole, bist halt auch ein Unglückskind!--
+Was hätte es dem Maidle geschadet, wenn du zum Ziele gekommen wärest? ...
+Aber mit der Apel, wie gings da?" fragt der Benedict verächtlich und
+spöttisch zugleich.
+
+"Ja, die Apel, die Apel! Diese wurde nicht entdeckt und war _vor mir_
+in der Neustadt, um mich bei Amt anzugeben. Sie beschwur, daß ich
+_sie_ bereden wollte, an der Sache Theil zu nehmen; sie habe solches
+nicht über s'Gewissen gebracht, mich nicht abhalten können, zumal in ihren
+Umständen und mich deßhalb angezeigt. Ich sei ein schändlicher Kerl und
+wenn _sie_ nicht gewesen wäre, würde ich schon mehr als hundert
+Weibsbilder unglücklich gemacht haben. Ist solche Falschheit nicht
+himmelschreiend? ... Ich weiß woher das kommt!"
+
+"Ei, die Apel trug eben keine Lust, nach Bruchsal zu kommen" meinte der
+Duckmäuser.
+
+"Wohl, doch der Hauptgrund ist, weil das liederliche Weibsbild wieder mit
+einem alten Schatz liebäugelte, der fast der zweite Spaniol war."
+
+"War der Donatle, so lange ich Geld und Sachen zu verkaufen hatte, im Rößle
+blieben mir noch 10 Batzen übrig, 5 davon gab ich ihr und sie wußte, daß
+meine Herrlichkeit ein Ende hatte und ich das Hemd vom Leibe verkaufen
+mußte! Der Kilian von Prechthalen, ein Wittmann, mit dem sie einmal einige
+Jahre im Lande herumgezogen, hatte einen Brief geschickt und ihr angeboten,
+mit ihm zu hausen. Die Apollon sagte mir selbst, sie sei entschlossen, ins
+Prechthal zu wandern, sobald sie ihr Kind der Gemeinde abgeliefert habe.
+Geben konnte ich nichts mehr, drum verließ sie mich. O die Menschen sind
+falsch, grundfalsch, Duckmäuser, es gibt keine Ehrlichkeit mehr auf der
+Welt und der Ehrlichste wird am meisten angeschmiert! Falsch wie Galgenholz
+hat die Apel, der ich Alles anhing, an mir gehandelt! ... Es möge ihr in
+der Hölle zehntausend Jahr auf der Seele brennen!"
+
+"Wie lang bist du denn mit der Apel umgegangen?" fragte der Benedict. "Hoh,
+sieben Monate mindestens zottelte ich aus einem Wirthshaus und einem Orte
+in den andern."
+
+"Und arbeitetest nicht?"
+
+"Der Fürst wollte keinen Holzschläger meiner Art lautete der Bericht des
+Försters. Dieser konnte mich anfangs leiden, doch wurde ich bei ihm
+angeschwärzt, daß ihm die Augen überliefen. Unsereins soll eben kein
+Freudele haben und wird gleich Alles krumm genommen!" seufzt der Donatle.
+
+"Hast mir auch schon erzählt, wie du den Bauern Schinken aus dem Kamin und
+Schmalzhäfen aus dem Trog geholt hast, mich wunderts nur, daß du soviel auf
+deine Ehrlichkeit gibst!" ... lächelte der Vatermörder. "Oh du Daps,
+entgegnet der Donatle, vertragen sich solche "G'späß" nicht mit der
+Ehrlichkeit? Dann wären alle Leute Spitzbuben! Was schadet so ein Beinle
+oder Häsele einem Packer oder Holzhändler oder Wirth? Zudem hat die Apel
+das Meiste geholt, sie konnte es mit den Weibern und noch mehr mit den
+Knechten und theilte Alles redlich mit mir!"
+
+"Sauberes Leben das, du ehrlicher Donatle!" meint der Benedict.
+
+"Spotte du nur über mein Unglück, hast's auch nicht besser gemacht! ... Bin
+eben schief in die Welt gerutscht, die Fränz, der rothe, verdammte
+Mathäubesle und die Apel, lauter Leute zehnmal nichtsnutziger als ich sind
+eben an meinem ganzen Unglück Schuld! ... Hab erst am vorigen Sonntage
+daran gedacht. Ich las in der Kirche, wie sich Ludwig der kleine
+Auswanderer von einem Schmetterling und Kukuk verführen ließ und im Walde
+verirrte und dachte gleich, Fränz und Apel und die Fabrikthierer im
+Unterland seien _meine_ Schmetterlinge, der rothe Mathäubesle mit
+seinen wüsten Reden und Liedlein _mein_ Kukuk gewesen, die Amtsleute
+aber _meine_ Sperber und Weihe und so ist's! ... Hätte ich _dein_
+Vermögen und _deine_ Mädlen, deine Mutter und den Meister März dazu
+gehabt, dann wär' der Donatle nicht neben dir, weißt du's? Ich bin kein
+Spitzbube, aber _du_ bist Einer und ein Mörder dazu!" ... flüsterte
+der zornig werdende schuldlose Donat. Mit einer sehr unzierlichen Redensart
+kehrt sich der Duckmäuser um und beginnt zu schnarchen.
+
+Der Schwarzwälder brummt noch einige Redensarten, sieht, daß der Patrik mit
+hellen, offenen Augen zu ihm hinüberstarrt und den Kautabak lustig von
+einem Backen in den andern wirft, von Zeit zu Zeit in eine Düte spuckend,
+die er im Schreinermagazin gefunden haben mag. "Iech ha der's gs'ait, ma
+cha nüt mitem Duckmüser ha, s'isch e Chalb wia der Amtma vu Instetten!"
+sagt der Patrik, dessen scharfe Ohren Alles gehört hatten.
+
+Der Patrik ist nach Geburt und Art ein "Hotzenwälder" neuern Schlages, bei
+dem außerordentlich viel Ungeschlachtheit und ungezähmte Leidenschaft sich
+mit Mutterwitz vermählen, während von biederer Frömmigkeit und
+Rechtschaffenheit der ehrwürdigen Altvordern bei ihm blutwenig verspürt
+wird. Pauperismus und Sittenverwilderung fanden sammt der Aufklärung den
+Weg auch in die Thäler der ehemaligen Grafschaft Hauenstein, welche in
+neuester Zeit das Calabrien des badischen Oberlandes zu werden droht;
+mindestens steht eine Diebsbande dieser Gegend nach der andern vor den
+Geschwornen in Freiburg, an Brand, Mord und Todtschlag hat es schon früher
+nicht gemangelt und mit der uralten, schönen malerischen Tracht scheint
+auch die uralte Einfachheit des Lebens, der Sitte und die fromme Gesinnung
+täglich mehr zu verschwinden.
+
+Der Patrik stolperte aus seinen Bergen in das wohlhabende fruchtbare
+Hügelland des Kleckgaues, diente an verschiedenen Orten, am längsten beim
+Posthalter in Instetten, wo er als Hausknecht sich unmäßig in den guten
+Rothen verliebte und zuletzt fortgejagt werden mußte, weil er soff, daß er
+manchmal einen Güterwagen für eine Baßgeige hielt und mit dem theuern Hafer
+umging, als ob er vom Himmel herabregne. Er lungerte dann einige Zeit im
+"Züribieth" herum, trieb Alles, was der Brief vermochte und kam zuletzt mit
+den Landjägern in eine so schiefe Stellung, daß er gerathen fand, sein
+Glück wiederum "im Dütschland" zu probiren. Leider jedoch ereilte diesen
+Sohn Teuts, dem die Treue zum Rothen nicht nur aus den Augen blitzte,
+sondern auch aus der Kupfernase schimmerte und die Liebe zur Trägheit
+unsäglich tief im Herzen saß, nicht das Glück, sondern das Unglück und
+jetzt erzählt er dem Donatle, was er im Zuchthause schon hundertmal erzählt
+hat, nämlich die "wahrhaftige und kurze" Geschichte seiner "unsäglichen
+Schuldlosigkeit."
+
+Rauh und eckig wie die tosenden Waldbäche und Felsen seiner Heimath ist
+Patriks Sprache; man glaubt eine Sägemühle krächzen zu hören und ein Pommer
+oder Mecklenburger würde keine Silbe davon verstehen, wenn er nicht etwa
+Hebels allemannische Gedichte an springenden und singenden Theeabenden mit
+wüthenden Beifall radebrechte; dabei flucht der Patrik trotz dem derbsten
+Hochbootsmann und braucht Bilder, vor denen selbst der Idyllendichter Voß
+von Heidelberg bis Eutin fortgaloppirt wäre.
+
+In wie vielen schattenreichen Gebäuden der gute Hotze schon herumwanderte,
+ehe er in den grauen Kittel schlüpfte, verschweigt er dem Donatle klüglich;
+es ist spät, er macht die Sache kurz und sein vom Brummbaß des
+Murmelthieres beschütztes Geflüster ließe sich etwa übersetzen wie folgt:
+
+"Man hätte mich auf den Grund schlagen sollen neun Monate vor meinem
+Geburtstage, nämlich in der Gestalt meines Vaters, der die Dummheit beging,
+einen Kerl auf die Welt zu setzen, welchem das Unglück wie der eigene
+Schatten folgt. Die Mutter hat's mir oft prophezeit, ich sei für das Kreuz
+geboren und habe ein grausiges Kreuz auf dem Hirnschädel gehabt und im
+Meerfräulein zu Laufenburg hat einmal ein Käshändler mit dem Vater
+gewettet, daß ich noch lange vor ihm am Galgen oder im Zuchthause stürbe ob
+schuldig oder unschuldig, denn die Constellation der Gestirne--davon
+versteht ein Kalb deiner Art freilich nichts!--sei bei meiner Geburt die
+schlimmste von allen erdenkbaren Constellationen gewesen. Bin jetzt 27
+Jahre und 13 Herbstmonate auf der Welt und weiß, daß der Teufel morgen
+allen Leuten die Füße abschlüge, wenn ich heute Schuster würde, drum ist
+mir auch alles Eins und der Vater hat mich nichts lernen lassen ... Hör'
+nur Einen Spuk, Donatle, dann hast genug und wirst dich nicht mehr
+verwundern, weßhalb ich auch hier alle Schick ins "schwarze Loch" komme.
+Sitze also im Engel zu Lottstetten und versaufe den letzten Rappen, damit
+er mir nicht aus dem Sack fällt und schlendere dann wohlgemuth auf der
+Straße nach Instetten ... der Fußweg über die Wiesen war so schmierig wie
+das fünfte Element im Polakenland!--weiter und denke an meinen alten
+Schatz, mit der ich in der Weihnachtsnacht hinter der Klosterkirche von
+Rheinau zum erstenmal zusammentraf. Ganz in Gedanken versunken laufe ich
+den Berg hinan, merke gar nicht, daß ich einem leeren Güterwagen begegnete,
+bis ich hinter mir rufen hörte. Hört ein gescheidter Mensch in einer
+Gegend, wo auf der einen Seite Wald und weit und breit kein Mensch zu sehen
+ist, hinter sich Halt brüllen, so schaut er sich nicht um und springt, daß
+ihm die Schrittstecken wackeln. Wiewohl ich nun der dümmste Gedanke meines
+Vaters bin, war ich doch gescheidt genug, diesmal zu springen und erreiche
+das Höchste ganz athemlos, weil mein Verfolger immer fort brüllt und auch
+springt. Doch was geschieht? Mir entgegen kommt gerade ein Gensd'arme, der
+mich im Verdachte hatte, daß ich ihm einmal in Instetten im Finstern Eins
+aufs Dach gab ... es war Einer, der mich früher ins Bürgerstüble brachte
+und von dort in den Thurm von wegen einer Trudel, der ich Nachts in die
+Kammer gestiegen bin! Unser Gensd'arme sieht mich kaum, nimmt er's Gewehr
+von der Achsel, macht am Hangriemen herum und schreit ebenfalls Halt!--
+Außer den beiden Haltschreiern sah ich weit und breit nur mich, denke an
+die Prophezeiung meiner Mutter selig, springe über die Straße links in die
+Felder und sehe im Umschauen, daß der verdammte Grünrock mir nichts dir
+nichts auf mich anlegt, als ob ich ein Hase wäre. Ganz verwundert bleibe
+ich stehen, denke: Patrik, aha, die Constellation ist wieder da! Der
+Gensd'arme kommt und brüllt: Halt Spitzbube, Ihr seid arretirt. Gleich
+darauf keucht ein schwäbischer Fuhrmann, den ich auch nicht leiden mochte,
+weil er nie in der Post zu Instetten, sondern im Engel zu Lottstetten
+einstellte, auf mich los und schreit ebenfalls: Hab' ich dich Spitzbube,
+liederlicher!
+
+"Hört, Ihr Hagelsketzer, ich bin kein Spitzbube!" sage ich mit der größten
+Mäßigung und war mir schon nicht wohl dabei, weil ich meinen Heimathschein
+in Bülach drüben liegen gelassen hatte.
+
+"Erzspitzbube, Halunke!" antworten die Beiden ganz besessen, sind keine
+drei Schritte mehr vom Leibe und während ich vor Erstaunen die Hände über
+dem Kopfe zusammenschlage, klirrt eine Kette, ich reiße die Augen auf und
+was meinst, Donat, was mir Unglücksmenschen passirt war? Im Vorbeistreifen
+am Güterwagen blieb eine Wagenkette an mir hängen und vor lauter Gedanken
+an die Rheinauerei und später vor Angst und Schrecken hatte ich den Butzen
+gar nicht bemerkt. Es war eine schöne schwere Kette und habe nachher alle
+Sterne vom Himmel herabgeflucht, weil der Kaib von Fuhrmann nicht schlief,
+während sonst Güterfuhrleute oft von einem Wirthshaus zum andern fahren,
+ohne ein Auge aufzumachen. Dieser heillose Streich war noch das Geringste;
+der heimtückische Schwabe hatte auch noch seine Brieftasche und die
+silberbeschlagene Tabakspfeife in die Tasche meines Manchesterkittels
+gesteckt, während ich sinnend an ihm vorüberstreifte. Der Gensd'arme und
+der Schwabe konnten mich nicht leiden, 's war offenbar ein abgekartetes
+Spiel, um mich ins Elend zu bringen, ich zeigte mich bereit, dies
+hundertfach zu beschwören, doch der Amtmann half den Beiden und ich, armer,
+armer Tropf, der ich gehofft hatte, im Adler zu Instetten"--
+
+"Jetzt ist's genug, ihr Waschweiber, ich will meine Ruhe, ich bin nicht im
+Zuchthaus, um euer Sumsen zu hören!" ... schrie das Murmelthier mit
+zornrothem Antlitz, stand im Hemde im Hintergrund des Saales gleich dem
+Rachegeist der Hausordnung und trommelte wüthend auf dem
+zusammengeschrumpften Schmeerbauche herum.
+
+"Ob _Ihr_ auf der Stelle in Euer Nest geht? Ob ich kommen soll? Wartet
+nur, das wird Euch eingetränkt! Die Ruhe auf solche Weise stören, Nachts um
+Zwölfe krakehlen, als ob Ihr der Gockler in diesem Saale wäret?!["]
+
+Ob dieser Philippika streckte Mancher den Kopf in die Höhe, der Aufseher,
+der alte Moritz stand mit rothem Kopfe unter dem Guckfenster, sein grauer
+Schnurrbart richtete sich in die Höhe, wie die Stacheln eines
+Stachelschweines, das seinen Feind erschießen will. Das erschrockene
+Murmelthier, ein wahres Bierfaß auf zwei wandelnden ungeschälten Stecken
+rannte mit einem Harrassprunge in das Bett, die Bretter brachen zusammen
+und jammervoll saß der Edle auf den Trümmern seines Glückes, nachdem er
+dreimal von oben nach unten gekugelt!
+
+"Herr Moritz entschuldigen, _nicht_ mein College da war der
+Ruhestörer, sondern _die_ dort hinten, vor Allem der Duckmäuser, der
+nicht eine Minute schweigt und all meine Warnungen verachtet, weil er mich
+nicht als legitimirten Aufseher des Schlafsaales anerkennt. Er hat den
+Donat zum Plaudern verführt und dann den Patrik! ... Offenheit ist meine
+Sache, der Wahrheit die Ehre, an Zeugen wird's nicht fehlen! ... Es wird
+ruhig sein, ich garantire Ihnen, mein Herr!" Diese Rede des Spaniolen
+besänftigt den alten Moritz, der sich mit der ernsten Mahnung ans Strafbuch
+in den Gang zurückzieht.
+
+"Oh, wäre ich in einer Zelle, der Kerl wird sonst noch kalt durch mich!"
+murmelt der Duckmäuser und knirscht mit den Zähnen.
+
+"Der Spaniol ist ärger als die Apel, der Teufel soll ihm heute Nacht noch
+das Genick brechen!" sagt der Donat leise vor sich hin.
+
+"Siehst du, Donat, die Constellation? Morgen gehts wieder ins schwarze Loch
+mit Hungerkost und Gänsewein, Alles von wegen der
+Strohlshagelsconstellation!" ... "O Vater, du Hornvieh, ich möchte dich
+noch unterm Boden auf den Grund schlagen, du bist schuld an Allem!"...
+seufzt der Patrik und kehrt sich auf die andere Seite.
+
+"Wann, o wann hört der Lärm und Gestank dieser Marterhöhle für mich auf!"
+flüstert Martin der Wirthssohn leise vor sich hin und läßt einen tiefen
+Seufzer fahren, während die Augen trostlos durch die vergitterten Scheiben
+in die sternenleere, schwarze, traurige Regennacht hinausstarren.
+
+Von jetzt an vernimmt man nur noch das Schnarchen des Murmelthieres aus dem
+Abgrunde der zerbrochenen Bettlade sammt dem Geschnarche eines halben
+Dutzends Anderer, die schwer gearbeitet oder den Schnupfen haben. Einige
+reden im Schlafe, weinen, fluchen, schlagen um sich und der schwere,
+schwüle Dunst dieses Saales tragt wohl dazu bei, auch die Traumwelt der
+Gefangenen mit wilden, düstern Gestalten und Bildern zu bevölkern. Aus
+jenem Verschlag im Hintergrunde, dem von Zeit zu Zeit Einer zuschleicht,
+wehen Moderdüfte über die Schläfer.
+
+
+
+
+#BRUCHSAL.#
+
+
+Wer auf der Eisenbahn zwischen der altberühmten Musenstadt Heidelberg und
+dem schönen Karlsruhe fährt, wird selten ermangeln, bei der Station
+Bruchsal nach einem großen Bau hinüberzuschauen, welcher gleichzeitig an
+die Pracht und an das Elend unseres Jahrhunderts mahnt.
+
+Er sieht einige freundliche Häuser durch einen baumlosen Garten geschieden,
+in gleichen Abständen hinter einander stehend, an eine hohe graue Ringmauer
+sich anlehnend, die mit Thürmen besetzt ist, zwischen denen Schildwachen
+auf und abgehen. Vom Thore führt ein mit Schieferplatten gedecktes Gebäude
+einem Thurme zu, von dessen hohen Zinnen der Blick weithin durch die
+Rheinebene bis Mainz schweifen mag und von diesem Thurme mit seinen im
+Sonnenglanz blitzenden großen Fensterscheiben strahlen vier lange, aus
+röthlichen Sandstein errichtete Gebäude aus, alle gleich hoch, alle mit
+derselben Anzahl länglicher, vergitterter Fenster und Stockwerke versehen.
+Das Ganze erinnert an eine mittelalterliche Burg oder noch eher an die aus
+dem Revolutionskrater des Jahres 1789 verjüngt erstandene Bastille, welche
+aus dem Völkerbienenstock und Wespennest Paris in das stille,
+idillischschöne Rheinthal wanderte. Es lehnt sich an einen niedern
+Höhenzug, von welchem Weinberge, Obstbäume, Felder und Matten starr
+hinabschauen in das fremdartige, geheimnißvolle Leben, welches sich in den
+Höfen still und einförmig hin und her bewegt.
+
+Diese mit großen Kosten, aber auch für Jahrhunderte errichtete Masse von
+Gebäuden, gleichsam den Anfang einer neuen und großartigen Vorstadt
+Bruchsals abgebend, bildet ein Ganzes, dessen Beschreibung uns um so mehr
+überzeugte, daß wir ein zu Stein gewordenes Abbild der Idee der
+Zweckmäßigkeit vor uns haben, je mehr jene ins Einzelnste einginge.
+
+Hier ist wohl der _einzige_ Platz in Deutschland. _wo die
+Einzelnhaft mit jener Folgerichtigkeit durchgeführt wird, welche die Härten
+des amerikanischen Systems vermeidet, ohne den Grundgedanken der
+vollkommenen Trennung der Gefangenen zu beeinträchtigen._
+
+Es ist ein Wunderbau und ein großer, fruchtbarer Gedanke in ihm lebendig
+geworden, der Gedanke, _die Gesellschaft nicht nur vor ihren Feinden zu
+bewahren, sondern diese oft weit mehr unglücklichen als verbrecherischen
+Feinde zu beständigen Freunden der Menschheit und Gottheit zu machen._
+
+Die ersten unvollkommenen Anfänge eines derartigen Baues entstanden in der
+Quäkerstadt jenseits des Meeres; die Ersten, welche das einzigrichtige
+Mittel ergriffen, um die für die Gesellschaft und die Verbrecher gleich
+großen Gefahren des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Sträflinge
+abzuwenden, waren Männer, welche noch heute zu den Edelsten unseres
+Geschlechts gezählt werden und deren Ruhm in einem bessern Jahrhundert den
+zweideutigen Ruhm der meisten Kriegshelden so hoch überfliegen wird, als
+der völkerbeglückende Geist christlicher Liebe über der finstern
+Gewaltthätigkeit thierischer Rohheit und Selbstsucht steht.
+
+Noch niemals gab es eine große Erfindung, niemals blitzte ein ins
+Völkerleben eingreifender neuer Gedanke auf, wogegen sich nicht zahllose
+Widersacher erhoben hätten. Jede neue Erfindung und Einrichtung ist eine
+Kriegserklärung gegen diejenigen, welchen dadurch ins Handwerk gegriffen
+wird, deren Nutzen, Eitelkeit, Denkfaulheit, bequeme Gewohnheiten bedroht
+erscheinen. Ungefährlich werden die Liebhaber des alten Schlendrians, je
+mehr die Zeit eine neue Erfindung oder Einrichtung bewährt. Je weniger
+Bürgschaften für solche Bewährung vorliegen, desto schwankender,
+zweifelhafter, unentschiedener werden dann auch diejenigen sich verhalten,
+deren Besonnenheit und weitschauender Blick sich nicht damit verträgt, das
+schadhafte Alte mit ungeprüftem Neuen zu vertauschen, insbesondere wenn das
+Alte noch verbesserlich erscheint und das Neue nur mit großen Opfern und
+Gefahren eingeführt zu werden vermag.
+
+In Amerika ist die Verwerfung gemeinsamer Haft längst entschieden und der
+Streit dreht sich dort nur noch um die Frage, ob die _scheinbare_ und
+_halbe_ Trennung der Gefangenen durch das sogenannte Schweigsystem
+oder die _wirkliche_ und _vollständige_ durch das System
+absoluter Vereinzelung räthlicher und fruchtbringender sei, eine Frage,
+welche auffallend erscheinen würde, wenn man nicht wüßte, daß die Erfahrung
+viele Bedenken, Vorurtheile und Gefahren der einsamen Haft wirklich oder
+scheinbar bestätigte.
+
+Einerseits wurden die Forderungen und Erwartungen zu hoch gespannt,
+anderseits die Leistungen zu gering befunden, weil eben die Lösung der
+Frage der einsamen Haft nur durch Versuche allmählig geschehen und dabei
+nicht leicht vermieden werden kann, daß verkehrte Maßregeln und untaugliche
+Leute den Vielen Waffen in die Hand geben, die das Kind gerne mit dem Bade
+ausschütten.
+
+England und Frankreich mit andern Ländern, in Deutschland Preußen voran
+scheinen von der Unverbesserlichkeit der gemeinsamen Haft längst überzeugt;
+jenes sendet seine Verbrecher mit altgewohntem Krämergeiste baldmöglichst
+nach Australien, um jene einst so glücklichen Eilande mit dem Gifte
+europäischer Verdorbenheit zu beglücken und sich selbst das zweibeinige
+Ungeziefer weit vom Leibe zu schaffen; die Franzosen ergriffen den Gedanken
+der einsamen Haft mit gewohnter Lebendigkeit und führten ihn an manchen
+Orten ins Leben, doch einerseits würde die allgemeine Einführung der
+Zellenhaft viele Millionen verschlingen und anderseits tobte die
+federnmordende Feldschlacht zwischen Liebhabern des Schweigsystems und der
+Zelle, wobei sich die Anhänger des Alten und Bestehenden vergnüglich die
+Hände rieben und sich hinter das Flicken machten.
+
+In Preußen zunächst, wo die Regierung auch im Gefängnißwesen Großes leistet
+und wacker für Vereine für entlassene Gefangene kämpfte, hat der edle
+Julius insbesondere eifrig gewirkt für einsame Haft. Es wurden
+Zellengefängnisse nach englischem Muster gebaut, die folgerichtige
+Durchführung der einsamen Haft leider auch nach englischem Muster
+aufgegeben. Einzelne in andern Ländern redeten und schrieben Vieles von
+bisher unentdeckten Verbesserungen der gemeinsamen und noch weit mehr von
+der abscheulichen Kostspieligkeit und der menschenmörderischen
+Abscheulichkeit der Einzelhaft.
+
+In allen Ländern Europas erhoben sich die edelsten und gelehrtesten Männer
+_für_ seltener auch _gegen_ die Einrichtung, gegen deren
+Einführung der Kostenpunkt die einleuchtendste und beliebteste Einwendung
+blieb.
+
+Daß in einer so wichtigen Frage nicht nur die Vernunft, sondern manchmal
+auch die Leidenschaft im Humanitätsmantel das Wort ergriff, viel Sinnloses,
+Unwahres und Lächerliches zu Tage gefördert, Mücken zu Elephanten gemacht
+und die altberühmten Hochschulen des Lasters, nämlich die alten Zuchthäuser
+als wahre Tugendschulen angerühmt wurden, versteht sich von selbst und mehr
+als Einer brütete ein sogenanntes "System" aus, das auf den Gedanken
+hinauslief: "wenn _alle_ Gefängnißbeamte _meine_ Erfahrung und
+_meinen_ Geist hätten, um _meine_ Klassen unfehlbar
+durchzuführen, dann wäre aller Noth ein Ende gemacht!" Hätten doch diese
+"Systematiker" ins eigene oder ins nächste beste Eheleben hineingeschaut,
+wo die _Gewohnheit des Umganges_ gegen Schattenseiten der Gatten und
+Kinder _abstumpft_, dann bedacht, daß ihre Pfleglinge Leute voll
+Irrthümer, Fehler, Leidenschaften und Laster, das vom Gesetz erzwungene
+Beisammenleben ein vielköpfiges, leidenvolles und verdrießliches, jedes
+gute Beispiel von vornherein ein zweideutiges sei, sie würden endlich doch
+den eigentlichen Grundfehler aller gemeinsamen Haft, die _unabwendbare
+mehr oder minder völlige Abstumpfung gegen Recht, Sitte und Religion_
+gemerkt und endlich eingesehen haben, daß die Besserung nicht aus Tabellen
+der Rückfälligen bewiesen werde, für schlechte Gesellschaft kein Kräutlein
+gewachsen sei und ein schlechter Kerl der Gesellschaft schweren Schaden
+bringen könne, ohne deßhalb wiederum den Männern des Rechts in die Haare zu
+gerathen.
+
+Nicht zweideutige Listen von Rückfälligen, sondern getreue und
+gewissenhafte Berichte über das Leben und Treiben aller Entlassenen möchten
+entscheiden, ob die Besserung in gemeinsamer Haft kein Unding und in
+einsamer kein schöner Traum gutmüthiger Menschenfreunde sei! ...
+
+In Preußen wie in Baden sind die Strafanstalten, in welchen gemeinsame Haft
+besteht, wohl so gut eingerichtet und verwaltet, als in Baiern oder
+anderswo, in manchen Dingen vielleicht noch weit besser, obgleich kein
+großes Geschrei damit gemacht wird--doch die uralten Erbschäden jener
+Haftart lassen sich nie und nimmermehr beseitigen. Was unser Baden
+insbesondere betrifft, so lese man den vortrefflichen Commissionsbericht
+Welkers, die Verhandlungen in den Kammern der Landstände, die Schriften der
+Herren Mittermaier, v. Jagemann, Diez und Anderer, um sich zu überzeugen,
+daß die badische Regierung sich ein Verdienst um die deutschen Lande, um
+die Menschheit und bei Gott erwarb, als sie das Zellengefängniß in Bruchsal
+erbaute und einrichtete, welches jetzt über 5 Jahre Gefangene beherbergt
+und die einsame Haft, wie dieselbe in Deutschland sich durchführen läßt,
+unter den mißlichsten Umständen zu Ehren bringt.
+
+Bestände die Besserung darin, daß die Gefangenen sich nicht beim
+Uebertreten der Hausordnung erwischen lassen und fleißig arbeiten, dann
+wäre es unnöthig gewesen, ein kostbares Zellengefängniß nach dem Muster von
+Pentonville aufzubauen, weil Folgsamkeit und Fleiß bei der überwiegenden
+Mehrzahl der Gefangenen jeder nicht ganz unmenschlich und hirnlos
+geleiteten andern Anstalt angetroffen werden.
+
+Der großartige Bau zu Bruchsal hat großartige Summen gekostet, die
+Unterhaltung der Anstalt bleibt kostspieliger als diejenige eines andern
+Zuchthauses, wiewohl der Gewerbebetrieb in einer Weise blüht, wie nirgends,
+deßhalb wird die Frage entstehen, ob die Früchte solcher Opfer werth seien?
+
+Die Thatsache, daß es Rückfällige gibt, möchte verleiten, die Frage mit
+Nein zu beantworten und vom Versuchen mit der einsamen Haft abschrecken,
+allein nicht die Thatsache an sich, sondern die Ursachen derselben werden
+entscheiden und je weniger einerseits diese Ursachen in einem notwendigen
+Zusammenhange mit dem Grundsatze des Einzelsystems stehen, je unläugbarer
+anderseits die erfreulichen Folgen des Systems vorwiegen, desto mehr wird
+man obige Frage mit Ja beantworten müssen.
+
+Weßhalb?
+
+Kehren wir zu unsern Geschichten zurück.
+
+Ein kalter, nebliger Herbstmorgen schaut über das Rheinthal, die Thurmuhren
+von Bruchsal schlagen halb fünf Uhr und lange Reihen erleuchteter
+Fensterchen leuchten in die nächtliche Gegend hinaus und erregen wehmüthige
+Gefühle dem Menschenfreunde, der die dunkeln Umrisse des Zellengefängnisses
+bei der Wanderung aus Bruchsal gen Ubstadt erkennt oder den langgedehnten
+Ruf der Schildwachen vernimmt, der klagend von der hohen Ringmauer
+herabtönt. Hinter jedem dieser vergitterten Fenster lebt ein menschliches
+Wesen, ein Lebendigbegrabener und büßt viele Monde, viele Jahre, vielleicht
+sein ganzes Leben lang eine That, der Du Dich vielleicht unter gleichen
+oder auch nur ähnlichen Lebensverhältnissen ebenfalls schuldig gemacht
+hättest. Er lebt einsam und wie viel liegt in dem Worte einsam!
+
+Auch Du liebst zuweilen die Einsamkeit, hast wohl Zimmermanns schönes Buch
+über dieselbe gelesen, doch vor gezwungener beständiger Einsamkeit
+schauderst Du zurück, denn Du weißt ohne den Hugo Grotius jemals gelesen zu
+haben, der Mensch sei keineswegs für ertödtende Einsamkeit, sondern für die
+Gesellschaft geboren, er werde nicht durch Vereinzelung sondern durch
+Mithülfe seiner Nebenmenschen Mensch.
+
+Kurzsichtiges Wohlwollen macht Dich geneigt, den Gegnern der einsamen Haft
+beizustimmen, wenn dieselben predigen, solche Haftart sei "unseres
+Jahrhunderts und der Menschheit unwürdig!"
+
+Für Jeden, der niemals selbst gefangen war, bleibt es schwer, sich in die
+Lage eines Gefangenen und vor Allem eines Zellengefangenen vollständig
+hineinzudenken; in dieser Schwierigkeit finden wir den vornehmsten Grund,
+weßhalb es zahlreiche Gegner der Einzelhaft gibt und weßhalb manche
+Wortführer derselben mit den aberwitzigsten Behauptungen und krassesten
+Vorurtheilen Anklang bei hochgebildeten, religiösgesinnten und
+einflußreichen Leuten, geschweige beim gewöhnlichen Volke finden.
+
+Die Durchführung der einsamen Haft ist eine Aufgabe, deren Lösung nur
+_allmählig_ geschehen und je nach den Eigenthümlichkeiten eines Landes
+und Volkes sich mehr oder minder eigenthümlich gestalten wird.
+
+_Sklavische Nachahmung ausländischer Gefängnisse_ mögen in Verbindung
+mit der _sorglosen Wahl der Beamten und Aufseher_ der guten Sache der
+Einzelhaft bisher wohl den meisten Eintrag gethan und in Preußen vielleicht
+den hauptsächlichsten Anlaß zur Verpfuschung des Systems abgegeben haben.
+
+Das Zellengefängniß zu Bruchsal wurde bekanntlich nach dem Muster von
+Pentonville erbaut und eingerichtet, doch sahen wir mit eigenen Augen, wie
+sehr alle gemachten und reifenden Erfahrungen benutzt und allmählige
+Verbesserungen eingeführt wurden, welche namhafte Verschiedenheiten
+zwischen dem englischen Muster und dem deutschen Abbilde begründen.
+
+Der Duckmäuser lebt seit 4 Monden in einer Zelle, sein Haß gegen den
+Spaniolen führte den Anlaß zur Versetzung dieses langjährigen Gefangenen
+herbei; mit düstern Ahnungen sah er die eiserne Thür der Bruchsaler
+"Bastille" hinter sich schließen, doch seine Ahnungen haben sich diesmal
+nicht erfüllt, vielmehr hat die einsame Haft einen Schimmer von Glück über
+das Stillleben dieses Unglücklichen verbreitet. ...
+
+Schlag halb 5 Uhr erwachte er aus einem erquickenden Schlafe, sprang aus
+dem Bette, dessen Seegrasmatratze ihm trotz der Härte ganz anders mundet,
+als das ebenfalls harte und bald zerriebene Stroh seiner altgewohnten
+Lagerstätte.
+
+Während er sich bemüht, Kopfpolster, Leintücher und Teppich in die
+vorgeschriebene Ordnung zu legen, vernimmt er den Wiederhall der
+Wasserkrüge, welche der Hausschänzer draußen auf dem Gange auf die
+steinernen Platten stellt, das sich stets wiederholende Rauschen des
+Brunnens, die Schritte des Aufsehers, der eine Zelle nach der andern
+aufschließt.
+
+Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, der Aufseher tritt mit der Lampe
+herein, zündet das Licht an, welches auf dem eichenen Tische steht,
+ergreift die vordere Stange des in starken Riemen hängenden Bettes,
+schließt dasselbe an die Wand, wodurch der Raum der Zelle um ein Namhaftes
+vergrößert wird und entfernt sich mit dem Wasserkruge des Gefangenen.
+
+Dieser schließt zunächst den aus 2 Tafeln bestehenden Tisch--die vordere
+dieser Tafeln ist mit schwarzem Firniß überzogen und man sieht darauf die
+Figuren des pythagoräischen Lehrsatzes sammt den halbverwischten Zahlen
+einer Rechnung--ebenfalls an die Wand, thut Gleiches mit dem Bänkchen,
+welches ziemlich unzweckmäßig unsern Benedict zwingt, dem durch das Fenster
+herabdringenden Lichte den Rücken zu kehren und während er einige
+Augenblicke in den sternenlosen Nebelmorgen hinausblickt, benützen wir die
+Zeit, um uns ein bischen in diesem Raume umzuschauen.
+
+Die Zelle ist hoch und bildet ein längliches Viereck, dessen gewölbte Decke
+gut geweißelt, dessen Wände mit hellem Grün angestrichen sind und dem
+Bewohner gestatten, 8-9 Schritte in die Länge und 4 in die Breite zu thun,
+wenn es denselben beliebt, in gerader Richtung zu gehen anstatt durch die
+schräge den Weg zu verlängern. Rechts von der Thüre ist das Bett an die
+Wand angeklappt, weiter hinten befindet sich ein Kleiderrechen, dort hängt
+am Nagel ein langer Stock, vermittelst dessen der Gefangene in den Stand
+gesetzt wird, den obern Flügel seines Fensters beliebig zu öffnen. Die
+Fensterscheiben sind gut verbleit, die obern hell und rein, die untern hie
+und da von geripptem oder geblendetem Glase.
+
+Ein Schrank steht auf der entgegengesetzten Seite links von der starken,
+rothbraun angestrichenen Thüre, an der sich ein Glockenzug, oben die
+eingeklammerte Nummer der Zelle, unten eine Vorrichtung befindet, welche
+Jedem gestattet, die ganze Zelle von Außen zu überschauen, während der
+Gefangene nichts davon bemerkt, sich folglich in jedem Augenblicke
+beobachtet glauben darf. Der Schalter in der Thüre bleibt geschlossen, wenn
+der Aufseher nicht etwa Essen und Trinken oder Werkzeuge hereingibt und die
+Thüre selbst kann nur von Außen geöffnet werden. Oben auf dem genannten
+Schranke stehen Schreibmaterialien und Bücher, im obersten Gesimse
+desselben der Wasserkrug, an welchem gleichfalls die Zellennummer hängt,
+unten ein kleiner Verschlag, in welchem die Eßgeräthe sammt dem Brode
+verschlossen werden, unten dran steht eine blecherne Waschschüssel; Seife
+und Kamm liegen neben Aufputzlumpen und zur Seite hängt ein Kehrwisch sammt
+Schäufelchen. Hinter dem aufgeklappten Tische und Bänkchen steht eine
+Hobelbank und der übrige Theil der Zelle wird durch Bretter, Klötze,
+Werkzeuge und angefangene Arbeiten aller Art ausgefüllt. Erwähnen wir noch,
+daß die Hausordnung an der Wand durch einen grünen Lichtschirm theilweise
+bedeckt wird und unter derselben ein biblischer Kalender sammt einem
+Stundenplan für Schule und Kirche hängt, so haben wir so ziemlich alle
+Gegenstände beschrieben, die sich im Bereiche des Duckmäusers befinden,
+wenn wir die mit Draht eng übersponnenen Oeffnungen für frische und
+erwärmte Luft nicht vergessen, welch' letztere Oeffnung durch einen
+Schieber von Eisenblech beliebig geöffnet und geschlossen werden kann.
+
+Numero Hundertzehn, wie der Vatermörder fortan heißen soll, hat sich
+gewaschen, vielleicht ein leises Gebet dazu gemurmelt und hängt das
+Handtuch an den Rechen, als der Aufseher den Schalter öffnet und den
+gefüllten Wasserkrug hereingibt. Jetzt wird die bekannte Stimme eines
+Obermeisters im Gange hörbar, der Gefangene spitzt die Ohren und ergreift
+einen Hobel oder eine Säge oder den Polierlumpen, um an seine Arbeit zu
+gehen.
+
+Um 6 Uhr rufen die Schildwachen auf der Ringmauer abermals ihr eintöniges
+Wer da; draußen wird es heller und heller, die Spatzen jagen sich bereits
+aus ihren Nestern, zwitschern vor dem Fenster ihren Morgengruß herein; das
+Oeffnen schwerer Thüren, das Fahren eines Wagens, die Frühmeßglocken
+gewähren dem Ohre des Gefangenen hinreichende Beschäftigung, abgesehen vom
+Geräusche der Arbeit, den Schritten des über dem Kopfe weggehenden
+Mitgefangenen, dem Lärm im Gange, dem zeitweiligen Geschelle, welches die
+Gefangenen eines andern Flügels oder Stockwerkes in den Spazierhof
+einladet.
+
+Abermals öffnet sich der Schalter, der Aufseher reicht ein halbes Laiblein
+gutgebackenen, schmackhaften Brodes herein, Nro. 110 langt aus dem
+Verschlage ein stumpfes Messer sammt Salzbüchse, beginnt zu essen und
+während er kaut, löscht er die Lampe aus, in welcher eine Mischung von
+entwässertem Spiritus und Terpentin den Brennstoff bildet, betrachtet den
+Kalender und streicht ruhig den gestrigen Tag durch--der lebenslänglich
+Verurtheilte träumt von dereinstiger Befreiung und hat seine Gefängnißtage
+zählen gelernt, er glaubt, daß ihn jeder Strich im Kalender der schon 10
+Jahre entbehrten Freiheit näher bringe:
+
+ Die Welt wird alt und wieder jung!
+ Der Mensch hofft immer Verbesserung!
+
+Jetzt läutet's auch hier in den Hof. Nro. 110 schließt den Schieber der
+Luftheizung, öffnet das Fenster, zieht den Zwilchkittel an über das wollene
+Unterwammes, ergreift die blecherne Nummer ob der Thüre, hängt dieselbe in
+ein Knopfloch und setzt eine blauwollene Mütze auf, deren mit 2
+Augenlöchern verzierter Schild herabgelassen werden muß und den größten
+Theil des Gesichtes bedeckt, so daß kein Gefangener das Angesicht des
+Andern zu sehen im Stande ist. Diese Mütze macht unstreitig einen
+peinlichen Eindruck auf fremde Besucher und in der ersten Zeit auch auf den
+Gefangenen, doch ist letzterer bald daran gewöhnt und während der Schaden
+nicht zu finden ist, welchen diese Mütze bringt, läßt sich ihr Nutzen desto
+besser absehen und wozu ohne Noth Etwas beseitigen, was für den Grundsatz
+der _vollkommenen Trennung der Gefangenen_ wesentlich ist? Man hat
+zwar noch niemals erlebt, daß die Leute einander durch ihr bloßes
+flüchtiges Anschauen mit ihren Fehlern anstecken und läßt sich nicht
+läugnen, daß ein Zellenbewohner den vor ihm Hergehenden möglicherweise
+trotz der Maske am Gange und den Umrissen der Gestalt erkennt, allein
+Dreierlei läßt sich ebenfalls nicht läugnen, nämlich daß erstens die Maske
+jedenfalls dazu beiträgt, Anknüpfung von Bekanntschaften zu erschweren,
+ferner den Gefangenen vor den Blicken neugieriger Besucher der Anstalt
+beschützt und endlich den großen Vortheil bietet, daß er nach der
+Entlassung nicht leicht Zuchthausbrüder trifft, welche ihn erkennen und in
+unangenehme oder gefährliche Lagen versetzen.
+
+Zudem trägt der Gefangene die vielbeschrieene Maske, die von Dickens
+überschwänglicher Einbildungskraft seltsam genug ein "Grabhemd" genannt
+wird, nur auf dem Wege in Hof, Badzellen, Schule oder Kirche, somit selten
+länger als einige Minuten.
+
+Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, Nro. 109 ist bereits 10-15
+Schritte voraus und 110 folgt ihm in der Art, daß der Abstand vom
+Hintermann 111 ebensoviele Schritte beträgt.
+
+Lauernd steht der Aufseher des dritten Stockwerkes an einem Platze, von wo
+aus ihm nicht die leiseste Bewegung der in den Spazierhof gehenden Bewohner
+des ersten Stockwerkes zu entgehen vermag und wenn Einer seine Schritte
+nicht gehörig beschleunigt oder gar Lust zum Umherschauen zeigt, verweist
+ihn die Stimme des Aufpassers augenblicklich in die Schranken der
+Hausordnung.
+
+Nro. 110 eilt durch den Gang die Treppe hinab in den Hof. Eine frische
+Morgenluft weht von den Hügeln herüber, dessen Bäume mit ihren vielfarbigen
+Blättern, dessen Weinberge und blumenlose Wiesen ihn an die Herbstmorgen
+auf dem Lande mahnen. Krächzend eilen einige Raben dem Walde zu, er hört
+das Krähen einiger Hähne in der Nachbarschaft, das unaufhörliche Gezänke
+zahlreicher Vögel im Hofe und auf dem Dache. Die Bäume, Sträucher und
+Blumen, die Holzstöße und Faßdaubenpyramiden im Hofe dieses Flügels--
+dieser ganze Anblick gewährt einen Schimmer von Freiheit.
+
+Schon ist Nro. 110 in das runde Häuschen eingetreten, von welchem die
+zahlreichen, etwa 10´ hohen Mauern der Spazierhöfe ausstrahlen, welche
+vielleicht mit einer versteinerten Sonnenblume verglichen werden können,
+deren meiste Blätter in regelmäßigen Zwischenräumen herausgerissen wurden.
+
+Nro. 110 eilt in den bereits offenstehenden, für ihn bestimmten Spazierhof,
+dessen eine Mauer mit einem ziemlich langen Regendache von Eisen, dessen
+beide Mauern an ihrer Mündung durch ein hohes eisernes Gitter verbunden
+sind und dessen Boden mit gelblichem Sande aufgefüllt ist.
+
+Eifrig eilt er zwischen dem Gitter und dem geschlossenen Thürchen hin und
+her, schaut zuweilen nach den Wolken, die grau und schwerfällig gegen
+Westen ziehen, nach der Schildwache, die in ihren Mantel gehüllt still und
+stumm von der Ringmauer herabschaut, um den visitirenden Korporal oder die
+Ablösung zu erwarten oder nach dem Zellenflügel, dessen Fenster im matten
+Scheine des über die Berge schauenden Morgenrothes schimmern oder er
+verfolgt den trägen Gang der Spinne, eines andern Insectes, welches an der
+Mauer herumkriecht.
+
+Oben in seinem Häuschen hört er den Aufseher hin- und hergehen, der alle
+Spazierhöfe und Spaziergänger mit Einem Blicke oder Einer Wendung
+überschaut, hört die eiligen Schritte der Nebenmänner und diese Art von
+Mittheilung ist wohl die einzige, welche in den Spazierhöfen stattfindet.
+
+Die Wände zu verschreiben, Zettel in den nächsten Hof zu werfen, ein Duett
+im Husten anzustimmen sind Dinge, welche so wenig ungeahndet bleiben, als
+wenn Einer von seinem Zellenfenster in den Hof herabschaut.
+
+Jetzt wird geschellt, die halbe Stunde des Spazierganges ist vorüber, in
+derselben Ordnung, wie die Gefangenen gekommen, gehen sie auch wieder in
+ihre Zellen zurück.
+
+Nro. 110 hat Fenster und Thüre offengelassen, die Zelle ist vollständig
+gelüftet, er schlägt die Thüre zu und geht daran, den Boden zu reinigen,
+der aus Ziegelplatten besteht. Durch das viele Gehen löst sich von diesen
+Ziegelplatten ein feiner Staub ab, der jedoch nur dann sehr ungesund werden
+mag, wenn der Zellenbewohner ein unreinlicher Bursche ist, was bei den
+Falkenblicken des Obermeisters und Aufsehers nicht wohl angeht.
+
+Unser Gefangener reinigt die Zelle, schließt das Fenster, öffnet den
+Schieber der Luftheitzungsöffnung aus welcher eine wohlthuende Wärme
+herausströmt und geht dann wieder an seine Arbeit.
+
+Abermaliges Schellen, das Zuschlagen der Schalter der Zellenthüren
+verkündiget die Austheilung der Morgensuppe; Nro. 110 rüstet sein
+Schüsselchen, der Aufseher öffnet den Schalter, füllt dasselbe und schlägt
+rasch wieder zu, um weiter zu gehen.
+
+Der Zellenbewohner ißt und arbeitet dann mehrere Stunden; von Zeit zu Zeit
+tritt ein Werkmeister oder Aufseher herein und bleibt einige Augenblicke,
+um Etwas anzuordnen oder nachzuschauen.
+
+Um 10 Uhr öffnet sich die Thüre, der Director mit seinem freundlichen,
+wohlwollenden Gesichte tritt herein.
+
+Jene Art von Besuchen, wie sie in England gang und gäbe sind, wo der
+Aufseher die Thüre aufreißt, der Beamte sein stereotypes: %"is all
+right?"% herabschnurrt und sofort weiter geht, wenn der Gefangene nicht
+ein besonderes Anliegen vorzubringen hat--solche Besuche, welche lediglich
+einer polizeilichen Controlle entsprechen, sind für den Gefangenen fast
+werthlos, für den Beamten sehr bequem, in Bruchsal glücklicher Weise
+unbekannt.
+
+Besuche der Beamten tragen hier den Charakter einer Wohlthat an sich, sind
+ein mächtiges Mittel der Erholung, geistigen Anregung, Bildung, Versöhnung
+mit der Strenge des Schicksals und der Gesetze, der Besserung. Täglich in
+viele Zellen eilen, welche die verschiedenartigsten Menschen beherbergen,
+die verschiedenartigsten Gemüthsstimmungen antreffen, sich Lunge und Leber
+herausreden, aus verschiedenartig erwärmten Zellen in die eisige Zugluft
+der Gänge hinaustreten, Gerüche aller Art und Staub ebenfalls einathmen--es
+ist ein Geschäft, das im Laufe weniger Jahre die Gesundheit des kräftigsten
+Mannes erschüttert, ein Geschäft, welchem sich schwerlich Einer unterzöge,
+der nicht eine bedeutende Portion ursprünglicher Menschenliebe im Herzen
+hat.
+
+Was bei andern Gefangenen selten oder nie der Fall sein wird, ist bei
+Zellenbewohnern der Fall: die ins Einzelnste gehende Controlle jedes
+Einzelnen, das Lesen seiner Untersuchungsakten, Briefe und Besuche unter
+vier Augen gewähren dem einsichtsvollen Beamten eine mehr oder minder
+vollständige Kenntniß jedes einzelnen Gefangenen.
+
+Dieser müßte ein Heuchler erster Größe sein, wenn er mondenlang, jahrelang
+eine falsche Rolle spielen, sich nicht _unwillkürlich_ in seinen
+Reden, Geberden, Handlungen als derjenige zeigen sollte, welcher er
+wirklich ist. Er wird offen, vertraulich, manchmal bis zur Unverschämtheit
+offen und vertraulich gegen die Beamten aus dem ganz einfachen und
+einleuchtenden Grunde, _weil er keine andere Gesellschaft hat._ Wo
+Sträflinge beisammen leben, kann der Beamte sich nicht leicht mit Einzelnen
+besonders abgeben, muß Einen wie den Andern behandeln und der Gefangene
+findet gar keinen Grund, weßhalb er einem Beamten Blicke in sein Innerstes
+gestatten, sich dadurch in den Augen desselben herabsetzen sollte, zumal
+das natürliche Interesse ihn auffordert, nur seine Lichtseiten leuchten zu
+lassen, um sich Wohlwollen zu erwerben. So gewöhnlich Verstellung und
+Heuchelei in gemeinsamer Haft sind, so leicht eine mehr oder minder falsche
+Rolle hier mit Glück gespielt werden mag, weil der in der Heuchelei
+liegende Zwang nur ein sehr vorübergehender ist--so selten mag in
+Zellengefängnissen in die Länge und mit Glück geheuchelt werden. Es wird
+für den Zellenbewohner zur psychologischen und moralischen Nothwendigkeit,
+sich so zu geben, wie er ist und dieses setzt die Beamten in Stand,
+_Jeden nach seiner eigenthümlichen Art und Weise zu behandeln._ Je
+mehr aber Einer nach seiner Art und Weise behandelt wird, desto mehr wird
+er uns seine Zuneigung und sein Vertrauen zeigen.
+
+Durch nachläßige, taktlose oder unmenschliche Behandlung der Zellenbewohner
+von Seite der Beamten und Angestellten mag wohl die gute Wirkung des
+Einzelsystems sich häufig genug in das Gegentheil verkehrt haben und man
+bürdete dem System die Schuld untauglicher Angestellten und Beamten auf,
+nicht zu vergessen des Wahnes, man bedürfe keiner besondern Bildung, um als
+Beamter unter Sträflingen zu wirken, könne jeden Schreiber und Tabellenheld
+dazu brauchen ... Ein geistreicher und berühmter Rechtsgelehrter sagte uns
+vor einiger Zeit, die einsame Haft sei eine "Pferdekur;" wir stellen
+Solches keineswegs in Abrede, meinen jedoch, bei Menschen, welche mehr oder
+weniger Thierisches und Unterthierisches an sich tragen, schade eine
+Pferdekur wenig und der Schmerz derselben werde um so erträglicher und
+fruchtbringender, heilsamer, je geschickter der Arzt sei!
+
+Der Duckmäuser ist heute verstimmt, der Morgen ist so trüb und
+unfreundlich, Wind und Wetter, die verschiedenen Zeiten des Tages und der
+Nacht, des Jahres, manchmal auch der Wechsel des Mondes üben einen so
+großen Einfluß auf das Gemüth Einsamlebender aus!
+
+Er thut heute, was er als alter Gefangener selten oder niemals zu thun
+pflegt, fängt nämlich an, nachdem er eine kleine Abhandlung über eingelegte
+Schreinerarbeit zum Besten gegeben, über die lange Dauer seiner
+Gefangenschaft zu reden und von der Wahrscheinlichkeit, daß er wohl hier
+sterben müsse.
+
+Die Hausordnung gibt jedem andern Gefangenen Hoffnung auf Berücksichtigung
+von Gnadengesuchen, wenn die Hälfte der zuerkannten Strafe überstanden ist
+--doch was geht dies einen Gefangenen an, dessen Todesstrafe in
+_lebenswieriges_ Gefängniß umgewandelt wurde? Für ihn ist die Zelle in
+der That ein Sarg, er ist ein Lebendigbegrabener und dennoch bleibt er ein
+Mitglied der menschlichen Gesellschaft, denkt lieber an die Erde als an den
+Himmel und findet in den Besprechungen dieses einen Ersatz für die
+Entbehrung der Genüsse, welche jedem Bettler zu Gebote stehen.
+
+Die Einsamkeit vermehrt den Alpdruck des vernichtenden Wortes:
+"lebenswierige Gefangenschaft", er hat die Bedeutung dieses schauerlichen
+Wortes erst in neuerer Zeit recht fühlen gelernt!
+
+Was soll der Director thun? Dem Unglücklichen den Schein jeder Hoffnung
+nehmen und die düstere Stimmung desselben vermehren? Nein, er redet von der
+_Möglichkeit_ dereinstiger Befreiung, von Auswanderung nach Amerika
+und scheidet aus der Zelle, einen Glücklichen hinter sich zurückzulassen.
+
+Numero Hundertzehn schaut ihm gerührt nach; ist dieser auch nicht im
+Stande, ihn dereinst zu befreien, so wünscht er doch, dieses thun zu
+können; Theilnahme und Wohlwollen eines Freien und Glücklichen sind aber
+für den Gefangenen unschätzbare Güter und die Hoffnung stirbt erst mit ihm.
+
+Er steht vor dem Kalender, trägt nicht übel Lust, den heutigen Tag roth
+anzustreichen, doch läßt er es bleiben und greift frischer und muthiger als
+je nach seinem Hobel und je näher die Einbildungskraft das Jahr der
+Befreiung herbeizaubert, desto ärger hobelt er darauf los!
+
+Abermaliges Schellen, Aufschließen der Zellenthüren, Herausmarschiren
+vieler Gefangenen. Es ist eilf Uhr, heute wird Religionsunterricht für
+Katholiken ertheilt, die Religionsstunde der Evangelischen ist bereits
+vorüber. Bald kommt die Reihe des Marsches an Numero 110; noch einige
+eilige Hobelstöße, dann rüstet er sich wieder aus, wie zum Gange in den
+Hof, jetzt öffnet sich die Thüre abermals und 110 eilt 109 nach durch den
+Gang, viele scharfbewachte Stiegen hinauf in die Kirche.
+
+Die amphitheatralisch gebaute Kirche des Zellengefängnisses zu Bruchsal zu
+beschreiben, wäre zu weitläufig; es genügt zu wissen, daß jeder Gefangene
+seinen besondern Verschlag hat, eine Art Miniaturzelle, welche ihm das
+Sitzen, Knieen und Stehen gestattet und so eingerichtet ist, daß Keiner den
+Andern, Jeder den Altar, die Kanzel, den Priester, einzelne Aufseher zu
+sehen vermag, denen keine seiner Bewegungen entgeht.
+
+Numero 110 hängt die Zellennummer an ihrem bestimmten Platze auf und bald
+erscheint der Geistliche auf der Kanzel, um den Religionsunterricht zu
+beginnen.
+
+Derselbe pflegt gewöhnlich in einer Reihe zusammenhängender Vorträge dieses
+oder jenes Buch des neuen Testamentes zu erklären, doch seit einiger Zeit
+belehrt er über die heiligen Sakramente der Buße und des Abendmahles und
+macht den klaren, schönen Vortrag durch das Einmischen von Stellen aus den
+Werken namhafter Gottesgelehrten noch anziehender, nicht ohne die
+Einwendungen und Angriffe der hauptsächlichsten Gegner der katholischen
+Lehre zu berühren und mit jener eindringlichen Ruhe abzuweisen, welche die
+Frucht eigener tiefer Ueberzeugung ist.
+
+Heute behandelt er insbesondere die wahrhafte, wirkliche und wesentliche
+Gegenwart Christi im Abendmahle, eine Lehre, welche Allen, die die Liebe
+nicht vollkommen verstehen oder die Wirkungen dieses hochheiligen
+Sakramentes nicht an sich selbst empfunden haben, unbegreiflich, sinnlos,
+ja als eine Herabsetzung und Entwürdigung Gottes erscheint, während die
+Andern den Triumpf der Religion in ihr vollendet sehen.
+
+"Will gar nicht verlangen, daß Gott mit mir Eins und ich selbst dadurch
+gottähnlich werde, dürfte ich nur menschenähnlich sein und beim
+Straßenbasche als der ärmste Taglöhner leben! ... Um mich hat sich Gott
+niemals bekümmert, Seine Liebe und der Fluch meines Lebens reimen sich
+nicht zusammen! ... Wenn der Pfarrer wieder kommt, soll er eine harte Nuß
+zum Aufbeißen haben!" ... denkt der Benedict, während der Geistliche
+verschwindet, die Verschläge nach einander wiederum geöffnet werden und er
+die Schneckenstiegen hinab in den Gang und in seine Zelle marschirt.
+
+Der Geistliche eines Zellengefängnisses hat besondere Vortheile vor andern
+Gefängnißgeistlichen. Erstens kann er die ganze Religionsstunde seinem
+Vortrage widmen und den Stoff desselben verdoppeln und verdreifachen;
+zweitens kommt er zu jedem einzelnen Gefangenen, spricht mit diesem unter
+vier Augen und kann sich vom Eindrucke überzeugen, welchen sein Vortrag
+machte, denselben wiederholen, ergänzen, vertheidigen, bei Neueingetretenen
+mit Früherm vermitteln; drittens endlich ist er keinen Verdächtigungen und
+Verleumdungen ausgesetzt, während der Sträfling so wenig von Hohn und Spott
+als von falscher Schaam weiß, dazu Zeit und Gelegenheit besitzt, Etwas für
+seine religiöse Ausbildung zu thun und zudem die Gedanken, welche sich ihm
+während der Religionsstunde aufdrängten, in der Einsamkeit nicht anhaltend
+zu verscheuchen vermag.
+
+Bei Leuten, welche nur für kurze Zeit verurtheilt sind, mögen
+Gleichgültigkeit oder Leichtsinn die Oberhand behalten, bei Solchen,
+welchen die Liederlichkeit und Gottverlassenheit zur zweiten Natur
+geworden, mag die Religion der Liebe manchmal als Religion des Schreckens
+wirken und mancher alte Sträfling mag bleiben, was er längst geworden oder
+stets gewesen ist.
+
+Von der Stadt herüber läuten die Mittagsglocken, die ablösende
+Wachmannschaft eilt gemessenen Schrittes über die Ringmauer. Schon beim
+Gang aus der Kirche stieg ein vielversprechender Duft aus der Küche des
+Mittelgebäudes, jetzt ertönt ein mehrstimmiges Schellen, dann das Klirren
+der Eßkessel und Schöpflöffel und der eilige Schritt der Aufseher, welche
+sich in der Küche sammeln, um die Portionen für ihre Pflegbefohlenen
+abzuholen. Heute ist kein Fleischtag.
+
+Jeden andern Tag prangt ein winziges Stücklein Fleisch in der zinnernen
+Schüssel, ein Spatz vermöchte es bequem im Schnabel fortzutragen und doch
+bleibt Etwas immer besser als Nichts.
+
+"Suppe!" Der Benedict hebt sein Schüsselchen unter den Schalter, der
+Aufseher schöpft ihm seine Portion aus dem Kessel, schlägt den Schalter zu
+und geht weiter.
+
+Die Suppe, eine gute schmackhafte Reissuppe, ist noch sehr heiß, aber sie
+muß schnell gegessen werden, denn der Aufseher wird gleich mit der
+Hauptspeise da sein.
+
+Heißes Essen schadet den Zähnen, Zuwarten kann dem Magen schaden, unter
+zwei Uebeln wählt ein gescheidter Mensch das kleinere, deßhalb ißt der
+Benedict die heiße Suppe.
+
+"Hersch!--Hersch!" rufts im Gange.
+
+"O jerum!" jammert unser Esser und weiß weßhalb. Der "Hersch" ist nichts
+anderes als Hirsebrei, eine im badischen Unterlande gewöhnliche Speise der
+Armen, im Zuchthause zu Freiburg wie überhaupt im Oberlande unbekannt und
+der Benedict mag nun einmal den fatalen "Hersch" nicht.
+
+"Hersch!" ruft der Aufseher vor dem Schalter und bald ist das Schüsselchen
+gefüllt. Auch diese Speise ist noch heiß, allein sie hat keinen Nachfolger
+mehr und was der Benedict morgen nicht thun wird, weil er morgen Knödel
+bekommt, vor denen übrigens ein guter Baier das Kreuz machte, das thut er
+heute, stellt nämlich das Schüsselchen auf den Schrank, um den Brei kalt
+werden zu lassen und später zu essen.
+
+Bevor die Anstalt Bruchsal die Kost für Gefangene, Kranke und Aufseher
+selbst bereitete, war sie für die erstere manchmal herzlich schlecht und
+zudem bekam der Zellengefangene Ursache, besonders nach den schönen
+Brodlaiben Freiburgs zu seufzen.
+
+Dort wird jetzt die Kost und hier noch immer das Brod von der Anstalt
+unmittelbar bereitet, in beiden Fällen profitirt der Staat sammt den
+Gefangenen.
+
+Wie mancher Kostgeber ist schon durch augenlose Gefängnißsuppen reich
+geworden, wie unzuverlässig ist die strengste Controlle, wenn Beamte und
+Angestellte nicht zuverlässig und gewissenhaft sind!--
+
+Numero 110 klappt den Tisch an die Wand, das Vorderblatt desselben ist eine
+schwarz lakirte Schultafel, er greift zur Kreide, vertieft sich in den
+pythagoräischen Lehrsatz und berechnet alsdann, wieviel Kubikzoll die
+Commode enthalten werde, welche unter seiner kunstfertigen Hand entstehen
+soll.
+
+Todtenstille herrscht minutenlang ringsum, die meisten Aufseher sind den
+Beamten zum Essen nachgeeilt, aber wenn Jemand im Mittelbau eine Schüssel
+fallen läßt oder sich nur herzhaft schnäuzt, können es sämmtliche Bewohner
+der vier großen Flügel und die Nächsten so deutlich als die Fernsten
+vernehmen. Wenn der Spruch: Wände haben Ohren--irgendwo gültig und die
+Allwissenheit der Beamten irgendwo mehr als Redensart ist, so wird dies
+sicher in einem Zellengefängnisse der Fall sein. Auf ihren Bureaus
+vernehmen die Beamten jedes laute Wort und jedes auffallende Geräusch,
+selbst wenn es von den äußersten Enden der Zellenflügel ausgeht.
+
+Jetzt scheinen selbst die sonst so geschwätzigen, zänkischen Spatzen Siesta
+zu halten, selten flattert einer vor dem Gitterfenster von Numero 110
+vorüber und noch seltener sitzt einer vor dem Fenster, um sein graues
+Röcklein zu putzen oder dem Gefangenen einen bessern Appetit
+zuzuzwitschern.
+
+Letzteres ist auch nicht nöthig, denn obwohl der Duckmäuser den Hirsebrei
+nicht liebt, so haßt er doch den Hunger noch weit mehr, folglich hat der
+Brei bereits das Ziel seiner Bestimmung erreicht.
+
+Die Zellenbewohner haben ihre Ruhestunde, dieselbe wird ihnen nicht zur
+Stunde des Verderbnisses, sondern sie lesen, schreiben, rechnen, zeichnen,
+machen freiwillig an ihrer Arbeit fort, wenn dieselbe kein Geräusch
+verursacht, oder gehen acht Schritte vorwärts und acht rückwärts und wer in
+einem der Höfe steht, mag auch manches langgedehnte Gähnen, zuweilen ein
+schweres Aufseufzen, ein lautes Selbstgespräch, vielleicht einen Versuch,
+zu singen oder zu pfeifen, gleich darauf das Aufgehen einer Thüre, das
+anklagende Gebrumme eines zweibeinigen Stückes der fleischgewordenen
+Hausordnung und dazwischen das Hohngelächter des vorüberrauschenden
+Eisenbahnzuges zu Ohren bekommen.
+
+Der Benedict hat den Magen mit "Hersch", den Verstand mit Zahlen und
+geometrischen Figuren angefüllt, doch sein Gemüth blieb unbefriediget und
+was der Director mit seinem Besuche gut machte, hat der Pfarrer mit seinem
+Vortrage verdorben und besonders Eine Aeußerung desselben ist tief in
+Benedicts Seele gedrungen und fällt ihm stets von Neuem bei, er mag
+anfangen was er will:
+
+"Wer _unwürdig_ meinen Leib ißt und mein Blut trinkt, der ißt und
+trinkt sich selbst das Gericht!"
+
+Wie oft nahte er sich aus Gewohnheit, um seines Rufes willen oder um die
+Worte der Mutter zu erfüllen, dem Tische des Herrn!
+
+In der Kaserne hatte er sich allgemach von diesem Gebrauche emancipirt, er
+wurde ihm lästig, das Aufgeben desselben brachte ihm eher Ansehen als
+Schaden, bei Meister März faßte er vollends einen Ekel gegen die demüthige
+Aufgeblasenheit und den weinerlichen Ingrimm der "Diener am Worte" und
+deren Lämmlein, aber im Zuchthause hatte er sich regelmäßig zum Beichten
+und Communiciren verstanden, um nicht in den obern Regionen in Mißcredit zu
+kommen.
+
+Den Spruch, welchen der Geistliche heute vorbrachte, hörte er schon früher
+hundertmal, doch niemals schlug er ihm so in die Seele, er greift nach
+seiner Bibel und wundert sich selbst, weßhalb ein einziger Vers ihn so
+unheimlich auf einmal berühren und zu beschäftigen vermöge.
+
+Er blättert und sinnt, bis die Schritte der Aufseher wiederum im Gange
+wiederhallen und die Gangschelle verkündiget, daß er den zweiten Theil des
+Tages mit dem zweiten Spaziergange beginnen müsse.
+
+Rasch und mißmuthig läuft er längs den Mauern seines Spazierhofes hin und
+wieder. Er hatte sich schon manchen Tag mit gleichgültiger Ruhe in der
+Zelle befunden, weil es ihm gelang, sich in die Ueberzeugung
+hineinzubannen, er sei ein Todter, besitze keinen Anspruch mehr auf das
+Leben und bleibe ein wandelnder Schatten mit vermodertem Herzen, so lange
+es einer Macht gefalle, die er nicht kannte und von der er nichts forderte.
+
+Alte Gefangene huldigen gewöhnlich bewußt oder unbewußt solchem Fatalismus,
+ihr Herz und ihr Benehmen strafen denselben oft Lügen, doch im Ganzen
+scheint er ihnen ihr trauriges Loos erträglicher zu machen, wofür die
+Hauptursache freilich darin zu suchen sein möchte, daß das Mitansehen des
+Unglückes Anderer, die Zerstreuungen der Gesellschaft, die Verbindung, in
+welcher sie durch dieselbe bei dem täglichen Wechsel der
+Gefängnißbevölkerung mit der Außenwelt bleiben, ihre eigene Verinnerlichung
+hindert.
+
+Der Benedict hat dem Himmel den Scheidebrief des Glückes geschrieben, als
+er die Thüre der Strafanstalt zum erstenmal hinter sich schließen hörte; er
+war ein lebenslänglich Verurtheilter, alles Fühlen, Denken, Wollen und
+Streben seiner Person sollte fortan für die Welt verloren sein, blos sein
+Leichnam dereinst noch einmal dieselbe Straße wandern, durch welche er
+gerade gekommen.
+
+Er hegte nur Einen Wunsch: Ruhe und forderte diese Ruhe vom Tode, glaubte
+auch, derselbe werde sie ihm gewähren.
+
+Die Jahre hatten ihn gegen die Leiden der Gefangenschaft und gegen das
+Leben überhaupt abgestumpft, er glaubte dem Tode um einen starken Schritt
+näher zu kommen, wenn er in die Zelle versetzt würde und--hatte sich
+getäuscht.
+
+Im Gegentheil lebte der Mensch von ehemals in ihm wieder auf, das
+versteinert geglaubte Herz begann von Neuem zu hämmern und zu pochen, das
+Kind und der Jüngling, der verirrte Halbmann und der elende Sträfling
+hielten aufregende Gespräche in ihm, durch die Freuden- und Sturmglocken
+der Erinnerung tönten leise zuweilen andere, fremdgewordene Glockentöne und
+die Möglichkeiten, welche hätten eintreffen können, wenn er diese oder jene
+Handlung vollbracht oder unterlassen hätte, bot allgemach dem Duckmäuser
+Stoff zu langen, schwermüthigen Betrachtungen.
+
+Er hatte geglaubt, von Gott gänzlich verlassen und verstoßen zu sein und
+vom Tode doch jedenfalls Ruhe fordern zu dürfen, eher als viele minder
+schwer Verurtheilte.
+
+Weßhalb?
+
+Ei, er war freilich als Vatermörder verurtheilt und menschliche Richter
+waren nicht im Stande, ihn milder zu verurtheilen, als sie dies gethan
+hatten. Er vermochte die Richter nicht anzuklagen, doch klagte er Gott
+desto herber an und zwar deßhalb, weil Gott seine Gesinnungen kennen mußte
+und Miturheber seines Unglückes zu sein schien. Trug denn Benedict jemals
+den leisesten Vorsatz im Herzen, das gräßliche, todeswürdige Verbrechen des
+Vatermordes zu begehen? Nein, niemals einen Augenblick, nach der That
+schauderte er vor sich selbst zurück und begriff nicht, wie er dazu
+gekommen!--Tödtete er seinen Vater im Affect? Auch dies war wiederum nicht
+zur Hälfte wahr und Gott mußte wissen, daß er zwar im Schrecken mit einem
+mächtigen Prügel in den dunkeln Hausgang hineinschlug, jedoch nicht, um den
+Vater zu treffen, sondern lediglich, um ihm die Flinte wegzuschlagen und
+ihn vom Kindermord abzuhalten. Wußte er nicht, daß eine Doppelflinte ob dem
+Bette des Vaters hing und mußte er nicht glauben, daß dem ersten Schusse
+ein zweiter folgen werde? Selbst die Richter erfuhren genug von Jacobs
+harter, leidenschaftlicher Gemütsart, von seinem Hasse gegen den Hobisten
+und vergaßen nicht, die Flinte sammt dem Schuß ernstlich in Erwägung zu
+ziehen, sonst wäre Benedict unfehlbar um den Kopf kürzer gemacht worden.
+
+Viele andere Umstände ließen sich nur dadurch erklären, daß man dieselben
+dem blinden Zufalle oder--dem allwissenden Gott in die Schuhe schob und
+dieser Gott sollte ein allliebender und allbarmherziger sein? Gegen tausend
+Andere wohl, gegen mich war er ein Tyrann! sagte der Benedict hundertmal,
+wenn der Schmerz ob dem verlornen Lebensglücke zuweilen gewaltig in ihm
+aufzuckte und die Trauergeschichte vom weißen Federbusch bestärkte ihn in
+der Meinung, ein von Gott Verstoßener oder zum Unglücke Erkorner zu sein.
+
+In der Zelle erwachten mit den Jugenderinnerungen auch die Erinnerungen an
+das vielfache Kreuz und Elend, welches er den Eltern bereitete und er
+gelangte zur Einsicht, ein Kind, welches seinen Eltern großen Kummer
+verursache, dadurch ihre Freude am Leben zerstöre und sie vor der Zeit ins
+Grab stürze, sei eigentlich auch ein Elternmörder und der Tod der Eltern
+eigentlich auch ein gewaltsamer.
+
+Von diesem Standpunkte aus fühlte er sich des Mordes beider Eltern
+schuldig.
+
+Allein gibt es nicht Kinder seiner Art genug und keine Seele denkt daran,
+sie deßhalb ins Zuchthaus zu stecken?
+
+Er begriff sein Schicksal so wenig als die heimlichen Qualen seines
+Herzens, hoffte vom Tode Ruhe, gegen diese Hoffnung erhob sich fortwährend
+die Religion und heute wurden Hoffnung und Ruhe durch die Worte:
+
+"Wer meinen Leib _unwürdig_ ißt und mein Blut _unwürdig_ trinkt,
+der ißt und trinkt sich selbst das Gericht!" abermals heftig erschüttert.
+
+Wenn diese Worte keine leere Drohung enthielten, wäre ich nicht schon
+hienieden ein gerecht Gerichteter? Wenn der Tod das, was in mir lebt, nicht
+zerstörte, wie würde es mit mir im Jenseits aussehen? Hienieden
+vieljähriges Kerkerleiden bis zum Tode, dort endlose, ewige Qual,
+schauderhafter Gedanke!
+
+Diese Fragen beschäftigen den Spaziergänger, in die Zelle zurückgekehrt,
+schneidet er ellenlange Hobelspäne, arbeitet darauf los, daß große Tropfen
+von seiner Stirne rinnen, wird wirklich seiner wunderlichen Grillen Herr
+und ist im Stande, beinahe zu lächeln, wie er die Gangschelle zur Schule
+rufen hört. Eilig schlüpft er in den grauen Kittel, greift nach Mütze und
+Nummer, Schiefertafel und Schreibzeug und kaum öffnet der Aufseher die
+Thüre, so ist er bereits dem Mittelbau nahe und klimmt die Wendeltreppen
+hinan.
+
+Er darf eilen, denn der Gang ist ziemlich leer, die meisten seiner Nachbarn
+mögen einer andern der 6 Klassen angehören, mit welchen sich zwei Lehrer
+beschäftigen oder auch das 36ste Lebensjahr zurückgelegt haben, in welchem
+Falle sie zur Altersklasse gezählt werden, die einigemal wöchentlich in der
+Kirche versammelt und durch Vorlesen aus einem gewählten Buche für den
+Schulunterricht einigermaßen entschädiget wird.
+
+Das "Grabhemd" auf dem Kopfe tritt Numero 110 in die Schulstube und in
+seinen besondern Verschlag, hängt die Nummer auf, läßt sich einschließen,
+setzt sich und harrt mit stiller Sehnsucht, bis der Aufseher commandirt:
+
+"Kappen herunter!"
+
+In demselben Augenblicke wird der Oberlehrer den hohen Catheder besteigen,
+die Schüler seiner obersten Klasse werden ihn freundlich begrüßen, er wird
+den Gruß freundlich erwiedern, die Nummern herablesen und den Unterricht
+beginnen.
+
+Wie in der Kirche sieht auch in der Schule kein Gefangener den Andern,
+dagegen Jeder den Lehrer, die Aufseher, Rechentafel, Landkarten u.s.w.
+Freilich hört hier Jeder die Stimme der aufgerufenen Nummern und mag aus
+der Mundart den Seehasen vom Pfälzer, den Schwarzwälder vom Odenwälder, das
+Stadtkind vom Dorflümmel leicht unterscheiden, ja der Benedict hat sogar in
+der vorigen Stunde die Stimme des Exfouriers und des Spaniolen vernommen,
+erkannt und im Gedächtnisse behalten, jener sei Nro. 349 und dieser Nro.
+27, aber was kann solche Entdeckung nützen oder schaden? Nro. 110 weiß
+nicht genau, wo Nro. 349 in der Schulstube oder in welcher Zelle er sitzt,
+was er treibt und wenn er es auch wüßte, ja wenn beide Nachbarn wären und
+es ihnen gelänge sich Zeichen gegenseitigen Erkennens zu geben--Gefühle und
+Gedanken tauschen sie innerhalb dieser Anstalt nicht aus, der erste Versuch
+dazu würde auch zum letzten und müßte von großem Glücke begleitet sein, um
+erst nach dem Gelingen entdeckt zu werden, in jenem Austausche aber liegt
+die Hauptgefahr der Sträflingsgesellschaft.
+
+Mag Einer sich dem Nachbarn auch durch Trommeln an die dicke Wand bemerkbar
+machen, lange dauert solches Trommeln gewiß nicht, auch ist noch niemals
+gehört worden, daß dadurch die Abschreckung oder Besserung eines Gefangenen
+beeinträchtiget wurde und die Versuche, mit einander zu reden, haben völlig
+ein Ende, seitdem die Oeffnungen der Luftkanäle vergittert wurden.
+
+Der Wachtstubenwitze reißende und halbgelehrte Spöttereien über alles Hohe
+und Heilige zu Markt tragende Exfourier, der sozialdemocratische,
+selbstsüchtige Spaniol vermöchten dem Benedict nur noch zu schaden, weil er
+mit Beiden einst zusammenlebte und ein treues Gedächtniß besitzt--
+jedenfalls ist die Schule des Zellengefängisses der letzte Ort, wo die
+Hausordnung oder gar Religion und Sittlichkeit irgendwie Gefahr zu laufen
+vermöchten.
+
+Der achteckige, thurmartige Mittelbau, von welchem die vier Flügel
+ausstrahlen, erscheint uns überhaupt als ein Sinnbild der Ordnung, welche
+nicht nur im Zellengefängnisse zu Bruchsal, sondern im großen Zuchthause
+der Welt herrschend sein sollte.
+
+Im untersten Raume findet sich die Küche, ob derselben Stuben der
+Werkmeister, Oberaufseher, noch höher die Zimmer der Beamten, welche
+allgemach zu den Schullokalen emporsteigen, zu oberst aber steht die
+Kirche, während die bewaffnete Macht draußen an den Ringmauern, den
+äußersten Gränzen des Reiches verweilt und die Gehüteten nicht beständig an
+das Mißtrauen der Regierenden mahnt.--
+
+Bereits steht der Oberlehrer auf dem Catheder, kritisirt die eingelieferten
+Aufsätze und läßt zwei derselben laut vorlesen.
+
+Beide sind ziemlich lang gerathen, man erkennt bald, daß die Verfasser
+ihren Kopf beisammen hatten und beide zeigen einen Reichthum der Gedanken,
+einen dichterischen Schwung der Sprache, die wir bei Zellengefangenen
+ebenso häufig als auffallend finden.
+
+Der erste Aufsatz ist von Nro. 62 und behandelt die Frage, weßhalb der
+Reichthum nicht nothwendig zum Glücke gehöre, den zweiten hat Nro. 205
+geliefert, dieser sucht den Begriff vom Glück und Unglück festzustellen und
+findet, daß es für einen Menschen, der Religion nicht nur _besitze_,
+sondern _religiös sei_, kein eigentliches Unglück gebe, somit in der
+religiösen Durchdrungenheit das Geheimniß des wahren Glückes zu suchen sei.
+Nro. 62 ist ein blutarmer und, wie sich dies bei seinem Gewerbe fast von
+selbst verstehen soll, fast immer betrunkener Postillon gewesen, der so
+wenig daran dachte, durch seinen Jähzorn jemals in ein Zuchthaus zu
+gerathen, als daran, in diesem bitterbösen Hause ein meisterhafter Schuster
+und ein Mensch zu werden, der Geschriebenes und Gedrucktes geläufig lesen
+und noch viel Schönes und Nützliches dazu lerne. Nro. 205 ist ein
+ehemaliger Soldat, der mit seinen Schulmeistern ein besonderes Schicksal
+hatte. Der erste derselben war ein alter, braver Mann, der die
+weitschichtige Gelehrsamkeit der neuen Schulmeister nicht mehr faßte und
+alle Neuerungen, gute und schlimme, haßte. Dafür wurde auch er gehaßt,
+verfolgt und verspottet. Wie die Alten sangen, so zwitscherten die Jungen
+und als der Mann starb, kam ein junger Lehrer, der sich ganz nach dem
+Willen der Mehrheit seiner Schüler richtete und deßhalb die halbe Zeit
+keinen Unterricht gab oder die Stunden mit Geschichtlein tödtete. Nro. 205
+war als einer der stärksten und größten Buben im Anfeinden des alten mit im
+Verherrlichen des neuen Lehrers ein Anführer gewesen und wurde aus der
+Schule entlassen, ohne daß ihn ein schwerer Schulsack drückte. Erst im
+Zuchthause hat er den Schaden erkannt und verbessert.
+
+Nro. 62 wie 205 saß früher in gemeinsamer Haft, beide preisen sich
+glücklich, von ihrer alten Kameradschaft erlöst zu sein und wenn ihnen
+irgend ein Gelehrter vom Glücke der Sträflingsgesellschaft vorpredigte,
+würden sie es in ihrer Einfalt für Scherz oder Spott halten; beide gehören
+zu den fleißigsten und besten Schülern, während sie gleichzeitig zu den
+fleißigsten und besten Arbeitern gehören, von den Werkmeistern noch niemals
+wegen Saumseligkeit oder gar wegen Nichtfertigung des ganzen Tagwerkes
+verklagt wurden. Nachdem das Vorlesen der Aufsätze beendiget, kommen die
+Rechnungsaufgaben an die Reihe.
+
+Der Duckmäuser hat den Cubikinhalt eines cylindrischen Gefäßes berechnet,
+welches doppelt so hoch als weit ist und ganz gefüllt 2 Pfund Wasser
+aufnimmt.
+
+Nro. 70 löste die Frage richtig, wie groß eine Seite eines Würfels von Gold
+sei, welcher 24 Loth wiege.
+
+Dagegen brachte 401 die folgende Rechnung nicht ganz ins Reine, nämlich:
+"Ein Brunnentrog aus Sandstein hat die Form einer Halbkugel, deren ganzer
+Durchmesser 4'3" beträgt, wahrend die Steinmasse selbst 4" dick ist.
+Wieviel (badische) Maaß Wasser faßt dieser Trog und welchen Cubikinhalt hat
+die Steinmasse?"
+
+Nro. 401 beging bei der Lösung der zweiten Frage einen Fehler, die meisten
+Mitschüler stimmen in ihrer Lösung überein und diese ist auch die richtige.
+Jener entdeckt und entschuldigt seinen Irrthum, seine Stimme und Rede
+zeigt, er sei dem Weinen nahe, um diesen alten Weiner zu trösten, darf er
+die Lösung der letzten der heutigen Aufgaben nennen und liest mit ruhigere
+Stimme:
+
+"Nach der Angabe v. Humboldt's soll eine der ägyptischen Pyramiden 800'
+Höhe und an der Grundfläche, welche ein Quadrat ist, ebensoviel Breite
+haben. Wieviel Cubikfuß beträgt der Inhalt und wieviel Zentner etwa das
+Gewicht dieser Pyramide, wenn man obiges Maaß als badisches betrachtet und
+das spezifische Gewicht des Marmors, aus welchem sie bestehen soll, zu
+2,736 annimmt?"
+
+Die Lösung, welche Nro. 401 gibt, ist richtig, fünf Hauptrechner bezeugen
+es, der Oberlehrer thut dasselbe und beginnt dann eine kleine Prüfung über
+die Lehre der drei Arten von Hebeln, gewöhnlichen und festen Rollen und
+Flaschenzügen.
+
+Nro. 349 hat diesen Mittag für sich in der Zelle berechnet, ein Rammklotz
+von 60 Zentnern, der etwa bei Wasserbauten angewendet würde, und 15' hoch
+herabfalle, wirke mit der Kraft von 18,000 Zentnern, welche nur Einen Schuh
+fallen. Der etwas hartköpfige Nro. 334 erbittet und erhält eine Erklärung
+des "Rades an der Welle" und der Benedict erläutert schließlich den
+Potenzflaschenzug.
+
+Dann geht der vortreffliche Oberlehrer, welcher mit Pestalozzi Bibel und
+Kalender für die wichtigsten Urkunden des Menschengeschlechtes hält, daran,
+den Sonntagsbuchstaben zu erklären, durch den sich der Wochentag eines
+geschichtlichen Ereignisses sicher bestimmen läßt und ist noch nicht
+fertig, wie die Glocke ertönt und anzeigt die Lieblingsstunde vieler
+Zellenbewohner sei wiederum vorüber. Der Lehrer verschwindet, die Schüler
+setzen das "Grabhemd" wiederum auf, die Aufseher öffnen einen Verschlag
+nach dem Andern in der Ordnung, daß kein Gefangener dem Andern auf dem Fuße
+folgt oder gar entgegenläuft, Einer nach dem Andern steuert der Thüre zu,
+welche in seinen Flügel führt und nach wenigen Minuten steht Nro. 110
+wiederum vor der Hobelbank.
+
+Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Schule.
+
+Die Sträflingsschule des Zellengefängnisses zu Bruchsal erregt besonders
+die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Besucher, weil die Sträflinge einen
+Grad von intellectueller Bildung und Bildungsfähigkeit entwickeln, den man
+in den besteingerichteten Gefängnissen anderer Art vergeblich suchen würde.
+
+Die Regierung verdient sich den Dank der Menschheit, indem dieselbe Vieles
+für die Anstalt überhaupt und deren Schule insbesondere thut, tüchtige
+Lehrer, indem dieselben unermüdlich und im engen Vereine mit den
+Geistlichen beider Confessionen dahin arbeiten, aus unwissenden und rohen
+oder halbgebildeten und eingebildeten Gefangenen Menschen und Christen zu
+machen und vor geistiger Verdumpfung zu bewahren.
+
+Die Schüler dagegen empfinden auch das ganze Gewicht der Wohlthaten, welche
+ihnen durch Unterricht gespendet werden und beweisen es durch ihre
+Anhänglichkeit für die Geistlichen und Lehrer, durch ihren Eifer für die
+Schule und vor Allem durch die Fortschritte.
+
+Wer nur immer anerkennt, daß in der Bildung an und für sich eine Macht
+liege, welche die schwer zerstörbare Selbstsucht des Menschen mindestens
+verfeinern, ihm soviel Klugheit, Ehrgefühl und Selbstbeherrschung gewähre,
+um nicht leicht ein Verbrechen zu begehen, der wird sich entschieden für
+eine Sträflingsschule der Art aussprechen, wie dieselbe hier besteht und
+blüht.
+
+Wir kennen auch keinen Fall, daß ein Gefangener, welcher diese Schule
+längere Zeit besuchte, wiederum rückfällig geworden wäre und wenn in dieser
+Anstalt vorherrschend jugendliche Verbrecher untergebracht und ihres
+Unterrichtes theilhaftig gemacht würden, so würde die Erfahrung lehren, daß
+die Zahl der Rückfälle sich ansehnlich verminderte.
+
+_Aber leidet der Gewerbsbetrieb nicht durch die Schule Noth?_
+
+Die beste Antwort liegt in der Thatsache, daß der Gewerbsbetrieb des
+Zellengefängnisses trotz mißlicher Zeitverhältnisse und eigenthümlicher
+Hindereisse [Hindernisse] mehr blüht, als der jeder andern Strafanstalt des
+Landes und daß die Blüthe des Gewerbsbetriebes zunächst vom Fleiße und der
+Geschicklichkeit der Sträflinge abhänge, wird wohl kein Gegner der einsamen
+Haft läugnen.
+
+Der Zellenbewohner besucht nicht mehr Unterrichtsstunden als andere
+Sträflinge, dagegen ist es richtig, daß er Besuche vom Lehrer in der Zelle
+und bei dieser Gelegenheit besondern Unterricht erhält. Doch Besuche muß er
+überhaupt eine bestimmte Anzahl empfangen, wenn er nicht zu Grunde gehen
+soll und daß kein Besuchender, folglich auch kein Lehrer zu lange bei Einem
+verweile, dafür ist schon durch die Vorschrift gesorgt, daß jeder Beamte
+täglich eine verhältnißmäßig große Anzahl von Besuchen abzustatten hat.
+
+Das Geheimniß der überraschenden Fortschritte, welche viele Zellenbewohner
+in Schulkenntnissen machen, liegt hauptsächlich in ihrer eigenthümlichen
+Lage. Die Einsamkeit verinnerlicht den Menschen, der Mangel an Gesellschaft
+treibt ihn, sich in arbeitsfreien Stunden selbst zu unterhalten und weil
+ihm Gelegenheit für schlechte Unterhaltung abgeschnitten, dagegen
+Gelegenheit zur guten reichlich geboten ist, so greift er eben nach
+letzterer.
+
+Die Ruhestunden, die arbeitsfreien Tage, manche schlaflose Stunde der
+Nacht, in welcher das Denken eine Zerstreuung und Wohlthat zugleich wird,
+werden zumeist der Schule gewidmet und gerade der verhältnißmäßige Mangel
+an Eindrücken, welche er von der Außenwelt empfängt, stärkt sein Gedächtniß
+wunderbar für Alles, was in der Schule vorkommt, welche er besucht oder in
+den Büchern, welche er gelesen.
+
+Sind wir überzeugt, der Gewerbsbetrieb würde wenig oder nichts gewinnen,
+wenn man die Schulen gesellschaftlich lebender Gefangenen wiederum aufhöbe,
+so sind wir noch weit mehr davon überzeugt, daß er in Zellengefängnissen
+bedeutend Noth litte. Gar viele Handwerker bedürfen einiger Kenntnisse im
+Zeichnen, in Mathematik und Geometrie, Chemie und andern Wissenschaften und
+je mehr sie davon erringen, desto besser ist es für ihr Gewerbe. Ferner
+ließe sich möglicherweise das vollständige Fertigen eines Tagwerkes durch
+Hungerkuren erzwingen, lange jedoch ginge dies nicht an und zum Fertigen
+guter und vortrefflicher Arbeit gehört eben auch im Zuchthause ein
+Arbeiter, der gut oder vortrefflich arbeiten kann und--will. Die Schule
+wird von Sträflingen als eine Wohlthat und Belohnung allgemein anerkannt,
+ihre Beeinträchtigung oder gar ihre Beseitigung würde gerade bei den
+Talentvollen den guten Willen zur Arbeit beeinträchtigen oder beseitigen
+oder derselbe müßte auf eine Weise angeregt werden, welche mehr kostete als
+die Schule.
+
+_Aber werden die Spitzbuben durch die Bildung, welche sie empfangen,
+nicht gerade raffinirter und führt die Schule nicht zur Halbwisserei?_
+
+Den ersten Theil dieses Einwurfes würden wir gar nicht beantworten, wenn er
+nicht schon von mehr als einer Seite gemacht worden wäre.
+
+Wir haben einen Tag in einem gemeinsamen Zuchthause zugebracht und
+vermieden, pikante Spitzbubenhistörchen aufzuzeichnen, wenn man nicht etwa
+die maaßlose und keineswegs seltene Unverschämtheit des Patrik vom
+Hotzenwalde pikant finden will.
+
+In gemeinsamer Haft geben die Meister der Greiferkunde Privatcollegien aus
+ungewaschenen Mäulern, die Blüthe des Gaunerthums erfreut sich dort einigen
+Ansehens und fruchtbarer Wirksamkeit, allein keine Sträflingsschule irgend
+einer Art befaßt sich mittelbar oder gar unmittelbar mit Ausbildung der
+Spitzbüberei. Freilich lehrt die Physik und noch mehr die Chemie Manches,
+was sich ein Langfingeriger für die Zukunft hinter die Ohren schreiben
+könnte, aber jedem Lehrer wird man soviel Verstand und Besonnenheit
+zutrauen, daß er seinen Stoff zu wählen versteht.
+
+Erheblicher ist die Halbwisserei.
+
+Unter Halbwisserei verstehen wir das _religionslose_ Wissen, somit
+ziemlich dasselbe, was schon Plato darunter verstanden und worüber er als
+einer unheilbringenden Erbärmlichkeit geklagt hat. Vom Vorwurfe der
+Halbwisserei sind bei uns jedenfalls die Sträflingsschulen freizusprechen,
+denn Geistliche und Lehrer gehen einträchtig zusammen, Einer arbeitet dem
+Andern in die Hände, die Schule ist nicht nur ein Mittel allgemeiner
+Bildung, sondern auch allgemeiner religiöser Erhebung.
+
+Eine bereits auf einige tausend Bände angewachsene Bibliothek, deren Bücher
+vor Allem mit Rücksicht auf löbliche Tendenzen gewählt und mit Rücksicht
+auf die verschiedenen Confessionen unter die Gefangenen vertheilt werden,
+unterstützt mächtig die Bemühungen der geistlichen und weltlichen Beamten.
+
+Die sichtbaren Wunder der Natur, die weltbeherrschenden Gesetze der Physik,
+die einfachen, erhabenen und allbeherrschenden Gesetze der Bewegung der
+Weltkörper, lauter Dinge, welche jedem Schulknaben, geschweige einem
+Erwachsenen klar und deutlich gemacht werden können, wie sehr sind diese
+geeignet, den Menschen zum Herrn und Vater dieser Gesetze zu erheben? Und
+Abrisse aus der Geschichte, in welcher Gott den lohnenden Vater oder
+rächenden Amtmann spielt, eine Unthat unter dem Gewichte ihrer Folgen den
+Schuldigen und die Mitschuldigen begräbt, ohne vorher nach Stammbaum oder
+Taufschein zu fragen, wie sehr sind diese geeignet, den Verbrecher zum
+Nachdenken über das eigene Schicksal zu bringen? Jedenfalls mehr als die
+eigens für Gefangene und Verbrecher geschriebenen Bücher, unter denen wir
+und viele Andere außer dem von Suringar wenig Erträgliches und
+Ersprießliches entdeckten. Sträflinge sind schwer vom Glauben abzubringen,
+daß man die kleinen Spitzbuben fange, die großen dagegen laufen lasse,
+wissen recht gut, wie es mit dem Werthe Vieler steht, welche frank und frei
+herumlaufen und ebenso, daß sie keine unartigen Kindlein sind, denen man
+Religion und Jesusliebe als Brei einreichen könnte, deßhalb geben sie auch
+nichts auf Bücher, die aus gutmeinenden, aber unklugen oder unerfahrenen
+Federn zur angeblichen Erbauung von Gefangenen geflossen sind. Im
+Gegentheil werden Schriften dieser Art Religionslosigkeit und
+Verstockung eher vermehren als vermindern und besonders in gemeinsamer Haft
+nicht lange ungerupft bleiben.
+
+Sie [Die] Schule vor Allem erweitert den geistigen Gesichtshorizont und je
+mehr sich dieser erweitert, desto kleiner fühlt sich der Mensch überhaupt,
+der Verbrecher insbesondere und wiederum desto größer, weil der Herr und
+Meister der Welt sich mit ihm abgibt.
+
+_Weßhalb eine ungewöhnliche Ausdehnung des Unterrichtes bei
+Zellenbewohnern?_
+
+Vom Buchstabenmalen und Zahlen zusammenzählen steigert sich Alles bis zum
+Auflösen von Gleichungen, Berechnungen des Kreises und Lösungen von
+Aufgaben, welche einige physikalische, chemische und sogar astronomische
+Einsichten voraussetzen. Weil Zellenbewohner aus innerm Antriebe gerne
+lernen und im Lernen so ziemlich ihre einzige Erholung finden, deshalb
+schreiten Viele auch rasch und sicher fort und sollen sie dafür mit
+Stillstand bestraft werden, für den sich nirgends ein Grund auftreiben
+ließe?
+
+Weßhalb sollen Schwerverurtheilte, deren jugendliches Alter vielmaligen
+Schulbesuch gesetzlich sanctionirt, ohne ihre Schuld und noch mehr wider
+ihren Willen in den Mitteln des Fortschreitens zur Bildung und Besserung
+verkürzt werden? Die in der That ganz vortreffliche Hausordnung von
+Bruchsal ermuntert und belohnt sogar den Schulfleiß, erkennt in der Schule
+überhaupt ein mächtiges Mittel gegen geistige Verknüpfung und Versumpfung
+und daß es in ihr nicht gar zu hochgelehrt hergehe, dafür ist schon
+gesorgt, weil die meisten Sträflinge einen ziemlich armseligen und manche
+gar keinen Schulsack in die Zelle bringen.
+
+Die Lehrer haben mit dem ABCschützen und Dummen überflüssig genug zu thun
+und sollen sie nun auch mit den weiter Fortgeschrittenen und Talentvollen
+dazu verurtheilt werden, Papageienrollen zu spielen und in diesem Jahre
+durchaus dasselbe zu schreien, was sie im vorigen Jahre geschrieen?
+
+Wenn ein entlassener Zellenbewohner ungefähr weiß, was jeder ordentliche
+Realschüler zu wissen vermag, so weiß er noch lange nicht zuviel und wird
+durch das Gewicht seines Wissens schwerlich in den Pfuhl des Lasters und
+der Verbrechen hinabgedrückt!--
+
+Während wir diesen etwas langgerathenen Gedankenspaziergang machten,
+arbeitete Nro. 110 in seiner Zelle rüstig fort und zuweilen tritt ein
+Werkmeister oder Aufseher herein, nicht sowohl um die Arbeit zu
+besichtigen, denn der Benedict arbeitet zu vortrefflich, als daß viele
+Besichtigung nöthig wäre, sondern um Etwas zu fragen oder die Leimpfanne zu
+bringen.
+
+Der Fleiß der Gefangenen wird in der Zelle leichter und besser controllirt,
+als in jedem Sträflingssaale und zwar auf eine Weise, daß der
+Zellenbewohner nichts davon weiß. Der Controllirende tritt zur Thüre, hebt
+einen kleinen Schieber in die Höhe und überschaut mit Einem Blicke die
+ganze Zelle, wahrend Nro. 110 vergeblich sich abmühen würde, durch dasselbe
+Fensterchen auf den Gang hinauszusehen. Nicht Eine Minute des Tages oder
+der Nacht ist er sicher, unbeobachtet zu sein und das Peinliche dieser Lage
+wird gerade dadurch gemildert für den Bessern und geschärft für den
+Schlechtern, weil er niemals Gewißheit davon hat.
+
+Ein gefangener Taglöhner hat sein Zellenleben in ergötzlichen Reimen
+beschrieben, von denen einige charactristische hier ein Plätzlein finden
+mögen:
+
+ --Einmal ist der Obermeister kommen:
+ "Du willst nicht sputen hab' ich vernommen?
+ Hättest große machen sollen
+ Dich soll gleich der Kukuk holen!"--
+ "Ich will lieber machen kleine
+ Das ist die Rede, die ich meine!"--
+ "Du hast hier kein Recht,
+ Seist du Meister oder Knecht,
+ Mußt jetzt thun, was ich Dir sag'
+ Oder hast gehabt zu Mittag,
+ Und zu Nacht wirst auch nichts kriegen,
+ Kannst noch in den Turm hinabfliegen!
+ Dort kannst Du sitzen oder stehen
+ Und wie es Dir noch sonst wird gehen.
+ Dann thut man Dich in den Zwangstuhl schnallen
+ Das wird Dir auch nicht gut gefallen!"
+ Ich sah auf mein Spulrad hin
+ Und dachte: "wenn nur dieser Mann wieder ging!"
+ Aber er ließ sich nicht vertreiben
+ Und ließ auch das Dräuen nicht bleiben.
+ "Wenn ich noch eine einzige Klage hör',
+ Dann komme ich wieder zu Dir hieher!"
+ Das ist sein letztes Wort,
+ Dann ist er fort.
+ Ich dacht: Nun ist er doch einmal gangen,
+ Das war ja mein einzig Verlangen!
+ Hab mich wieder zum Rad gesetzt
+ Und gespult, daß ich hab' geschwitzt.
+ Hörte ich nur laufen im Gang,
+ So glaubte ich: jetzt kommt der saure Mann!--
+ Einmal hab' ich gesungen,
+ Da kam er gleich gesprungen:
+ "Hör' ich dies noch einmal hier,
+ Dann gibt man nicht zu essen Dir!"
+ Darauf sah ich ihn im Hof in seinem grauen Rock
+ Und eilte was ich konnte in den zweiten Stock,
+ Mache die Thüre eilends zu,
+ Daß ich hab' vor diesem Manne Ruh.
+ Er hat mir schon zu schwer gedräut,
+ Ihn zu sehen, ist mir keine Freud'!
+ Allein ich hab' vor ihm recht Respekt,
+ Doch bin ich gern von ihm weit weg;
+ Doch hat er mir noch nichts zu leid gethan
+ Er kann doch sein ein guter Mann!
+
+In diesem Augenblicke öffnet sich die Thüre von Nro. 110 und einer der
+beiden Obermeister steht vor Benedict. Er ist nicht mehr der alte Dräuer,
+über welchen der Taglöhner klagte, sondern ein ganz freundlicher
+ordentlicher Mann, der mit Blicken mehr ausrichtet als Andere mit vielem
+Lärm. Die Arme über die Brust gekreuzt, den rechten Fuß vorgestellt steht
+er ganz ruhig da und redet mit unserm Schreiner vom Wetter und den
+Rheinschnaken, diesen Moskitos der Rheinebene, deren Stich eben keine
+angenehme Empfindungen, wohl aber kleine Beulen erzeugt und die den Weg
+durch alle Kleider und die dicksten Teppiche hindurch zu finden wissen,
+während ihr Gesumme in Schlaf lullt.
+
+Tabaksqualm verscheucht diese kleinen, blutgierigen Ungeheuer, aber der
+Gefangene darf nicht rauchen und muß sich begnügen, die Schnaken
+todzuschlagen [todtzuschlagen], wenn sie angefüllt von Blut träge an den
+Wänden sitzen und nicht weit zu fliegen vermögen. Wahrend der Obermeister
+den Ankläger der Schnaken anhört, überschaut er mit einigen Seitenblicken
+Alles und wenn Etwas am unrechten Nagel hängt, nicht vorschriftsmäßig
+aufgestellt oder hingelegt ist, darf der Zellenbewohner einer Ermahnung
+gewiß sein, wenn aber gar irgend ein _Verstoß gegen die Reinlichkeit_
+aufzutreiben ist, dann bleibt eine Zurechtweisung nicht aus.
+
+Wieviel Schweiß und Aerger haben die kleinen Ziegelplatten des Zellenbodens
+den Benedict schon gekostet, den feinen, ungesunden Staub abgerechnet, der
+sich von denselben ablößt!
+
+Jetzt versteht er sein Geschäft besser, der Obermeister vermag nichts zu
+entdecken, was der Reinlichkeit widerspräche, denn es fehlt zwar nicht an
+Sägspänen, Hobelspänen, Gerüchen des Holzes und der Politur, zumal das
+obere Fenster geschlossen ist, aber in welcher Schreinerwerkstätte der Welt
+fehlt es an diesen Dingen? Oder wo gibt es irgend eine Schusterboutique,
+aus welcher der Geruch von Leder und Pech verbannt ist oder einen Webstuhl,
+in dessen Nähe es nicht von Zeit zu Zeit nach Schlichte riecht?
+
+Arme und reiche Handwerker sind an solche Dinge gewöhnt, die sich nicht
+vermeiden lassen, Gewohnheit stumpft gegen den schlimmen Einfluß derselben
+ab, weßhalb soll und wie soll der Zellenbewohner dagegen geschützt werden?
+
+Tadeln ist in allen Dingen leicht, Verbessern häufig schwer.
+
+Frische Luft und Reinlichkeit sind für die Gesundheit des Gefangenen
+wichtige Artikel, in Bruchsal ist in dieser Hinsicht das Möglichste
+geleistet, die Ziegelplatten der Zellenböden möchten freilich nicht viel
+taugen, aber sie sind nun einmal da, lassen sich nicht über Nacht
+wegbringen und leicht ohne große Kosten durch etwas Besseres ersetzen,
+dagegen läßt sich die Reinlichkeit jedes Einzelnen leicht controlliren.
+
+Der Oberaufseher wünscht freundlich guten Abend und eilt zu Nro. 109
+hinüber. Ein Herbsttag geht rasch vorüber, ehe man sichs versieht, ist die
+Dämmerung da. Die verschiedenen Zeiten des Jahres und Tages, die Wechsel
+der Witterung üben auf den Menschen Einfluß aus und wenn dieser Einfluß bei
+vielen Zellenbewohnern noch bemerkbarer wird als bei andern Gefangenen, so
+rührt dies wohl daher, weil ihr äußeres Leben ein ziemlich armes und
+einförmiges ist. Ein kurzer, trüber Herbsttag stimmte den Benedikt trübe
+und melancholisch, der Abend brachte ihm gar schwermüthige Gedanken. Er
+dachte an das Abendläuten, Lichteranzünden und an die Heimgärten im fernen
+Dörflein und war froh, als der Aufseher den Schalter öffnete, um den
+Wasserkrug zum letztenmal für heute in Empfang zu nehmen und das Licht
+anzuzünden.
+
+Er griff wiederum zum Hobel, um die Grillen durch Arbeit zu verscheuchen,
+doch wollte es ihm nicht recht gelingen und zuweilen tief aufseufzend
+blickte er durch die Gitter zum dunkeln, sternenleeren Nachthimmel empor.
+
+Abermals öffnet sich die Thüre und der Arzt tritt herein.
+
+Dieser muß nicht nur seine Kranken, sondern auch alle Gesunden fleißig
+besuchen und fast noch mehr Seelenarzt als Leibesarzt sein.
+
+Weil die Einzelhaft eine neue und aus fernen Landen zu uns gekommenne
+[gekommene] Einrichtung ist, welche je nach Clima, Lebensweise und
+Charakter eines Volkes Verschiedenheiten der Durchführung erheischt, über
+deren Art und Zweckmäßigkeit lediglich die Erfahrung allmählige Belehrung
+zu geben vermag, muß besonders auch der Gefängnißvorstand ein denkender und
+mit vielseitiger Bildung ausgerüsteter Mann und nicht etwa ein alter
+ausgedienter Soldat sein, wie dies manchmal in England stattfindet.
+Gediente Soldaten geben gute Oberaufseher und Aufseher; wo die Ordre
+anfängt, hört gemeiniglich ihr Denken auf, je nach der Ordre hauen sie den
+Gefangenen ebenso bereitwillig in Krautstücke als sie denselben noch als
+menschenähnliches Wesen passiren lassen und so vortrefflich solche
+Eigenschaft untergeordneten Werkzeugen ansteht, so mißliche Folgen würde
+sie nach sich ziehen, wenn der Vorstand einer _Besserungsanstalt_ ein
+abdecretirter Schnurrbart wäre, der Menschen jeder Art als Maschinen
+betrachtete und bald im Vollgefühle seiner Unwissenheit und Ohnmacht Fünfe
+gerad sein ließe oder blind und brutal in Alles hineinblitzte und
+hineindonnerte, was nicht ganz nach seinem Kopfe ginge.
+
+Weil Menschen und die allseitigen Wirkungen von Einrichtungen bis ins
+Kleinste studirt, Alles auf bestimmte Zwecke gerichtet und alle Zwecke
+Einem großen Zwecke untergeordnet werden müssen, deßhalb muß der Vorstand
+ein organisirender Kopf und weil ein Arzt jedenfalls am meisten Gelegenheit
+besitzt, sich theoretische und praktische Kenntnisse über den Menschen und
+das Volk, Krankheiten des Leibes und der Seele und unserer
+gesellschaftlichen Zustände zu erwerben, endlich weil Zellenbewohner in
+mancher Beziehung Ausnahmsmenschen werden und Einem Arzte sehr viel zu
+schaffen machen, wenn auch der Krankenstand ganz unbedeutend bleibt,
+deßhalb möchte es gut und zweckmäßig sein, wenn auch der Gefängnißvorstand
+ein Arzt ist.
+
+Die Verhältnisse eines Zellengefängnisses drängen von selbst darauf hin,
+daß entweder der Doctor vielfach zum thatsächlichen Vorstande und der
+Vorstand zu seinem Figuranten würde oder daß Beide sich in die Haare
+gerieten, wobei der Staat und die Gefangenen am Schlechtesten bestünden,
+wenn der Vorstand ein alter Soldat oder ein einseitiger Fachmensch
+überhaupt wäre.
+
+Ein ehemaliger Offizier, der ein bischen vom Rechnungsfache verstünde,
+möchte sich zum Vorstande einer Anstalt mit gemeinsamer Haft vortrefflich
+eignen, schwerlich dagegen zum Leiter eines Zellengefängnisses.
+
+Nro. 110 gehört zu jenen vielen Zellenbewohnern, welche ihren leiblichen
+Zuständen große, oft arg übertriebene Aufmerksamkeit zuwenden und denen ein
+bischen Mattigkeit in den Gliedern oder Reißen im Kopfe leicht Gedanken an
+schwere Krankheiten und das gefürchtete Brett der Anatomie erregte. Sie
+plagen und quälen den armen Doctor mit ihren Einfällen und Fragen und wenn
+er nicht darauf einzugehen Grund findet oder gar darob lächelt, dann halten
+sie ihn für einen halben Unmenschen, geht er darauf ein, für einen ganzen
+Dummkopf und macht er die Sache mit einem Thee oder einer Arznei statt mit
+Krankenkost ab, für einen vollendeten Tyrannen.
+
+Heute weiß der gute Benedict sehr viel von Magenknurren zu erzählen und
+weil der Doctor ihn mit den violetten Knödeln tröstet, welche morgen
+aufgetischt werden, wird er melancholisch und redet von Todesahnungen,
+welche ihm jener wiederum auszureden sucht.
+
+Kaum ist der Arzt fort, so tritt der Aufseher herein und lößt das Bett von
+der Wand ab. Unser Gefangener arbeitet noch einige Zeit und bringt es über
+das Tagwerk hinaus, dann läutet es wiederum in allen Flügeln auf einmal,
+wiederum klirren die Eßkessel, wiederum eilen die Aufseher der Küche zu,
+Benedict hört, wie sein Aufseher von Zelle zu Zelle geht, die Schalter
+zuschlägt und gute Nacht wünscht, bald fliegt auch sein Schalter auf, sein
+Schüsselchen wird gefüllt, der Schalter fährt zu und Benedict betrachtet
+wehmüthigen Blickes die Königin der Zuchthaussuppen, eine braune, ihm gar
+fad vorkommende "Wasserschnalle."
+
+Doch--in der Kaserne bekam er Abends gewöhnlich Nichts, jetzt ist er
+hungrig, dort drinnen im braunen Schränklein findet er Salz, er salzt und
+ißt die Suppe. Nicht lange darnach tritt der Werkmeister zum letztenmal für
+heute herein, er nimmt die schneidenden Instrumente aus der Zelle weg, der
+Korb mit Hobelspänen wird in den Gang hinausgestellt, man sagt sich gute
+Nacht. Bald verhallen die Schritte der forteilenden Werkmeister und
+Aufseher draußen im Gange, alsdann herrscht Todtenstille, höchstens die
+fallenden Tropfen einer Brunnenröhre, die Schritte eines Nachbars, das
+starke Husten oder Aufseufzen desselben unterbricht diese Stille.
+
+Leise und unhörbar schleichen die Aufseher in Filzschuhen oder in Socken
+durch die Gänge, kein Mensch sondern die Einsamkeit will mit dem Benedict
+eine ernste, schwermüthige Unterhaltung beginnen, eilig greift er nach dem
+reichhaltigen Lesebuch von Döll, dann nach der belehrenden "Menagerie" von
+Drugulin und ließt, dort über die Gasarten, was übermorgen in der Schule
+verhandelt werden soll, hier über die Wildschweinjagd mit Wurfspießen im
+fernen Indien.
+
+Plötzlich lärmt die Hausschelle durch die Todtenstille und befiehlt, daß
+alle Lichter gelöscht werden, alle Gefangenen sich zu Bette legen müssen.
+Eilig legt Benedict sein Buch weg, klappt Tisch und Bank wiederum an die
+Wand und löscht die Lampe aus.
+
+Sinnend steht er noch einige Augenblicke in der Zelle und blickt zum
+vergitterten Fensterlein empor, die sechs dicken Eisenstäbe gränzen sich
+scharf gegen den Nachthimmel mit seinen dunkeln, fliegenden Wolken ab,
+durch welche zuweilen das weiße oder röthliche Licht eines Sternes scheint
+oder flimmert und dieses traurige Haus wie die dunkeln Höhen des
+Schwarzwaldes, das Heimathdörflein, die Städte und Kasernen des Rheinthales
+überschaut und vielleicht in die Scheiben einer Hinterstube leuchtet, in
+welcher Meister März mit seinen Gottseligen conventikelt. Benedikt soll
+halblaut beten, die Hausordnung will es, doch er will nicht und murmelt
+sehnsüchtige Wünsche vor sich hin.
+
+Dann legt er den Strohteppich zum Schutze gegen den kalten Boden vor das
+Bett und legt sich nieder, um zu schlafen.
+
+Er hat den Tag über streng gearbeitet und befindet sich bald auf der Brücke
+zwischen Wachen und Schlafen, doch das langgedehnte Gebrülle einer
+gedankenlosen oder auch boshaften Schildwache laßt ihn einstweilen die
+Gedanken ans Einschlafen vergessen.
+
+Man mag ein Zurufen der nicht weit von einander stehenden Schildwachen für
+zweckmäßig erklären, doch welchen Zweck soll ein mehr als viehisches
+Brüllen und absichtliches Wiehern haben, welches manche Soldaten
+allnächtlich auf den Ringmauern zum Besten geben?
+
+Weit entfernt vom Militär kleiner Länder den Geist und die Haltung der
+Soldaten einer großen Armee und damit viel zu viel zu verlangen, möchte
+doch nicht zuviel verlangt sein mit der Forderung, daß die Wachkommandanten
+des Zellengefängnisses häufiger zur Einsicht kämen, gewaltsame Störung des
+Schlafes vieler Kranken und Gefangenen sei nicht nur etwas Unnöthiges,
+sondern auch etwas Unzweckmäßiges und Unwürdiges.--
+
+Seufzend wickelt sich der Duckmäuser fester in seinen Teppich, kehrt sich
+gegen die Wand und der Bibelvers, welcher ihn heute so sehr beschäftigte,
+kommt abermals und immer wieder ihm in den Sinn. Er schließt die Augen
+gewaltsam und zählt so lange von Eins bis Hundert rückwärts, bis endlich
+der Schlaf dem Zählen ein Ende macht, ein Schlaf ohne Erquickung und Ruhe,
+denn was sich in seinem Gemüthe regt, lebt auch im Schlafe fort und die
+Gedanken, welche er heute gehabt, spinnen sich in die Traumwelt weiter.
+Wovon soll ein Zellenbewohner träumen? Von den kleinen Ereignissen der
+Gegenwart? Sie biethen ihm zu wenig Interesse dar, als daß sie sich häufig
+in seine Träume verweben sollten. Höchstens die Schule beschäftigt den
+Träumenden, er setzt manchmal Rechnungen fort oder sieht in lebendigen
+wunderlichen Gestalten vor seinen Augen vorgehen, was er dort gehört.
+Meistens träumt er von der Vergangenheit, von den Hauptereignissen seines
+Lebens, vom Prozesse, der ihn vernichtet oder auch von der Zukunft, einer
+bessern, freudevollern Zukunft, von einer Welt voll süßer Täuschungen,
+welche der Klang der Hausschelle am frühen Morgen wegzaubert.
+
+Selten im Sträflingssaale, häufig bereits in der Zelle hat der Benedict
+geträumt vom Heimathdörflein, von den beiden Schwitten, von den Herzkäfern,
+dem Saumathis und Straßenbasche und vom Kasernenleben und manchmal ist er
+entsetzt aufgefahren, wenn die todte Mutter oder der Vater mit dem
+zerschmetterten Haupte oder dem ledernen Beutel, aus welchem er 50 Gulden
+herauszählte, vor ihm stand.
+
+Sechs Jahre muß ein Zellenbewohner in der Zelle bleiben, wenn die Strafzeit
+9 oder mehr Jahre beträgt. Sechs Jahre sind über 2190 Tage und ebensoviel
+Nächte eines eintönigen Lebens und eine solche Zahl sollte nicht
+ausreichen, um den alten Adam abzulegen?--
+
+
+ * * * * *
+
+
+Mehrere Jahre sind verflossen, seitdem der Benedict das Inwendige eines
+Sträflingssaales zum letztenmale gesehen. Er sitzt noch immer in der Zelle,
+ist noch immer hineingebannt in den unerbittlichen Gang des Lebens, welches
+Jahr für Jahr und Tag für Tag so ziemlich in derselben Weise eintönig
+vorüberschleicht, wie wir es beschrieben. Aber der leichtsinnige Hobist ist
+indessen ein stiller, nachdenklicher, ein besserer und im Ganzen
+glücklicher Mensch geworden, der nicht mehr seine Freilassung für das
+Höchste hält, weil er aufhörte, die Erde als das Höchste zu betrachten.
+
+Rasch und leicht ging solche Umwandlung keineswegs von Statten. Sie kostete
+bittere Thränen, schwere Kämpfe, verzweiflungsvolle Nächte, schonungslose
+Selbstanklagen, tausend vergebliche Vorsätze und mußte Schritt für Schritt
+mit dem stärksten, unermüdlichsten und grimmigsten Feinde, welchen der
+Mensch hat, nämlich mit der Selbstsucht im Kampfe liegen.
+
+Als nakte Selbstsucht besiegt, kleidete sie sich in das Gewand der Tugend
+und Religion, mit Hülfe des Geistlichen entlarvt, mußte der Kampf von Neuem
+aufgenommen werden. Jetzt ist sie gebunden, gedemüthiget, aber noch nicht
+getödtet, erst der Tod wird sie vollkommen tödten.
+
+Geht nicht eine alte Sage unter dem Volke, die zertretene Schlange vermöge
+nicht zu sterben, bevor die Sonne untergegangen?--
+
+Der Duckmäuser ist noch jung und stark, er gehört zu den Gebesserten,
+insofern man Mienen, Gebärden, Reden, Benehmen, Eifer in Schule und Kirche,
+das gleichmüthige und heitere Ertragen aller Entbehrungen und Leiden eines
+einsamen Zellenbewohners, das unbedingte Anheimstellen des eigenen
+Schicksals in den Willen Gottes, die lebendigen Aeußerungen eines tiefen
+Bewußtseins der ehemaligen Unwürdigkeit, der gegenwärtigen Schwäche und
+einer dankbaren Anerkennung der erbarmenden Liebe des Erlösers gegen ihn
+als Zeichen von Besserung ansehen darf.
+
+Er lebt so, als ob er nicht mehr allein in der Zelle sei, sondern als ob
+die friedlichen, beseligenden Gestalten des Himmels bei ihm ein und
+answandelten und als ob der Allmächtige den Fluch der bösen Thaten, die der
+Benedict verübt, von dessen Haupte hinweggenommen habe.
+
+Aber so wenig wir auf eine Besserung halten, welche erst auf dem Todbette
+erfolgt oder deren Verdienst dem zunehmenden Alter, der wachsenden Einsicht
+in das Eitle und Nichtige alles Irdischen, der erkaltenden Begierde,
+günstiger gewordenen Lebensverhältnissen und andern Umständen hauptsächlich
+zugeschrieben werden können, so zweifelhaft und jedenfalls für die
+menschliche Gesellschaft fast unfruchtbar bleibt auch die geistige
+Wiedergeburt eines Zellenbewohners, so lange derselbe in der Zelle lebt.
+
+Weßhalb?
+
+Er kann in der That gebessert sein, mag in der sittlichen Erstarkung auch
+große Fortschritte gemacht haben und aufrichtig beschwören, ja auch den
+Schwur nach der Entlassung treulich erfüllen, daß er niemals wieder in eine
+Strafanstalt zurückkehre--aber seine Besserung kann immerhin vorherrschend
+als eine Besserung für das Zuchthaus und nicht als eine für die Welt
+betrachtet werden.
+
+Zeit und Gewohnheit sind für jeden Leidenden ein Balsam, der Zellenbewohner
+entbehrt desselben nicht, aber er entbehrt vieler Gelegenheiten und
+Versuchungen zu Sünden, Lastern und Verbrechen, welche die Welt darbietet.
+
+Man hat die Zellenbewohner schon mit Klosterbewohnern verglichen und
+dadurch einen hinkenden Vergleich mehr zu Papier gebracht.
+
+Ein Zellenbewohner kann zwar so weit gelangen, daß er seine Strafe
+gleichsam aus freiem Entschlusse auf sich nimmt, doch kein freier
+Entschluß, den Versuchungen der Welt zu entfliehen, sondern ein Verbrechen
+hat ihn in die Einsamkeit getrieben, der Spielraum seiner Freiheit ist
+geringer, als der jedes Bruders eines jeglichen Ordens, seine Lage ist
+vielfach schwieriger als die des Trappisten und der Austritt aus der Zelle
+steht in keiner Weise in seiner Macht.
+
+
+So wenig wir denen beistimmen, welche wähnen, ein Zellengefangener besitze
+keine Gelegenheit Beweise seiner Besserung abzulegen, so geben wir doch zu,
+daß die _vollständige Besserung_ eines Zellenbewohners sich _erst
+nach der Entlassung_ zu bewähren vermöge.
+
+Ein gebesserter Sträfling soll aber nicht blos kein neues, von wandelbaren
+Gesetzen verpöntes Vergehen sich mehr zu Schulden kommen lassen, sondern
+überhaupt ein guter Mensch, treuer Familienvater und rechtschaffener Bürger
+sein.
+
+Saufen, Spielen, Verschwenden, Betrügen, Ehebrechen, Faulenzen, Weib und
+Kinder und Mitmenschen mißhandeln soll er als trauriges Privilegium jenen
+Vielen überlassen, welche mit und ohne Glacéhandschuhe erhobenen Hauptes an
+Strafanstalten vorüberwandeln und gleich jenem Pharisäer jubeln: "Herrgott,
+was bin ich für ein prächtiger, vortrefflicher Kerl!--Noch niemals habe ich
+ein gemeines Verbrechen begangen, welches mich in eine Strafanstalt
+führte!"
+
+Will eine Regierung sich vollkommen überzeugen, ob Zellenbewohner auf eine
+Weise gebessert werden, daß die menschliche Gesellschaft wirklichen Nutzen
+davon hat, so muß sie nach unseren Ansichten genaue Nachrichten über das
+Leben und Treiben aller Entlassenen von Zeit zu Zeit einziehen. Freilich,
+wo Leute erst dann in die Zelle gelangen, wenn sie im Laster bereits alt
+wurden, auch in diesem Falle oft nur kurze Zeit zu bleiben haben oder durch
+Hungerkost und Dunkelarrest für die nächste Zeit von Verbrechen
+abgeschreckt, dagegen der Besserung weit schwerer zugänglich gemacht
+werden, da läßt sich nicht allzuviel hoffen, doch jedenfalls würde sich
+herausstellen, daß jugendliche Verbrecher, welche 2 bis 3 Jahre in einer
+Zelle zubrachten, nicht wieder in eine Strafanstalt zurückkehrten und durch
+ihr Leben keinen Grund zur Befürchtung baldiger Rückkehr darbieten.
+
+Damit wäre aber die Einzelhaft als eine für den Staat und die Gefangenen
+gleich wohlthätige Einrichtung gerettet, insofern von Besserung im
+strengsten Sinne des Wortes die Rede ist.
+
+Ruhig und friedlich lebt der Benedict nunmehr in seiner Zelle und schaut
+wohlgemuth auf Alles zurück, was er in ihr durchgemacht hat.
+
+In der ersten Zeit überraschte ihn die Neuheit seiner Lage, er hatte sich
+Alles viel fürchterlicher vorgestellt, als er es fand und dem leiblichen
+Tode würde er gleichmüthig ins Auge geschaut haben.
+
+Es ist ein gewaltiger Irrthum, zu glauben, der Tod komme Verbrecher schwer
+an. Viele sterben ganz ruhig, weil auch der nahende Tod ihnen die tiefe
+Ueberzeugung nicht nimmt, daß sie weit eher Märtyrer als Verbrecher seien
+und zehnmal eher den Himmel als die Hölle oder auch Keines von Beiden zu
+erwarten hatten. Eine Hauptkrankheit aller Gefangenen ist die Schwindsucht,
+Schwindsüchtige sind bekanntlich die Letzten, welche an die Nähe ihres
+Todes glauben und haben auch keinen schmerzhaften Tod.
+
+Ganz schön und leicht und ohne alle Gewissensscrupeln war der Zuckerhannes
+gestorben, einen ähnlichen Tod wünschte sich auch der Benedict.
+
+Doch nicht der Tod, sondern ein neues Leben sollte ihm in der Zelle werden.
+In den ersten Monden der Zellenhaft gerieth er, gleich einem frisch
+eingefangenen, erwachsenen Thiere, das in einen engen Käfig gesperrt wird,
+in einen Zustand großer Empfindlichkeit und Reizbarkeit, den er mit
+unsäglicher Mühe beherrschte, um sich nicht bei den Vorgesetzten von
+vornherein das Spiel zu verderben. Er suchte sich beliebt zu machen und es
+gelang ihm, wie es ihm noch überall gelungen. Sein chronisches Seelenübel,
+Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, fand jedoch nicht Pflege und Nahrung
+genug, dem Spiele einer lebhaften Phantasie überlassen, gerieth der
+vielbelesene Kopf zuweilen mit der rauhen Wirklichkeit in Fehde und weil er
+stets den Kürzern zog, machte sich die wachsende Reizbarkeit zuweilen Luft.
+
+Das kurze Wort, der scharfe Blick eines Aufsehers konnte ihn in solcher
+Gemüthsstimmung beben machen und was Beamte und Geistliche der Anstalt, in
+der er früher gewesen, niemals gehört hatten, hörten die des
+Zellengefängnisses: schwere Anklagen gegen Gott und Welt, Gesetze, Richter,
+Zeugen, alle Menschen, welche ihm jemals etwas Böses zugefügt haben
+sollten.
+
+Ein so entschuldbarer und schon so lange mißhandelter Mensch seiner Art
+gehörte freigelassen, das verstand sich von selbst--er machte
+Bittschriften und die Beamten mußten dieselben wohl entgegennehmen, wenn
+sie Schlimmes nicht schlimmer machen wollten. Natürlich lautete die Antwort
+kurz und gut, man fühle sich in keiner Weise veranlaßt, seine Begnadigung
+derzeit zu befürworten.
+
+"In keiner Weise!"--["]also haben die Beamten und der Geistliche nicht für
+mich geredet! ... Verderben ihnen!" dachte der enttäuschte Benedict und
+schwor ingrimmig, keines Menschen Wort und Mienen mehr zu vertrauen. Er
+suchte sich in die ehemalige Gleichgültigkeit hineinzulügen, den Besuchern
+mit kalter Höflichkeit und schlauer Berechnung entgegen zu kommen, doch
+seine Jugend- und Lebenserinnerungen leisteten ihm beständig Gesellschaft,
+alle Gestalten derselben lebten und wandelten draußen herum, diesen
+gegenüber mochte er nicht gleichgültig bleiben und wenn er die Eisenbahn
+pfeifen hörte, welche glückliche Menschen seiner Heimath zutrug oder an
+stillen Sonntagen die Parademusik hörte, weinte er oft Thränen stiller
+Verzweiflung.
+
+Ein unbedachtsamer Hitzkopf war er sonst nie besonders gewesen, aber jetzt
+wurde er es, weil er das Feuer, das in ihm zehrte, nicht zu bemeistern
+vermochte. Er redete, was er fühlte, ohne sich lange zu besinnen und gar
+Manches, was er in ruhigeren Stunden verdammte.
+
+Endlich versank er in einen Zustand stiller Trauer und hoffnungsloser
+Schwermuth. Er würde sich vielleicht aufgehängt haben, wenn das Hängen
+nicht ein gar zu gemeiner Tod und der Selbstmord überhaupt kein Akt
+tapferer Feigheit wäre. Er hatte angefangen, ernster und gründlicher als je
+in sich selbst hineinzuschauen und der Ich, welcher aus ihm heraus ihm
+selbst entgegengrinste, zeigte eine so schreckliche Gestalt, daß der
+Benedict nahe daran war, an Gott und an sich selbst zu verzweifeln.
+
+Aus dem Trübsinn riß ihn der würdige Geistliche.
+
+Er ließ sich das ganze Leben des Gefangenen erzählen, zeigte ihm, was er
+gewollt und gethan, anderseits was Gott gewollt und gethan habe und verwies
+auf die Tröstungen der Religion.
+
+Ein erklärter Feind der Religion, Geistlichen und rechtschaffener Menschen
+war Nro. 110 niemals gewesen, kannte die Lehren der katholischen Kirche und
+wußte, wie tief die Wurzeln liegen, welche dieselbe mindestens noch beim
+Volke getrieben. Die äußern Gebräuche hatte er als Gefangener niemals
+vernachläßiget, aber religiös gesinnt konnte er nicht werden unter
+Menschen, die Mangel an Religion für die höchste Tugend erklärten. Ohne daß
+er es merkte und wollte, übten die Religionsspötter doch Einfluß auf ihn,
+als Betbruder zu gelten, däuchte ihm eine Unklugheit und halbe Schande.
+
+Nachdem er in der Zelle genug geflucht, gewüthet und sich den Tod
+gewünscht, begann er zu beten.
+
+Schule, Kirche, gute religiöse und andere Schriften machten einen
+wohlthätigen Eindruck auf ihn, eine herzhafte Generalbeichte wurde der
+Anfang zur Besserung.
+
+Langsam und allmählig, wie der Benedict hochmüthig, leichtsinnig, diebisch
+und liederlich geworden, lernte er Demuth kennen und üben, die Sünden
+zuerst als eine unpraktische Dummheit und dann erst recht als eine
+Beleidigung der Majestät Gottes kennen, die Sehnsucht nach irdischen
+Gütern, Genüssen und Ehren minderte sich, je mehr sich ihm die Gestalten
+des Himmels offenbarten und auf dem Pfade zur Versöhnung mit sich selbst,
+der Welt und Gott ward ihm mannigfache Hülfe.
+
+Hat er nicht einen Briefwechsel mit seinen Geschwistern angefangen, an
+welche er lange Jahre nicht geschrieben? Wurden die Antworten nicht eine
+reiche Quelle des Trostes und der Ermunterung für ihn? Erfuhr er nicht
+unter andern, der Vater habe noch einige Stunden gelebt und Zeichen der
+Verzeihung gegen das Bild an der Wand gemacht, welches den Benedict als
+Hobisten darstellte? Schöpfte der Unglückliche nicht daraus den Trost, der
+Vater habe ihn noch bei Lebzeiten nicht für seinen absichtlichen Mörder
+gehalten?
+
+Am ersten Montage des Septembers 185... wurde Nro. 110 unvermuthet ins
+Besuchzimmer abgeholt. Er schrak ganz zusammen und die Kniee zitterten ihm,
+als er durch die kühlen Gange geführt wurde und erinnerte sich, auf diesem
+Wege sei er in die Anstalt hereingekommen.
+
+Richtig liegt auch das Besuchzimmer im Vorderbau beim Eingange und der
+Gefangene, welcher Besuch empfängt, sieht die Thüre, die ins große
+Zuchthaus hinausführt.
+
+Das Besuchzimmer des Zellengefängnisses ist so eingerichtet, daß der
+Gefangene nicht das Mindeste von den Besuchern in Empfang zu nehmen
+vermöchte, wenn auch gar keine Aussicht vorhanden wäre. Die Leute sehen
+einander mit Mühe, geschweige daß sie sich die Hand zu geben vermöchten und
+die Stimme ist wohl das Hauptsächlichste, woran sie sich gegenseitig
+erkennen. Hausordnungswidrig darf sich auch keine Stimme vernehmen lassen,
+denn zwischen den bis zur Decke eng verpallisadirten Käfigen der
+Besuchenden und des Besuchten steht ein Aufseher, so lange sie zusammen
+reden und diese Aufseher sind ausgewählte, pflichttreue Diener, wie man sie
+wohl selten in einer Strafanstalt beisammen trifft.
+
+Für die übertrieben scheinende und in der That harte Einrichtung des
+Besuchzimmers finden wir nur Einen haltbaren Grund: man will die
+Angehörigen, Freunde und Bekannten der Zellenbewohner von Besuchen
+_abschrecken_.
+
+Dieser Grund ist allerdings haltbar, weil ein Zellenbewohner wahrend seiner
+ganzen Haft mehr oder minder in einem empfindsamen, leicht erregbaren
+Zustande sich befindet und durch nichts leichter als durch Besuche in eine
+gewaltige und manchmal unheilbringende Aufregung versetzt wird.
+
+Wer weiß, welchen Eindruck der jetzige Besuch auf den Benedict gemacht
+hätte, wenn er nicht bereits zum religiösen Halt in sich gelangt gewesen
+wäre!----
+
+Er hat am Besuchzimmer später nichts ausgesetzt, denn er fühlte sich
+unwürdig, den beiden Lieben, welche ihn besuchten, näher zu treten und die
+Hand zu reichen und mußte sich im ersten Augenblicke an einer Pallisade
+halten, um nicht zusammenzubrechen. Standen doch ihm gegenüber der älteste
+Bruder, der Johannesle, welcher Zeuge der allerersten Arretirung in der
+Apotheke gewesen und neben ihm----das Rosele!
+
+Stumm, von seltsamen Gefühlen bewegt, schauten sich diese drei Menschen an,
+so gut es möglich war, dann brachen sie in ein lautes Weinen und Schluchzen
+aus und endlich begannen sie zu reden, anfangs ohne recht zu wissen was und
+wovon. Der Benedict faßte noch zuerst Muth und Besinnung und erzählte ihnen
+sehr Tröstliches von seinem Zellenleben, was die Beiden ruhig machte.
+
+Wie groß und mannhaft ist der Johannesle geworden und jetzt verheirathet,
+wie sehr hat das Rosele gealtert und wie manche Thräne mag über diese
+braunen, gefurchten Wangen geflossen sein! Das Weib des Straßenbasche ist
+todt, doch der alte Mann lebt noch, sie pflegt ihn und ist ledig geblieben
+bis zur Stunde. Der Mensch liebt nur einmal recht in seinem Leben, alles
+Späterkommende ist mit Lumperei vermischt!--
+
+Daheim im Dörflein hat das Jahr 1848 die rothe Schwitt vollständig ans
+Ruder gebracht und der Willibald ist Obmann des Sicherheitsausschusses
+gewesen. Es gab nur Demokraten, welche soffen und schrieen und Einige,
+welche in Winkeln herumkrochen, das Maul hielten und erst nach der Ankunft
+der Preußen auf die frühern "Maulhelden," um deretwillen doch eine Armee
+ins Land rückte und das Pulver nicht sparte, tapfer schimpften. Dafür
+wurden diese Bürgermeister und Gemeinderäthe; nur Einer ging leer aus und
+meinte, er hätte es eher als Alle verdient. Dieser Eine war der Sohn des
+alten, längst vermoderten Fidele, der Max vom Rindhofe, der Taufpathe der
+rothen Schwitt.
+
+Dieser Taugenichts, an welchem übrigens ein Heli von Vater, eine dem
+positiven Christenthum bereits entfremdete Schule und vor Allem schlechtes
+Beispiel Vieles versündiget, hatte die Zukunft der rothen Schwitt als
+Anführer derselben anticipirt, bevor die Februarrevolution ausbrach und
+alle Rothschwittler und Rothschwittlerinnen des Landes zu Ehren brachte.
+
+Den gewöhnlichen Weg vom leichtsinnigen Müßigänger zum genußwüthigen
+Lumpen, von diesem zum kleinen und allgemach zum großen Verbrecher und
+entschiedenen Feinde Gottes und der Menschen durchmachend, lernte Max das
+Innere vieler Wirthshäuser, Spitäler und Gefängnisse kennen und benahm sich
+im Heimathdörflein so, daß selbst die ärgsten Rothschwittler nicht gerne
+mehr mit ihm sich abgaben.
+
+Seit den Märztagen führte der Willibald das große Wort im Dörflein, das
+sich wie an den meisten Orten in drei Parteien theilte, nämlich in eine
+lärmende und herrschende, in eine feigherzig schweigende und unentschlossen
+abwartende und endlich in die Windfahnenpartei, welche sich heute zu dieser
+morgen zu jener neigte, heute das einige Deutschland und den Großherzog,
+morgen die Republik hochleben ließ.
+
+Mit Max hielten es nur einige Schnapslumpen und Solche, welche auch bereits
+aus Erfahrung wußten, wie Gefängnißsuppen und Zuchthausbrod schmecken. Das
+Dörflein hat während der langen Abwesenheit des Benedict traurige
+Fortschritte in Liederlichkeit und Verarmung gemacht, trotz den
+Anstrengungen derer vom alten Schrot und Korn und der Jungen der schwarzen
+Schwitt seinen guten Ruf jährlich mehr eingebüßt und ist das Haus des
+Brandpeterle nebst einigen andern aus einer Schule der Laster zur
+Verbrecherschule geworden.
+
+Was man wenig überlegt und selten gelten lassen will, nämlich die Mitschuld
+der Gesellschaft an den Verbrechen der Einzelnen ließe sich gelegentlich
+dieses Dörfleins bis ins Einzelnste nachweisen, mit Namen, Thatsachen und
+sogar mit Zahlen belegen und spielte der Name eines Pfarrverwesers der
+Nachbarschaft dabei leider eine ebenso erhebliche als unläugbare Rolle. Wir
+können uns hier nicht näher darauf einlassen und melden zunächst nur, daß
+die Lumpen und Schlechten begreiflicherweise der Gesellschaft und dem
+Staate nicht einige Mitschuld, sondern übertreibend die Hauptschuld an
+ihren Lumpereien, schlechten Streichen und Verbrechen aufbürdeten und beim
+Ausbruche des Lärmes freudenroth und blutigroth schillerten und redeten,
+weil sie vermeinten, nunmehr sei das goldene Zeitalter der "Bürger" Schurk
+und Compagnie vor der Thüre und bereit waren, Alles zu thun, was ihren
+alten Gegnern zuwider und arg und ihren Wünschen entsprechend war.
+
+Doch der Willibald trat sogleich an die Spitze der Liberalen, die in einer
+Woche zu vollblütigen "Demokratern" wurden und statt mit dem Max und dessen
+engern Freundeskreis zu fraternisiren, warf man ihm die bittere Wahrheit
+haufenweise ins Gesicht und durfte in Gegenwart der alten Freunde kaum ein
+Gläslein im Hirzen trinken, ohne in Gefahr und wegen seines bösen Maules
+manchmal in den Fall zu gerathen, eine unfreiwillige Reise durch die Luft
+zu machen. Der Max, darob erbost, liebäugelte einige Zeit mit den alten
+Freunden seines Vaters, welche aus ruhigen Bürgern zu heillosen
+"Aristokraten" geworden. Diese machten es ihm gerade wie die Windfahnen;
+sie scheuten sich, ihm und seiner Sippschaft offen entgegenzutreten und
+ließen sich nur durch die Unverschämtheit, mit welcher er Jeden mit "Du"
+und "Bürger" anredete, in die Häuser eindrang und schmarotzte, zuweilen
+bewegen, ihm nicht mit schweigender Verachtung zu begegnen, sondern gleich
+den Demokratern mit Dreschflegeln zu winken.
+
+Kurz und gut, der redegewandte Max mit den Seinigen gelangte zu keinem
+Einfluß, fand Alle gegen sich und schimpfte heidenmäßig auf Alle. Als im
+Spätjahr 1848 die Nachricht kam, wie Struve im Interesse der Freiheit,
+Bildung und des Wohlstandes _Aller_ im Oberland die _Einzelnen_
+traktire, Beamte in Ketten schlage, ganzen Dörfern mit Brand und Mord
+drohe, Einzelne fange, Gelder des Staates einsäkle und zahmgewordenen
+Kammerlöwen mit dem Sarras winke, um sie zu patriotischen Liebesgaben an
+die soziale Republik aufzumuntern, da schwoll dem Max das Herz in
+freudigbanger Erwartung, seine Sippe steckte die Köpfe zusammen, die
+Demokrater kratzten hinter den Ohren, die Aristokrater ließen schwere
+Seufzer fahren und gruben Nachts Löcher im Keller, die Windfahnen
+vertilgten mehr Wein, Bier und Schnaps als je, um beim etwaigen Einzuge des
+"Statthalters und der Statthalterin" dauerhafte Gurgeln zum
+Vivathochschreien zu haben.
+
+Leider machte ein regnischer Sonntag im September den frühlingshaften
+Ahnungen der Rothen, Röthern und Röthesten des Ländleins durch die
+"Schlacht" bei Staufen ein Ende und als der Max gar erfuhr, daß Struve in
+der Nacht mit der Eisenbahn als Gefangener durch die erste Provinz seines
+Reiches gesaust, da rief er in tiefem Schmerz:
+
+"Mit Deutschlands Einheit ist's Mathäi am Letzten. Das Parlament läßt nicht
+hängen und köpfen, der deutsche Michel läßt seine besten Männer besiegen,
+die Elsässer halten uns mit ihren Pralereien zum Narren, rächen wir uns an
+der schwarzen Schwitt, denn diese trägt an allem Schuld!"----
+
+Gesagt, gethan. Er stand mit einigen Kameraden dem Willibald als einem
+Abtrünnigen und "Aristokrater" auf den Weg, sie schlugen denselben halbtodt
+und nahmen sich das Trinkgeld dafür aus seiner Tasche. Schon einige Stunden
+später saßen Alle im Amtsthurme, doch der Rädelsführer fröhlich und guter
+Dinge, denn erstens war die Kerkerkost besser als in friedlichen Zeiten,
+zweitens hegte er keinen Zweifel als politischer Verbrecher behandelt,
+beurtheilt und, amnestirt zu werden und drittens dann als politischer
+Märtyrer etwas einträglichere Geschäfte als bisher machen zu können.
+
+Die Untersuchung währte sehr lange; die Richter empfanden damals große
+Scheu, irgend einem Sohne des souveränen Volkes Unrecht anzuthun und
+beliebäugelten das Individuum im Spiegel der Allgemeinheit. Doch nach der
+Mairevolution erwachte der alte Heldenmuth und eine niegesehene Rührigkeit
+im Verurtheilen und der Max spazirte als Räuber dahin, wohin er gehörte.
+
+"Er hat's noch nicht abgesessen und lebt unter Einem Dache mit Dir!" schloß
+der Johannesle; siedendheiß fuhr es dem Benedict durch die Glieder, denn
+der alte Schwarzschwittler regte sich in ihm und konnte es nicht lassen,
+mit dem Haupte der rothen Schwitt am gleichen Ziel angekommen zu sein und
+unter Einem Dache zu leben.--
+
+Nach vielen Herzkäfern und Schulkameraden, deren Stolz und Freude er
+dereinst gewesen, wagte er gar nicht zu fragen, denn der Johannesle besaß
+keinen Funken jenes Taktes, mit welchem Besucher mit Zellengefangenen reden
+müssen, wenn sie denselben keine schweren Stunden und schlaflose Nächte
+bereiten wollen und das Rosele war etwas schweigsam und kurz.
+
+"Hab' oft für Dich gebetet, Benedict und will für Dich jetzt täglich in die
+Frühmesse gehen. Was ich nicht über Dich vermochte, vermag am Ende dieses
+wunderliche Haus noch am besten!--Sei getrost, der alte Herrgott lebt noch
+und weiß, was für Dich gut ist und die großen Herren sind besser als die
+kleinen. Betrübe Dich nicht zu sehr, weil Du da sitzest, denn daheim und im
+Lande sieht es so aus und geht es so zu, daß auch ordentliche Leute
+manchmal fast froh wären, hier oder doch tausend Stunden vom Rhein weg zu
+sein und Maxes alte Kameraden erzählen genug, wie man im Zuchthaus
+ungeschorener und besser lebe als in der Freiheit!"--
+
+"Viele, die selbst mitmachten, sind jetzt die ärgsten Anzeiger und
+Leuteschinder; wenn man's sieht, wie das Land ausgefressen und ausgesogen,
+dem Armen das letzte Leintuch unter dem Leibe weggerissen wird, weil der
+"Vollstrecker" oder der Staat Geld braucht und wie nirgends Zutrauen und
+Verdienst zurückkehren wollen, da wunderts Einen nicht, weßhalb Tausende
+jetzt auswandern nach Amerika. Am Ende kommst Du auch noch hinein,
+Benedict, denn seitdem die Gemeinden und der Staat Solche, die im Zuchthaus
+gewesen wegen Stehlen und Rauben, mit den Politischen nach Amerika
+spediren, geht das Gerede, alle Zuchthäuser würden allgemach geleert und
+der Befehlshaber von Amerika habe herausgeschrieben, man solle ihm doch
+alle Arrestanten schicken, weil es an Händen fehle zum--Arbeiten!"
+
+Benedict schüttelte etwas ungläubig den Kopf und meinte:
+
+"Für mich gibts keine irdische Hoffnung mehr!--Ich habe schon an Dir,
+Rosele, mein Loos verdient, weil ich Deine einst so treue Liebe so
+mißachtete und mißhandelte!--Ich möchte nicht einmal wieder unter die
+Menschen, denn was habe ich zu erwarten? Gutes wenig, sei es im Badischen
+oder in Amerika. Lebewohl, Liebe, bete für mich und denke, daß ich endlich
+doch hier ein anderer Mensch werde!"
+
+Rosele fuhr mit der Schürze über die Augen, winkte dem Unglücklichen noch
+einmal mit der Hand und wandte sich nach der Thüre, während Johannes einen
+Besuch im nächsten Jahr nach der Erndte versprach, falls diese gut ausfalle
+und ziemlich kühl Behütegott sagte.
+
+Der Benedict hat sich eine Minute an den Pallisaden gehalten, als die
+Beiden gingen, hat gezittert und sich schier die Lippen wund gebissen, um
+nicht laut aufzuschreien. Doch ist er seiner selbst Meister geworden und
+still in seine Zelle zurückgekehrt, wo er auf die Kniee fiel und Gott ein
+heiliges Gelübde machte.
+
+Seitdem ist er allgemach zu einem rechten Christenmenschen geworden, hat
+tief in sich hineingeschaut wie selten Einer und ernsthaft an seiner innern
+Läuterung gearbeitet, so daß er nunmehr alle Leiden um Christi willen
+freudig trägt.
+
+Und wenn heute der herzensgute Fidele vom Grabe auferstünde und seinen
+Einzigen im grauen Kittel in der Zelle sähe, so würde sein Schmerz durch
+die Freude überwogen, in diesem zwar einen Verbrecher, aber einen
+_gebesserten_ Verbrecher zu finden.
+
+Der Max vom Rindhofe hat in der Zelle auch Gelegenheit erhalten, über sich
+selbst lange und ernstlich nachzudenken und sich selbst gründlich kennen zu
+lernen. Selbsterkenntniß aber ist und bleibt der Anfang aller Weisheit.
+Könnte man alle Menschen gleich den Zellenbewohnern zum Nachdenken
+_zwingen_--die Erde hörte auf, ein großes Zuchthaus zu sein und der
+Streit, ob man Mitmenschen pennsylvanisch, auburnisch oder nach der alten
+Methode drangsaliren müsse, damit die Gesellschaft sicher sei, würde als
+Kennzeichen einer rohen und barbarischen Zeit betrauert werden.
+
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+#AUS DEN BRIEFEN DES SPANIOLEN.#
+
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+#VORBERICHT.#
+
+
+Der Spaniol ist ein alter Bekannter aus dem ersten Theil und hat vielleicht
+mancher Leser schon zu erfahren gewünscht, wer und woher er wohl und wie es
+ihm bisher ergangen sein möge. Einerseits Revolutionär als Grundsatz,
+gehört er anderseits schon vermöge seiner höhern Ausbildung und gewaltig
+hohen Verbildung den höhern Volksklassen an.
+
+So unrichtig es wäre, denselben als eine erdichtete Person zu betrachten,
+so sehr bitten wir auch, in ihm den Ausdruck einer großen Klasse von
+Menschen zu sehen, welche mehr oder minder bewußt und weitgehend dem
+Spaniolenthum huldigen. Seine Geschichte ist eine lange, lehrreiche und
+traurige. Statt ihrer geben wir nur Auszüge und dazu noch
+_umgearbeitete_ Auszüge aus Briefen des Helden.
+
+Warum?
+
+_Erstens_ erfordert eine _lange_ Geschichte viel Druckpapier,
+noch mehr Schreibseligkeit und am meisten Geduld beim Leser. Der Herr
+Verleger besitzt zweifelsohne Papier genug, aber die Zuchthausgeschichten
+sind schon ihrem Inhalte nach etwas dick und sollen mindestens der Form
+nach nicht allzudick werden, damit sie sich leichter Platz machen in der
+elenden Zeit. Ferner hat möglicherweise schon Mancher gedacht, der
+Verfasser müsse ein recht schreibseliger Mensch sein, zumal er sich
+zuweilen wiederholt, allein Ein Beweis vom Gegentheil wird durch großartige
+Beschneidung der Geschichte des Spaniolen geliefert und manche Wiederholung
+mit der Furcht entschuldigt, daß der Leser diese Schrift als eine
+vorzugsweise für Unterhaltung berechnete ansehe, mit der Erfahrung, daß
+Kopfzerbrechen und Nachdenken keine Lieblingsleidenschaft des Publikums
+sei, mit der Gewißheit, daß man gewisse Dinge nicht oft genug sagen könne
+und vor Allem mit Vertrauen auf die berühmte deutsche Tugend der Geduld.
+
+_Zweitens_wäre die Darstellung der innern Entwicklung und äußern
+Schicksale des Spaniolen sehr lehrreich und wohl auch unterhaltend, allein
+der genauem Veröffentlichung stehen größere Bedenken entgegen als bei allen
+übrigen in dieser Schrift vorkommenden Geschichten. Daß wir es dadurch mit
+Rezensenten, Schön-, Schwarm- und Rottengeistern der Gelehrtenrepublik, ja
+mindestens mit drei Viertheilen der Welt verdürben, wäre noch leicht zu
+verdauen. Wir fragen so wenig nach allen Interessen unserer Person als nur
+immer möglich und weil es auf dem unvermeidlichen Totenbette doch Eins ist,
+ob man sein Lebenlang Champagner oder Batzenvierer getrunken,
+Havannahcigarren oder Pfälzerkneller geraucht und auf Eiderdunen oder auf
+einem Spreuersack Nachts schnarchte, so würden wir uns nicht einmal
+sonderlich grämen, wenn man uns eines schönen Tages zum zweitenmal, aber
+dießmal um einer _guten heiligen_ Sache willen an der Cravatte packte;
+wenn diese dadurch gefördert würde, könnte die winzige Person darob ganz
+fröhlich zu Grunde gehen.
+
+Allein nicht unsere Person, sondern die des Spaniolen müssen wir
+verschleiern und diese auch weniger um ihretwillen, sondern wegen anderer
+Leute. Wir müßten nolens volens Vieles dichten, dürften Namen von Orten und
+Personen, Zahlen und manche Thatsachen nicht laut werden lassen, ohne
+Anstoß und Schaden zu verursachen und müßten dieselben doch laut werden
+lassen, um gehörige Lichtfunken in die dunkle Geburtsstätte des
+Spaniolenthums zu werfen. Solcher Widerspruch ist schwer zu lösen.
+
+Dagegen bietet die Geschichte unseres Helden Anknüpfungspunkte und
+Thatsachen in Menge, um mindestens nachzuweisen, wie weit die
+Entchristlichung aller öffentlichen und gesellschaftlichen Zustände, die
+Protestantisirung des katholischen Volkes gedieh und wie namentlich das
+katholische Erziehungswesen kaum Spuren von christlichem geschweige
+kirchlichem Geiste an sich trug in einer Zeit--welche in manchen Gegenden
+noch nicht zur Vergangenheit geworden. Gegenwärtig, wo es Tausenden
+einleuchtet, wohin die Entchristlichung der Völker und die
+Protestantisirung katholischer Christen führe und wo aus den Denkschriften
+der Oberhirten der oberrheinischen Kirchenprovinz ein Wächterruf des
+Himmels an sämmtliche Dusler unter dem Monde erklingt, da wird es Pflicht,
+alle Kraft aufzubieten, um einer bessern Zukunft eine Gasse machen zu
+helfen.
+
+Die Geschichte des Spaniolen enthält Thatsachen genug dafür, wie es lange
+Jahre namenlich mit dem _Erziehungswesen_ in einem Lande aussah, von
+dessen Bewohnern zwei Drittheile katholisch getauft worden. Wir wählen
+diejenigen heraus, für welche wir im Nothfalle einstehen können, sei es,
+daß wir mit Andern Aehnliches oder ganz Gleiches erlebten oder Beweise
+beizubringen vermögen. Erkenntniß der Fehler ist der Anfang zum
+Besserwerden. Nebenbei soll Anderes, wenn auch nur flüchtig berührt werden,
+was darauf hinzielt, dem Staate und der Kirche mindestens mit gutem Willen
+beizuspringen und wenn dieser oder jener Punkt katholisch getaufte
+Museumslazzaroni, Gänsekielimperatoren, Säbelbedienstete, Volksbildner und
+Kleinbubenprofessoren, Kammerzeuse und andere Giganten der Aufklärung und
+Bildung ärgert oder in gelinde Wuth versetzt, so wissen wir keinen bessern
+Rath, als daß diese Herren das Buch mit fachgemäßer Entrüstung an die Wand
+werfen, den Spaniolen für einen pechschwarzen Demokraten und seinen
+Briefsteller für alles Mögliche halten, was ihnen just einfällt und
+beliebt.
+
+Heilsamen Verdruß unter Namenchristen zu erregen, halten wir für großes
+Verdienst.
+
+_Drittens_ endlich ist die Geschichte des Spaniolen eine sehr
+_traurige_. Nun kann man zwar dem Schmerz eine Schellenkappe aufsetzen
+und in Trauermusik recht freundliche und lustige Stellen einflechten, zudem
+hat der Held über seine eigene Geschichte genug gelacht und es dauerte
+gewaltig lange, bis er zur Einsicht kam, seine Geschichte sei Eine zum
+Weinen--doch es gibt Schmerzen und Musiken, die sich mit Schellenkappen
+nicht vertragen und wo aus dem lustigen Aufjauchzen das tiefe innere Wehe
+nur noch herber heraustönt und der Spaniol ist ein ernster Christenmensch
+geworden, der nur mit einer ernsten Lebensbeschreibung zufrieden sein
+könnte. Damit nun vorliegende Briefe und der Schluß der
+Zuchthausgeschichten nicht gar zu traurig ausfallen, sind dieselben aus der
+Zeit genommen, wo der Held derselben nicht mehr in der Zelle zu B. und
+nicht mehr in dem engen, schwülen Kerker ungläubigen Aberglaubens seufzte,
+sondern wiederum den Wanderstab ergriffen hatte und wenn nicht im Himmel
+des Kinderglaubens, doch im Vorparadiese eines durch Nachdenken und Gebet
+neuerrungenen Glaubens an Christum den Gottessohn und die
+menschheiterlösende Mission der Weltkirche Jesu Christi weilte. Was den
+Inhalt der Briefe betrifft, so verhalten wir uns zu denselben wie ein guter
+Rathsherr zu den Ansichten seines Bürgermeisters. Wir nicken abwechselnd Ja
+und rufen: Einverstanden!
+
+ * * * * *
+
+#I.#
+
+ * * * * *
+
+--Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn man eine lange Reihe von Monden
+keinen Schritt ohne Ordre und Wächter thun darf, eingezwängt in den
+eintönigen Gang einer unerbittlichen Hausordnung und in den kleinen Raum
+von 8 Schritten Länge und 4 Schritten Breite, welchen eine Zelle einnimmt.
+Freilich gewöhnt sich der Mensch daran, eine Art Maschine zu werden und das
+eigene Wollen mehr oder minder aufzugeben; die anfangs beengende Zelle
+erweitert sich allmählig und wird aus einem öden Behälter zum freundlichen
+Stübchen, in welchem man sehr glückliche Stunden zu leben vermag--doch wie
+viele düstere und wildbewegte Tage, wie viele bange und verzweiflungsvolle
+Nächte muß man durchleben, bis es so weit kommt, einen Schimmer äußern
+Glückes zu genießen! Wie Alpdruck lastet die Einsamkeit auf dem Gemüthe und
+erdrückt jede frohe Regung in den ersten Monden der Haft. Später kommt das
+Nachsinnen und Nachbrüten, die Zelle bevölkert sich mit alten Gestalten der
+Vergangenheit, sie weisen die Schuld unserer Leiden von sich ab und auf uns
+selbst, der Teufel und der Engel in uns beginnen ihre geheimnißvolle
+Zwiesprache und diese Zwiesprache steigert sich zum folternden,
+herzzerreißenden Streit und verzweiflungsvollen Kampfe. Unentschieden wogte
+in mir der Kampf und Streit, erst am Ende des zweiten Jahres wurden die
+Stunden seltener, in denen der Böse mir gräßliche Gedanken, finstere
+Entschlüsse, blutige Hoffnungen in die Ohren flüsterte und ich tagelang der
+Gesellschaft Jenes mich erfreute, der Allen Alles werden kann und soll und
+im Grunde der einzige wahre Freund bleibt, welchen der Mensch auf dieser
+Welt zu erwerben vermag.
+
+Wo Er weilt, herrscht Friede und Seligkeit, wo Er fehlt, Unruhe und Qual.
+Dies ist in allen Menschenwohnungen der Fall, doch der Zellengefangene
+empfindet es lebhafter als jeder Andere, weil ihm die zahllosen
+Zerstreuungen fehlen, durch welche die Freien das bange Herz in süße
+Gedankenlosigkeit einwiegen.
+
+Die Freien, welche Ironie!--Die äußere Freiheit bleibt für den Herrn des
+größten Thrones und für den Bürger der freiesten Republik leerer Schein,
+hohle Redensart, wo die innere fehlt. Es gab und gibt wohl noch Könige,
+abhängiger und elender als der verlassenste Bettler ihres Reiches, und
+Gefangene, freier und glücklicher als die Gesetzgeber des freiesten
+Staates. Innere Freiheit ist die Quelle der äußern. Ein Volk, unter welchem
+viele innerlich Freie sich befinden, kann keine schlechte Regierung haben
+und von vornherein niemals in die scheinbare oder wirkliche Notwendigkeit
+versetzt werden, sich gegen dieselbe aufzulehnen und zu empören.
+Revolutionen sind Zeugnisse für tiefgehende Krankheiten der Völker und
+Folgen unbehaglicher Zustände, welche durch die Krankheiten ins Leben
+gerufen wurden.
+
+Und krank, sterbenskrank ist unsere Zeit; sie liegt darnieder am Mangel an
+innerer Freiheit, näher am Mangel an positiver Religion und am Ueberflusse
+an einem Heidenthum, das weit ärger ist als das alte, weil man es kein
+unbewußtes und argloses nennen darf. Es strebt den ganzen Organismus des
+Staatslebens und der Gesellschaft zu vergiften und hätte denselben seit 300
+Jahren schon mehr als dreimal vergiftet und ertödtet, wenn nicht die Kirche
+gegen alle Angriffe und Verfolgungen kirchlicher und politischer
+Revolutionen Stand gehalten hätte.
+
+Doch--ich gerathe wieder auf Dinge, von welchen ich mindestens diesmal
+nicht reden wollte. Es ergeht mir wie alten Soldaten und den meisten
+Fachmenschen, welche jahraus jahrein von ihren Feldzügen und Geschäften
+reden und unwillkürlich immer wieder darauf gerathen, ob sie wollen oder
+nicht. Sollte ich mich entschuldigen, so wüßte ich nichts anzuführen, als
+daß ich eben leider ein entschiedener und im Kampfe nicht unerfahrener
+Soldat des Heidenthums gewesen und dadurch zum Verbrecher geworden bin.
+
+Mein Herz zittert, sobald ich länger bei diesen Erinnerungen verweile. Sie
+liegen hinter mir als ein langer, banger Fiebertraum voll von gräßlichen
+Gestalten, drohenden Gefahren und niederschmetternden Erinnerungen. Ich
+weiß, daß du mir verzeihest und Dank weißt, wenn ich später über die
+Nachtseiten meines Lebens rasch hinwegeile. Es geschieht nicht, weil ich
+mich des Bekenntnisses, sondern weil ich mich meiner Verirrungen und Sünden
+schäme--mich selbst verachten und Gottes Barmherzigkeit anstaunen muß, der
+einen Unhold meiner Art zu sich rufen und aus einer Art moralischem
+Ungeheuer, dessen größte Tugend im Stolze auf seine Ungeheuerlichkeit
+bestand, wiederum zu einem Menschen, zu einem Christen werden ließ. Er
+würde es wohl nicht gethan und als gerechter Gott mich den Folgen meiner
+Unthaten überlassen haben, wenn nicht Er am besten gewußt hätte, daß
+weniger Selbstsucht als verwundete und verkehrte Liebe für meine
+Mitmenschen und nicht Bosheit, sondern frühgenährte Eitelkeit des Herzens
+mich auf einem Wege forttrieben, auf welchen ich mich nicht selbst brachte,
+sondern als Kind darauf gebracht wurde.
+
+--Ja, einen großen Theil meiner Schuld schiebe ich keineswegs mit dem
+höflichen Dichter den Gestirnen zu, sondern muß und darf meine Eltern,
+Lehrer und die Gesellschaft überhaupt dafür verantwortlich machen. Dabei
+vergesse ich nicht, daß Eltern unter allen Umständen Eltern bleiben und daß
+die meinigen hinsichtlich ihrer natürlichen Gaben und thätigen Liebe für
+uns Kinder vortreffliche Menschen waren. Ich muß dieselben mit mir beklagen
+und nicht minder meine Lehrer, welche als Söhne und Träger der Bildung
+einer dem positiven Christenthum abholden und feindseligen Zeit eben auch
+zu dem gemacht worden waren, was sie aus mir und meinen Mitschülern
+machten: _Namenkatholiken, Unchristen, Heiden._
+
+Man sollte vermeinen, Eltern und Lehrer in christlichen Staaten erachteten
+es für die erste Pflicht, junge Seelen Christum kennen und lieben zu
+lehren, die Glaubenssätze und Gebräuche der Kirche so gründlich als möglich
+zu erklären und denselben handelnde Christen in ihrer Person zu zeigen.
+Solch heilige Pflicht wäre nicht allzuschwer zu erfüllen. Das Kind faßt
+Christum, weil sein Gemüth reine Liebe begreift und die natürliche Liebe,
+welche es für seine Ernährer und Lehrer empfindet, bildet die
+Uebergangsbrücke der übernatürlichen Liebe zum Himmlischen und Göttlichen.
+Ferner wären dogmatische Auseinandersetzungen für Kinder zwar unnütz, denn
+das Kind zweifelt nicht, sondern glaubt und vertraut und der erstarkende
+Verstand entwickelt mit der Zeit aus dem lebendigen Glauben an den
+Gottessohn alle Glaubenssätze als bloße Folgerungen aus jenem Glauben von
+selbst, doch eine oft wiederholte Erklärung aller Gebräuche der Kirche, in
+deren kleinsten eine unendlich tiefe Bedeutung liegt, sollte eben so sehr
+zur Obliegenheit der Eltern als der Lehrer werden. Endlich sind die meisten
+Erzählungen vom Leben der einzigächten Helden der Menschheit, der Helden
+des sittlichen Willens, nämlich der Heiligen für jedes Kinderherz so
+verständlich, anziehend und rührend, daß in keinem Hause eine
+Legendensammlung fehlen und nirgends dieselbe bestäubt in einem Winkel
+liegen sollte. Zuletzt liegt in der Befolgung der Vorschriften unserer
+Religion der ächte Stein der Weisen, das Geheimniß des zeitlichen und
+ewigen Glückes und wenn Eltern und Lehrer nicht einmal an ihre Kinder und
+Schüler, sondern nur an sich selbst und ihren handgreiflichen Nutzen, nicht
+an das Jenseits, sondern nur an den Augenblick und das Irdische dächten,
+würden sie darnach _streben_, ihren Kindern handelnde Christenmenschen
+zu zeigen, durch eigenes Beispiel zur Nachahmung reizen und an das Gute
+gewöhnen.
+
+Zu all diesem gehört keine besondere Gelehrsamkeit, es kostet nicht viele
+Zeit und würde eher zu Ersparnissen als zu Ausgaben verhelfen.
+
+Allein wie sieht es in protestantischen und katholischen Familien und
+Schulen mit der Pflege des Christenthums aus?
+
+Gibst du nur den einzigen Satz zu, daß ein Christenthum ohne einen
+Gottessohn ein leeres Gerede sei, hinter welchem sich ein mit christlich
+klingenden Redensarten verbrämtes Heidenthum breit macht, so wird den Satz
+Niemand umstoßen können, daß bei weitem in den meisten Häusern und
+Schulstuben das heranwachsende Geschlecht zu Heiden statt zu Christen und
+weit eher für Wirthshäuser, Spitäler, Irrenanstalten und Gefängnisse denn
+für ein glückliches Familienleben, weil für die Kirche und den Himmel
+herangezogen werde.
+
+Ich bin ein trauriges Beispiel dafür geworden. So wenig meine Erziehung in
+Haus und Schule einigen Antheil am Verdienste meiner Rückkehr zum Glauben
+besitzt, ebensowenig verhindert sie bei vielen Tausenden, daß diese werden,
+was aus mir, dem Liebling der Eltern und Lehrer, geworden.
+
+Pietät verbietet mir, meine leiblichen Eltern von einer ungünstigen Seite
+zu schildern. Kinder ihrer Zeit und Opfer der Weisheit der Zeit, trug
+Alles, was angeborne Herzensgüte des Vaters und Sanftmuth der Mutter,
+günstige Lebensverhältnisse und erfahrne Weltklugheit bei ihnen vermochten,
+nicht genug zu einem dauerhaften häuslichen Glücke, wenig zum Gedeihen der
+menschlichen Gesellschaft und noch weniger dazu bei, denselben in der
+Todesstunde Trost und in den Augen Gottes besonderes Ansehen zu
+verschaffen. Und meine Eltern gehörten nicht nur zu den angesehensten und
+gebildetsten, sondern in der That zu den edelsten Persönlichkeiten meiner
+Vaterstadt, wie meine Lehrer zu den kenntnißvollsten und besten des Landes.
+
+Der Vater war Arzt; ein religiös gesinnter Arzt ist wohl heute noch so
+selten denn ein gläubiger Jurist, ein frommer Lieutenant oder ein
+gottbegeisterter Handlungsreisender. Er besuchte die Kirche nur am
+Geburtsfeste des Landesherrn und galt als feiner, aufgeklärter Kopf, der
+wenig redete und mindestens vor uns Kindern niemals gegen die Religion und
+selten genen [gegen] diesen oder jenen Geistlichen zu Felde zog. Er
+überließ das Beten, Kirchengehen und die religiöse Erziehung seiner Kinder
+der Mutter und den Lehrern. Diese glaubte aufrichtig an einen _Gott_,
+aber weder an den Jehova des alten noch an den dreieinigen des neuen
+Bundes, sondern an den Gott innerhalb der Grenzen der Vernunft, an den des
+Zeitgeistes, der seine Bibel in den "Stunden der Andacht" gefunden. Er
+spielt in der Geschichte unseres Geschlechtes und im Leben des einzelnen
+Menschen genau dieselbe Rolle, wie ein gutherziger Onkel oder schwacher
+Vater irgend eines Theaterstückes, worin ein leichtsinniger Sohn oder Neffe
+einen dummen und schlechten Streich nach dem andern macht, den guten Alten
+auf jede beliebige Weise ärgert und quält und am Ende von allerlei Noth
+getrieben liebend und vertrauend in die stets ausgebreiteten Arme des
+Gerührten sinkt.
+
+Man könnte diesen Gott den absoluten Heli nennen, der so oft vom Stuhle
+fällt und stirbt als es dem Menschen beliebt gegen den Willen desselben zu
+handeln.
+
+Meine Mutter glaubte auch an _Christum_ und würde Straußens mythische
+Nebelgestalt oder gar Daumers Menschenfresser mit Abscheu zurückgewiesen
+haben--aber _ihr_ Christus war nur ein liebenswürdiger, großer
+Wohlthäter des Menschengeschlechts, den die gottlosen Juden peinigten und
+kreuzigten, weil eben Juden nichts von Weisheit, sondern nur das Geldzählen
+und Dukatenbeschneiden verstanden und schon damals Jeden der Ihrigen
+verfolgten, der für die benachbarten Gojims ein zu lautes Wort einlegte.
+Daß das Menschengeschlecht wegen des unschuldigen Apfelbisses in Ungnade
+gefallen, blieb ihr so unbegreiflich als die Nothwendigkeit, daß sich ein
+Schuldloser für das Menschengeschlecht mit Erfolg opferte.
+
+Der Gedanke, daß Gottes eigener Sohn auf dieses armselige, winzige
+Erdenpünktlein herabgestiegen sei, um sich zum Schlusse eines armseligen
+und verfolgten Lebens als ohnmächtiger Mensch kreuzigen zu lassen, erschien
+ihr bald lächerlich bald empörend, je nachdem sie gerade gestimmt war. Es
+läßt sich begreifen, daß von einem _heiligen Geist_, der einst als
+einfältige Taube am Jordan herumgeflogen, bei meiner Mutter so wenig die
+Rede sein konnte als von der wahrhaften, wirklichen und wesentlichen
+Gegenwart Christi im heiligen Abendmahl. Sie fand wohl Geist in den
+Gedichten Schillers und Anderer, am wenigsten aber in geistlosen
+Catechismen und das heilige Abendmahl galt ihr als eine Art von Zweckessen,
+als Erinnerungsfeier an einen tüchtigen Volksmann. Natürlich vermochte sie
+in der katholischen Kirche, der sie mit Leib und Seele anzugehören
+vermeinte, weder eine vom heiligen Geist geleitete göttliche Einrichtung
+noch den fortgesetzten Christus zu erblicken. Die Kirche galt ihr einfach
+als menschliche, politisch nützliche und kluge Einrichtung und an die
+Stellvertretung Gottes im Priesterstand glaubte sie um so weniger, je mehr
+Bücher über die Gräuel des Mittelalters sie verschlang und je mehr
+Erzählungen vom starkmenschlichen Wandel vieler Geistlichen im Schwange
+gingen.
+
+Sie betete und ging zur Kirche sowohl aus Bedürfniß als aus Gewohnheit. Das
+Bedürfniß war genau dasselbe, welches jeden geistig Gesunden ohne
+Unterschied des Glaubens zum Beten und zur Verehrung eines höchsten Wesens
+antreibt und über die Gründe ihrer Gewohnheit reiflich nachzudenken, dazu
+mangelte Anlaß, Lust und Zeit oder Alles zugleich. Aber--hörte sie am
+Sonntage nicht _positives_ Christenthum von der Kanzel herab
+verkündigen? Wurden nicht katholische Handlungen vor ihren Augen fast
+täglich vorgenommen? Mit dem Predigen des positiven Christenthums war es in
+einer Zeit, wo noch kein Hirscher und Andere den tiefen und innigen
+Zusammenhang zwischen Dogmatik und Moral auseinandergesetzt hatten, bei der
+Bevölkerung mancher Pfarrei übel bestellt. Auch in unserer Stadt gab es
+Geistliche, welche Alles, nur kein _positives_ Christenthum von der
+Kanzel herab verkündigten. Einzelne predigten im Laufe vieler Jahre
+immerhin zuweilen auch Glaubenslehren und meine Mutter wußte den
+Catechismus besser auswendig als ich, denn sie hörte den Kindern manchen
+Morgen nach dem Frühstück noch geschwind die Lektion des
+Religionsunterrichtes ab. Allein es stand vollkommmen [vollkommen] im
+Einklange mit ihren Grundanschauungen, daß sie die Glaubenslehren der
+katholischen Kirche nur als todte Gedächtnißsache inne hatte und den
+Unterschied zwischen Katholiken, Protestanten und wohl auch den Juden als
+Etwas betrachtete, was honetten und _gebildeten Leuten_ unwesentlich,
+zufällig und gleichgültig erscheinen müsse.
+
+Als ob es eine doppelte Wahrheit geben könne, unterschied sie nämlich eine
+Religion für Gebildete, welche über allen mittelalterlichen Aberglauben
+hinaus sein sollten und eine Religion für das gemeine Volk, dessen
+Leidenschaften durch die zwei größten Beweger des menschlichen Herzens:
+Furcht und Hoffnung, näher durch die Angst vor Hölle und Fegfeuer und die
+Aussicht auf die Freuden des Himmels in Schach gehalten werden müßten. Nach
+ihrer Meinung machten alle Geistlichen insgeheim und in Gegenwart von
+Honoratioren denselben Unterschied, schwiegen jedoch aus Klugheit auf der
+Kanzel davon, weil ja gemeines Volk und Gebildete in Einer Kirche saßen.
+Ersteres mußte gläubig erhalten werden, die Honoratioren wußten schon,
+woran sie mit dem Geistlichen waren und wählten aus dem Vortrage heraus,
+was ihren Ansichten entsprach und ihrer Person gerade mundete.
+
+Meine Mutter war eine gute, gescheide Frau, hielt sich ganz ehrlich für
+eine vortreffliche Katholikin und wurde in der ganzen Stadt dafür gehalten,
+weil eben in der ganzen Stadt das ewige Evangelium durch das Evangelium der
+Zeit, der Katholizismus durch den Protestantismus thatsächlich verdrängt
+worden war.
+
+Ob es heutzutage schon um Vieles hierin besser geworden, weiß ich nicht.
+Ich weiß nur, daß die Missionen keine fruchtlose Sache, die Jesuiten
+vortreffliche Prediger sind und daß der Zug der angsterfüllten Zeit bei den
+Bessern ein lebendiges Wechselverhältniß zwischen Gott und Mensch verlangt,
+welches nur durch die positive Religion vermittelt wird.
+
+Aus dem Vorhergehenden ist dir nun sicher klar, daß meine und meiner
+Geschwister früheste religiöse Erziehung uns mit einer für das Leben
+unfruchtbaren Ehrfurcht vor dem Schöpfer Himmels und der Erde, mit einer
+nur sinnlichen Liebe für das hübsche Jesuskindlein, mit dem Geiste der Zeit
+und mit Gleichgültigkeit und frühzeitig genug mit Mißtrauen gegen unsere
+Kirche erfüllte.
+
+Es wäre gut, versuchte Einer einmal die Schilderung des Lebens in einer
+honetten und gebildeten Familie, deren Mitglieder gleich uns dem
+Zeitevangelium huldigten und einer nicht minder honetten und gebildeten
+Familie, welche Jesum Christum kennt und liebt und in der katholischen
+Kirche ihn sinnlich schaut. Meine überreiche Erfahrung böte ihm Stoff
+genug, um alle Dichtung entbehren zu können und das Schriftlein würde
+vielleicht Einiges beitragen, die große und gefährliche Lüge der Zeit, als
+ob positive Religion keinen positiven Einfluß auf das Handeln ausübe und
+deßhalb für das Leben gleichgültig sei, todtschlagen zu helfen. Der
+Katholizismus hat auf den Trümmern der Römerwelt eine neue und bessere Welt
+erbaut, aus Barbaren Menschen und aus Bürgern Christen gemacht und wie oder
+warum oder wann sollte diese weltumgestaltende Religion allen Einfluß auf
+das Leben eingebüßt haben? Freilich sind durch zahllose Bücher und
+zeitgemäße Staatsschulden Millionen Katholiken zu inwendigen Protestanten
+geworden und der Glaube der meisten Protestanten ist von dem der gebildeten
+Griechen und Römer oder auch der naturwüchsigen Germanen nicht sonderlich
+verschieden--aber ist _dieser_ Glaube Christenthum? Klingt es nicht
+wie baarer Unsinn, wenn Heiden uns belehren wollen, das Christenthum übe
+keinen Einfluß auf _ihr_ Handeln und Leben aus?--
+
+Doch ich schweife bereits wieder ab.
+
+Was das Haus übel macht, soll zunächst von der _Volksschule_
+verbessert werden. Wir Kinder wurden daheim zu Helden gemacht; wenn es
+nicht der Fall gewesen wäre, so würde die von mir besuchte Volksschule ganz
+dasselbe bewirkt haben.
+
+Ein gescheidter Mann hat einmal geschrieben. "Katholische Jugend in die
+Hände eines Lehrers geben, der nicht aufrichtig katholisch ist, ist fast
+ebenso thöricht als den Katholiken in ihrer Kirche durch einen reformirten
+Geistlichen oder den Juden durch einen Bischof predigen lassen." Keine
+Behauptung ist einleuchtender als diese. Aber wie stand es mit den
+Volksschulen überhaupt? Man sollte vermeinen, daß in christlichen
+Volksschulen alle Lehrgegenstände soviel als nur immer möglich mit dem
+fleischgewordenen Gottessohn und der Kirche in Beziehung gebracht würden.
+Nur dann hatte die Vielwisserei, womit man seit einigen Jahrzehnten die
+Kinder in Stadt und Land vollzustopfen trachtet, auch einigen Sinn und
+Nutzen. Die Schule wäre eine Ergänzung und Vervollständigung der Kirche und
+ein Hülfsmittel mehr, dem Volke eine klare, allseitige christliche Welt-
+und Lebensanschauung beizubringen. Freilich ist das Einmaleins und die
+Rechenkunst weder christlich noch katholisch, eine vortreffliche
+Handschrift bleibt etwas Gutes, wenn der Schreiber auch noch so wenig taugt
+und die Kinderquälerei mit Sprachlehren bliebe eine solche, wenn auch
+gelegentlich der Satzbildungen, Sprachübung und des Aussatzmachens der
+Lehrer alle Beispiele aus dem Gebiete des kirchlichen und religiösen Lebens
+wählte und wählen ließe. Aber wenn einst die Jesuiten es verstanden, jungen
+Chinesen durch die Geometrie christliche Glaubenssätze wie den der
+Dreieinigkeit beizubringen, so ließe sich am Ende auch nachweisen, es sei
+für einen christlichgesinnten Volksschullehrer nichts Schweres, selbst dem
+Unterrichte im Rechnen und in der Meßkunst eine gewisse religiöse Weihe zu
+geben. Auch ist unläugbar, daß die Schreibbücher der Schüler keineswegs
+verunstaltet würden, wenn man neben den Sittensprüchen, Beschreibungen von
+Thieren und Pflanzen und ähnlichen Dingen etwas positiv Christliches und in
+katholischen Schulen spezifisch Katholisches fände. Was die Sprachlehren,
+Naturlehren, Abrisse aus der Geschichte und andere Zweige des Unterrichts
+betrifft, welche in den Lesebüchern der Volksschulen vorkommen, so verweise
+ich einfach auf sämmtliche Lehr- und Lesebücher, welche seit der Entstehung
+unseres Landes in Volksschulen und höhern Bürgerschulen eingeführt waren
+und frage: wie viele dieser Bücher sind durchweht vom Geiste Christi oder
+gar von dem der katholischen Kirche?
+
+Du wirst vielleicht nicht ein Einziges finden, dessen Inhalt nicht ganz und
+gar durchsäuert wäre vom Geiste jener zeitgemäßen Religion, der meine
+Mutter huldigte und vielleicht mehr als Eines, welches darauf hinarbeitete,
+Gleichgültigkeit, Mißtrauen und Haß gegen die katholische Kirche,
+namentlich durch entstellte Geschichte in die Herzen der Jugend zu säen.
+
+Lebte die Gesinnung ächter Katholiken in den Herzen der Volksschullehrer
+und wären Bücher wie das Lesebuch von Bumüller und Schuster schon zu meiner
+Zeit in den Händen der Kinder des Volkes gewesen--Fürsten und Regierungen
+würden sich wohl einen großen Theil jener grausamen Demütigungen, die
+Völker aber viele Leiden erspart haben, womit sie von Gott besonders seit
+1848 heimgesucht wurden.
+
+Leider dauerte die Entchristlichung der Protestanten und die
+Protestantisirung der Katholiken mehrere Menschenalter bereits in den
+Volksschulen. Wer aber am allerwenigsten dafür verantwortlich gemacht
+werden sollte, das ist der Stand der Volksschullehrer, welchem ich selbst
+längere Zeit angehörte.
+
+Es ist eine wohlfeile Sache, über die Verkommenheit und Haltlosigkeit der
+"Volksbildner" mancher Gegend zu schimpfen und den "Schulmeisterhochmuth"
+zu geißeln. Alles hat seine hinreichende Ursache und wer der Quelle
+nachforscht, aus welchen die Verkommenheit mancher, die Haltlosigkeit
+vieler und der Hochmuth der meisten Volksschullehrer meiner naheliegenden
+Zeit entsprang, wird geneigt sein, dieselben weit mehr zu bedauern als
+anzuklagen. Die Quelle aber ist dieselbe, aus welcher das Unheil der
+Gegenwart überhaupt geflossen. Mangel an positiver Religion oder, was
+zuletzt auf Eins herauskommt, an gründlichem Wissen.
+
+Ich muß bei dir den Schulmeisterton anstimmen und in jenen Pedantismus des
+Schulmeisterthums gerathen, womit Viele gründlich nachzuweisen suchen, daß
+das Wasser naß und das Feuer heiß sei.
+
+Du weißt so gut als ich, daß große Schulmeister auch einmal kleine Buben
+gewesen und getaufte Heiden zunächst in Schulbänken für den Zeitgeist
+herandressirt werden. Schon der Umstand, daß Katholiken, Protestanten und
+Juden gar oft in Einer Schulbank sitzen, muß den Lehrer nothwendig
+abhalten, seinem Unterrichte die Färbung eines Glaubensbekenntnisses zu
+geben. "_Ueber den confessionellen Gegensätzen zu stehen_," ist sein
+Verdienst und ein Ziel seiner Ausbildung. Hand aufs Herz gelegt, gestehst
+du mit mir, das "Stehen über den confessionellen Gegensätzen" sei nichts
+als eine sinnlose Redensart, insofern man dabei noch von Christenthum und
+sogar von kirchlicher Gesinnung redet und nicht minder erlogen wohl das
+Leibsprüchlein der Zeit, daß "die Liebe" keine Unterschiede des Glaubens
+mache und der Mensch über dem Christen stehe.
+
+Wo ist der Geschichtschreiber oder Staatsmann, von welchem sich sagen
+ließe, daß er wahrhaftig über allen kirchlichen und religiösen Partheien
+gestanden, alle gleichmäßig behandelt und sich nicht mehr oder minder
+entschieden _für_ Eine derselben und _gegen_ alle übrigen
+jedenfalls thatsächlich erklärt habe? Und wieviel Aufgeklärte hat es von
+jeher gegeben und gibt es heute, denen die "christliche Liebe" möglich
+macht, gegen politische und kirchliche Gegner gerecht zu sein und in
+denselben den gleichberechtigten Menschen zu achten, geschweige zu lieben?
+
+Nein, so wenig es ein Christenthum ohne lebendigen Glauben an Christum den
+Gottessohn und ohne die von Ihm gestiftete Kirche gibt, so wenig hat auch
+die "christliche Liebe" diejenigen, welche _über_ allen religiösen und
+kirchlichen Partheien zu stehen vermeinten, davor bewahrt, gläubige
+Protestanten und absonderlich die katholische Kirche heidnisch zu hassen
+und zu verfolgen.
+
+Ist's aber hochgelehrten Professoren und erleuchteten Staatsmännern
+unmöglich, _über_ der katholischen Kirche zu stehen, ohne zugleich
+_außerhalb_ und ihr mehr oder minder feindlich _gegenüber_ zu
+stehen, so sollte man es bei uns dem Lehrerstande nicht allzusehr verübeln,
+wenn die meisten Mitglieder desselben das positive Christenthum als etwas
+Geringfügiges betrachten und alles "Pfaffenthum" verabscheuen. Erstens
+nämlich wurden sie von ihren Eltern oder Lehrern oder von Beiden zugleich
+von Kindesbeinen an mehr oder minder für das "reine Menschenthum" erzogen;
+zweitens muß solche Erziehung mit der Zeit oft sehr reichliche Früchte
+eines unreinen Heidenthums tragen, weil ein Lehrer auch Fleisch hat und bei
+uns nur zwei Jahre studirt, später wenig Zeit und Gelegenheit und selten
+Anleitung bekommt, ein Christenmensch zu werden und sich eine gründliche
+Bildung anzueignen. Er bleibt jedenfalls in der Hauptsache bei dem stehen,
+was ihm im Seminar beigebracht wurde und wenn es nun die Religion des
+Zeitgeistes war, womit ihn die Lehrer beglückten, zu deren Füßen er
+treugläubig und bewunderungsvoll saß, wer kann es ihm verargen, wenn er den
+Mangel an positiven Glauben für das sicherste Kennzeichen eines gebildeten
+Mannes hält? Drittens endlich führt ein Volksschullehrer ein an
+Entbehrungen, Mühsalen und Leiden immer reiches Leben und wenn man das
+Treiben manches Pfarramtslazzaroni genauer in Augenschein nimmt und mit dem
+Loose des unter ihm stehenden Lehrers vergleicht, wird man sehr geneigt,
+die Behauptung, daß die Lehrer zu wenig und die Geistlichen zuviel
+Einkommen hätten, nicht sowohl demokratisch und revolutionär als richtig
+und vernünftig zu finden.
+
+Bedenkt man nun, daß der Lehrer im Seminar und durch Schriften mit einer
+höchst übertriebenen Ansicht von der menschheiterlösenden Bedeutung und der
+weltbeglückenden Würde seines Berufes, mit Gleichgültigkeit gegen das
+positive Christenthum und Mißtrauen gegen alles "Pfaffenthum" erfüllt wird,
+vergißt man nicht, daß manche Pfarrämter und Dekanate sich ihre Langweile
+damit versüßen, den unchristlich und unkirchlich erzogenen und
+vielgeplagten Schulmeister kleinlich und boshaft zu schulmeistern und zu
+quälen, so mag man sich über die Leichtigkeit nicht mehr wundern, womit der
+Staat im Interesse des "religiösen Friedens" d. h. der Knechtung der Kirche
+die Schule seit Langem beherrschte und die Jugend für die Staatsreligion,
+d. h. zunächst für Gleichgültigkeit gegen das positive Christenthum erzog--
+ohne in ihr die Säugame [Säugamme] des Heidenthums zu ahnen. Ich weiß ein
+einsames Grab, das an Allerseelen von keiner liebenden Hand geschmückt
+wird. Darunter liegt ein Schulmeister, der sich eine Kugel durch den Kopf
+gejagt und einen Zettel zurückgelassen hat, worin er erklärte, er schieße
+sich todt, weil die "Pfaffen" ihm das Leben unerträglich machten und
+schieße sich im Himmel abermals todt, sobald er dort seine Quälgeister
+wiederum treffe. Solche Erklärung charakterisirt den tiefeingewurzelten
+Haß, welchen Volksschullehrer häufig gegen Geistliche empfinden und ich
+meine, Schüler dieses Lehrers, welche ihn liebten, seien schwerlich große
+Freunde der Geistlichkeit geworden.--
+
+--Das Kind denkt mehr mit dem Herzen, als mit dem Kopfe, der Grundton
+seines Wesens ist Liebe und deßhalb bleibt es auch ein Leichtes, Kindern
+die Religion der Liebe beizubringen. Doch so wenig ich daheim zum Christen
+erzogen wurde, so wenig thaten meine Lehrer dafür und am wenigsten der
+_Religionslehrer_.
+
+Damals gab es nicht viele Jünglinge, welche innerer Beruf zum geistlichen
+Stande trieb. Unter den Studirenden widmeten zumeist Solche sich dem
+Dienste der Kirche, welche zu arm, zu talentlos oder auch zu faul und
+liederlich waren, um etwas Anderes zu werden. Die geistlichen Professoren
+der Hochschulen gingen häufig damit um, eine zeitgemäße Theologie zu
+erfinden, Gottes Wort und Werk nicht sowohl gegen den Witz und Aberwitz der
+Zeit zu vertheidigen als demselben zu unterwerfen. Die Stellung, in welche
+die Kirche zum Staate gerathen, zahlreiche Schriften aus den ersten
+Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, das langdauernde Geschrei um Aufhebung der
+Ehelosigkeit katholischer Geistlicher, skandalöse Vorfälle verschiedener
+Art, vor Allem die gräuliche Unwissenheit in kirchlichen, die weitgediehene
+Verkommenheit in sittlichen Angelegenheiten, über deren Vorhandensein bei
+den untern und mittlern Ständen kein Zweifel mehr herrscht--dies Alles legt
+Zeugniß ab, welche Eroberungen der glaubensfeindliche Geist der Zeit auch
+unter dem Klerus gemacht.
+
+Ich mit den meisten meiner Mitschüler darf mich ein Opfer solcher Zustände
+nennen, insofern wir kaum Einen Religionslehrer kannten, der mit
+Begeisterung, Liebe und Eifer unsere jungen Seelen für Christum zu gewinnen
+und uns einiges Verständniß der Lehren, Gebräuche und Einrichtungen der
+katholischen Kirche beizubringen trachtete. Die einzige Errungenschaft,
+welche ich aus dem Religionsunterrichte der Volksschule gerettet,
+beschränkt sich auf die Erinnerung, wie sauer es mir wurde, die
+unverstandenen Lehren des Catechismus auswendig zu lernen, welch
+schreckliche Langeweile wir oft in der Kirche und während der
+Religionsstunde empfanden und mit welcher Angst und Unwissenheit ich zum
+erstenmal in den Beichtstuhl trat. Mit Angst--weil die Mutter mich
+überredet hatte, der Beichtvater sehe es Jedem an, der eine Sünde
+verschweige oder gar lüge und trage ein scharfes Federmesser bei sich, mit
+welchem er Einem die Zunge stutze. Ich schämte mich meiner Sünden nicht,
+doch fürchtete ich Eine zu vergessen und ein Stück meiner Zunge im
+Beichtstuhle zurückzulassen. Mit Unwissenheit--insofern ich der Gnade des
+Glaubens eigentlich niemals theilhaftig geworden und durch viele Reden der
+Erwachsenen sowie durch die Wahrnehmung, daß bei meinen ältern Kameraden
+die Besserung darauf beschränkt blieb, sich einige Tage nach der Beicht vor
+den Lieblingssünden zu hüten, bereits zum Mißtrauen und Unglauben an diesem
+heiligen Sakramente gekommen war, bevor ich über das Leben und Treiben der
+Erwachsenen reiflicher nachdachte. Frühzeitig wurde ich an religiösen und
+kirchlichen Dingen irre und einer meiner Lehrer hat Namhaftes dazu
+beigetragen. Mein älterer Bruder nämlich wollte geistlich werden, ein
+stiller, gemüthlicher Mensch, den die Eltern und wir nur "das Pfäfflein"
+nannten. Er ging längere Zeit zu einem Vikar, um Latein zu lernen und ich
+bald mit ihm, denn der Vater hielt große Stücke auf mich, behauptete, ich
+werde meinem Alter vorauseilen, den Bruder und Alle überflügeln und müsse
+frühzeitig mit Allem anfangen, was zum Brodkorb führe. Das Versprechen,
+mich aus der Volksschule wegzunehmen, wenn ich meine lateinischen Regeln
+und Unregelmäßigkeiten fleißig erlerne, bewirkte Wunder bei mir und bald
+war ich der ausgemachte Liebling des Vikars. Manchmal unterbrachen
+Gespräche den Unterricht und einige derselben sind mir unvergeßlich
+geblieben. Die Behauptungen: es sei besser ein Schuster als ein
+katholischer Geistlicher zu werden, Rom wolle keine Menschen, sondern
+Sklaven, Christus sei ein großer Weiser gewesen, aber die Finsterlinge
+hätten Seine Lehren verunstaltet--tönen mir noch jetzt in den Ohren. Sie
+fielen mir auf, weil ein Geistlicher sie aussprach. Ich liebte diesen
+Seelenmörder, der heute noch lebt und zur Rongezeit ein Weib genommen
+hat.--
+
+Ziemlich einförmig und glücklich verlebte ich meine Kinderjahre, während
+deren eine im mildesten Ausdrucke höchst mangelhafte religiöse Erziehung
+den Grund zu Dem legte, was später aus mir geworden ist und wogegen mich
+ein stürmisches Temperament, ein brennender Ehrgeiz, herbe Erfahrungen und
+alle Bitterkeiten des Lebens nicht zu bewahren vermochten.
+
+Es ist wahr, meine Geschwister sind so wenig Verbrecher geworden als die
+meisten meiner Schulkameraden. Doch an meiner Stelle würden sehr Viele ein
+ganz anderes Schicksal gehabt haben, als dessen sie sich erfreuen. Und ist
+Einer schon ein brauchbares und nützliches Mitglied der menschlichen
+Gesellschaft, wenn er kein von den Gesetzen verpöntes Verbrechen begeht?
+Und erfüllt Einer dann schon seine _ewige_ Bestimmung, wenn er seine
+irdische erfüllt?
+
+Ich will von meinen Geschwistern nichts sagen. Die Art und Weise, wie
+dieselben gegen mich handelten, hat mir schon lange vor der Freilassung
+jeden Zweifel benommen, wie es mit ihrer Ehrenhaftigkeit und ihrer
+christlichen Liebe aussieht. Freilich habe ich wenig gethan, um mir ihre
+Achtung und Liebe zu erhalten, doch Verfolgung läßt sich kein Christ gegen
+einen ohnehin gebeugten, armen und wehrlosen Mitmenschen zu Schulden
+kommen. Schweigen wir darüber, mir wirds, als ob tausend glühende Dolche
+mein Herz durchbohrten und ohne Halt in Gott müßte ich aufs Neue an den
+Menschen verzweifeln. Doch Eines noch. Ich stelle an keinen Menschen das
+Ansinnen, als _vollendeter_ Christ zu handeln, ein _Heiliger_ zu
+sein, weil ich weiß, wie weit ich noch im Befolgen aller Lehren unseres
+Herrn und Meisters zurück und wie sehr ich noch im Kampfe mit dem alten,
+sündhaften Menschen in mir befangen bin. Allein ich glaube in christlichen
+Landen vom Staate wie von den Einzelnen _aufrichtiges Streben_, die
+Grundsätze des Christenthums ins Leben einzuführen, verlangen zu dürfen.
+Wie es mit diesem Streben im Staate bestellt sei, darüber belehrt schon
+seine Stellung zur Kirche. Was aber die Christen betrifft, welche ihrem
+Glauben gemäß zu leben und zu handeln streben, so habe ich in kurzer Zeit
+genug erfahren, um befürchten zu müssen, ihre Anzahl sei trotz des
+religiösen Aufschwunges der jüngsten Jahre noch viel zu gering, um
+großartigen Einfluß auf Umgestaltung öffentlicher Zustände auszuüben und
+damit jene Gefahr einer furchtbaren sozialen Revolution zu beseitigen,
+welche wie ein Damoklesschwerdt über unserm Welttheil hängt.
+
+
+
+
+#II.#
+
+
+--Du meinst, weil ich selbst ein Schulmeister gewesen, so sei es
+verzeihlich und begreiflich, daß ich diesen Stand in Schutz nehme,
+zweifelst jedoch daran, daß in katholischen Lehrerseminaren das
+_Heidenthum_ gepflegt und gehegt worden sei. Freilich bin ich mit dem
+Ausdrucke: Heidenthum freigebig, allein wo ich kein _positives_
+Christenthum zu entdecken vermag, da kann ich nur Heidenthum erblicken,
+zumal jener Mischmasch von Religion, als dessen Repräsentantin ich meine
+Mutter nannte, bei genauer Untersuchung eben doch nur verlarvtes und gerade
+deßbalb [deßhalb] sehr verführerisches und gefährliches Heidenthum bleibt.
+Willst du einen schönern Namen dafür, so magst du derartigen Mischmasch
+etwas sinnlos, doch höflich "Zeitchristenthum" taufen.
+
+Zunächst will ich aber meine Behauptung rechtfertigen, denn einerseits mag
+ich keine Entschuldigungen für meine Verirrungen beibringen, welche nicht
+vollkommen gegründet sind und anderseits öffentlichen Anstalten und
+Männern, denen das Land des Guten viel verdankt, keine Beschuldigung
+zuschleudern, welche ich nicht verantworten könnte:
+
+Du weißt, daß ich mein Schulmeisterhandwerk unter der Leitung eines
+katholischen Geistlichen erlernte, gegen dessen wissenschaftliche
+Tüchtigkeit und ehrenhaften Charakter niemals der leiseste Zweifel
+obwaltete. Er ist todt und schon die Vorschrift, über Todte nur Gutes zu
+reden, würde mich bewahren, seine _Person_ unter dem Boden anklagen
+und verunehren zu wollen, wenn ich ihm auch nicht sehr viel Gutes zu danken
+hätte.
+
+Sein Andenken ist noch heute Jedem seiner zahlreichen Schüler theuer und
+ich bin der Letzte, der seine Person verunglimpft. Aber gefährlich und
+folgenschwer waren die Ansichten und Grundsätze des gefeierten Mannes und
+nicht mit seiner Person, sondern mit Ansichten und Grundsätzen, von denen
+er sich beherrschen ließ, habe ich es zu thun.
+
+Wir liebten und verehrten ihn Alle; weil dies der Fall war, so galt uns
+auch jedes seiner Worte als Evangelium, wir sogen seine Lehren begierig
+ein, trugen sie nach zwei Jahren in alle Gegenden des Landes und strebten
+mit Feuereifer darnach, die Herzen des Volkes damit zu erfüllen.
+
+Viele hingeworfene Reden und Winke haften noch jetzt in meinem
+Gedächtnisse, doch nur einen einzigen Wink will ich hier erwähnen, weil er
+meines Bedünkens die Ansichten und Grundsätze meines Meisters vortrefflich
+characterisirt.
+
+Einer von uns stellte einmal die verfängliche Frage, ob denn Christus im
+heiligen Abendmahl wahrhaft, wesentlich und wirklich gegenwärtig sei und
+nach einigem Räuspern erfolgte die Antwort:
+
+"Hm, hm! ... _Wers glaubt, für den ist Er gegenwärtig, wers nicht glaubt,
+für den wird Er wohl auch #NICHT# gegenwärtig sein!_--"
+
+Was sagst du zu dieser Einen Aeußerung unseres dem _katholischen_
+Klerus angehörigen Seminardirectors?--
+
+Er war unser Religionslehrer und die meisten seiner ehemaligen Zuhörer
+werden noch im Besitze des Heftes sein, welches er als _"Einleitung in
+die Religionslehre"_ zu dictiren pflegte. Du hast Gelegenheit, ein
+solches Heft dir jeden Tag zu verschaffen und es ist mir sehr lieb, wenn du
+dir ein solches bald verschaffst, um dich zu überzeugen, daß Einiges, was
+ich hierhersetze, keineswegs entstellt, verfälscht oder dem Zusammenhange
+entrissen wurde, sondern daß die mit sonnenklaren, dürren Worten
+ausgesprochenen Ansichten meines Meisters darin enthalten seien.
+
+Er läugnet einen persönlichen Gott; Gott ist ihm ein "allen Geschöpfen
+innewohnendes, gestaltloses, raumfreies, zeitloses, somit unendliches,
+allgegenwärtiges ewiges Wesen, dessen Wirksamkeit keine Grenzen kennt." Der
+Sündenfall wird auf eine Weise erklärt, welche sich nicht mit dem
+christlichen, geschweige mit dem katholischen Bewußtsein vereinbaren läßt
+und vom Teufel wissen und lehren die Menschen Nichts, bis sie der Gegensatz
+nützlicher und schädlicher Geschöpfe auf den Gedanken einer bösen, _durch
+Opfer zu versöhnenden_ Gottheit bringt, Erlösung ist Rückkehr zu Gott
+und "vollkommen zurückgekehrt zu Gott war _Christus_, in welchem Gott
+dem Geiste nach wiedergeboren und welcher der Urheber des neuen Lebens der
+Menschen in Gott wurde." Christi Reich ist das der Liebe und "das volle
+Gegentheil dessen, was Menschenrecht und Menschensatzungen gegründet
+haben." In ihm ist gar _keine äußere Macht_, kein Zwang, keine Furcht
+und Knechtschaft.
+
+Die Bibel hat den hohen Werth, "daß wir unser Leben mit dem der ersten
+Christen vergleichen können; zudem erfüllen uns die Schriften der Bibel wie
+andere gute Bücher mit ihrem Leben."
+
+Hinsichtlich der _Dreieinigkeit_ Gottes wird ausdrücklich
+hervorgehoben, "daß wir die Offenbarungen Gottes in den Geschöpfen auf
+dreifache Weise wahrnehmen und dadurch angeleitet werden, Gott bald den
+Vater, bald den Sohn, bald den Geist zu nennen. Das gemeinsame Wesen aller
+Geschöpfe ist das Wesen Gottes. Insofern wir Gott als Wesen in uns und in
+allen anderen Geschöpfen betrachten, so nennen wir ihn Gott den
+_Sohn_. Insofern Er uns durch die Stimme des Gewissens und durch
+andere Geschöpfe die rechte Erkenntniß wiederum einflößt, so nennen wir ihn
+Gott _den Geist_.["]--Je mehr der Mensch auf die angenehmen Gefühle
+verzichtet, welche der Genuß des Irdischen gewährt, desto mehr bestimmt
+Gott die Dinge durch ihn und desto vollkommener und herrlicher entfaltet
+sich sein innerstes Wesen; der Tod führt die Lebendigen zur
+Selbstständigkeit, indem Kinder nach dem Tode der Eltern und Lehrer sich
+selbst überlassen sind und schon vorher wissen, daß Eltern und Lehrer
+sterben müssen, somit auf ihre künftige Lage sich vorbereiten können; das
+Wesen der Eltern und Lehrer aber lebt und wirkt in den Ueberlebenden fort,
+der Tod bringt in den Menschen die Erkenntniß hervor, daß der Mensch aus
+einem irdischen und vergänglichen und aus einem geistigen und fortwirkenden
+Wesen bestehe und endlich, daß der Geist viel stärker auf Andere einwirke,
+wenn die Einwirkung nicht mehr durch den Leib, sondern unmittelbar
+geschieht. Dies Alles gibt Hoffnung auf Unsterblichkeit.--Von Jesu Gottheit
+wurden die Jünger überzeugt, weil er erstens durch den Ausdruck seines
+Willens aus Nichts Etwas, aus dem Tode Leben erschuf, zweitens durch sein
+Thun und Lassen den sündigen Menschen ein ganz neues Leben offenbarte, vor
+Allem durch sittliches, reinmenschliches Leben das Reich Gottes begründete
+und die ewigen Gesetze dieses Reiches öffentlich lehrte, drittens endlich,
+weil er Geist und Leben in die Erstorbenheit der äußern, besonders der
+religiösen Gebräuche zu bringen suchte und unverbesserliche Gebräuche
+unterließ, um anzuzeigen, das Reich Gottes gehe nicht von Werken des
+Gesetzes, sondern vom Geist der Wahrheit und Liebe aus.--
+Todtenerscheinungen sind das Ergebniß lebhafter Erinnerungen an
+Verstorbene, besonders an Solche, denen wir Unrecht gethan haben.
+Erinnerung und Besinnung können so lebhaft werden, daß wir die Bilder in
+uns in die wirklichen Gegenstände hineindenken. Weil Erinnerung und
+Besinnung nur theilweise von unserm Willen abhängen, sind
+Todtenerscheinungen "auch dann ein Werk Gottes, wenn sie von einer
+krankhaften Phantasie herkommen, denn Krankheiten sind ja auch Gottes Werk.
+Allein welche Einwirkungen Todtenerscheinungen auch in unserm Geiste
+hervorbringen, so haben sie doch keine zwingende Macht über unsern
+Willen!"--
+
+Nachdem statt über Christi Auferstehung über Todtenerscheinungen belehrt
+worden, wird gezweifelt, ob die Erde zu einer bestimmten Zeit erschaffen
+wurde und gezeigt, daß die Welt kein Ende haben könne, weil Gott in ihr
+lebt. "Wie das Bild der Sonne in Millionen Tropfen glänzt und wir das
+Gemeinsame einer Gattung in allen Arten und Individuen wahrnehmen, so
+schauen wir Gott in allen Dingen."--Gottes Wesen offenbart sich in allen
+Wesen, alle haben Antheil daran und deßhalb ist auch jedes Einzelwesen
+unvergänglich, d. h. ["]Gottes Wesen offenbart sich in jedem einzelnen
+Geschöpfe durch unendliche Entwicklung desselben, wenngleich auf
+eigenthümliche Weise, doch ganz und ungetrübt."--Wir haben eine Entfaltung
+ins Unendliche, wobei unser Wesen fortbesteht, während die Gestalt sich
+fortwährend verwandelt. Der Mensch scheint vor der Geburt ein ganz anderer
+zu sein als nach derselben, auffallend ist der Unterschied in der
+Entwicklung des Menschen, ehe und wann er sprechen kann und "ähnlich wird
+der Mensch durch den Tod zu einem dem irdischen Dasein vollkommen
+entgegengesetzten Leben geboren."--Alle Geschöpfe nehmen an der Ewigkeit
+Gottes Antheil, insofern sie unsterblich sind d. h. ins Unendliche sich
+fortentwickeln.
+
+--Das Christenthum will alles nicht von Gott Stammende zerstören und ist
+nicht gekommen den Frieden, sondern Entzweiung und Kampf mit der
+Selbstsucht zu bringen. "Es baut keine Altäre und Tempel aus Stein, kennt
+nur Einen Altar. Des Menschen Herz und sein Tempel ist dort, wo Menschen
+sind und einander Liebe erweisen."--Ich will es abermals Dir überlassen zu
+beurtheilen, ob durch eine solche Einleitung in die Religionslehre die
+künftigen Lehrer des katholischen Volkes für ihren Glauben und ihre Kirche
+begeistert wurden oder ob mein Vorwurf ein gerechter gewesen.
+
+Daß der mündliche Unterricht minder abgemessen und vorsichtig mit
+Redensarten und Winken gewesen, versteht sich wohl selbst. Die
+Religionsstunde überzeugte uns davon, daß wir recht eigentlich kleine
+Götter, Bruchtheile des göttlichen Wesens seien und welchen Eindruck solche
+Erleuchtung auf Jünglinge machte, bei denen Ehrgeiz und Weltschmerz schon
+in Folge äußerer Lebensverhältnisse zum Grundton des Gemüthes werden
+mußten, ist keineswegs schwer abzusehen.
+
+Wir bekamen Ideale, es ist wahr, doch wir bekamen sie auf Kosten unserer
+Zufriedenheit mit Gott, Welt und Menschen, weil keine christliche
+Weltanschauung uns mit der tiefen Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit
+versöhnte, kein lebendiger Glaube uns mit jener Ruhe und Geduld ausrüstete,
+mit welcher die unideellen Verhältnisse des Lebens der Völker und die des
+Lehrerstandes insbesondere hingenommen werden müssen.
+
+Man machte uns zu Königen und Bettlern, Titanen und Zwergen zugleich und
+wenn beschränkte Köpfe und manche altkluge Jungen unter uns zu nüchternen
+Ehrenmännern, d.h. zu Philistern wurden, welche außer ihrem persönlichen
+Vortheil nichts Höheres kannten, so blieben gerade die fähigern Köpfe und
+feurigen Charaktere vielerlei Verirrungen am meisten ausgesetzt.
+
+Soll ich Namen und Thatsachen bringen?
+
+Du hast seit vielen Jahren Gelegenheit, viele Städte und Dörfer zu besuchen
+und der Einwohner Sinn zu erkunden, hast ferner zur Rongezeit und während
+der Revolution eine ziemlich unpartheiische Brille aufgehabt und kennst
+sehr viele Volksschullehrer persönlich, deßhalb brauche ich keine Namen und
+Thatsachen, zumal Namen wenig zur Sache thun und sprechende Thatsachen
+genug bekannt sind.
+
+In der Regel wird der Jüngling das, was man aus ihm macht und lange Zeit
+hat man Alles gethan, um statt bescheidenen und glücklichen Lehrern der
+Kinderwelt innerlich zerrissene und unglückliche Hochmuthsnarren in die
+Schulstuben des Landes zu entsenden.
+
+Beweise!--
+
+Dieselben liegen schon in der Einleitung zur Religionslehre, Du sollst
+jedoch noch bessere haben, nämlich die Ansichten unseres Seminardirectors
+über die unnahbare Würde und welterleuchtende Bestimmung des
+Schulmeisterthums. Damit Du abermals siehst, daß ich gewissenhaft handele,
+sende ich Dir beiliegenden Aufsatz meines Meisters, welcher "der Schule
+Wesen und Gliederung" erklärt und seiner Zeit durch Guttenbergs Kunst der
+Vergessenheit entrissen wurde.
+
+[Der] "Der Zweck der Erziehung ist Entfaltung derjenigen Kräfte, welche den
+Menschen in Stand setzen, in allen Richtungen des Lebens sich selbst zu
+beherrschen und zum Handeln zu bestimmen. Sie soll den Menschen zum
+Ebenbild Gottes machen. Die Ebenbildlichkeit mit Gott besteht aber darin,
+1) daß er ein einfaches, untheilbares, unveränderliches, aus und für sich
+begehendes Wesen ist, "_das sich aus sich selbst hervorbringt wie Gott
+die Welt aus Nichts, d.h. aus sich selbst erschaffen hat._" 2) Daß
+insbesondere das aus ihm Hervorgebrachte in demselben Verhältnisse zu ihm
+stehe, in dem er sich zu Gott befindet. 3) Endlich daß der Mensch Alles,
+was er Wahres, Schönes und Gutes hat, nur als eine göttliche Geschichte und
+als etwas Geschichtliches habe.--Von Pestalozzi wird gesagt. "Das Erlösende
+und Heiligende seiner Methode stammt nicht von seinem Fleische, es ist eine
+Offenbarung Gottes, die ihm geworden und sein Verdienst, daß er uns
+dieselbe nicht als sein sondern als Gottes Werk gab. Die Schulmeister vor
+Pestalozzi sündigten zumeist dadurch, daß sie in ihren Systemen und
+Lehrmeinungen nur sich seldst [selbst] gaben und uns nicht zu Gott, sondern
+zu sich selbst zu erheben trachteten, Pestalozzi dagegen zeigte uns nicht
+seine Person, sondern die Wahrheit.--Wie die Göttlichkeit der Lehre Jesu
+nur von deren Befolgern laut Joh. 7,17 erkannt wird, so Pestalozzis Methode
+nur von dem, dessen Geist durch sie gebildet wurde.--Wie die Pharisäer auf
+dem Stuhle Mosis streng nach dem Gesetze lehrten und das Gesetz nicht
+selbst erfüllten sondern übertünchten, so lehrt der
+_Sinnlichgesinnte_, daß wir aus Liebe zum Vater unsern Brüdern auch
+nicht im Innern zürnen und schon den unreinen Begierden widerstehen sollen,
+während er im eigenen Busen voll Zorn die Verkünder der Offenbarung des
+Geistes, der Alles durchschaut (I. Kor. 2,10) zum Ingrimm und zur
+Verfolgung gegen die aufreizt, welche Gott als lebendige Werkzeuge erkiesen
+hat, Zeugniß von seinem eigenen Sohne zu geben."--Den Sinnlichgesinnten,
+welche sich vermessen, Feindesliebe und Widerstand gegen böse Begierden zu
+predigen, werden noch mehrere Bibelstellen entgegengeschleudert, dann die
+Entstehung der Sprache u.s.w. erklärt und das fünffache Leben des Einzelnen
+und der Gesammtheit zusammengestellt. Um der Kürze willen soll diese
+Zusammenstellung hier stehen:
+
+ _Einzelleben = Gesammtleben_
+ Individuum = Familie
+ Leib--Person--Seele = Gewerbstand--Staat--Kirche
+ Geist = Schule
+
+Erläuternd heißt es: "Wir bezeichnen mit den Worten Seele und Geist zwei
+durchaus verschiedene Wesen, Geist bedeutet uns nicht bloß ein höheres
+Seelenleben, sondern Seele und Geist sind zwei einander entgegengesetzte
+Offenbarungen des einen Lebens. Unter Seele verstehen wir diejenigen
+Lebensfunctionen, durch welche das Individuum nach seiner Schöpfung mit
+Gott verbunden ist und ewig verbunden d. h. von ihm abhängig bleibt. Ueber
+die Art und Weise der Verbindung gibt der Begriff von Idee Aufschluß,
+welche vor unsern Augen Factum wird und der von Gattung, der den Millionen
+Individuen ungetrübt innewohnt und zwischen ihnen Wechselwirkung und
+Verbindung möglich macht. Die Seele ist Gott im Menschen, jedoch so, daß
+Gott vollkommen und ohne Veränderung seines Wesens außer dem Menschen und
+für sich besteht." Folgt nun eine Abweisung jener kalten und finstern
+Religionslehre, welche Gottes selbstständiges Dasein nicht erkennt und, da
+ihr Alles Eins ist, jeden höhern Aufschwung unmöglich macht und als
+wissenschaftliches System die Jugend zu der Vermessenheit verleitet, Alles,
+was Andere auf andern Wegen wissen und glauben nur als Irrthum, Täuschung,
+Verstandesschwäche, sowie alles Leben und alle Veränderung als leeren
+Schein und diesen selbst als eiserne Nothwendigkeit zu erklären.
+
+Welche kalte und finstere Religion unter diesem "Pantheismus" gemeint sei,
+darüber blieb uns jungen Leuten, die wir Nichts von Philosophie verstanden
+und manches dicke Buch über die Gräuel des Mittelalters gelesen, um so
+weniger ein Zweifel, weil unser Direktor die vorgeblichen Verderber der
+Religion der Liebe nicht--liebte.
+
+Weil die Kirche die Seele, die Schule aber den Geist repräsentirt, mag
+Folgendes Dir im Gedächtnisse bleiben: "Auch das Wesen von Geist und Person
+ist nicht scharf bestimmt und gesondert. Wir halten die Person nicht für
+etwas Vergängliches, sondern für den Höhepunkt des Lebens der Einzelnen.
+Person ist der sich selbst erkennende und bestimmende Geist, der in sich
+gekehrte Geist, wodurch der Mensch erst Mittelpunkt und Bestand aus und
+durch sich selbst erlangt. Der Person ist unmittelbar der Geist und
+_durch diesen_ Leib, _Seele_ und Individuum untergeordnet. In der
+Person vollendet sich die Offenbarung Gottes im Menschen. Daher lernt der
+Mensch Gott nur von Innen kennen und nur durch diese Kenntniß entsteht das
+Bestreben, durch ins Unendliche fortlaufende Vervollkommnung Gott immer
+ähnlicher zu werden."
+
+Die Schule soll dem Vermögen des Menschen, das Vervollkommnende in sich
+aufzunehmen, die Erkenntniß geben und den fünferlei Gegenständen der
+Erkenntniß--individuelles Leben, Leib, Seele, Geist, persönliches Leben
+entsprechen fünferlei Schulen, nämlich Volksschule, Industrieschule,
+Gelehrtenschule, Akademie mit gelehrten Gesellschaften, endlich der
+Erziehungs- oder Schulrath oder das _Kulturministerium_, welches, das
+persönliche Leben des Einzelnen und der Gesammtheit erkennend, das
+_Dominium_ über die andern Schulen ausübt. Die _Volksschule_ soll
+die Individualität des Geistes entfalten und hat 3 Stufen, nämlich die
+Kleinkinderschule, Elementar- und Realschule.
+
+Die Elementarschule "soll wie alle Schulen vorzüglich den Geist in Anspruch
+nehmen und die übrigen Richtungen des Lebens ihren Zwecken unterordnen."
+Ihre Lehrgegenstände sind Sprachlehre und Gesang, Formen-, Größen-,
+Zeichnungs-, Schreib- und Leselehre und Kenntniß der Zahlenlehre.
+
+Die Realschule bringt dem Geiste sein Selbst zum Bewußtsein und die
+Industrieschule sammt den 3 Stufen der Gelehrtenschule (Gymnasium, Lyzeum,
+Hoch- oder Berufsschule) soll vor Allem das _Nützliche_ ins Auge
+fassen, wozu die Religion nicht gezählt wird, die erst in der theologischen
+Fakultät ein eben nicht behagliches Plätzlein findet.
+
+Die Hoch- oder Berufsschule nämlich zählt fünf Fakultäten, deren jede ihre
+eigene Literatur und Geschichte derselben hat.
+
+Die erste Fakultät ist die allen Gelehrtenständen gemeinsame, etwa der
+philosophischen unserer Universitäten entsprechend und die zweite die
+medizinische, welcher nachgerühmt wird, daß "sie sich am meisten ihrer Idee
+gemäß gestaltet habe."
+
+Die _theologische Fakultät_ hat das _Seelenleben_ zu ihrem
+Gegenstande und folgende Disciplinen: a) Lehre vom Wesen und der
+natürlichen Entwicklung der Seele, b) von der Pflege und Bildung der Seele,
+c) Lehre von der Entstehung und den Arten der Seelenkrankheiten nebst d)
+der Heilung derselben, theoretisch und praktisch. e) Lehre vom Einfluß der
+4 andern Lebenserscheinungen auf das Seelenleben und vom Verhältniß der
+theologischen zu den übrigen Wissenschaften, endlich f) Lehre von der
+Bestimmung des Theologen und vom Verhältniß des geistlichen Standes zu den
+übrigen Ständen. Findet man dieses von einem katholischen Geistlichen
+gehegte und den künftigen Lehrern des Volkes eingeimpfte Idol einer
+theologischen Fakultät merkwürdig, sobald man nicht etwa auf dem
+Standpunkte Feuerbachs steht, so fanden wir herzstärkend und begeisternd
+Alles, was über die vierte und wohl auch über die fünfte Fakultät gesagt
+wurde. Die _vierte_ nämlich ist keine andere als die Kulturfakultät
+und hat nichts Anderes denn das _Leben des Geistes_ zum Vorwurfe.
+
+Wesen, Entwicklung, Pflege, Bildung, Erforschung und Heilung der
+Krankheiten des Geistes, die Einwirkung des Geistes auf die 4 andern
+Offenbarungen des Lebens und der Einfluß dieser auf den Geist, die
+Culturwissenschaft und ihr Verhältniß zu den übrigen Wissenschaften,
+endlich die Lehre vom Berufe des Lehrers und von seinem Verhältnisse zu den
+übrigen Ständen--dies sind die der Culturfakultät eigenthümlichen
+Disciplinen.
+
+Dann wird bemerkt: "Auch die Seminarien der Volksschullehrer sind ein
+Bestandtheil der Kulturfakultät und inwiefern die Trennung dieser Anstalten
+von der Fakultät vortheilhaft oder nachtheilig sei, können wir hier nicht
+auseinandersetzen. Jedenfalls muß der Direktor eines solchen Seminars ein
+wissenschaftlich gebildeter Mann sein, der die Gelehrtenschulen
+zurücklegte, zumal es ja Ein und derselbe Geist ist, welcher von der
+Kleinkinderschule an bis zur Hochschule inbegriffen entfaltet werden soll."
+
+Daß die Einwohner der Stadt die Zöglinge des Seminars, welche nur für zwei
+Jahre kamen und häufig gar magere Geldbeutelein mitbrachten, nicht als
+Mitglieder der Kulturfakultät genugsam beräucherten, daß die Schüler der
+Gelehrtenschule den Umgang mit uns hochmüthig vermieden und uns als
+"Elephanten" bei jeder Gelegenheit höhnten und verfolgen, während wir doch
+der Idee nach Hochschüler waren, solches schmerzte uns fast tiefer als die
+Aussicht in eine jedenfalls entbehrungsreiche und vielgeplagte Zukunft und
+gab Anlaß zu mancherlei Partheiungen, Zwistigkeiten und Händeln. Daß aber
+gar geistliche Herren, deren "Handwerk" schon der Idee nach tief unter dem
+unserigen stand, deren Fakultät laut allen Berichten ganz ideenwidrig
+eingerichtet, deren Treiben laut den hinreißenden Erzählungen berühmter
+Geschichten- und Romanenschreiber der Menschheit, dem armen Volke, von
+jeher zum Fluche gereicht, daß diese "schwarzen Vögel" wie wir sie hießen,
+uns, Träger der Kultur des Volkes und selbstbewußte Funken der Gottheit
+dereinst zu Dienern herabwürdigen und ungestraft kuranzen sollten--dieser
+Gedanke machte die Heißblütigen unter uns manchmal rasend und nur die
+Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der mannhafte Entschluß, für diese aus
+allen Kräften zu arbeiten, gewährte uns einige Erleichterung und Trost. Die
+Edeln des Menschengeschlechts träumten von jeher von bessern Tagen, unser
+Direktor that dasselbe, wovon schon seine Idee von der fünften Fakultät der
+Hochschule, der _staatswissenschaftlichen_ männiglich überzeugen muß.
+
+Diese hat das _Leben des Volkes_ zum Gegenstande und beschäftigt sich
+näher mit der Lehre vom Wesen des Volkes und seiner Entwicklung zum Staate,
+mit der Bildung und Pflege des Volkslebens, ferner mit der Lehre von der
+krankhaften Entwicklung desselben, so wie mit dem Verderbnisse der Staaten,
+den Arten dieses Verderbnisses und mit der Heilung dieser Mißstände,
+zuletzt auch mit der Lehre vom Berufe des Staatsmannes und dessen
+Verhältniß zu den übrigen Ständen.--
+
+Sehr naiv wird bemerkt: "Sind die Disciplinen nicht mit den gewöhnlichen
+Namen benannt, so ist dies nicht Folge der Unkenntniß oder Mißachtung,
+sondern des Strebens, die Idee zum Bewußtsein zu bringen, aus der die
+Schulen überhaupt und insbesondere die Fakultäten der Gelehrtenschule
+hervorgegangen sind.["]
+
+Das Kulturministerium muß auf den Zinnen moderner Bildung stehen und
+täglich Ströme von Geist, Licht und Geld in die untern Regionen entsenden.
+Es soll "für das Leben des Geistes sein, was die Person für den einzelnen
+Menschen oder der Staat für das Gesammtleben, soll das Leben der
+Wissenschaft und Kunst von der Volksschule an bis zur Akademie beleben,
+fördern und regeln. Insbesondere hat es für den Zusammenhang der Schule,
+Bildung der Lehrer, für Lehrmittel und Aufsichtsbehörden Sorge zu tragen
+und darf deßhalb nur solche Männer enthalten, welche außer
+wissenschaftlicher Bildung Beweise von Regierungstüchtigkeit gegeben
+haben."
+
+Doch genug!
+
+Suche Dir die Einleitung in die Religionslehre und andere Hefte zu
+verschaffen, lies den gedruckten Aufsatz über "der Schule Wesen und
+Gliederung" und dann habe die Güte, mir auf folgende Fragen zu antworten:
+
+Habe ich Falschmünzerei mit den Aufsätzen und Schriften eines Mannes
+getrieben, den ich als Mensch, Lehrer und Wohlthäter verehre? Sind die
+Ansichten, Grundsätze und Ideen meines Seminardirektors positiv christliche
+und katholische gewesen? Ist Dir der "Schulmeisterhochmuth" noch ein
+Räthsel sammt der Abneigung gegen den geistlichen Stand und den meist so
+ideenwidrigen Bestand des Bestehenden? War ich im Unrecht als ich meinen
+Lehrern Mitschuld meiner Verirrungen und Verbrechen aufbürdete?--Ich glaube
+deine Antwort zu hören!--
+
+
+
+
+#III.#
+
+
+Je mehr ich mich durch das Wohlwollen und die Theilnahme beglückt fühle,
+welche meine Briefe an Herrn N. mir erwarben, desto mehr will ich eilen
+Ihren Wunsch zu erfüllen und Ihnen die hauptsächlichsten Gründe des
+Unglaubens und der Unzufriedenheit des Lehrerstandes meiner nahe liegenden
+Zeit sowie meine Ansicht über _Gelehrtenschulen_ mittheilen.
+
+Die Auszüge aus den ungedruckten und gedruckten Heften meines alten
+Seminardirektors haben Ihnen überraschend gezeigt, wie Vieles geschah, um
+die Lehrer des Volkes zu eigentlichen Trägern und Aposteln der
+Hauptkrankheit unserer Zeit, nämlich des Mangels an lebendigem
+Christusglauben und des Ueberflusses an Unkenntniß und Verkennung der
+katholischen Kirche zu machen.
+
+Der oft gehörten Behauptung, unser Lehrerstand sei im Ganzen noch weit
+besser und erträglicher als die Erziehung erwarten ließe, stimme ich gerne
+bei. Es gibt tüchtige, brave Männer unter unsern Lehrern mit einem Herzen
+voll Liebe für die Menschheit und ihren Beruf. Edle Anlagen und günstige
+äußere Verhältnisse Einzelner, ganz besonders die abkühlende Wirkung,
+welche mehr oder minder das Berufsleben auf jeden ausübt, mögen jedoch das
+Meiste dafür thun, wenn nicht die Mehrzahl unserer Lehrer aus ganz und gar
+blinden Fanatikern des Unglaubens und offenen oder heimlichen
+Revolutionären besteht.
+
+Abgesehen von meiner einst so unseligen Person waren nicht die Schlechtern
+oder Unfähigeren meiner Kameraden der Gefahr am meisten ausgesetzt,
+Fanatiker des Unglaubens und arge Revolutionärs zu werden, sondern gerade
+begabte, strebsame Köpfe und feurige thatkräftige Charaktere.
+
+Diese sendeten Ideale, welche sie aus den Schulbänken getragen, keineswegs
+leicht in die Himmel oder in das Druck- und Löschpapier zurück, von wannen
+sie gekommen, sondern suchten dieselben mit mehr oder minder Beharrlichkeit
+im Leben zu verwirklichen. Damit waren Gefahren verknüpft, von denen ich
+Ihnen zwei nennen will, welche ich für die größten halte, vielleicht weil
+ich denselben erlag. Zum Ersten mußte Ausbildung ein Loosungswort für Alle
+sein, welche würdige Mitglieder der welterobernden _Culturfakultät_
+werden wollten und die argen Lücken ihres Wissens fühlten. Das Bemühen,
+diese Lücken durch Selbstbildung auszufüllen, bleibt aber stets gefährlich,
+wenn die Erziehung uns zu wenig Vorkenntnisse, unserm Denken keinen Halt in
+der christlichen Weltanschauung und damit kein festes Urtheil über die
+Bücher gegeben, aus denen wir Weisheit zu schöpfen vermeinen.
+
+Viele von uns kamen bereits unfähig, katholische Schriften zu lesen,
+geschweige zu lieben und am weitesten verirrten sich nach den Seminarjahren
+diejenigen, welche Schöngeister, Historiker oder gar Philosophen und
+Vielwisser werden wollten.
+
+Wir griffen fleißig nach Conversationslexika, Realencyclopädieen und
+ähnlichen _Bibeln des Zeitgeistes_, verloren und vertieften uns immer
+mehr in die moderne Bücherwelt, worin bekanntlich wenig Christliches und
+noch weniger Katholisches, dagegen desto mehr Vernunftbetäubendes,
+Heidnisches und Diabolisches zu finden ist.
+
+Die Meisten lasen wohl weit mehr mit dem Herzen als mit dem Kopfe und je
+mehr Einer las, desto mehr wuchsen Einbildung und Unfähigkeit, Christliches
+für etwas Zeitgemäßes, Vernünftiges und Heilbringendes zu halten. Zum
+Andern traten wir mit den Riesenansprüchen begeisterter Jünglinge in das
+Leben hinaus und dieses kam den Meisten nicht nur mit Zwergleistungen,
+sondern mit ungeahnten Schwierigkeiten und Leiden aller Art entgegen,
+welche uns entmuthigten, gegen Gott, Welt, Volk und Schicksal erbitterten.
+Ich könnte Ihnen Vieles von arg gequälten Schullehrern und vielerlei Arten
+von Quälgeistern derselben, namentlich auch von partheiischen und
+ungerechten Behörden, unchristlichen Geistlichen und der Dummheit des
+Volkes erzählen, aber ich will kurz sein und mit der Bitte, nicht zu
+vergessen, daß der Beste unter uns seine schlimmen Neigungen und
+Gewohnheitssünden hat, nur auf Eines aufmerksam machen. Das Erdenloos eines
+Schulmeisters heißt: Leiste und trage Vieles, nimm wenig Dank und noch
+weniger Geld dafür ein!--In Staaten, wo _der bewaffnete Friede_
+Tausende von Arbeitskräften und den größern Theil des Staatseinkommens
+verschlingt, weil wir vom Christenthum ab und in das Heidenthum, aus dem
+Reiche der Liebe in das der Gewalt hinein gerathen, da mußte wohl das
+Kirchengut so weit als nur immer thunlich in den Dienst des Heidenthums
+gezogen und dann das Schulmeisterthum so karg als nur immer thunlich für
+die saure Mühe abgefunden werden, womit es im Interesse der Staatsallmacht
+das Volk "aufklärt."
+
+Ich möchte beinahe sagen, unsere Schulmänner seien für ihr Wirken, wie
+dasselbe seit dem Beginne des Jahrhunderts sich gestaltet, noch weniger
+Lohnes werth als sie bekommen--allein ich schweige, weil ich an gewisse
+Klassen privilegirter Faullenzer und geschäftiger Müssiggänger denke und
+bleibe dabei, die Bezahlung der Schullehrer sei in den meisten christlichen
+Staaten heidnisch klein, so daß sie sich kaum mit den Bedürfnissen des
+genügsamsten, geschweige mit den Ansprüchen des selbstbewußten Mitgliedes
+der Kulturfakultät vertrage.
+
+Freilich sind die Armen im Geiste glücklich; Christus lehrt Entbehrungen
+und Leiden der Armuth geduldig, muthig und freudig ertragen; Er ist
+zugleich der größte aller Finanzmänner und Nationalökonomen und in der
+Befolgung seiner Lehre liegt das Geheimniß verborgen, nach welchem das
+Jahrhundert immer ängstlicher seufzt und immer durstiger lechzt: die
+_Kunst wohlfeil zu leben und wohlhabend zu sterben_. Leider hat die
+Erziehung seit Jahrzehnten Vieles gethan, um beizuhelfen, daß das Volk arm
+an Geld und Gut und arm _am_ Geiste, nicht aber, daß es arm _im_
+Geiste werde. Wenn in den untersten Ständen der Bettelsack der
+eindringlichste und gefährlichste Prophet des Kommunismus bleibt, so darf
+man sich nicht wundern, wenn aus dem bellenden Magen oder der durstigen
+Gurgel manches Schulmeisterleins ein unzufriedener Mensch und arger Demagog
+herauswächst!
+
+Der Bauch ist ja im Laufe einiger Jahrhunderte zu einem Weltregenten und
+heutzutage zum unerbittlichen Gesetzgeber und dämonischen Tirannen der
+"christlichen Staaten" geworden.
+
+Ein Urtheil über _Gelehrtenschulen_ ist meines Erachtens schier
+überflüssig, seitdem die Revolution mit ihren Blättern, Kammern und
+Parlamenten das Babel aller religiösen, sittlichen, politischen und
+sozialen Begriffe offenbarte, welches in den Köpfen und Herzen der
+gelehrtesten und gefeiertesten Männer spukt, vom besitzenden Bürger,
+verarmenden Handwerker, dem geistigen Proletarier, Sklaven der Fabrikanten
+und Auswurf der Gesellschaft zu schweigen. "An den Früchten sollt ihr sie
+erkennen!"--sagt die Schrift und die Revolution gab Gelegenheit, die
+geistigen Errungenschaften sammt der sittlichen Tüchtigkeit von Tausenden
+und aber Tausenden zu beweinen, welche in gelehrten Anstalten großgezogen
+worden.
+
+Bei Vertretern _aller_ politischen Partheien und _aller_ Stände
+hat es sich gezeigt, daß Wissen ohne Glauben leeres Scheinwissen, alles
+Gerede von Charakter ohne positive Religion eine Lüge des Hochmuthes sei.
+Wissen ohne Glauben und Sittlichkeit ohne Christenthum waren aber seit
+langer Zeit die Idole, welchen unsere Erziehungskünstler nachjagten!--
+
+Doch ich will nicht in den Schulmeisterton verfallen, sondern Ihnen nur
+sagen, daß ich mehrere Jahre, bis mein Vater starb und äußere Verhältnisse
+mich in das Lehrerseminar trieben, an Gelehrtenschulen lebte.
+
+Dieselben waren geeignet, gelehrte Handwerker, genußwüthige
+Nützlichkeitsmenschen oder Leute meiner Art heranzudressiren, nimmermehr
+jedoch ächte Leuchten und rechte Führer des Volkes zu erziehen. Keine
+ächten Leuchten, weil die wissenschaftliche und keine rechten Führer, weil
+die religiöse Erziehung mangelte.
+
+Zunächst ein kurzes Wort vom gelehrten Handwerkerthum, alsdann ein längeres
+vom getauften Heidenthum der Pädagogien, Gymnasien und Lyzeen meiner
+naheliegenden Zeit.
+
+Es haben Viele laut und längst sich verwundert, weßhalb aus unsern Schulen
+selten ein tüchtiger Mann hervorgeht, während es in einem Nachbarstaate von
+Dichtern, Philosophen, Historikern, Staatsmännern, Theologen und Andern
+wimmelte, welche hochberühmte Namen erwarben und doch lediglich die
+gelehrten Anstalten ihrer Heimath besuchten. Man hat den Grund darin
+gefunden, daß die ganze Erziehung bei uns darauf hinausläuft, Einen im
+Laufe von 12 bis 15 und mehr Jahren soweit zu bringen, daß er im Siebe des
+Staatsexamens hängen bleibt und gleichzeitig mit so unnöthigen und
+vielerlei Forderungen zu überladen, daß er alle Kraft nothwendig
+zersplittert und fast ebenso nothwendig im Examen durchfällt, wenn ihm
+nicht das Glück besonders lächelt.
+
+Wer das Programm einer Gelehrtenschule zur Hand nimmt, staunt ob der Fülle
+von Kenntnissen, womit die Zöglinge vollgestopft und zur Hochschule
+entlassen werden und wer öffentlichen Prüfungen beiwohnt, ohne die
+Prüfungsdressur zu kennen, muß Länder selig preisen vor allen Ländern, für
+welche Diener des Staates und der Kirche von so umfassender Gelehrsamkeit
+und edler Begeisterung für alles Große und Schöne herangezogen werden, wie
+dies in manchen Gegenden der Fall zu sein scheint. In Wirklichkeit verhielt
+sich die Sache zu meiner Zeit ganz anders. Man hätte ruhig seinen Kopf
+darauf verwetten dürfen, daß von 100 angehenden Hochschülern keine 10 im
+Stande seien, nach 8-9jährigem Studiren ohne Beihülfe aller Art einen
+leichten lateinischen oder griechischen Schriftsteller ordentlich zu
+übersetzen, geschweige zu verstehen oder gar aus dem Zusammenhange mit
+seiner Zeit und seinem Volke zu erklären.
+
+Sicher waren von 100 keine 5 aufzutreiben gewesen, welche Geschmack und
+Freude an ihren Quälgeistern, den Alten, gefunden und doch galten alte
+Sprachen von der ersten bis zur letzten Klasse als Hauptgegenstände des
+Unterrichts, auf welche am meisten Zeit und Mühe verwendet wurden.
+
+Von mathematischen, geographischen, geschichtlichen oder
+naturwissenschaftlichen Kenntnissen war bei Einzelnen Manches hängen
+geblieben, doch die Mehrzahl hatte Grund genug, den Sokrates als Heiligen
+zu ehren, weil dieser die Weisheit in das _Nichtswissen_, somit in die
+starke Seite unserer geplagten Gelehrtenschüler, setzte.
+
+Von philosophischer Vorbildung will ich schweigen. Ich meine nur, daß davon
+bei Leuten keine Rede sein konnte, welche von der Weltanschauung des
+Alterthums keine genügende Kenntniß und von der des Christenthums im besten
+Falle nicht mehr als eine ganz dunkle Ahnung besaßen.
+
+Von der Unwissenheit vieler "Gebildeten" über Alles, was sich über und
+unter dem Monde befindet und nicht genau mit ihrem Handwerke zusammenhängt,
+sind Sie überzeugt oder haben doch Gelegenheit, sich jeden Abend das Licht
+hierüber in Museen, Kaffeehäusern, Weinschenken, Bierkneipen und andern
+Orten zu verschaffen.--
+
+Die weitgehende Unwissenheit hängt enge mit dem hochmüthigen Heidenthum der
+Schulen meiner Zeit zusammen.
+
+Wissen Sie, auf welche Weise ich zum erstenmal zum Tische des Herrn kam?
+Nicht an Ostern, sondern im hohen Sommer, nicht im feierlichen
+Gottesdienste, sondern in einer stillen, wenig besuchten Frühmesse und
+beinahe ohne allen Vorunterricht, so daß wir kaum eine Ahnung von der
+Bedeutung der uns abentheuerlich dünkenden Feier besaßen. Wir beichteten,
+aber unser liebster Beichtvater war ein Professor, der allgemeine Beichten
+nicht nur annahm sondern forderte. Drängten sich zu Viele um den
+Beichtstuhl dieses Kirchenlichtes, so pflegte ich einen Zettel zu
+entlehnen, worauf ein Anderer passende Sünden aufgezeichnet, las denselben
+ab und übergab ihn nach der Lossprechung meinem Nachbar.--Einer der besten
+unserer Religionslehrer schlief jahraus jahrein und überließ es uns,
+Lectionen aus dem Katechismus gemächlich herauszulesen. Wieviele von uns
+nicht einmal das Vaterunser, geschweige das katholische Glaubensbekenntniß
+oder gar die Gebote der Kirche ordentlich herzusagen wußten, dafür ließen
+sich Namen nennen, worunter der meinige nicht fehlte [Fußnote: Der meinige
+leider auch nicht. D.V.]
+
+Wer wollte sich wundern, daß gerade der Religionsunterricht als der
+langweiligste und widerlichste Lehrgegenstand, das Kirchengehen besonders
+zur Winterszeit als das leidigste und unnützeste Geschäft erschien?
+
+Die Klage, daß von Oben herab die Pflege des positiven Christenthums im
+mildesten Sinne nicht gefördert wurde, soll weniger durch die Unfähigkeit
+aller meiner Religionslehrer als durch den Umstand unterstützt werden, daß
+es an hochbelobten Lehrern wie an Schulbüchern nicht mangelte, welche uns
+die eigene Kirche verächtlich und lächerlich machten und unser Gemüth mit
+aufrichtigem Hasse gegen alles "Pfaffenthum" erfüllten.
+
+Von Gewissen will ich aus gewissen Gründen schweigen, aber durchgehen Sie
+die gedruckten Programme unserer gelehrten Anstalten, um sich zu
+überzeugen, aus wievielen _Schulbüchern_ wir alle Irrthümer und den
+Kirchenhaß des Protestantismus in uns aufnahmen. Daß nebenbei Bibliotheken
+der Anstalten und Professoren uns reichlich mit Hilfsmitteln der Aufklärung
+versorgten, versteht sich von selbst und daß Viele von uns Alles, nur
+nichts Gutes aus dem Kram der Leihbibliotheken schöpften, ist eben so
+begreiflich als verzeihlich.
+
+Geistliche und weltliche Lehrer hatten genug zu schaffen gehabt, uns gegen
+den Einfluß einer durchaus unkatholischen Literatur und gegen die Gefahren
+der Jugend durch das Einpflanzen christlicher Gesinnungen zu schützen. Doch
+geschah von Allem das Gegentheil. Obwohl von Gott, Christus und Kirche
+manchmal die Rede war, so lernte man doch nur das zeit- und staatsmäßig
+zugeschnittene Christenthum meiner Mutter kennen und wurde mit einem nicht
+minder zeit- und staatsmäßigen Hasse und Mißtrauen gegen das positive und
+kirchliche Christenthum erfüllt.
+
+Nicht Christenthum, sondern "_Humanität_" hieß bei uns die Loosung,
+reden wir also auch von ihr!--
+
+Die Zeit, in welcher dem Jüngling sein natürlicher Zusammenhang mit dem
+Geschlechte offenbar wird, fällt mit derjenigen zusammen, in welcher er
+seinen geistigen und sittlichen Zusammenhang mit demselben mindestens ahnt,
+wenn auch seine Schulmeister sich als noch so elende Hebammen seines Wesens
+bewähren.
+
+Der Mensch wird zum Herkules am Scheidewege. Ideale von Freundschaft,
+Vaterlandsliebe, Seelengröße und Tugend gehen ihm auf, und enger, inniger
+als bisher schließt er sich an Seinesgleichen an, um höhere Lebenszwecke
+als die bisherigen zu verfolgen. Jetzt bedarf er vor Allem der Führung der
+Religion oder doch der Leitung erfahrener Männer, die er achtet und liebt,
+denn diese Zeit ist nicht nur die schönste, sondern auch die gefährlichste
+des Lebens. Wie waren wir daran?
+
+Die alltäglichen Redensarten eines gefeierten Humanisten klingen mir noch
+in den Ohren und ich gebe einige als Proben, mit welchem Takte dieser Mann
+16 bis 20-jährige Vaterlandshoffnungen behandelte.
+
+"Er steht da, als ob er die chinesische Mauer vor der Nase hätte, er
+verzwickter Schafskopf, %non plus ultra% der Rindviehdummheit, elender
+Böotier!--Er kann sich als Preisträger des landwirthschaftlichen Vereines
+melden--Fahr Er Mist, dazu ist Er dumm genug, so rindviehmäßig dumm, daß Er
+nicht einmal zum Schustersjungen taugt--Er Urkalb, Generalassekuranzesel,
+halte Er sein Maul zum H--!--Geborenes und erzogenes Rindvieh, Er steht
+unter dem Niveau eines Hundes!--Ein gescheidter Pudel ist intelligenter als
+ihr Bestien!--Erlöst mich bald in Gottes oder des Teufels Namen!--Hat er
+Pech am H--? Was will Er denn werden? Theologe! Daß sich Gott erbarme!--Da
+möchte ich doch lieber in der tollsten Kneipe unter Proletariern sitzen und
+ihren physischen Dunst einathmen, als euern geistigen Gestank riechen--Setz
+dich, dein Name ist Rindvieh, man könnte dich zum Präsidenten einer
+Eselsrepublik machen--Werd' Er Schuster, Barbier oder Leinweber, Er
+hyperbestialisches Rindvieh--Der Ochse wird nur einmal vors Hirn gehauen,
+er hats demnach besser als Ihr, denen man täglich vor den Kopf schlägt,
+ohne daß Ihr Etwas spürt--Ist noch keine Artillerie- oder Bierbrauerstelle
+für Ihn frei geworden? Er ist verballhornter als ein Esel in der zweiten
+Potenz--Setz' Er sich auf seine Klauen, Mondkalb! Nicht einmal ein Hund
+hebt sein Bein auf vor so verthierten Geschöpfen wie Ihr seid!--"
+
+Ich will Sie mit noch derbern und ekelhaftern Redensarten dieses
+gepriesenen Directors verschonen. Wir haben Sammlungen davon veranstaltet
+und viele Freude daran gehabt, wenn er uns Gelegenheit gab, dieselbe durch
+neue zu bereichern.
+
+Die Schulgesetze zu verhöhnen und zu übertreten, galt als Heldenthat.
+
+Vieles ließe sich hier über frappante Aehnlichkeiten zwischen Zuchthäusern
+und Schulhäusern anknüpfen.
+
+Von pedantischen Schulgesetzen und heimlichen Gesellschaften, von
+erfolglosen Ermahnungsphilippiken und schlechten Streichen, von
+öffentlichen Beräucherungen und heimlichen oder auch offen getriebenen
+Lastern ließe sich Langes und Breites erzählen und hieraus mancher Beleg
+für die alte und doch niemals genug beherzigte Wahrheit schmieden: _daß
+Sünden, Laster und Verbrechen von kleinen Anfängen ausgehen und gleich
+schleichenden Krankheiten erst recht offenbar und auffallend werden, wenn
+sie schwer oder gar nicht mehr heilbar sind._
+
+Blicke ich zurück auf meine Jugendgefährten, was ist aus so Vielen
+derselben geworden? Ach, mehr als Einer ist gleich mir gemeiner, geschweige
+"politischer" Verbrecher, gar Mancher hat sich durch Ausschweifungen in ein
+frühes Grab gestürzt, Viele beweinen ein verfehltes Leben und die Meisten
+haben es nicht ihrer Erziehung, sondern glücklichen Naturanlagen und einem
+freundlichen Geschicke zu verdanken, daß ihre Geschichte keine
+Zuchthausgeschichte geworden--denn Religion haben die Meisten noch heute
+keine!--Man sage dagegen was man will: alle Wissenschaft und Bildung gibt
+keine Sittlichkeit, verfeinert höchstens die selbstsüchtigen Triebe des
+Menschen oder lehrt ihn die innere Roheit und Gemeinheit mit einem
+äußerlich glänzenden Firniß übertünchen, durch den der wahre wüste Mensch
+doch täglich hervorbricht. Sittlich sein heißt in Gott leben und in Gott
+vermag nur der zu leben, welchem in Christo die Kraft geworden, den
+geistigen Menschen über den natürlichen zur Herrschaft zu bringen.
+
+Was soll man nun von einem Schulwesen halten, welches katholische Kinder
+von der Volksschule an bis hinauf zur Hochschule mit Geringschätzung gegen
+positive Religion und noch mehr mit Haß und Mißtrauen gegen die eigene
+Kirche erfüllt?--
+
+Freilich, wo Katholiken, Protestanten und Juden in Einer Schulbank sitzen,
+darf außer der Religionsstunde von positiver Religion keine Rede sein und
+wenn die Religionslehrer meiner Zeit wahre Apostel gewesen wären, so würde
+der _Geschichtsunterricht_ nicht ermangelt haben, uns für die
+Reformation und deren Helden ebenso blind zu begeistern als gegen die
+katholische Kirche einzunehmen und in unheilbarer Unwissenheit über
+Geschichte, Einrichtungen und Gebräuche derselben zu erhalten.--
+
+Ein Beweis für die Geringschätzung und Verachtung gegen unsere Kirche liegt
+vielleicht darin, daß ich mich auch nicht Eines Beispiels entsinne, wo
+Einer von uns auf den Gedanken gerathen wäre, irgend einen Heiligen zu
+seinem Vorbilde zu wählen und diesen Entschluß auszusprechen.
+
+Und sind die Heiligen als Helden des sittlichen Willens kleiner denn jene
+Helden, welchen eine befangene Geschichtschreibung Weihrauch streut, weil
+es großartige Räuberhauptleute, siegreiche Menschenschlächter, glückliche
+Erfinder oder ohne ihr Zuthun mit hohen Geistesgaben ausgerüstete Männer
+gewesen?--Wenn einmal jene Zeit da sein wird, wo Christus als lebendiger
+Mittelpunkt der Geschichte der Christenheit und Menschheit erfaßt wird,
+dann wird auch der geringste Heilige mehr gelten denn ein lasterhafter
+Alexander, selbstsüchtiger Napoleon, liederlicher Maler, Geiger oder
+Komödiant.--
+
+Ein weiterer Beweis, wie weit die Protestantisirung der Katholiken in
+paritätischen Ländern gediehen, liegt in der Thatsache, daß zu meiner Zeit
+nicht sowohl die Kenntnißvollsten oder Besten, sondern weit eher
+mittelmäßige Köpfe, Feiglinge, welche nicht den Muth besaßen, Entbehrungen
+und Leiden der Armuth zu ertragen, niedrig denkende Bursche, welche von
+vornherein an die Nichterfüllung gewisser beschworener Pflichten ihres
+künftigen Standes dachten, sich dem Dienste der Weltkirche Jesu Christi
+widmeten.
+
+Begreiflich!--erinnere ich mich doch mehr als eines aufgeklärten
+Professors, der sehr verächtlich in Gegenwart der Schüler vom Stande
+katholischer Geistlichen redete und offen aussprach, der Dümmste sei
+immerhin noch gescheidt genug, um für die Kirche gesalbt zu werden!--
+
+Soll ich länger noch bei dem heimtückischen, verkappten Kriege mich
+aufhalten, der mit schlauer Berechnung gegen Katholizismus und Kirche
+geführt wurde, während man von Oben herab und Unten herauf von Erhaltung
+religiösen Friedens, Gleichberechtigung der Confessionen und andern schönen
+Sächelchen laut genug log und durch Lügen das Gewissen der Hirten der
+Kirche in süßen Halbschlummer und verderbenbringende Betäubung lullte?--
+
+So lange katholische Lehrer inwendige Protestanten sind, die Schulen nicht
+zu Confessionsschulen und alle mit der christkatholischen Weltanschauung in
+näherer Berührung stehenden Unterrichtszweige nicht aus katholischen
+Büchern erlernt werden, so lange wird auch ein neuer und besserer Geist das
+Volk nicht erneuern und beleben, sondern das schleichende Gift des
+Heidenthums wird weiter fressen und zuletzt den Organismus der alten,
+kranken Gesellschaft zerstören!--
+
+Einige Jahre verlor ich an Gelehrtenschulen, an denen keine gründliche
+Bildung zu holen und das bischen Christenthum, welches manche Kameraden aus
+der Heimath mitgebracht, bald verloren war. Der schnell erfolgte Tod meines
+Vaters fiel als Hagelschlag in meine reichlich blühenden Hoffnungen auf
+eine ehrenvolle, glänzende Zukunft. Es stellte sich heraus, das Vermögen
+sei bei weitem nicht so groß als man sich allgemein vorgestellt und eine
+ziemlich sorglose Haushaltung hatte Vieles beigetragen, dasselbe zu
+zerrütten. Außer dem ältern Bruder Anton und mir waren noch mehrere
+Schwestern vorhanden. Anton war älter als ich, noch immer derselbe ruhige,
+stille Mensch, welcher er von jeher gewesen und noch immer entschlossen,
+ein Geistlicher zu werden. Er wollte dies nicht, weil er etwa mehr Glauben
+oder Kenntnisse in religiösen und kirchlichen Dingen besaß als ich, sondern
+weil ihm die Aussicht auf das friedliche Leben eines Landpfarrers behagte.
+Es war der Seelenwunsch der Mutter, daß er seinem Plane getreu bleibe, doch
+stellte der Tod des Vaters der Ausführung desselben Hindernisse entgegen.
+Die Unterstützung irgend einer Art anzunehmen, das armselige Leben eines
+Bettelstudentleins zu führen, dies waren Gedanken, welche die etwas stolze
+Mutter so wenig als Anton zu ertragen vermochten. Der Stand des Vermögens
+war jedoch so, daß Einer von uns Brüdern dem Studiren entsagen mußte, wenn
+soviel übrig bleiben sollte, um den vier Schwestern eine angemessene
+Erziehung und einige Aussicht auf zeitliche Versorgung zu geben. Anton war
+um zwei Jahre vor mir, ich liebte die Mutter und wußte bereits, daß Geld
+die Welt regiere, folglich meine Schwestern ohne einiges Geld schwerlich
+jemals zur Regierung eines Hauswesens gelangten. Nicht ohne Kampf, doch
+voll Freude über den Sieg verzichtete ich auf das Leben eines Studirten.
+Meine Neigung Soldat zu werden, ward von der Mutter aus allen Kräften
+bekämpft. Ich begann Musik zu treiben und trat kaum ein Jahr nach dem Tode
+des Vaters ins Lehrerseminar.
+
+Sie begreifen, daß ich ohne religiösen Glauben, folglich auch ohne
+sittlichen Halt in dasselbe trat und beim Eifer meines Studirens sowie bei
+der Lebhaftigkeit meines Temperaments als vollendeter Feind des
+Pfaffenthums und voll Begeisterung für ein aufgeklärtes, freies,
+glückliches Volk aus demselben herauskam, während mich gewisse Vorfälle und
+Erfahrungen, die ich seit dem Tode des Vaters gemacht, gegen "honette und
+gebildete" Leute stark eingenommen hatten.
+
+Ich war einige Jahre Schulmeister und habe während dieser Zeit Vieles
+durchgemacht, zumal die häuslichen Verhältnisse der Meinigen sich
+verschlimmerten. Mein Ehrgeiz drohte unter der Wucht drückender
+Lebensverhältnisse zu erliegen und leider mit ihm löblichere Eigenschaften.
+--Jetzt begreife ich, weßhalb die Behörden mich zurücksetzten und meine
+Vorgesetzten mir keine Ruhe ließen, doch damals sah ich nur
+Ungerechtigkeit, Partheilichkeit, Pfaffenhaß, Weiberintriguen und machte
+mich selbst zum Unseligsten aller Menschen.--Nicht die Religion, sondern
+die Liebe für eine Sonntagsschülerin war es, welche meinem schwankenden,
+ruhelosen, unseligen Wesen wiederum Halt, Friede, jenen Schimmer der
+Seligkeit gewährt, welcher Jedem die Erinnerung an die erste Liebe
+unvergeßlich macht.
+
+Ich erfuhr nicht, daß Liebe der Lange Irrthum Eines Betrogenen Esels sei,
+wie Saphir herb genug witzelt, aber ich war ein Schwärmer, ein Romanenheld,
+die Geliebte dagegen ein verständiges, treuherziges, einfaches Landmädchen.
+... Es verstand mich nicht, Eltern und Verwandte erklärten sich gegen mich
+--Doch, ich will Sie mit meiner Liebesgeschichte nicht langweilen.
+
+Sie modert längst im Grabe und in demselben Grabe mein besserer Mensch. Ich
+verlor sie keineswegs durch den Tod, denn sie starb erst, während ich in
+Frankreich lebte. Sie ließ sich halb und halb zu einer Heirath zwingen und
+war zu edel, um ein Verhältniß fortzusetzen, welches ihren Pflichten hätte
+gefährlich werden müssen. Ihr Verlust war für mich der Anfang einer
+Sittenverwilderung, deren Schilderung Sie mir gewiß gerne erlassen. Ich
+sank von Stufe zu Stufe und stürzte mich in Schulden, aus denen mich die
+Meinigen weder herauszureißen vermochten, noch den Willen dazu hatten. Die
+Meinigen verfluchten, die Behörden bedrohten, die Gläubiger verfolgten,
+alle Bessern verachteten mich und ich, ich glaubte--ein noch immer
+vortrefflicher Mensch und verdienter Lehrer zu sein und ein Recht zu
+besitzen, der ganzen Welt zu trotzen.
+
+Nur mit Schauder denke ich an jenen Sonntag zurück, an welchem ich im
+Hochamte während der Wandlung auf der Orgel das Bänkelsängerlied:
+
+ _Schnapps, Schnapps, Schnapps, du edeles Getränke_
+
+anstimmte. Ich mußte fast augenblicklich fliehen und floh ohne Geld, ohne
+Schriften, ohne Gepäck, ohne Ziel und Plan und ließ hinter mir die Heimath,
+die Ehre, den Frieden meiner Seele.
+
+Ich floh nach Frankreich und zwar nicht als fortgejagter Schulmeister,
+sondern auch als Deserteur, da ich ein Jahr Kasernenleben mitgemacht und
+auf meinen Abschied noch lange zu warten hatte. In Straßburg ließ ich mich
+anwerben. Wenn ich meine Erlebnisse in Algier, Spanien, in Frankreich,
+besonders in Paris und Lyon erzählen und mich näher mit dem politischen und
+sozialistischen Theile meiner Geschichte befassen wollte, so würde dieser
+ohnehin wohl zu lang gerathene Brief vor einem bis zwei Jahren schwerlich
+ein Ende finden.
+
+
+
+
+#IV.#
+
+
+----Du, theuerster Anton, hast Deinem Bruder das Reisegeld gegeben und in
+zwei Wochen segle ich Amerika zu, um dort nach Kräften gut zu machen, was
+ich an der alten Welt, an dem Vaterlande, an meiner Familie und mir selbst
+gesündiget. Hätte ich nicht das Kleid eines gemeinen Verbrechers getragen,
+so würde ich in ein Kloster gehen, nicht sowohl um meine Schande zu
+verbergen, sondern um die Gnaden zu offenbaren, welche Gott auch dem
+Unwürdigsten noch zukommen läßt, wenn derselbe sich an Ihn wendet.
+
+Es scheint mir nützlich und nothwendig zu sein, daß in den Tagen wachsender
+Armuth, unersättlicher Genußsucht und maßlosen Hochmuthes Menschen durch
+Thaten den Mitmenschen beweisen, wie wenig Einer braucht, um zu leben, wie
+wenig sinnliche Genüsse zum Glücke gehören und wie wenig Demuth und
+Selbstverläugnung uns erniedrigen. Klöster sind eine Forderung der Zeit.
+
+Ach, ich möchte die Zahl Derer so gerne um Einen vermehren, welche laut und
+offen verkündigen, daß der moderne Staat wiederum ein christlicher werden
+müsse und daß Kaiser, Könige, Fürsten und Grafen bis herab zum Bettler
+hinter dem Zaune Eine Pflicht und Eine Bestimmung haben, weil Christus für
+Alle gestorben, Tod und Gericht Allen gemeinsam sind.
+
+Leider sind jene Tage vorüber, wo auch große Verbrecher in stillen
+Klostermauern Aufnahme fanden, um Buße zu thun und durch Wort und Beispiel
+die Vergangenheit zu sühnen.
+
+In zwei Welttheilen lebte ich als Seelenverderber, im dritten will ich als
+Seelenretter ausharren bis zum Ende und als ein in Christo Freigewordener,
+noch weit weniger als früher ein Gewicht auf die Warnung legen, welche
+Faust dem Wagner gibt:
+
+ Wer darf das Kind beim wahren Namen nennen?
+ Die wenigen, die was davon erkannt,
+ Die thöricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten,
+ Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
+ hat man von je gekreuzigt und verbrannt!
+
+Ich suche in Amerika kein Eldorado und weiß, welche Entbehrungen und
+Schwierigkeiten meiner harren, nachdem ich mich entschlossen, die Wilden
+der Urwälder aufzusuchen, unter denselben als Vorarbeiter und Gehülfe der
+Missionäre zu wirken und an ihnen gut zu machen, was ich an Andern
+gesündiget.
+
+Doch ich will Deinen Wunsch erfüllen, theuerster Bruder und Dir Näheres von
+meinem Zuchthausleben erzählen, namentlich insofern dasselbe zu meiner
+sittlich-religiösen Wiedergeburt beitrug.
+
+Es war im Spätjahr 1847. Ich wußte genauer als mancher Andere, daß
+Frankreich am Vorabend einer Revolution stehe. Daß dieselbe jedoch schon im
+Februar 1848 losbrechen und nicht nur die Julimonarchie stürzen, sondern
+die Monarchie überhaupt zertrümmern und Sozialisten zu Führern Frankreichs
+machen würde, das ahnte ich nicht, weil es meine kühnsten Hoffnungen
+überflügelte.
+
+Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, so würde ich die geheime Mission nach
+Deutschland nicht übernommen, eine verhängnißvolle Brieftasche mit
+Banknoten nicht--gefunden und das Inwendige des Zuchthauses wohl nimmermehr
+gesehen haben.
+
+Ich lag im Gefängniß, als die Februartage kamen. Sie machten mich rasend;
+ich konnte Tag und Nacht keine Ruhe finden und wundere mich nur, daß ich
+nicht geisteskrank wurde. An Fluchtversuche dachte ich nicht, weil ich
+stündlich Befreiung auf andere Weise hoffte und erwartete und als diese
+ausblieb, hatte ich es durch meine Reden und mein Benehmen dahin gebracht,
+daß man ein scharfes Auge auf mich bekam und mich in ein besser verwahrtes
+Gemach brachte, wo ich einsame Stunden fieberhafter Spannung verlebte.
+
+Es war zu erwarten, daß Berlin ein bischen Prosit rufe, wenn Paris nieße,
+aber daß Berlin Prosit schreie und die gute alte Stadt Wien zum "Paris in
+Knabenschuhen" würde, hattte [hatte] ich auch nicht geahnt und als es
+dennoch so kam, verwünschte ich bereits im Sträflingskittel das
+Mißgeschick, welches langjährige Hoffnungen verhöhnte, indem es mich, den
+Sohn der Freiheit und Soldaten der Revolution zu einem Staatssklaven und
+Opfer tödlich verachteter und gehaßter Gesetze machte. Das Ärgste war, daß
+ich keineswegs umstrahlt von der Glorie eines politischen Märtyrers,
+sondern in der Eigenschaft eines gemeinen Spitzbuben in die Strafanstalt
+trat und hier zum Ueberfluß noch Leute fand, welche mich früher und leider
+nicht auf vorteilhafte Weise kennen gelernt.
+
+Beamte und Aufseher behandelten mich gleich jedem Andern; ich fühlte, daß
+gleiche Behandlung Aller große Ungleichheiten zur Folge habe, sogar das
+Beisammensein mit Dieben empörte meinen Stolz und ich that Alles, um mich
+bei den Bessern der Sträflingsbevölkerung in Ansehen zu setzen. Doch ein
+alter, einäugiger durchtriebener Gauner, mit welchem ich früher einmal im
+Amtsgefängnisse zu N. gesessen, redete zu meinen Gunsten in einer Weise,
+welche mir die Achtung der Bessern verscherzen mußte und eine Mißgestalt
+von Bauernknecht, welchen ich in demselben Amtsgefängniß gewissenlos um
+seine Ersparnisse gebracht und der nunmehr wieder unter Einem Dache mit mir
+lebte, erzählte Alles, was er Schlimmes von mir wußte.
+
+Draußen Revolution, der Kanonendonner und Freudenjubel der großen Zukunft,
+in der Strafanstalt elende Handarbeit, schmale Kost und schlechter Trunk,
+dabei noch Verachtung von Seite vieler Mitgefangenen, welche mich gerade
+deßhalb um so herber drückte, weil sie von Sträflingen kam--wie zermalmte
+mich solche Verschärfung meiner Strafe!
+
+Der Gedanke, daß ich von meinen Freunden außerhalb der Gefängnißmauern
+verlassen und vergessen sei, beunruhigte mich so sehr als die Ungewißheit
+über die Lage der Dinge und ich glaube ich hätte damals einen Finger für
+eine Nummer der Augsburger Allgemeinen Zeitung gegeben.
+
+Die verworrenen und sich widersprechenden Gerüchte, welche durch
+Plaudereien der Zuchtmeister, Schildwachen, Besuche und neu eintretenden
+Sträflinge verbreitet wurden, dienten im Ganzen nur dazu, meine Neugierde
+zu erhöhen, die Qual der Ungewißheit bis zur Verzweiflung zu steigern und
+meine Ansichten über die Ereignisse vollständig zu verwirren.
+
+Du erfassest das Elend solcher Qualen, im Vergleich zu welchen die Qual der
+Gefangenschaft an sich geringfügig erscheint, nicht. Wer einen Gott hat und
+einen Himmel kennt, der trägt unzerstörbaren Frieden in sich und betrachtet
+das wechselnde irdische Leben ruhig.
+
+Der Mai hatte einige Soldaten zu uns gebracht, die für eine zahme Republik
+gekämpft haben sollten und doch nicht wußten, was eine Republik sei. Es
+waren gutmüthige, brave Bursche und ich suchte mich denselben zu nähern,
+allein sie blieben gegen mich wie gegen die "Spitzbuben" zurückhaltend und
+spröde.
+
+Sie sahen ein, daß es für Soldaten eine unverzeihliche Dummheit sei, zur
+Zeit einer Emeute eine Ausnahme vom Verhalten der Mehrzahl der Kameraden zu
+machen und nicht ihre harte Strafe, sondern ihr Zusammengeworfenwerden mit
+gemeinen Verbrechern war's, was sie nicht zu verschmerzen vermochten und
+ihren Rachedurst entflammte. Ich gewann sie leicht für meine Ansichten,
+nachdem sie einmal an ihre neue Gesellschaft besser gewöhnt waren und
+einiges Vertrauen zu mir gefaßt hatten. Unvergeßlich bleibt mir die
+Demüthigung, welche mir einer derselben bereitete. Ich erzählte nämlich von
+Robespierre und lobte vor Allem die Uneigennützigkeit dieses Helden der
+Revolution, den ich als eines meiner Vorbilder erklärte. Da meinte Jener
+trocken, wenn Uneigennützigkeit für einen rechten Volksführer unentbehrlich
+sei, so werde ich niemals einen solchen abgeben!--Aus dieser Rede wie aus
+den Blicken und dem Gelächter der Umsitzenden erkannte ich, daß alle genau
+wußten, weßhalb ich verurtheilt worden. Glaubst du, daß ich Nächte hindurch
+mich ruhelos auf meinem Strohsacke herumwälzte voll Aufregung über solche
+Gewißheit?--
+
+Mit der Zeit bekam ich Gewißheit, daß man in der Welt auch ohne mich fertig
+werde und mich "den Spitzbuben" völlig vergessen habe--eine schmerzliche
+Gewißheit für einen mit der Großmannssucht behafteten Menschen meiner Art!
+Der Juniaufstand wurde durch einen Zufall bereits am folgenden Morgen nach
+dem Ausbruche unter uns Gefangenen bekannt.
+
+Wiederum war für längere Zeit meine Gemüthsverfassung die einer
+Tigermutter, welche von Todfeinden ihre Jungen quälen und zerfleischen
+sieht, ohne mehr zu vermögen als den grimmigen Zorn und Schmerz durch
+Gebrülle zu mildern. Kaum fing ich an, mich an meine Lage zu gewöhnen und
+in ihren Zerstreuungen einen Schein von Ruhe zu gewinnen, als ich in eine
+Zelle versetzt wurde. Es war im Spätherbst 1848.
+
+Nach einigen Tagen stiller Ergebung berauschte mich allgemach die
+Einsamkeit. Zuweilen verlebte ich ruhige, sogar heitere Stunden, doch in
+andern, besonders in der Todesstille der Nacht und bei schlechtem Wetter
+empfand ich alle die unbeschreiblichen Qualen meiner Lage.
+
+Ich möchte dieselben mit denen des angeschmiedeten Prometheus vergleichen,
+doch hinkt solcher Vergleich vielfach, namentlich hatte ich dem Himmel mein
+Feuer nicht gestohlen, sondern von der Hölle entlehnt.
+
+Arbeiten und Bücher gewährten mir einige Unterhaltung und Trost. Ich
+arbeitete, um mich selbst zu vergessen und einige Stunden des Schlafes,
+dieses köstlichsten aller Güter eines Gefangenen, zu genießen. Meine Liebe
+zum Lesen wäre leicht in Lesesucht ausgeartet, wenn ich mich der
+Hausordnung hätte entziehen können. Doch welcher Sterbliche vermag sich in
+einem Zellenbau der strengsten Beobachtung bei Tag und Nacht zu entziehen?
+Geistliche, Beamte und Aufseher besuchten mich nach ihrer Vorschrift, doch
+gewährten mir ihre Besuche wenig Unterhaltung und ihnen kein Vergnügen.
+
+Mein Bestreben war darauf gerichtet, dieselben auf eine Weise zu kränken
+und zu beleidigen, für welche sie mich nicht zu bestrafen vermochten.
+
+Uebrigens ist ihre Strafgewalt so beschränkt, daß man wenig mehr nach
+Strafen fragt, wenn man die üblichen einmal gekostet und nachdem mir eine
+Uebertretung der Hausordnung einigemal kleine Strafen zugezogen, ertrug ich
+Strafen gerne, wenn ich mir nur einbilden durfte, die Beamten recht
+geärgert zu haben. Nur Einer kam mit mir aus. Es war ein Hauslehrer, der
+von Zeit zu Zeit mit Heckerhut, Hahnenfeder und Schleppsäbel in meine Zelle
+trat, um sich nach dem Befinden des "Bürger Gefangenen" zu erkundigen.
+Nachdem er wußte, wie lange und wo ich in Frankreich und andern Ländern
+gelebt und welcher Parthei ich lange Zeit angehörte, führten wir viele
+wunderliche Gespräche mit einander. Bei ihm konnte ich meinem Grimme gegen
+Gott, Welt und Menschen freien Lauf lassen, denn auch er gehörte zu Jenen,
+welche von ergriffenen Prinzipien zu den äußersten Folgerungen derselben
+muthig fortschreiten.
+
+Von ihm erfuhr ich, was draußen in der Welt gespielt wurde und meine
+Hoffnung auf Befreiung ward so lebhaft, daß ich mich am Morgen jedes Tages
+fragte: Wirst du die Hausschelle heute Abend noch hören?--Noch vor Mai 1849
+verlor ich den Edlen, im Mai erfuhr ich die Befreiung der politischen
+Gefangenen und erwartete die meinige--vergeblich. Jetzt brütete ich
+wiederum düstere Plane unersättlicher Rache, schwelgte in entmenschten
+Träumen blutigen Hasses und fand darin die einzige Unterhaltung, weil ich
+in der Kirche nicht zum Hören zwischen den kahlen Zellenwänden nicht zum
+Lesen und Nachts nicht zum Schlafen gelangte.
+
+Ich hatte Schreibzeug, noch einiges Papier und begann zu dichten. Eine
+Sammlung. _"Rothe Lieder"_ sollte mir meine Lage erträglicher und nach
+meiner Befreiung meinen Namen der Welt bekannt machen.
+
+Während der Arbeit schmiedete ich Verse und schrieb einen nach dem andern
+geschwind auf eine neben mir liegende Schiefertafel. Kam Jemand, so löschte
+ich das Geschriebene schleunig aus, andernfalls schrieb ich es am frühen
+Morgen oder während der Mittagsstunde auf Papierstreifen, die ich in den
+Schuhen bei mir trug.
+
+Eines mag als Probe meiner damaligen Seelenstimmung hier stehen und Dir
+zeigen, wie weit ich noch nach etwa 10monatlicher Einzelhaft von Besserung
+entfernt war:
+
+ Ein Sklavenvolk mag vor Molochen kriechen,
+ Vor schlauen Bonzen wahnerfüllt sich beugen,
+ Sein Glück mit Füßen treten im Unsinnsreigen
+ Und Seligkeit aus Triererröcken riechen!
+
+ Doch ewig soll das Volk an Dummheit siechen?--
+ O nein! die Wahrheit wird und muß sich zeigen,
+ Muß glühendroth aus Tempelasche steigen
+ Sobald der Wahn des Christenthums gewichen!
+
+ Drum frisch, ihr Freien, laßt nie träg euch finden,
+ Wetzt gegen Bonzentrug die schärfsten Klingen,
+ Es gilt, der freien Menschheit Reich zu gründen!
+
+ Der Weltgeist leiht euch riesenstarke Schwingen,
+ Kein Adler kann im Sonnenlicht erblinden,
+ Der Menschheitsgott lohnt euer kühnes Ringen!--
+
+Im Juni setzten mich Kanonendonner und Kriegslärm aller Art in fieberhafte
+Bewegung. Jeden Schritt, der auf den Steinplatten des Ganges dröhnte, hielt
+ich für den meines Befreiers.
+
+Ich hoffte, daß alle Gefängnisse ihre bleichen Bewohner ausspeien würden
+und war gesonnen, aus denselben ein in die graue Tracht des Sträflings
+gekleidetes Corps zu bilden, um dasselbe als Vorkämpfer beim Kampfe gegen
+die alte Gesellschaft zum Siege zu führen.
+
+Freiheit und Kampf, Sieg und blutige Rache, Tod und Ruhe war meine Loosung
+und ich vergaß dieselbe sogar in meinen nächtlichen Träumen nicht.
+
+Eines Abends marschirten preußische Füseliere über die Ringmauern der
+Anstalt, bald nachher stand auf der Mauer meines Spatzierhöfchens
+geschrieben; "Die Freischaaren sind aus dem Schwarzwalde in die Schweiz,
+Alles ist aus.--Die Franzosen wollen wieder Einen haben und der Sträfling
+von Ham soll auf der Liste zu oberst stehen. Lauter Lumperei!--"
+
+Dies war zuviel.
+
+Seit vielen Jahren eines ins Aeußerliche versenkten Lebens hatte mich Gott
+das Rächeramt an mir selbst verwalten lassen. Eine beständige qualvolle
+Unruhe, eine tiefe geheime Unzufriedenheit mit mir selbst jagte mich aus
+einer Stunde in die andere wie den ewigen Juden und ließ mir nicht Einen
+vollkommen sorgenlosen Genuß. Aus jedem Freudenbecher stiegen Dämonen und
+setzten sich als unerträglich schwere Alpe auf mich, während Springfedern
+in mir zu sein schienen, die beim leisesten Drucke von Außen mich fernen,
+unbekannten Zielen zutrieben.
+
+Während meiner Gefangenschaft war ich bereits so weit gekommen, die Ochsen
+und Kühe zu beneiden, welche den Brodwagen in den Hof der Anstalt
+schleppten. Ich würde gerne geglaubt haben, das elendeste Thier sei ein
+glücklicheres Wesen als der Mensch, wenn nicht ruhige, freundliche,
+glückliche Menschen, hinter denen mein scharfgewordenes Auge keinen Schein
+entdeckte, täglich in meine Zelle getreten wären.
+
+Ich mußte mir in ruhigeren Stunden gestehen, eine Regierung, welche Diener
+von der Art meiner Besucher habe und ihre schlechtesten Unterthanen noch
+menschenfreundlich behandle, müsse nicht ganz fluchwürdig sein. Nicht
+minder fiel es mir bei, eine Religion, welche ihre treuen Anhänger so
+ruhig, freundlich und glücklich mache wie die christliche, bleibe eine
+preiswürdige Religion, selbst wenn ihre höchsten Vorstellungen keiner
+Wirklichkeit entsprächen. Ich begann die Gläubigen um ihres Glaubens oder
+vielmehr um des Glückes willen zu beneiden, welches der Glaube denselben
+gewährt.
+
+Beim Durchmustern meines vielbewegten Lebens kam ich allmälig immer mehr
+auf meine Jugenderinnerungen zurück, weil sie die süßesten für mich waren.
+Unsere Kinderzeit, theuerster Bruder, wurde für mich zunächst der Born, aus
+welchem ich mich erfrischte, um zum Quell des wahren Lebens zu gelangen.
+
+Die Macht dieser Erinnerungen trug Vieles bei, mein Felsenherz zu erweichen
+und die wehmüthigen Betrachtungen und Vergleiche zwischen dem seligen Kinde
+und dem unseligen Zuchthäusler versenkten mich in ernstes Nachdenken.
+
+Mehr als einmal, wenn die Glocken von fern und nahe in meine Zelle
+hineinläuteten und das Abendroth zwischen den Kerkerfensterlein
+hindurchzuckte und golden über die kahlen Wände zog, da sah ich längst
+entschwundenes Abendroth und unter ihm die Thürme, von welchen die Religion
+ihren Abendgruß über unser Städtlein mit seinen dunkeln Dächermassen
+hinrief und sah ein Haus, worin ein aufblitzendes Licht die liebsten,
+freundlichsten Gestalten beleuchtete, die mir in meinen Erdenwallen
+vorgekommen. O Anton, Anton, ich wünschte dann wiederum ein Kind zu sein
+und mein Leben in ganz anderer Weise von vorn anfangen zu können!----
+
+Ich begann allmählig auch religiöse Schriften zu lesen und über den Inhalt
+reiflich nachzudenken. Schon die Vorträge und Predigten hatten mich
+überzeugt, daß ich in vielen Punkten der christlichen Religion in Irrthum
+und Unwissenheit geschwebt und alle Punkte nur von der Seite aus zu
+betrachten gewöhnt war, von welcher sie mir verwerflich erschienen.
+
+Je besser ich erkannte, daß ich trotz allen Erinnerungen aus dem
+Katechismus und an Predigten von meiner Religion bereits so wenig als ein
+Heide verstünde, desto mehr stiegen Interesse und Eifer mich zu
+unterrichten. Bald machte ich Auszüge aus guten Schriften und zuletzt
+eigene Aufsätze, um mich im Denken zu üben.
+
+Gleichzeitig las ich geschichtliche Werke und begann an dem Ikarien, in
+welches ich mich ganz und gar festgerannt hatte, irre zu werden.
+
+Je mehr ich las und dachte, desto mehr wich der Fanatismus des Unglaubens.
+Ich lernte die Ruhe des Denkers kennen und wenn dieselbe auch noch lange
+nicht die Ruhe des Christen ist, so bleibt sie doch ein Durchgangspunkt, um
+zu derselben zu gelangen.--
+
+Jetzt ist es mir klar, daß Gott mich ins Zuchthaus führte und daß die
+Zuchthausstrafe der Rettungsversuch war, welchen Er mit mir anstellte,
+damit meine Seele nicht ewig verloren gehe.
+
+Er handelte an mir wie ein geschickter Arzt, welcher kein Sengen, Brennen
+und Schneiden scheut, wenn es dem Kranken nützt, ich dagegen lange genug
+wie ein in Fieberwahn Daliegender, der von keinem rettenden Arzte wissen
+will und um so heftiger nach demselben schlägt, je näher er ihm tritt.
+
+Er züchtigte mich mit der einen und hielt mich mit der andern Hand.
+
+Du weißt bereits auf welche Weise Er meine Zuchthausstrafe verschärfte.
+Unter Sträflingen wäre ich niemals so weit gekommen, Geschmack an
+religiösen Schriften zu finden. Seitdem ich einsam lebte und gar nichts
+mehr vom Leben und Treiben der Welt erfuhr, war ich allmälig im Stande
+Schriften zu lesen, deren Inhalt meinen Ansichten schnurstracks widersprach
+und der Mangel an Zerstreuung zwang mich, die Gründe der Verfasser zu
+prüfen.
+
+Gleichzeitig gewann die Einsicht, daß ich durch unverständiges Benehmen
+meine Lage nur verschlimmere, Uebermacht über die Leidenschaftlichkeit
+meines Herzens und meinem anständigern, würdigerem Benehmen gegen Besucher
+entsprach eine freundlichere, gütigere Behandlung von ihrer Seite.
+
+In B. dauert das Jahr nur 8 Monate. Die Hälfte meiner Strafe war
+überstanden, laut der Hausordnung konnte ich um Begnadigung bitten. Lange
+schwankte und zauderte ich. Der Gedanke auszuharren, um mich nicht der
+Gefahr einer demüthigenden Zurückweisung auszusetzen, wich nur, wenn ich an
+die bisher ausgestandenen Leiden dachte. Ein Traum war's, der mich bewog,
+ein Gnadengesuch einzugeben und an einen günstigen Erfolg desselben zu
+glauben.
+
+Einen tiefern Schmerz habe ich selten in meinem quallenreichen
+[qualenreichen] Leben empfunden als den, welchen ich empfand, nachdem mir
+ein Schreiber die Nachricht brachte, meine Bitte sei eine vergebliche
+gewesen. Weniger die Vernichtung süßer Hoffnungen und die Fortdauer der
+Gefangenschaft, als die Täuschung des Vertrauens, das ich der regierenden
+"Bourgeoisie" geschenkt und der Gedanke, daß Beamte und Aufseher, die meine
+frühern Prahlereien angehört und deren Glauben an meine Standhaftigkeit ich
+durch die Bittschrift vernichtet hatte, wars, was mich schmerzte.
+
+Ich that furchtbare Schwüre, daß meine Hand verdorren und mein Auge
+erblinden möge, wenn ich jemals wiederum eine Feder anrühre, um ein
+Gnadengeheul zu componiren. Der Schwur ward gehalten, nicht weil mein
+Hochmuth stark, sondern weil der Schwur Schwur blieb.
+
+Alle Ruhe und Mannhaftigkeit, alle Versöhnlichkeit und Unpartheilichkeit
+waren aufs neue verloren. Selbst gegen meine Besucher konnte ich mehr als
+mürrisch und grob sein, denn ich hatte die Vornehmsten in Verdacht, daß sie
+meine Befreiung nicht bevorwortet, sondern hintertrieben hätten, während
+sie mir ins Gesicht Güte und Menschenfreundlichkeit logen und es gab
+Stunden, wo die innere Aufgeregtheit mich alle Klugheit und Mäßigung
+vergessen ließen.
+
+Meine religiösen und geschichtlichen Betrachtungen, die Vergleiche der
+verschiedenen Systeme sozialistischer Träumer hörten auf, ich war zu
+unruhig, um lesen zu können und nur die "Rothen Lieder" gediehen.
+
+Sie lullten mich in die Ruhe stiller Verzweiflung und stumpfer
+Gleichgültigkeit, indem ich durch sie meinen Schmerz und Ingrimm gegen
+Gott, Welt und mein Geschick aus mir herausarbeitete; aber wenn ich
+bedachte, weßhalb ich bestraft worden und wer mich in Gewalt hatte oder auf
+die lange trostlose Reihe der Kerkernächte zurück oder vorwärts blickte,
+dann hatte die trügerische Ruhe des Fatalisten, in welche ich mich
+hineinzuzwingen versuchte, ein Ende.
+
+Nur ein gemeiner Verbrecher in der Zelle erfährt, was es heißt, die Hölle
+im Busen tragen und die Sehnsucht nach Glück sterben lassen. Es gab
+Augenblicke, wo ich auf die Knie stürzte und die unbekannten Mächte, welche
+ihr grausames Spiel mit mir trieben, um Erbarmen anflehte. Im nächsten
+Augenblicke stand ich auf, lachte voll ingrimmigen Hohns und rief den
+Teufel an, mir die Freiheit, Ruhe, Untergang im Genuß oder auch die Hölle
+zu verschaffen. In der Hölle ein ganzer Teufel zu sein, ewig Gott zu
+lästern und zu höhnen, in diesem entsetzlichen Gedanken lag für mich in
+meinen ärgsten Stunden eine Art Wollust. Ich wünschte, daß es einen Gott,
+einen persönlichen Gott geben möge, damit ich ein rechter Teufel sein
+könne. Wer gab ihm das Recht, mich auf diese Welt zu setzen? Aus einem
+glücklichen Nichts ein unglückliches Etwas zu machen? Weßhalb verfolgte Er
+mich seit vielen Jahren? Warum ließ er mich leben, da ich doch sterben
+wollte?--
+
+Ja, wollte, theuerster Bruder! Schaudere nicht vor mir zurück, ich kannte
+und besaß mich selbst damals nicht mehr, ein Dämon lebte und regierte in
+mir, denn lange hatte ich der Hölle willenlos gedient und war in der Zelle
+bereits in Gefahr gerathen, ihr ungetreu zu werden!--
+
+Ich wollte mich erstechen und schliff mein stumpfes Messer mit unsäglicher
+Mühe scharf und spitz. Aber ich besaß den Muth nicht dazu. Sage Keiner ein
+Selbstmörder sei ein Feigling, es ist nicht wahr, zum Selbstmorde gehört
+ein Muth, welcher den Selbsterhaltungstrieb und die Ewigkeit verhöhnt. Ein
+Aufseher entdeckte das Messer, nahm es weg und mehr als je fand ich mich
+beargwohnt und beobachtet. Ich betrachtete stundenlang meinen Kleiderrechen
+und dachte daran, mich zu hängen.
+
+Allein das Hängen hat namentlich für einen alten Soldaten etwas Widerliches
+an sich, vielleicht weil es die leichteste oder doch angenehmste Todesart
+sein soll. Zudem konnte ich zu früh entdeckt, abgeschnitten und gerettet
+werden. Noch meine Todesgedanken waren von der Eitelkeit beherrscht; ich
+glaubte die herabsetzenden Redensarten derer, die meinen Leichnam auszogen,
+zu hören und der Gedanke, von gleichgültig lachenden Studenten zerschnitten
+zu werden, erregte mir ein widerliches, grauenhaftes Gefühl.
+
+Die Hölle ließ mich auf eine Todesart verfallen, deren Namen ich nicht
+nennen mag; sie beseitigt den Schein des Selbstmordes und führt
+Annehmlichkeiten mit sich, welche die des Hängens durch Dauer weit
+überbieten. Um die Scheu vor der Anatomie zu beseitigen, wollte ich zuerst
+von meinem Gutmachgeld das Doppelte des Werthes meines Leichnams--ein
+menschlicher Leichnam gilt in B. 10 Gulden--an Jemanden außerhalb des
+Gefängnisses senden und es dahin bringen, daß dieser Jemand nach meinem
+Tode das Geld in die Anstalt brachte und die Beamten dadurch veranlaßte,
+meinen Leichnam nicht den Studenten zu schicken, sondern in B. begraben zu
+lassen.
+
+Diesen Jemand hatte ich noch nicht gefunden, als ich in eine schwere
+Krankheit verfiel.
+
+Ich kam in eine Krankenzelle, welche sich von den gewöhnlichen Zellen fast
+nur durch die größere Bequemlichkeit und vor Allem durch eine wahrhaft
+christliche Behandlung unterscheidet, deren man darin genießt. Nur dunkel
+entsinne ich mich, wie ich später in den Krankenstock hinabgetragen wurde,
+wo sich die Schwerkranken befinden.
+
+Bienen, Rosenkäfer und buntfarbige Schmetterlinge gaukelten lustig um
+duftende Rosenhecken und prächtige Blumenketten des Citysus im heimelig
+stillen Zuchthausgarten und die Schwalben äzten ihre Brut, als meine
+Krankheit sich mit unerträglichem Kopfschmerz und galoppirendem Pulsschlage
+einstellte. Der Wind trieb aber die letzten falben Blätter von den Bäumen,
+der Sängerlärm im nahen Schloßgarten war verstummt und die unvermeidlichen
+Spatzen zankten sich um verlassene warme Rester [Nester] unter den Dächern
+des vierten Flügels, als ich zu neuem Dasein erwachte und mich täglich
+etwas länger in der Kunst des Stehens und Gehens einüben durfte.
+
+Ich vermeinte kein Gefangener mehr zu sein, denn ich wohnte in einem hohen,
+anständig eingerichteten Gemache mit großem Fenster ohne Eisengitter und
+nur der verbleichte Uniformsrock der Krankenwärter und noch mehr das
+unmenschliche und unnöthige Gebrülle der meisten Wachen auf der Ringmauer
+mahnte mich daran, daß ich noch Gefangener sei.
+
+Der Krankenwärter besaß mehr Einsicht und Bildung als Leute seiner Art
+gemeiniglich zu haben pflegen. Er nährte meinen aufwachenden Verstand,
+während sein Gehülfe, ein etwas kurz und uneben gerathener Bursche mit
+koketten Löcklein und zahmen Blauaugen den Magen versorgte.
+
+Ein dicker, stattlicher, herzensguter Mann, der dröhnenden Schrittes durch
+die Gänge und täglich lieber in mein Gemach stieg, zeigte sich bereit, mir
+Alles zu enthüllen, was von Adams Zeit bis zu meiner Genesung über und
+unter dem Monde vorgefallen war, insofern es sich nur mit der Hausordnung
+vertrug. Der Arzt selbst besuchte mich täglich zwei bis dreimal, der
+Widerwille, den ich früher gegen ihn als den "Knecht einer verrotteten
+Regierung" so gut als gegen andere Besucher empfunden, war wie weggeblasen.
+Er hatte mein Leben retten helfen und ich fühlte, daß ich das Leben
+wiederum liebte, denn als der Mann mit dem dröhnenden Schritte mir
+scherzend einen amerikanischen Strick in Aussicht stellte, schauderte ich
+unwillkürlich zusammen.
+
+Täglich kam der vortreffliche Hausgeistliche zu mir und jeder Besuch machte
+mir denselben theurer. Durch maßlosen Hochmuth, ungeschickte Heuchelei und
+arge Verstocktheit hatte ich ihn oft betrübt. Seine Freude, mich gelassen
+und ruhig zu finden, war jetzt um so größer, denn er hatte alle Hoffnung
+aufgegeben, mich gründlich zu bekehren und gehörte zu jenen Wenigen, denen
+die Aufrichtung Eines Gefallenen in der That mehr gilt, als die Erhaltung
+von zehn Nichtgefallenen, bei denen die Gefahr des Fallens vorüber ist.
+
+Der alte wüste Ichmensch schien wirklich absterben, ich neugeboren werden
+zu wollen. Die Krankheit hatte meine leibliche Kraft gebrochen, sie
+erstarkte allmählig, doch den alten Menschen konnte und Sollte ich nicht
+wieder erstarken lassen. Schon vor der Krankheit hatte ich so oft
+gewünscht, wiederum ein Kind zu sein und mein Leben von vorn anfangen zu
+können. Nunmehr war ich ein Kind und beschloß ein anderes Leben anzufangen,
+obwohl meine Seelenstimmung jetzt noch mehr Folge der allgemeinen Schwäche
+und mein Glaube an Christum, den Sohn Gottes und dessen Weltkirche noch
+kein felsenfester war.
+
+Mit der Kraftlosigkeit eines Kindes verband sich bei mir auch die Weisheit
+und Leichtbestimmbarkeit eines Kindes. Liebe zieht den Menschen groß; die
+Liebe von Solchen, denen ich niemals Gutes erwiesen und oft genug Arges
+gesagt und gewünscht hatte, verhalf mir zu meiner leiblichen und geistigen
+Genesung.
+
+Lange, einsame Spätjahrnächte gaben mir Muße zum reifen Nachdenken. Wenn
+der Sturm um das Haus heult und der Regen an die Fensterscheiben schlägt,
+dann fühlt sich der Mensch, dem nicht das Glück geworden, Gatte und Vater
+zu sein, einsam und keine trauliche Umgebung hält ihn von Betrachtungen ab,
+welche mit den Stürmen oder der Eintönigkeit der Außenwelt harmoniren. Und
+ich, ein gemeiner, kranker Verbrecher, ein Gefangener, der nach einem an
+verfehlten Bestrebungen und Thaten reichen Leben anfängt, ernsthaft in sich
+zu blicken, dem der Tod nahe gestanden und Gott neues Leben geschenkt, er
+sollte sich keinen ernsten und schwermüthigen Betrachtungen hingeben?--
+
+Lange, einsame Spätjahrnächte hindurch überlegte ich namentlich auch, was
+ich denn wisse und verstehe und der Menschheit bisher nützte. Arm, krank,
+ohne Zweck und ohne Mittel lag ich als unwissender Mensch und Feind der
+Menschheit im Krankenzimmer eines Zuchthauses, ein Mann reif an Jahren,
+leer an ersprießlichen Thaten und--doch Bruder, theuerster Bruder, erlasse
+mir meine damaligen Stunden zu schildern. Nach langer, langer Zeit zum
+erstenmal weinte ich keine Thränen der Wuth, sondern lindernde
+schmerzstillende Thränen, weinte nicht über Andere, sondern über mich,
+versuchte zu beten, stammelte zuweilen ein Vaterunser, dasselbe Vaterunser,
+welches mich und Dich unsere theure, von mir so tiefgekränkte Mutter
+gelehrt hatte.
+
+Ich dachte nach über mich und mein Schicksal. Es däuchte mir, als ob ich
+mich selbst bisher arg gehaßt und Alles gethan habe, um mir mein erlebtes
+Schicksal zu bereiten. Je mehr ich an mich selbst und meine Fehler dachte,
+desto mehr wurde ich geneigt, die Fehler Anderer in milderm Lichte zu
+sehen.--
+
+Eine Unvorsichtigkeit rief einen Rückfall meiner Krankheit hervor und der
+Tod trat mir wiederum nahe. Ich zitterte nicht vor ihm, doch wünschte ich
+meine Erhaltung, weil ich so Vieles noch auf Erden gut zu machen und eine
+Ahnung künftigen Glückes mein ganzes Wesen durchklungen hatte. Zum
+zweitenmal wurde ich gerettet, doch wohl nur deßhalb, weil ich vor dem
+Rückfall in meiner Genesung ziemlich weit vorgeschritten war.
+
+Wiederum dachte ich über mich und mein Schicksal nach, wiederum war mir das
+Zeitliche gleichgültig und ich beschäftigte mich gerne mit den Zuständen
+des Jenseits, dem ich näher als Andere gestanden, wiederum wirkten Besuche
+und das Vorlesen meines Wärters vorteilhaft auf mich ein.
+
+Ich wünschte lebhaft ein anderer Mensch zu werden und zum lebendigen
+Glauben an Christum den Gottessohn, diesen süßen, beseligenden Glauben, zu
+gelangen. Es dauerte lange, bis ich mich dazu entschloß, Gott nicht nur um
+den Glauben zu bitten, sondern mich Ihm in in [in] einer Generalbeichte
+einmal ganz und unbedingt zu Füßen zu werfen.
+
+Ein Sonntagnachmittag besiegte meine letzten Bedenklichkeiten; ich werde
+diesen und die darauf folgende Nacht nicht vergessen haben, wenn unsere
+Gebeine längst vermodert sind und wir zusammen dort leben, wo der Mensch
+den ganzen Plan und Gang seines Geschickes von der ersten Minute seines
+Daseins bis zur letzten erschaut.
+
+Der Himmel schaute trüb zum Fenster herein, die nahen Hügel im Schmucke des
+Winters mahnten an Tod und kalte Nächte. Alle, die mich besucht hatten,
+waren ernst und einsilbig geblieben, ein Gedanke von Verlassenheit, wie ihn
+ein Sterbender in meiner Lage haben kann, durchklang meine Seele. Die
+Gefangenen sangen die Vesper. Die halb verlornen Töne der Orgel, die
+Stimmen der Singenden hatten etwas Tiefergreifendes, Wehmüthiges,
+Trauriges. Ich vermeinte meinen Leichengesang bei lebendigem Leibe zu
+vernehmen, ein herzzerreißendes wehmüthiges Klagelied über mein verfehltes
+Leben. Ich betete und glaubte zu fühlen, wie der Tod näher zu meinem Herzen
+heransteige, faltete unwillkürlich die Hände und betete.
+
+Jetzt wurde ein anderer Psalm angestimmt, deutlich vernahm ich aus allen
+Stimmen heraus einen durchdringenden Tenor, der die Worte sang:
+
+ Die Dunkelheit der Leidensnächte
+ Verwandelt Er in Wonnetage!--
+
+Dieser Vers bohrte sich mit unwiderstehlicher Macht in mein Gedächtniß; ich
+mußte ihn stets wiederholen und so oft ich beschloß, denselben zu
+vergessen, hatte ich ihn wieder gedacht oder sogar gemurmelt. Es lag etwas
+Wunderbares in den einfachen, von mir schon so oft gehörten und niemals
+besonders beachteten Worten.
+
+Finsterniß--Leidensnächte--Er--Wonnetage!--an diese vier Worte knüpfte sich
+eine lange Kette von Gedanken, es schien mir, als ob Gott selbst zum Troste
+sie mir zugerufen.
+
+Ich wollte beten, aber ich betete nur diese vier Worte, schlief endlich ein
+und als ich spät in der Nacht aufwachte, mahnte mich die Dunkelheit im
+Gemache an die Dunkelheit meines Lebens und meiner Lage.
+
+Drüben in der Stube des Krankenwärters schlug die Wanduhr langsam und
+schwermüthig die zehnte Stunde. Dies war die Zeit, in welcher unsere Eltern
+auch von mir allabendlich den Gutenachtkuß erhielten und gaben.
+
+Ich gedachte der Wonnetage unserer Kindheit, der Leidensnächte, welche ich
+mir und Euch bereitet, der zahllosen Beleidigungen und Frevel, welche ich
+gegen Ihn verübt, der mich verlassen und der Finsterniß, welche in mir
+viele Jahre geherrscht.
+
+Das tiefe Schweigen der Nacht redete furchtbarer als je zu meinem Herzen,
+der Nachbar im Nebenzimmer war heute verschieden, ich glaubte ihn jeden
+Augenblick zur Thüre hereintreten, mich mit glanzlosen Augen und dem
+haarsträubenden Gesichtsausdrucke dessen, der die Ewigkeit mit ihren
+Schrecken erblickt, betrachten zu sehen und zu hören, wie er vom Jenseits
+redete. Diese Vorstellungen wurden immer lebhafter, kalter Schweiß
+überrieselte mich; ich wollte rufen, aber die Stimme versagte, vergeblich
+schloß ich die Augen und steckte den Kopf unter die Decke--immer sah ich
+den gräßlichen Boten der Ewigkeit vor mir, sah trotz der Decke und
+Dunkelheit, wie das Gemach sich mit Verstorbenen anfüllte, ich glaubte zu
+ersticken und war nicht im Stande ein Glied zu rühren. Ich sah den Vater,
+die Mutter, sie betrachteten mich mit Augen, in denen mein
+Verdammungsurtheil stand, verstorbene Freunde, die mich anstierten,
+Kameraden, welche den arabischen Sand mit ihrem Blute getränkt und mit
+denen ich so Vieles gesündiget und hinter ihnen eine gräßliche Gestalt, die
+mir zuwinkte und verschwand. An ihrer Stelle stand eine Lichtgestalt, der
+Glanz, der von ihr ausströmte, verklärte Alles ringsum. Leise, dann lauter,
+bald feierlich und majestätisch, bald weich und milde ertönten die Worte
+vielstimmig in Einem fort:
+
+ Die Dunkelheit der Leidensnächte
+ Verwandelt Er in Wonnetage!
+
+Das Geschrei der Schildwachen weckte mich aus einem Zustande, der mir den
+Zustand der Verdammten und der Seligen geoffenbart. Hatte ich geträumt? War
+Alles Alpdrücken? Spiel der erhitzten Einbildungskraft? Ich weiß es nicht,
+doch das weiß ich, daß ich ganz anders als früher betete und
+augenblickliche Buße, den Beginn eines neuen Lebens gelobte und meine Seele
+ihrem lange genug verkannten Erlöser empfahl. Gebet und Gelübde verliehen
+mir wunderbaren Trost und eine Freudigkeit des Geistes, wie ich dieselbe
+noch niemals empfunden.
+
+Der Krankenwärter trat herein, um nach mir zu schauen. Er versicherte, daß
+ich lange und laut geredet. Auf meine Bitte zündete er ein Licht an und
+holte ein Gebetbuch, um Etwas vorzulesen. War es Fügung oder Zufall, daß er
+gerade das Gedicht des heiligen Bernhard:
+
+ Jesu, dein süß Gedächtnis macht,
+ Daß mir das Herz vor Freuden lacht!
+
+ein Gedicht, dessen unbeschreibliche Innigkeit und göttliche Liebe nur ein
+gläubiger Christ vollkommen erfaßt, aufschlug? Er mußte es mehrmals
+wiederholen und ich schämte mich der heißen, ebenso schmerzlichen als süßen
+Thränen nicht, welche es mir auspreßte.
+
+Der Krankenwärter ging. Doch blieb ich nicht allein--mein Schutzgeist, mein
+Erlöser befanden sich bei mir und vernahmen von meiner Reue und Liebe
+Alles, was die Verwandlung der Leidensnächte in Wonnetage mir gegeben. Nach
+einem erquickenden Schlummer wachte ich auf, als die milden Sonnenstrahlen
+eines schönen Herbsttages bereits in mein Gemach spielten. Den ganzen Tag
+verwendete ich zur ernsten Gewissenserforschung, gegen Abend legte ich
+meine Generalbeichte ab und empfing wohl zum erstenmale würdig den Leib
+Jesu Christi. Wer gegen die Ohrenbeichte der Kirche auftritt, zeigt damit
+nur, daß er noch nie recht beichtete und wer im heiligen Abendmahl etwas
+Anderes als den verwandelten Christus findet, beweist, daß das innerste
+Wesen des Christenthums, das Liebesverhältniß der Menschenseele zu Gott,
+ihm noch nicht recht aufgegangen ist.
+
+Gott war fortan mit mir und ich bei Ihm und wenn auch Schwachheit und
+Sündhaftigkeit mich Ihm zuweilen zu entfremden drohten, kehrte ich
+inbrünstiger zu Seinen Füßen zurück.
+
+Ich betete viel und meist ohne Gebetbuch. Außer der Nachfolge Christi und
+der Philothea genügte mir kein Gebetbuch.--
+
+Verbrechen, welche vom Gesetze geahndet werden und an sich entehrend sind,
+habe ich außer dem, welches mich in den Kerker führte, glücklicherweise
+keine begangen, aber will dies Vieles bedeuten?
+
+Wie mangelhaft, wandelbar, verschieden sind Gesetzgebungen!
+
+Unter Vielem, was mir schwer auf der Seele liegt, ist es besonders das
+Geld, welches ich im Amtsgefängnisse einem Bauernknechte herauslockte. Noth
+trieb mich dazu, meine Ansichten vom Eigenthum ließen mir den Schritt um so
+erlaubter erscheinen, weil ich ernstlich an Zurückgabe dachte.
+
+Du weißt, daß Ersatz unmöglich geworden, weil der Betrogene im Gefängnisse
+an der Schwindsucht starb und keine Seele besaß, die er sein eigen nannte
+außer der eines unserer Mitgefangenen, des Duckmäusers. Doch werde ich
+Alles thun, um den Schaden auf andere Weise gut zu machen.----Ich weiß, daß
+meine frühern Freunde mich als einen schwachköpfigen oder schlauen
+Renegaten verachten und verfolgen werden und beklage mich nicht darüber.
+Der Stolz, ein consequenter und entschiedener Communist gewesen zu sein,
+hat sich in das Gegentheil verkehrt und ich bin wohl am besten dabei
+gefahren. Es ist nicht die Aufgabe des Menschen, auf einem Standpunkte zu
+beharren, namentlich wenn er denselben als einen einseitigen und falschen
+erkennt, sondern sich immer mehr zu vervollkommnen.--Gegen die furchtbaren
+Gefahren, welche aus der täglich zunehmenden Verarmung, Verdienstlosigkeit
+und Verzweiflung der Massen erwachsen, hat nur die Weltkirche Jesu Christi
+Beschwörungsformeln, denn sie lehrt Leiden ertragen und in Freuden
+verwandeln und zeigt nicht nur den Weg zur ewigen, sondern auch zur
+zeitlichen Wohlfahrt. Im Christenthum als der absolut wahren Religion liegt
+auch die einzig ächte Nützlichkeitsphilosophie, die Lösung der sozialen
+Fragen verborgen. Von der Stellung, welche die verschiedenen Staaten und
+Stäätlein zur Kirche einnehmen, wird der Fortbestand oder Sturz dieser
+Staaten und Stäätlein abhängen. Staaten müssen sich aufrichtig bessern
+gerade wie einzelne Menschen und wenn große Staaten wie Oesterreich und
+Preußen mit gutem Beispiele vorangehen, wenn man das Aufleben kirchlicher
+Gesinnung beim Volke beachtet, darf man ruhiger in die Zukunft blicken.
+Stürme werden nicht ausbleiben, aber die Pforten der Hölle werden Christi
+Kirche nicht besiegen und das revolutionäre Heidenthum wird den Bestand
+_christlicher_ Staaten und das Fortleben _christlicher_ Völker
+nur stören, doch nicht zerstören.
+
+Aber Religion, positive Religion muß in Palästen und Kabineten, in
+Deputirtenkammern und Amtsstuben so gut als in Hütten wohnen; bei den
+Reichen und Besitzenden muß die Charitas des Mittelalters neu aufleben; das
+positive Christenthum muß Obermacht über das herrschend gewordene
+Heidenthum erlangen, wenn die moderne Gesellschaft nicht ein ähnliches
+Geschick erleben will wie einst die versinkende Römerwelt!--
+
+
+
+
+#V.#
+
+
+--Sie haben vollkommen recht: die nationalen Eigenthümlichkeiten müssen bei
+Zellengefangenen berücksichtiget werden, ja ich glaube, daß
+Zellengefängnisse für südliche Völker nichts taugen. Der schweigsame,
+kaltblütige Engländer mag sich begnügen mit flüchtigen Besuchen, welche den
+Charakter polizeilicher Controlle tragen, pietistische Tractätlein und die
+Offenbarung Johannis mögen sein Herz nicht mit dem Kopfe davon rennen
+lassen und er mag nichts vermissen, wenn sein Verhältniß zu Beamten und
+Aufsehern nichts Herzliches und Freundschaftliches an sich trägt, nicht
+aber so der Deutsche. Der Hang zum Grübeln und Schwärmen, die Innerlichkeit
+und Gemüthlichkeit des Deutschen ist auch beim Verbrecher zu
+berücksichtigen und darin liegen Anknöpfungspunkte für seine Besserung wie
+für Geistesstörung und Selbstmord. Senden sie schweigsame, spröde
+Korporalstockpedanten in deutsche Zellengefängnisse, geben Sie dem
+Gefangenen nur religiöse Bücher, bestellen Sie für ihn Geistliche, welche
+in religiösen Angelegenheiten das Gefühl zum Dictator machen, und
+verdoppeln Sie die, besonders in den ersten zwei Jahren namhaften, Leiden
+der Einzelhaft durch Strafverschärfungen--so werden je nach der Dauer der
+Strafzeit unbrauchbare Menschen oder Krüppel aus den Zellen heraustreten,
+manche Zelle der schauerliche Schauplatz eines Selbstmordes und die
+Irrenanstalten mit Rekruten versehen werden.
+
+Was die _Strafverschärfungen_ angeht, so hat bei uns wie anderswo die
+Liebhaberei dafür so sehr Platz gegriffen, daß man Bruchsal mit mehr Recht
+bald eine _neu aufgelegte und vermehrte Abschreckungsanstalt_ denn
+eine _Besserungsanstalt_ nennen dürfte. Selten wird Einer von den
+Schwurgerichten verurtheilt, ohne eine Anzahl von Hungerkost- und
+Dunkelarresttagen auf den Weg zu bekommen.
+
+Unstreitig sind Strafverschärfungen und unter diesen vor Allem Hungerkuren
+das wirksamste Mittel, den Stammgästen der Zuchthäuser das Zuchthaus zu
+verleiden oder sie bequem ins Jenseits zu spediren. Gewohnheitsdiebe sind
+ebenso Kinder des Unglücks als der Unverbesserlichkeit, das Zuchthaus ist
+ihre Versorgungsanstalt--sie gehören zu Jenen, welche leben wollen, ohne
+Geld zu besitzen, und dies ist in unsern "christlichen" Staaten ein so
+unverschämtes Verbrechen, daß Einer von Rechtswegen gleich nach der Geburt
+einen Laufpaß in die Ewigkeit erhalten sollte und zwar aus purer
+"Humanität", denn das Leben der Armen wird mehr oder minder zum langsamen,
+qualvollen Sterben.
+
+Weil das Heidenthum in den Köpfen unserer Gesetzgeber und Besitzenden
+spukt, deßhalb will ich nichts gegen Strafverfolgungen sagen, die bei
+Gewohnheitsdieben angewendet werden.
+
+Allein nicht nur alte Zuchthausbrüder, sondern Solche, die zum erstenmal in
+eine Strafanstalt kommen; ferner nicht nur die Sträflinge, welche
+gemeinschaftlich zusammenleben, sondern auch Zellenbewohner werden mit
+Strafverschärfungen bedacht und zudem müssen die Tage der Hungerkost und
+des Dunkelarrestes gemeiniglich in der ersten Zeit der Haft durchgemacht
+werden, weil die Dauer der Strafe häufig eine ziemlich kurze ist.
+
+Dies erscheint meinem beschränkten Unterthanenverstande nicht klug, nicht
+recht, nicht zweckmäßig. Nicht klug--denn der Staat muß die Hungerkuren der
+Sträflinge theuer genug bezahlen. Abgesehen von der großen Mühe der
+Beamten, deren Geschäfte vermehrt werden, leidet der Gewerbsbetrieb dadurch
+Noth und wird die Gesellschaft mit arbeitsunfähigen Menschen bereichert.
+Nicht gerecht--denn anerkannt gilt Einzelhaft schon an sich als eine
+Strafverschärfung und weßhalb sollen Zellenbewohner ärger bestraft werden
+als andere? Zufall, Laune, die Erklärung des Verurtheilten entscheiden
+darüber, ob derselbe in die Zelle komme oder nicht, folglich auch über den
+höhern oder niedern Grad der Strafverschärfung Nicht zweckmäßig--denn der
+Hunger entkräftet, foltert und tödtet wohl den Leib, doch bessert er den
+Betroffenen schwerlich. Raubvögel werden durch Hunger zahm; diesen muthet
+man keine Arbeit, keinen Besuch der Schule und Kirche, kein gesetzmäßiges
+Verhalten und keine lieb reichen Gesinnungen gegen Mitraubvögel zu, alles
+dieses dagegen hungerigen Menschen; und solche Behandlung soll fühlende,
+bewußte Menschen mit Liebe gegen Mitmenschen entflammen? Den Glauben an
+einen gerechten Gott erwecken? Klingt es nicht wie herber Hohn, Gefangenen
+die Religion der Liebe verkündigen, während man den ganzen Haß der
+Gesellschaft gegen sie fühlbar macht?
+
+Was den Dunkelarrest betrifft, so ist dieser auch nicht geeignet, das
+Innere des darin Sitzenden zu erleuchten. Einige Tage Dunkelarrest mögen in
+Kasernen und Amtsgefängnissen gut wirken, doch Sträflinge, welche ohnehin
+gefangen sind und bleiben, werden im Allgemeinen dadurch zur Onanie und zum
+Faullenzen angeleitet. Für Sträflinge in gemeinsamer Haft bleibt der
+Dunkelarrest eine oft gar nicht unangenehme kleine Abwechslung, bei
+Zellenbewohnern kann er leicht Anlaß zu Seelenstörungen und Selbstmord
+geben, da ihre ohnehin aufgeregte und reizbare Gemüthsverfassung dadurch
+gesteigert wird.
+
+Will man doch einmal Sünder gegen das Eigenthum oder gegen Leib und Leben
+Anderer den Thieren gleich stellen, so stelle man sie eher in die Reihe der
+Hausthiere anstatt in die der Raubthiere und führe die _Prügelstrafe_
+wiederum ein.
+
+Die Prügelstrafe ist unstreitig die wohlfeilste, wirksamste und für gewisse
+Klassen von Menschen wohl auch die angemessenste und gerechteste aller
+Strafen. Von dem Grundsatze ausgehend, daß nicht sowohl der Mensch im
+Menschen als das Thier in demselben gezüchtiget werde, sollte man für drei
+Fälle von Vergehen Stockprügel auch außerhalb der Gefängnisse bereit haben.
+Erstens für händelsüchtige, rohe Bursche, weiche besonders in weinreichen
+Gegenden, bei Tanzgelegenheiten und anderswo Händel und Schlägereien
+stiften. Zweitens verdienen sittenlose Mannsleute und freche Weibspersonen,
+die am lichten Tage oder im Zwielicht hündische Schaamlosigkeit beweisen,
+den Hunden gleich gezüchtiget zu werden ohne Rücksichtnahme auf Stand oder
+Rang. Drittens endlich verdient Schläge, wer ein Weib schlägt. Uebrigens
+möge uns Gott vor jener guten alten Zeit bewahren, in welcher der Stock das
+A und das O der Beamtenweisheit ausmachte. Einzig und allein in obigen drei
+Fällen möchte ich Prügel für Nichtgefangene empfehlen. Begreiflicherweise
+gibt es in Strafanstalten Leute, für welche Prügel eine große Wohlthat sein
+möchten und ich bleibe überzeugt, daß ein aus lauter Sträflingen
+bestehendes Gericht gar oft auf Prügelstrafe für einen ihrer Kameraden
+erkennen würde.
+
+Allein nicht einmal im Zuchthause möchte ich die Anwendung von Prügelstrafe
+dem Ermessen des einzelnen Beamten anheimstellen, geschweige Aufsehern und
+Werkmeistern den Stock in die Hand geben. Vorstand, Verwalter, Buchhalter
+und Oberaufseher sollten in geeigneten Fällen durch Stimmenmehrheit für
+oder gegen Anwendung des Stockes und Zwangstuhles entscheiden, jedoch
+niemals, ohne ein Mitglied des s.g. Aufsichtsrathes beizuziehen. Die letzte
+Bestimmung der durchdachten und vortrefflichen Bruchsaler Hausordnung
+heißt: "Gegen solche Straferkenntnisse, wofür theils der Vorstand, theils
+der Aufsichtsrath zuständig ist, steht dem Sträfling der Rekurs, in der
+Regel jedoch ohne aufschiebende Wirkung, an den Aufsichtsrath,
+beziehungsweise an das Justizministerium zu."--Diese Bestimmung sollte
+überall Aufnahme finden, namentlich wo Prügel einheimisch geworden, denn
+nichts ist so sehr geeignet, das Rechtsgefühl des Verbrechers vollends
+abzustumpfen und zu tödten als ungerechte, willkürliche Behandlung und
+nichts so tauglich, alles Ehrgefühl gründlich zu vernichten, denn
+ungeeignete Prügelstrafe.
+
+Das Ehrgefühl sollte man im Verbrecher fast mehr schonen und pflegen als
+bei andern Leuten, denn wie ein Mensch ohne Ehrgefühl ein ordentlicher
+Bürger oder erträglicher Christ werden mag, sehe mindestens ich nicht ein.
+Selbst falsches Ehrgefühl ist zehnmal besser als gar keines und großartige
+Selbsterhebung zehnmal besser als gemeine Selbstwegwerfung.
+
+Bei uns entehrt Zuchthausstrafe an sich und ich halte derartige Ausdehnung
+der Entehrung für die Mutter vieles Schlimmen. Sie stellt Jeden, der eine
+von der dermaligen Gesetzgebung als ehrlos verpönte Handlung begangen, mit
+Sträflingen in Eine Reihe, welche längst jeden Begriff von Ehre verloren
+haben und setzt dadurch seiner Besserung in der Strafanstalt wie seinem
+ehrlichen Fortkommen nach erstandener Strafe mächtige Hindernisse entgegen.
+
+Entehrung durch Zuchthausstrafe bleibt aber auch ungerecht, so lange die
+Gesetzgebungen nicht alle an sich entehrenden Handlungen mit
+Zuchthausstrafen bedenken. Diese Gesetzgebungen sind sehr mangelhaft schon
+dadurch, daß sie Ein Gebot Gottes mit aller Macht in Schutz nehmen, andere
+dagegen fast ganz außer Acht lassen.
+
+Namentlich ist unsere Eigenthumsgesetzgebung eines der auffallendsten
+Zeugnisse für die Siege, welche das Heidenthum in unsern christlichen
+Staaten davon getragen. In meinen Augen ist ein Straßenräuber bei weitem
+kein so verächtlicher und ehrloser Mensch denn ein Jungfrauenschänder und
+ein ehrloser, feiger Spitzbube mehr werth als ein Ehebrecher.
+
+Straßenraub wird furchtbar bestraft, selbst wenn verzweifelte Noth dazu
+trieb--Jungfrauenschänder mit und ohne Von vor ihrem Namen, mit und ohne
+Epauletten stolziren vornehm an Strafanstalten vorüber und es fällt ihnen
+nicht im Traume bei, daß sie von Gott und Rechtswegen härter als
+Straßenräuber und Spitzbuben bestraft gehören.
+
+Schändliche Wucherer, gewandte Betrüger ruiniren ihre Mitmenschen innerhalb
+der gesetzlichen Schranken und freuen sich, sobald sie in Zeitungen oder
+anderswo die Entdeckung einer neuen Tortur gegen arme Teufel, die eine
+Kleinigkeit stahlen, zu lesen bekommen.
+
+Will man gar vom ersten der 10 Gebote anfangen--doch ich will nicht, denn
+mein Blut fängt an zu sieden und die Hand zittert vor gerechtem Zorn! Man
+geräth in Gefahr, in der That zu glauben, die _Armuth_ sei die einzige
+Todsünde, welche bei der Welt keine Vergebung finde und das
+_Erwischtwerden_ das einzige Verbrechen, insofern man aus dem kleinen
+Zuchthaus in das große hineinschaut und Betrachtungen über Leben, Treiben
+und das Loos der Armen und Reichen sammt Vergleichen zwischen Räubern,
+Dieben, Mördern, Nothzüchtern einerseits und anständigen, honetten,
+besitzenden und oft sogar fromm thuenden--Schurken anderseits anstellt.
+
+Ihrem Wunsche gemäß nur noch _Ein Wort über Besserung der
+Zellengefangenen._
+
+Ein solcher kann in der Zelle allerdings Beweise von Besserung geben und
+zwar bessere als ein Freier. Sein hartes Loos um Jesu Christi willen still
+und geduldig ertragen, sich der Erfüllung aller Pflichten fröhlich und
+freudig unterziehen, dies vermag er und Sie dürfen fest annehmen, daß ein
+gebesserter Zellenbewohner durch Mienen, Gebärden, Reden und Handlungen
+sich vom ungebesserten unterscheidet.
+
+Weil alte Verbrecher bei uns in die Zelle kommen, alte und junge häufig nur
+kurze Strafzeit haben und mit Strafverschärfungen bedacht werden, daher mag
+es rühren, daß die Früchte der Einzelhaft bei uns nicht recht sichtbar
+werden wollen.
+
+Aber noch Etwas, worauf gewöhnlich wenig Gewicht gelegt wird.
+
+Ein Gefangener mag gebessert sein, d.h. er mag mit lebendigem religiösen
+Glauben das aufrichtige Streben verbinden, nicht nur gesetzmäßig, sondern
+allen göttlichen Geboten gemäß zu leben und nach der Freilassung dennoch
+wieder in alte Ansichten, Fehler, Laster und Verbrechen zurückfallen.
+Warum? Die Gesellschaft trug mehr oder minder Mitschuld an seinem ersten
+Verbrechen, sie gab ihm in der Zelle Gelegenheit und Mittel zur Bildung und
+Besserung, er ergriff dieselben und tritt versöhnt mit Gott und Welt in die
+Freiheit hinaus. Doch was findet er da? Hat die Strafe mit der Entlassung
+ein Ende?
+
+Gott bewahre, _die Strafe wird in anderer Weise fortgesetzt und oft in
+einem Grade, daß ein Heiliger dazu gehörte, um sich nicht in den
+verlassenen Kerker zurückzusehnen._
+
+Zunächst weist ein unpassendes Gesetz den Entlassenen nach Hause und was
+findet er dort? Lieblose Verachtung, ungerechte Vorwürfe, keine Arbeit und
+keine Unterstützung, dagegen böses Beispiel, schlechte Kameraden, Anlaß und
+Gelegenheit zu Lastern und Verbrechen. Der alte Mensch in ihm stirbt nicht
+so leicht und rasch, wie dies zu wünschen wäre, er geräth in Versuchung,
+abermals an Gottes Güte und Gerechtigkeit zu verzweifeln, weil die Menschen
+ihm täglich Ursache geben, an ihnen zu verzweifeln. Er bereut seine
+Besserung, weil dieselbe doch keine Anerkennung und weil er findet, daß
+Andere sich nicht besserten und begeht aus Rachsucht oder Verzweiflung
+manchmal eine That in der Absicht, wiederum ins Zuchthaus zu kommen, wo er
+Nahrung, Kleidung, Wohnung und wenn ein auch noch so kümmerliches doch
+ungeschornes Leben findet.
+
+Nicht weil nothwendig ein Rückfälliger ehrlos ist, sondern weil die
+Mitmenschen ihn als Ehrlosen behandeln, _wird_ er es wirklich.
+
+Schließlich noch eine Ansicht über Todesstrafe.
+
+Ich bin derselben im Ganzen nicht gewogen und sehe in ihr eine Frucht der
+Fortdauer heidnischer und barbarischer Zustände. Doch gibt es Leute, deren
+Gemüth mehr oder minder durchteufelt ist und Verbrechen, welche unter so
+schauderhaften Umständen verübt werden, daß man für den Tod des Thäters
+fast unwillkürlich stimmt, indem man die Opfer der That bedenkt.
+
+Aber man sollte erstens nach der Verurtheilung Keinen wochen- und
+mondenlang zwischen Tod und Leben hängen lassen, indem man ihm die
+Möglichkeit der Begnadigung übrig läßt; ferner sollte man zweitens dem
+Verurtheilten volle Gewißheit seines Todes geben, ihm den Tag und die
+Stunde desselben verkündigen und mindestens einige Wochen Zeit lassen, sich
+auf seinen Tod vorzubereiten; drittens endlich sollte man Keinen vom
+Schafot zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigen, dessen Verbrechen
+voraussichtlich keine späteren Milderungen der Strafe erwarten läßt.
+Lebenslänglich im Zuchthause sein, heißt langsam und qualvoll hingerichtet
+werden; gebessert aber wird selbst kein zum Tode Verurtheilter, wenn er
+unter Sträflingen lebt.
+
+ * * * * *
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Zuchthausgeschichten von einem
+ehemaligen Züchtling, by Joseph M. Hägele
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUCHTHAUSGESCHICHTEN ***
+
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+Produced by Robert Kropf and the Online Distributed
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+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
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+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
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+
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+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
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+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
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+
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+
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+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
+1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
+
+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
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+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
+
+1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
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+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
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+
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+<html>
+<head>
+<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=ISO-8859-1">
+<title>The Project Gutenberg eBook of Zuchthausgeschichten 2, by Joseph M. Hägele</title>
+</head>
+<body>
+
+
+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen
+Züchtling, by Joseph M. Hägele
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen Züchtling
+ Zweiter Theil
+
+Author: Joseph M. Hägele
+
+Commentator: Alban Stolz
+
+Release Date: July 13, 2005 [EBook #16279]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUCHTHAUSGESCHICHTEN ***
+
+
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+Produced by Robert Kropf and the Online Distributed
+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
+
+
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+
+
+
+</pre>
+
+
+
+
+<center><h2>Zuchthausgeschichten<br>
+von<br>
+einem ehemaligen Züchtling</h2></center>
+<center><h3>von Joseph M. Hägele</h3></center>
+<center>
+<p>&nbsp;</p>
+<p><b>Mit einem Vorwort</b><br>
+von<br>
+<b>Dr. Alban Stolz</b><br>
+Professor an der Universität zu Freiburg.</p></center>
+<p>&nbsp;</p>
+<center><h2>Zweiter Theil</h2></center>
+<p>&nbsp;</p>
+<h3>Inhalt:</h3>
+<p>
+<big><b><a href="#Duckmauser">I. Der Duckmäuser</a></b></big><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#1">1. Der Duckmäuser als Schulbube</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#2">2. Dorfgeschichten</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#3">3. Duckmäusers Glücksstern erbleicht</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#4">4. Junges Glück und alter Hochmuth</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#5">5. Der Duckmäuser wird Soldat, sucht und findet in der Kaserne Vorbilder</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#6">6. Die Kirchweihe</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#7">7. Wie Einer fast ohne Schuld des Teufels werden kann</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#8">8. Itania, das Kasernenhäschen, der Deserteur</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#9">9. Der Duckmäuser läßt sich Etwas erzählen</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#10">10. Bruchsal</a></b><br>
+<big><b><a href="#Briefe">II. Aus den Briefen des Spaniolen</a></b></big><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#B0">1. Vorbericht</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#B1">2. I.</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#B2">3. II.</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#B3">4. III.</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#B4">5. IV.</a></b><br>
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;<b><a href="#B5">6. V.</a></b>
+</p>
+<p>
+Münster, 1853.</p>
+
+<p><small>[&nbsp;] Korrektur von Satzfehlern / correction of typos</small>
+</p>
+<h2><a name="Duckmauser"></a>Der Duckmäuser</h2>
+<p>
+Wir befinden uns im Krankensaale des Zuchthauses zu Freiburg. Es ist ein
+helles, freundliches, trauliches Gemach; die reinlichen Betten mit ihren
+Täfelchen oben an der Wand, die einfachen, doch stets blank gescheuerten
+Nachttische, der lange Tisch mitten in der Stube, dort an der Säule die
+Schwarzwälderuhr mit ihrem bunten Zifferblatte und schwerfälligem,
+regelmäßigen Picken, der große Kachelofen dort neben der Thüre, dessen gelb
+glasirte Kacheln mit dem mattgrünen Wandanstriche harmoniren, der
+Ordinationskasten mit seinen Flaschen, Gläsern, Schüsseln und Düten
+obendrauf, all dieses zusammen macht einen gemüthlichen, wohlthuenden
+Eindruck und das geschäftige Hin- und Hereilen des Krankenwärters, das
+freundlich stille Benehmen des Aufsehers, das menschenfreundliche des
+Arztes und der Beamten bei ihren Besuchen lassen Einen schier vergessen,
+daß man ein Zuchthäusler, ein Gefangener sei und dies um so mehr, weil die
+Tracht der Sträflinge durch die langen weißen Röcke der Genesenden in
+Vergessenheit gebracht und der Lärm der Arbeitssäle nur von weitem zu hören
+ist.</p>
+<p>Dort an einem Fenster sitzt ein bleicher, hohläugiger Bursche, hüstelt
+zuweilen und schaut mit seinen großen Augen, aus welchen bereits der
+Lichtschimmer einer andern Welt leuchtet, schwermüthig und sehnsüchtig in
+die herrliche Landschaft hinaus. Das nahe Gebirge mit seinen bunten
+Wäldern, langen Kämmen und Felsenwänden, die Hügel mit ihren Kapellen,
+Schlössern, Höfen, Obstgärten, Weinbergen und wogenden Saatfeldern, das
+weite sonnige Rheinthal mit seinen blitzenden Quellen und Bächen,
+unübersehbaren Matten und Feldern, Alleen und kleinen Wäldchen, aus denen
+die Kirchthürme vieler Dörfer herüberwinken, im Hintergrunde eine lange im
+Duft verschwindende Waldlinie, weiter hinten eine Hügelkette voll Dörfern,
+gleichsam mitten in einem ungeheuern Garten stehend, vom dunkeln, den
+Gebirgszug abschließenden Walde umzäumt; zuletzt hinter diesem mächtigen
+Zaune das mächtige, wie eine dunkle Wolkenmasse in das gartenähnliche
+Rheinthal herüberstarrende Vogesen-Gebirge, auf welches sich das tiefe Blau
+des Himmelsdomes zu stützen scheint&mdash;all dieses gewährt einen Anblick,
+dessen entzückende Schönheit der roheste Sträfling tief empfindet, wenn er
+auch seine Empfindung niemals auszusprechen und noch weniger mit dem Messer
+des Verstandes anatomisch zu zergliedern versteht.</p>
+<p>Und wenn erst die leuchtende Königin des Tages hinabtaucht in einem
+Gluthmeere voll unaussprechlicher Farbe, ihre halbe Scheibe hinter den
+dunkeln Vogesen vollends versinkt, ihre letzten Strahlen aus hundert
+Fenstern und Quellen blitzen und zucken, das weite Rheinthal, die Höhen des
+Schwarzwaldes mit einem rosigen Verklärungsschimmer übergießen, der mehr
+und mehr, die Ebene dem Sohne der Nacht, dem Schatten überlassend die Höhen
+emporfließt, von den höchsten Gipfeln noch einen Scheideblick in das
+dämmernde Thal hinabwirft und dann zum Himmel zurückkehrt&mdash;ach, man glaubt
+Gott über das Land schreiten zu sehen, in ein versinkendes Paradies
+hineinzuschauen! ...</p>
+<p>Im kranken Gefangenen wird der Verbrecher vergessen, wenn er nicht selbst
+daran erinnert, das Damoklesschwert der Hausordnung hängt minder drohend
+über seinem Haupte, an die Stelle unerbittlicher Beamten tritt der heilende
+Arzt.</p>
+<p>Der Gefangene nähert sich einigermaßen dem Zustande der Freiheit, die
+Krankenstube verbindet ihn durch die Aussicht in den Marktlärm des
+Stadtlebens mit der Gesellschaft, durch die Aussicht in die wunderliebliche
+Landschaft mit der Natur, durch beides mit Gott etwa? Selten! ...</p>
+<p>Alle Vortheile, aber auch alle Nachtheile der Krankenstuben ordentlicher
+Spitäler finden sich in diesem Saale des Zuchthauses vereiniget.</p>
+<p>Gegenwärtig liegen nur wenige Kranke in den Betten, mehrere sitzen auf dem
+Rande derselben oder auf einfachen Stühlen, andere am langen Tische, um
+Kaffeebohnen auszulesen oder Düten zu fabriziren.</p>
+<p>Mild und freundlich schaut die Sonne herein, der ergraute Aufseher macht
+ein Schläfchen, wer wollte es ihm verübeln? Tausende von Nächten hat er in
+einer langen Reihe von Jahren treulich durchwacht, schon seit zwölf Uhr
+Nachts ist er wieder auf den alten Beinen, die Natur überwältiget ihn, er
+mag immerhin duseln und träumen von einer bessern Besoldung! ...</p>
+<p>Mehrere Gestalten sind uns bekannt.</p>
+<p>Auf jenem Bette liegt halbaufgerichtet der Mordbrenner aus der Baar, stützt
+das Bulldoggengesicht in die schwielenharte Faust und starrt finster und
+trotzig durch die hellen Scheiben in das freundliche Himmelsblau.</p>
+<p>In jenem Winkel lehnt der Exfourier, blättert in einem alten,
+halbzerrissenen Gebetbuche und das höhnische Zucken der Mundwinkel zeigt
+schon, daß er nicht betet, sondern critisirt, wenn er auch nicht von Zeit
+zu Zeit über "den Thurm Davids, das elfenbeinerne Gefäß und goldene Haus"
+seine Kasernenwitze losließe.</p>
+<p>Neben ihm liegt Martin der Wirthssohn, das Gespenst des früheren
+Schlosserlehrlings mit verzweiflungvoller Resignation lächelnd, wenn er zu
+fühlen vermeint, wie der Tod langsam zu seinem Herzen steige.</p>
+<p>Das Murmelthier fehlt auch nicht, sondern schnarcht den Faden des Lebens
+weiter, während im weißen Nachtrocke und Pantoffeln leise eine Gestalt mit
+gebräunter, von tiefen Leidenschaften durchwühltem Gesichte auf und ab
+wandelt&mdash;der Spaniol, der vor kurzer Zeit mit dem betrogenen und als Räuber
+zum zweitenmal verurtheilten Zuckerhannes hier zusammentraf. Von Zeit zu
+Zeit steht der Spaniol düster sinnend an einem Fenster, welches in das
+Straßenleben der Stadt hinabsehen läßt und ein wilder Schmerz arbeitet in
+seinen Zügen. Draußen Revolution, der erste Kanonendonner der "großen
+Zukunft" und er&mdash;mit seinen himmelstürmenden Ansichten, seiner verzehrenden
+Thatkraft und seinem brennenden Ehrgeize ein Sträfling, ein ohnmächtiger
+Gefangener, ein gemeiner Verbrecher! ...</p>
+<p>Kein Wunder, daß er heute nicht predigt; sein Stolz läßt ihm keine laute
+Klage zu, aber er herrscht auch hier und würde nicht nur der Liebling der
+meisten Beamten und Aufseher, sondern wohl auch der meisten Mitgefangenen
+sein, wenn nur der kropfige Zuckerhannes nicht da wäre und geplaudert
+hätte.</p>
+<p>Doch diesen blutarmen Menschen um die sauerersparten Pfenninge betrügen,
+das ist eine That, welche auch im Zuchthause nicht immer Vergebung findet
+und weil der Betrogene den Spaniolen als Vater seines ganzen Unglücks
+betrachtet, nichts von der Rechtfertigung desselben hören mochte und bei
+der Mehrzahl der Sträflinge in der ersten Zeit vollen Glauben fand, deßhalb
+neigte sich der Spaniol bisher mehr den Hütern als den Gehüteten zu und
+soll neulich den ärgsten Aufseher im Eifer für die Hausordnung überboten
+haben.</p>
+<p>Wenn er naht, verstummen die Meisten, aus ihren Blicken kann er Vieles
+lesen, heute mag er nicht predigen! ...</p>
+<p>Der Zuckerhannes selbst liegt im Bette, athmet zuweilen schwer auf und
+hustet krampfhaft, horcht auf die Reden einer kleinen Gruppe seiner nähern
+Freunde, welche ganz in seiner Nähe sich niedergelassen hat.</p>
+<p>Da finden wir den einst so fröhlichen und lebendigen, jetzt immer düstern
+und schwermüthigen Bläsi, aus der Pfalz, diesen unglücklichen Dragoner, den
+das Schicksal so hart vom Gaule geworfen.</p>
+<p>Neben ihm sitzt der Patrik von Hotzenwald, dieser rohe, ungehobelte, doch
+gutmüthige und witzige Spitzbube, der immerhin noch mehr werth ist, denn
+sein Nachbar, der Donat, dessen Geschichte deutlich zeigt, was aus einem
+Menschen ohne Erziehung, Geld und Religion werden kann, wenn der Stachel
+der Genußsucht tief im Fleische mit seinen lüsternen Schwingungen steckt.</p>
+<p>Diese Leute hören dem Duckmäuser zu, welcher keine Gelegenheit fand, dem
+Zuckerhannes Gutmachgeld zu senden und sich jetzt nach Bruchsal gemeldet
+hat, weil er voraussieht, sein einziger Freund werde nicht mehr mit dem
+Leben davonkommen. Den langwierigen Todeskampf des Unglücklichen darf und
+mag er nicht ansehen, mag nicht erleben, daß eines Tages ihm das Glöcklein
+verkündiget, der Hegäuer habe ausgelitten und die letzte Freude des
+lebenslänglich Verurteilten habe ein Ende. Lieber will er allein, ganz
+allein in einer Zelle leben, denn er hat zwar als Bube betrogen und
+gestohlen, bei den Soldaten böse Streiche gemacht und zuletzt seinen Vater
+ermordet, doch ein grundverdorbener Mensch ist er bei alledem <i>nicht</i>
+und wer seine tragische Geschichte kennt, wie der Zuckerhannes dieselbe aus
+seinem eigenen Munde hörte oder dazu noch schwarz auf weiß von seiner
+eigenen Hand besaß, der kann diesen Unglücklichen nicht mehr verachten, er
+muß ihn bemitleiden und begreift, daß ein solcher Mensch mitten unter
+Sträflingen jahrelang vereinsamt lebte und Sehnsucht nach der Zelle
+empfindet.</p>
+<p>Was er jetzt dem verunglückten Dragoner, dem ungeschlachten Patrik und dem
+leichtsinnigen Donatle erzählt, sind nur Bruchstücke und der Zuckerhannes
+könnte Manches dagegen einwenden, weil er den am Hochmuth laborirenden
+Duckmäuser auswendig und inwendig sammt der ganzen Geschichte desselben zu
+kennen vermeint und findet, derselbe wasche sich viel weißer als er sei ...
+Man mag sagen, was man will, <i>der Mensch</i> ist <i>ein geborner
+Aristokrat</i>, denn Jeder will schöner, reicher, gescheider [gescheidter],
+vornehmer und besser sein, wie der Andere, jeder sucht bei Andern soviel
+als möglich zu gelten und vertuscht, heuchelt, lügt, mag er Bettler oder
+Graf oder noch mehr sein; die Sträflinge bleiben auch hierin Menschen und
+die Wenigen, die es dahin gebracht haben, mit Sünden, Lastern und
+Verbrechen groß zu thun, sind eigentlich verkehrte Menschen,
+<i>Unmenschen</i>! ... Der Vatermörder ist kein Unmensch; schon die
+Erzählung, welche er seinen Kameraden zum Besten gibt, verräth dem
+Eingeweihten die Sucht, nicht schlecht sondern so gut als möglich zu
+erscheinen, und wir glauben, die wahre Geschichte desselben beweise, der
+arme Tropf sei wirklich unserer Achtung und noch mehr unserer Theilnahme
+würdig, seine Geschichte eine sehr lehrreiche Alltagsgeschichte aus den
+niederen Volksklassen.</p>
+<h3><a name="1"></a>Der Duckmäuser als Schulbube.</h3>
+<p>
+Wer sich einen Bauersmann vorstellt, der unter seinem Nebelspalter etwas
+finster hervorschaut und dessen eckiges Gesicht die Sorgen des Lebens
+tüchtig durchfurcht haben, obwohl sie nicht im Stande waren, einen Zug
+ernsten Trotzes in unterthänigst kriechende Demuth vor jedem bessern Rocke
+zu verwandeln, der hat das Gesicht des Vaters unseres Helden gesehen und
+wird den abgetragenen Kittel, die Lederhosen, deren ursprünglich gelbe, die
+Weste, deren ehemals rothe in eine von den Malern bisher unentdeckte Farbe
+übergegangen ist, nicht vergessen und noch weniger die knorrigen
+Eichenfäuste und die breitgetretenen Füße des Mannes. Wer sich näher nach
+ihm erkundigte, würde überall erfahren haben, der Jakob sei ein nicht ganz
+armer Mann mit sechs lebendigen Kindern, habe niemals recht lesen lernen,
+folglich auch den "höflichen Schüler" niemals studirt und sei eine
+grundehrliche Haut, welche Gott und den Amtmann fürchte, mit seinem Weibe
+glücklich lebe und von jedem Nachbarn geliebt werde, obwohl er ein bischen
+hart, unbeugsam und auffahrend dazu sein könne.</p>
+<p>Sein Weib, die Theres, mag in ihrer Jugend nicht häßlich gewesen sein, aber
+auf dem Lande wird die Schönheit gar rasch verschwitzt und wenn eine Frau
+ihre zwölf Kindbetten durchgemacht hat, wirds schlimm aussehen, wenn hinter
+der Leibesruine nicht ein treues, frommes Herz schlägt. Doch unter dem
+Mieder der Theres sah es gut aus und deßhalb lebte sie auch mit ihrem Alten
+recht glücklich, insofern festes Vertrauen auf Gott alle Sorgen und
+Drangsale des Tages ohne viel nutzloses Klagen und Weinen überstehen läßt.</p>
+<p>Jakob hatte auf dem Felde, in Wald, Stall und Scheune, die Theres an all
+diesen Orten, in der Küche, am Waschzuber, in allen Winkeln des Hauses und
+im Garten dazu vom Anbruch des Tages bis zur sinkenden Nacht alle Hände
+voll zu thun, so daß die Beiden außer an Sonn- und Feiertagen wenig mit
+einander plaudern, geschweige zanken konnten. Wenn es so kalt wurde, daß
+der Jakob seine 5- bis 8pfündigen Schuhe anziehen mußte, dann wurde er
+etwas brummig, denn das war Zeitverlust und wenn der Mond schien, war er im
+Stande, noch in der Sommer-Nacht zartes Laub und dergleichen für seine
+Kühe, Geisen und Schweine zu holen und es war gut, daß seine Hände nichts
+davon wußten, die Brombeeren und Schlehen hätten auch Dornen, und daß er
+mit bloßen Füßen im Verhau herumstolperte, ohne von spitzen Dornen, Steinen
+und dergleichen mehr als eine Ahnung zu besitzen. In der Nacht bekam er
+seine Ruhe, wenn nicht gerade eine Kuh kalbern wollte, das Geschrei der
+Kinder beirrte ihn wenig; wenn er die ganze Woche tüchtig gearbeitet hatte
+und am Sonntagmorgen vor der Kirche so glatt und freundlich wie ein
+Schuljunge hinter dem Ofen hervortrat, wo er sich ohne Spiegel und Seife
+musterhaft rasirte, dann pflegte er zu sagen: "Theres, die Arbeit ist
+gethan, heute wird zum Herrgott gebetet und Mittags im Hirzen drüben ein
+Hälbsle getrunken, wenn auch der Bettelvogt noch zehnmal schellt von wegen
+der Herrensteuer!" ...</p>
+<p>Die Theres freute sich auch auf den Sonntag, denn wenn es für sie auch
+keinen Hirzen gab, so gab es doch eine Kirche und eine rechte Predigt und
+ordentlicher Gottesdienst erquickt ein frommes Weibergemüth mehr, denn ein
+Fäßlein Burgunder oder gar Capwein. Die Woche über kam die Theres kaum zum
+Athemholen und in der Nacht, wenn der Jakob schnarchte trotz der größten
+Baßgeige, fing die Plage erst recht an, denn die eisgraue Großmutter konnte
+die Kinder in der Nacht nicht alle pflegen und schweigen und trocken legen,
+und wenn eines zahnte oder sonst krankte, schlossen die beiden armen Weiber
+oft kein Auge.</p>
+<p>Am Sonntag aber wars so traulich in dem aufgeputzten Häuslein, als ob die
+Leute die Kirche aus dem Gottesdienste mit sich genommen hätten und Mittags
+stand auch Fleisch auf dem Tische, an hohen Festtagen Wein aus dem hintern
+Fäßlein, wo der Alte und Gute älter und besser wurde, während der
+Gewöhnliche vom Essig wenig sich unterschied.</p>
+<p>Nachmittags nach der Vesper zog dann Jakob seinen blauen Rock ohne Kragen
+mit tellergroßen Metallknöpfen an, stopfte sein Pfeiflein, drückte den
+Nebelspalter ein bischen aufs linke Ohr und machte mit dem Liebhardt,
+Fidele, Michel oder Bassi einen Gang durch die Fluren und dann in den
+Hirzen, um bis zum Abend an seinem Hälbsle zu trinken, während das junge
+Volk kegelte, auf der Straße spielte, in Rädlein beisammen stand oder Arm
+in Arm kettenweise singend durch das Dörflein auf und ab zog. Es mochte
+zweifelhaft sein, ob der Jakob an seinen Aeckern und Kühen größere Freude
+hatte, denn an seinen Kindern, mindestens pflegte er jene zärtlich, während
+er diese nach Herzenslust herumkrabbeln, fallen und heulen ließ, ohne sich
+groß umzusehen, dagegen bleibt es sicher, daß die alte Hanne ganz vernarrt
+in ihre Enkel und die Theres in den Benedikt am vernarrtesten war.</p>
+<p>Der Benedikt, ihr erstes Kind hieß ihr "Augäpfelchen" und man darf ihr
+solche Vorliebe verzeihen, obwohl sich dieselbe nicht nur in Blicken und
+Reden kund gab. Der Benedikt mit seinen schwarzen Haaren, den runden
+Apfelbäcklein, kohlschwarzen Augen und dem freundlichen Munde war wirklich
+ein herzallerliebstes Büblein und dabei so munter und gescheid, wie keins
+im Dorfe gefunden wurde.</p>
+<p>Die Leute hatten keine eigene Kirche, nicht einmal eine Kapelle, mußten im
+Leben und Tod ihrem Herrgott die Besuche im nächsten Orte abstatten und als
+der Benedikt die ersten Höslein an hatte und vom Vater am rechten von der
+Mutter am linken Händlein zum ersten Mal in die Kirche geführt wurde,
+blieben alle Leute stehen und gab es eine ganze Prozession von schweigenden
+und redenden Bewunderern, das Herz der Eltern bebte vor Freude und daheim
+konnte Theres der alten Hanne nicht genug erzählen, welche Ehre sie mit dem
+"Augäpfelchen" eingeerndtet, wie brav er in der Kirche gewesen, die
+Händlein gefaltet und bei der Wandlung mit Kreuzmachen und Brustklopfen gar
+nicht mehr aufgehört habe. Das Büblein holte bereits Alles beim Krämer,
+besorgte alle Aufträge pünktlich, griff alles geschickt an, es mochte sein,
+was es wollte und lachte vor Vergnügen laut auf, wenn man es nur lobte. Mit
+Lob ließ sich der Benedikt durchs Feuer treiben.</p>
+<p>Besaß das Dörflein keine eigene Kirche und keinen Pfarrer, so besaß es doch
+eine eigene Schule und einen Schulmeister. Zwar hatte dieser nirgends
+besonders studirt, war eine gefallene Größe, nämlich ein großer Maurer, der
+von einem Dachsparren herabgefallen und ein Bein gebrochen hatte, dabei ein
+guter, braver Mann und wußte Alles den Kindern beizubringen, was diese in
+der Welt brauchen, vor allem den Katechismus.</p>
+<p>Der Benedikt saß keine sechs Wochen in der Schulstube, so wurde auch der
+alte Lehrer gänzlich in ihn vernarrt und es dauerte keine zwei Jahre, so
+kannten die Kinder Einen Ihresgleichen als Unterlehrer, nämlich des Jakoben
+Benedikt.</p>
+<p>Was Andere in einem Jahre lernen, lernte unser Held ohne große Mühe in vier
+Wochen und was der Mathes, der acht volle Jahre stets im Eselsbänklein saß
+und später dennoch ein tüchtiger Bauer und braver Mann geworden ist, in
+seinem Leben niemals begreifen wird, begriff der Benedikt rascher und
+leichter als die gescheideste [gescheidteste] Schulkamerädin, nämlich die
+Susanna.</p>
+<p>Eine andere Uhr denn eine Sonnenuhr besaß weder die Schule noch der
+Schulmeister und vom achten Jahre an war der kleine Schulmeister auch
+"Zeitverwalter" mit einer kleinen Unterbrechung gegen das Ende der
+Schuljahre, wo der Muthwille, der in ihm steckte, den alten Lehrer einige
+Wochen in Verzweiflung setzte.</p>
+<p>Das Augäpfelchen der Theres wurde das Augäpfelchen des Lehrers, aller Buben
+und Mägdlein und vieler Erwachsenen und vielleicht haben die
+Weihrauchwolken dazu beigetragen, auch seine Gestalt in die Länge und
+Breite zu treiben.</p>
+<p>Mit den Buben stand er gut, weil er der Stärkste, bei allen Spielen und
+lustigen Streichen, die sich mit seiner Unterlehrersehre vertrugen, voran,
+dabei unpartheisch und freundlich gegen alle war und bei den Mädlen stand
+er besser als jeder Andere angeschrieben, weil er eine merkwürdige Vorliebe
+für sie hegte, sie zart und schonend behandelte, gegen Schimpf und Schläge
+schützte, ihnen in der Schule einsagte, beim Singen eines Liedes den
+rechten Ton anstimmte und die leidigen Schulaufgaben gegen ein bischen Lob
+oder auch gegen ein Schmätzlein machen half.</p>
+<p>Um nicht weitläufig zu werden und dennoch einen rechten Begriff von dem
+kleinen Benedikt zu bekommen, der ein ganz anderer Kerl war, denn der
+verachtete, blutarme und arg vernachläßigte Zuckerhannes, wollen wir nur
+drei Thatsachen aufmerken.</p>
+<p>An einem Frühlingstage wird in der Schule biblische Geschichte gelesen und
+die Kinder schauen sehnsüchtig durch die Scheiben in die grünende und
+blühende Welt und rücken unruhig hin und her, denn das stundenlange Sitzen
+und Schwitzen ohne Unterbrechung ist die Folter der Kinderjahre. Auf einmal
+zupft ein Mädle das Andere und ein Bube den Andern und wer den Grund
+entdeckt, hält die Hand vor den Mund oder kichert laut. Weßhalb? Der
+"Unterlehrer" hat aus einem Stücklein Holz und vier beinernen Knöpfen ein
+Wägelein gezimmert, einen kleinen Kiesel als Fracht darauf gelegt und vier
+stattliche Maienkäfer, an eine Deichsel gebunden, ziehen das Ganze über die
+Sitzbänke. Der Lehrer merkt's, zieht die Stirne kraus und ruft den Benedikt
+auf, im Lesen fortzufahren. Wer beim letzten Wort weiter fährt, ohne eine
+Miene zu verziehen, ist der Benedict. Der Lehrer weiß, welchen Kopf und
+welche Kenntnisse der muthwillige Unterlehrer besitze, meint, derselbe sage
+einige Satze auswendig her und werde bald stecken bleiben, doch der
+Benedict liest und liest, ohne nur einmal zu stottern, ohne eine Silbe zu
+verfehlen.</p>
+<p>Dessen verwundert sich der Lehrer, steht auf, greift nach Benedicts Buch
+und siehe&mdash;dieser hat Alles auswendig hergesagt, denn lesen konnte er schon
+deßhalb nichts, weil er das Buch, wie der Lehrer auch seither geglaubt,
+verkehrt in der Hand hielt.</p>
+<p>Dieser Streich und hundert ähnliche dazu verschafften dem Benedict den
+Beinamen "Leichtsinn" und mit den Jahren wuchs sein Leichtsinn wirklich,
+wie er denn einmal, als ein Schuldschein geschrieben werden sollte, dem
+Lehrer keinen andern machte als folgenden:</p>
+<p>"Ich heiße Leichtsinn, bin der Leichtsinnigste und habe in diesem Zustande
+geschrieben!"</p>
+<p>Wenn er wollte, brachte er stets die besten Aufsätze, doch schien er immer
+weniger zu wollen, der Lehrer sagte wenig dazu, verschonte ihn fernerhin
+auch mit Schlägen und wußte warum.</p>
+<p>War eine Schulaufgabe zu machen oder gar die Sonntagspredigt
+nachzuschreiben, so gings wie eine Prozession zu Jacobens Haus, denn hier
+saß der Benedict, trug die Predigt Wort für Wort im Kopfe und dictirte
+Jedem der zu ihm kam und Jedem verschieden, je nachdem er den Hansjörg mit
+seinem harten Hirnkasten, den Mathes, diesen privilegirten und getreuen
+Eselsbankdrücker oder einen Gescheidtern vor sich bekam. Die besten
+Aufsätze jedoch dictirte er den Mädlen, lief stundenlang von Haus zu Haus
+und bevor die Sabin insbesondere das Fließblatt ins Heft gelegt hatte,
+dachte er nicht ans Ballspielen oder an etwas Anderes.</p>
+<p>An einem Winterabend zogen alle Buben ihre Schlitten lange vor der Betzeit
+heim und mit vielen Erwachsenen dem Rindhofe zu und Niemand fragte, was es
+gebe, weil Jeder wußte, es werde alldort Comödie gespielt. Die Mädchen
+saßen schon in der Scheune, Sabinens Gesicht glänzte vor Freude; sie saß
+mit der Mutter Theres und Hanne auf der vordersten Bank, der Jacob fehlte
+auch nicht und sah heute nicht sorgenschwer und finster drein, sondern
+koste mit zweien seiner jüngern Kinder; die Bänke füllten sich rasch und
+Alles schaute gespannt und ungeduldig nach einem Vorhange, der aus vier
+zusammengenähten Leintüchern gebildet war. Endlich kommt auch der alte
+Lehrer, eine Schelle lärmt, der Vorhang geht auf und mit einem Ah! der
+Bewunderung betrachten Alle&mdash;das Marionettentheater und wissen, daß heute
+der Benedict den "verlornen Sohn" spielen wird.</p>
+<p>Hat der Benedict dem Landstreicher Kranich nicht längst alle Possen
+abgespickt? Macht er ihm nicht alle Zauberstücke nach und hat er nicht die
+Herzen der Dorfbewohner schon durch den "Todessprung des Ritters, den
+Doktor Faust, die Genofeva von Brabant, die drei Müllerstöchter, die
+Hirlanda, schöne Magelona" und Anderes erfreut? Sind nicht Einzelne aus den
+nahen Dörfern und einmal sogar der Herr Pfarrer gekommen? Hat der Benedict
+nicht seine Herzkäfer, die Sabin, Euphrosin, Susann, Margreth, Thekla,
+Line, Affer, Lisbeth und Andere geplagt, bis alle Puppen da waren? Hat er
+nicht den Hanswurst selbst gemacht und dazu ein Stück Hosenleder
+verschnitten, welches dem Mütterchen auf Ostern Schuhe hätte geben sollen?</p>
+<p>Heute bat er sichs sauer werden lassen, um den "verlornen Sohn" prächtig
+auszustatten. Jetzt sieht man den Alten in seinem Ruhesessel, der älteste
+Sohn steht trotzig vor ihm und fordert sein Erbtheil. Dann geht er fort ins
+fremde Land, ein Reisender kommt zu der Mutter und sagt derselben, aus
+ihrem Sohne sei etwas Großes geworden, er kommandire eine ganze Armee.
+Richtig kommt der Sohn mit seiner großen Armee, diese jauchzt, johlt und
+jodelt wie nach dem größten Siege selten eine und so geht das Ding fort bis
+ans Ende, wo der Benedict ein bischen heiser wird.</p>
+<p>Wer aber beschreibt das Entzücken des Publikums? Wann hat der vielgeübte
+Kranich jemals den weichherzigsten Mädlen Thränen entlockt? Der Benedict
+tritt hervor, ist umringt von nassen Augen, der Lehrer wird zum Wortführer
+des Lobes der Zuschauer, der Benedict verlebt eine der seligsten Stunden
+seines Daseins, die Mutter desselben schwimmt mit der Sabin' und andern
+Mädchen in Freudenthränen, von ihrem Augapfel, ihrem Liebling entlockt.</p>
+<p>Jetzt drängt sich das mehr als 80jährige Bäbele mit seinen schneeweißen
+Haaren aus dem Hintergrunde hervor; war doch der Benedict auch ihr Liebling
+und sie muß ihm auch ihre Huldigung darbringen. Sie thut es, doch thut sie
+noch mehr, denn das Morgenroth einer höhern Welt leuchtet durch ihre
+Wangen, die Augen schauen prophetisch in die Zukunft und zu dem Volke sich
+wendend, spricht sie das inhaltsschwere Wort. "<i>Glaubt nur, ihr Leut',
+aus dem Benedict wird entweder ein großer Herr oder ein großer
+Spitzbube,</i> in unserm Geleise bleibt er nicht!" Wie oft hat der
+"Duckmäuser" in bangen Kerkernächten, in der erschütternden Einsamkeit der
+Zelle an diese Worte gedacht! Bäbeles Gebeine sind längst vermodert, ihr
+Name ist verschollen, doch ihr prophetisches Wort hat sich erfüllt und
+zittert durch das Herz eines Lebendigbegrabenen!</p>
+<p>Längst haben sich die einzelnen Kameradschaften der Buben und Mädchen alle
+bemüht, den Benedict an sich zu fesseln, längst war er der Mittelpunkt, um
+den sich die Dorfjugend sammelte; in die "Kunkelstube", wo er gerade zu
+finden war, dahin kamen auch Männer und Frauen, denn er erzählte Legenden
+der Heiligen, Rittergeschichten und Anderes so schön und lebendig, daß man
+Alles zu sehen und zu hören glaubte und in seinem Dörflein war noch alte
+Sitte und Zucht vorherrschend und man hätte einen Menschen, der über die
+Heiligen spottete oder die Unschuld erröthen machte, aus den meisten
+Kunkelstuben einfach hinausgeworfen.</p>
+<p>Seit dem Abend, an welchem der verlorne Sohn gespielt worden, schaute der
+Jacob seinen Benedict respectvoller an, derselbe war ihm und Andern längst
+über den Kopf hinausgewachsen, der Held der Dorfjugend und sein Name in
+allen umliegenden Dörfern mit Ehren genannt.</p>
+<p>Wurde ihm noch nicht die Welt zu enge, so war dies allmählig doch mit der
+Schulstube der Fall. Lernen konnte er hier nichts mehr und wußte er sich
+die Langeweile auch zu vertreiben, so wünschte er doch sehnlichst, Mutter
+Theres möchte die Zügel ein bischen länger machen und dies war nicht der
+Fall, so lange der Benedict zur Schule ging.</p>
+<p>Die ganze Weisheit des Vaters bestand in dem Sätzlein: Bete und arbeite! Er
+ging mit Beispiel voran, hielt mit eiserner Strenge darauf, daß die
+Seinigen es auch thaten und wenn die Mutter nicht Alles über ihn vermocht',
+wie der Benedict Alles über die Mutter, so würde es wohl mit dem Heldenthum
+kläglich ausgesehen haben! ... Auf dem Lande ist das Geld von je als die
+theuerste Sache betrachtet worden, wo wenig Geld und 6 unerzogene Kinder zu
+finden sind, gibts zu arbeiten; gar oft mußte der gute Benedict die
+Kunkelstube meiden und bis um Mitternacht selbst spinnen; freilich spann
+das Mütterchen auch mit, denn der Winter vergeht rasch und die Leinwand muß
+zeitig auf die Bleiche, doch Mütterchen fing an, dem geistvollen und
+gelehrten Benedict mit ihren endlosen Rosenkränzen allgemach langweilig zu
+werden. Er wünschte oft, die Großmutter möge vom Kirchhofe kommen und sich
+wieder statt seiner mindestens an die Kunkel setzen; die Hanne kam jedoch
+nie wieder, sie hatte auf Erden genug gesponnen und der Faden ihrer
+Pilgerfahrt war im letzten Spätjahr leise und sanft abgerissen worden.</p>
+<p>Der Communionunterricht beginnt, Benedict faßt freudige Hoffnungen, wiewohl
+er erst im Sommer 14 Jahre alt wird, der Mittwoch vor dem Palmensonntag
+macht dieselben zu Schanden, denn an diesem Tage werden die Namen derer
+verlesen, welche zum erstenmale zum Tische des Herrn gehen und aus der
+Schule entlassen werden. Zitternd vor Erwartung sitzt er da, jeder Name
+zuckt wie ein Schwert durch seine Seele, zuletzt wird noch dem Mathes die
+Erlösung vom Eselsbänklein angekündiget, dann kommen die Namen der Mädchen,
+er kanns kaum glauben, dennoch ist's richtig&mdash;sein eigener Name fehlt, der
+Lehrer mag den Unterlehrer nicht vor der Zeit verlieren. Noch mehr, die
+Seraphin, einer seiner Herzkäfer, der auch erst im Heumonat 14 Jahre alt
+wird, darf als "die feinste, fleißigste und sittsamste" communiciren und
+die ganze Schule hört an, wie der Lehrer erklärt, der Benedict müsse als
+der "Leichtsinnigste von Allen" noch ein Jahr da bleiben.</p>
+<p>Jetzt war Feuer unter dem Dache und brannte ein volles Jahr! ... Besaß die
+Seraphin das gehörige Alter? Nein; wem hatte sie ihren Ehrenplatz zu
+verdanken? Zum guten Theil dem Benedict, der ihr einsagte und alle
+Schulaufgaben machte. Saß derselbe nicht an einem <i>verdienten</i>
+Ehrenplatz? Und jetzt sollte jene "die Feinste, Fleißigste und Sittsamste"
+und er dagegen "der Leichtsinnigste von Allen" sein?</p>
+<p>Zunächst ward der Seraphin der Krieg erklärt und bald hieß das arme Mädchen
+allenthalben nur "die Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und getraute sich
+nicht mehr, irgendwo hinzugehen aus Furcht vor Spott und Hohn. Hat das
+Mädchen dem Lehrer <i>nur</i> Milch und nichts Anderes schmeichelnd ins
+Haus getragen? Waren die Susanna und Margreth nicht zweimal in der Nähe,
+als Seraphins Mutter den weißen Korb mit einem noch weißern Tüchlein deckte
+und der Tochter empfahl, den Herrn Pfarrer drüben doch recht inständig zu
+bitten, daß sie aus der Schule komme und vorzustellen, was die alternde
+Mutter alles zu thun habe? Würde der Benedict, wenn er Solches vorher
+gewußt hätte, nicht dem Vater eine Kuh aus dem Stalle gezogen und dem
+Schulmeister gebracht haben statt vergänglicher Milch und dies nur, um aus
+der Schule zu kommen? ... Dem Pfarrer legte Benedict nichts in den Weg, er
+besaß den Muth nicht dazu; desto schlimmer kochte er es dem Schulmeister;&mdash;
+statt des gehofften Unterlehrers besaß dieser jetzt einen unbeugsam
+trotzigen, saumseligen und muthwilligen Schüler mehr, bei welchem Milde und
+Güte, Bitten und Betteln so wenig fruchtete als Drohungen und Schläge.</p>
+<p>Schulaufgaben machte er für seine Herzkäfer, für sich selbst niemals oder
+in der Art, wie jenen früher erwähnten Schuldschein. Fragte ihn der Lehrer
+Etwas, so antwortete er trocken, er wisse es nicht oder machte die
+Mitschüler zu lachen, bat ihn der Lehrer, ihn ein bischen abzulösen, so
+ermahnte er denselben, sich an die "Feinste, Fleißigste und Sittsamste" und
+nicht an den "Leichtsinnigsten von Allen" zu wenden. Einmal mußte er
+hinaus, um die Sonnenuhr zu richten, was Keiner besser verstand; er that's,
+verschwieg jedoch eine ganze Stunde und der Lehrer machte fort, bis Weiber
+und Bursche kamen, um die Kinder zum Mittagsessen aus der Schule
+fortzuholen; ein andermal richtete er die Sonnenuhr so, daß der Lehrer die
+Schule fast um eine Stunde zu früh schloß. Von jetzt ab mußte jedoch der
+Max aus dem Rindhof die Sonnenuhr richten lernen, und weil der Lehrer sah,
+Hopfen und Malz seien am Benedict verloren, kümmerte er sich auch allmälig
+wenig darum, ob derselbe schwänze oder nicht und wenn er erschien, mußte er
+neben Mathesens Ersatzmann, dem dummen Hansjörg sitzen, der genug
+schmunzelte, auf seinem Katzenbänklein einen so trefflichen Einbläser neben
+sich zu haben! ... Endlich naht die letzte Schulprüfung, diesmal wird der
+Benedict kein Lob und keinen Preis davontragen!</p>
+<p>Einige Buben müssen die "verhexte Kuh und rothe Milch", einige Mädchen den
+"feurigen Drachen" zusammen declamiren lernen und wenn der Philipp, der
+jetzt neben dem Rindhofmax auf dem Ehrenplatze sitzt, Einen hätte, der die
+Rolle des belehrenden Herrn Pfarrers in den "Feuermännern" ausfüllte, würde
+der Lehrer hoffen, auch dieses Jahr beim Dekan Ehre zu erndten. Demüthig
+bittet der arme Mann den Benedict, ihm den einzigen und letzten Gefallen zu
+erweisen und bei der Prüfung die Rolle des Belehrers in den "Feuermännern"
+zu übernehmen, doch der Benedict lacht ihm schadenfroh ins Gesicht und
+meint: "Ich und der Hansjörg führen auf dem Katzenbänklein die Declamation
+der Stummen mit einander auf, gelt Hansjörg?"&mdash;Der Hansjörg grinzt und
+nickt bejahend, die Schüler lachen, der tief gekränkte Lehrer sagt dem
+Benedict, er möge ganz von der Prüfung wegbleiben und schließt die Schule
+sogleich vor Wehmuth.</p>
+<p>Am vorletzten Tag vor der Prüfung geht der Lehrer in die Schulstube und wer
+exerzirt die Prüfungshelden nach Mienen, Stellungen und Reden in die
+"verhexte Kuh und rothe Milch" ein? Wer denn anders als der Benedict!</p>
+<p>Der Erstaunte bleibt an der Thüre stehen, bis das Ding fertig ist, dann
+eilt der arme Mann, der statt Geister stets vor der Prüfung lauter
+Schwarzröcke sieht, begeistert auf den Benedict zu, drückt krampfhaft
+dessen Hand vor lauter Freude und bittet denselben öffentlich vor allen
+Schülern um Verzeihung ob der bisherigen Zurücksetzung. Unser Held weint
+auch beinahe vor Freude über solche Befriedigung des Ehrgeizes, doch trotz
+den Ermahnungen des Lehrers und der Schüler setzt er sich keineswegs auf
+den Ehrenplatz, sondern auf das Eselsbänklein neben dem einfältigen
+Hansjörg.</p>
+<p>Die Prüfung naht, kommt, ist bei den kleinen Schülern vorüber, sie drängen
+hinaus, die andern hinein, doch&mdash;der Benedict fehlt, mit Todesangst
+schielt der arme Lehrer nach der Thüre und sucht ein Taschentuch, um einige
+aufsteigende Angsttropfen abzuwischen.</p>
+<p>Endlich geht die Thüre auf, der Ersehnte tritt herein, schreitet stolz am
+Eselsbänklein vorüber und setzt sich auf den Ehrenplatz; der verlassene
+Hansjörg hat ein gar wehmüthiges Gesicht dazu gemacht! Noch niemals
+zeichnete sich der Benedict bei einer Prüfung so aus, wie diesmal; auch die
+Rolle des belehrenden Pfarrers in den "Feuermännern" spielt er meisterhaft
+und wie Alles vorüber ist, tritt er vor die 15 oder 18 gegenwärtigen
+Herren, verbeugt sich ehrerbietigst und beginnt das schöne, lehrreiche
+Gedicht: "Der Holzhacker"&mdash;auf eigene Faust zu declamiren und biß bei den
+Worten:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;"Und biß, o Graus, am goldnen Bröcklein die Zähne sich aus!"</p>
+<p>so ernsthaft und natürlich zu, daß sämmtliche Herren nachbeißen zu wollen
+schienen.</p>
+<p>Der Declamation folgte ein langes Beifallsgeklatsche und öffentliche
+Belobung des über den Benedict ganz entzückten Dekans als Abschied aus den
+Kinderjahren.</p>
+<p>Ob unser Held den Leib Jesu Christi beim erstenmal auch würdig empfangen
+und gewußt habe, was er eigentlich thue, ist ihm heute zweifelhaft, doch
+meint er, der Unterricht sei ein bischen arg mangelhaft und schlecht
+gewesen und ein Bube könne nicht Alles aus dem kleinen Finger saugen, wenn
+er auch ein Benedict sei.</p>
+<h3><a name="2"></a>Dorfgeschichten.</h3>
+<p>
+Wenn mans genau und eine Landkarte dazu in die Hand nimmt, lassen sich die
+Einwohner des Badnerlandes in lauter Schwarzwälder und Odenwälder
+eintheilen. Die schwäbische Hochebene und rauhe Alp sind wohl geognostische
+Kinder des Schwarzwaldes und das Rheinthal von Basel bis Mannheim
+eigentlich nur ein Bergkessel zwischen dem Schwarzwalde und den Vogesen.</p>
+<p>Freilich gedeihen auf den Höhen des Schwarzwaldes nur Nadelhölzer; selbst
+diese verkrüppeln und verschwinden am Feldberge und wenn auf den Vorhügeln
+des Rheinthales drunten Mandeln verblüht sind, Kastanien blühen und die
+Rebe ihre Schößlinge treibt, sind die rechten Schwarzwälder froh, wenn ihr
+Hafer angesäet und ihre Kartoffeln gestupft werden können und thun, als ob
+sie heuer gerathen wollten. Doch die rechten Schwarzwälder bewohnen nur ein
+kleines Gebiet; jedes Thal hat wieder sein Besonderes in Sprache, Tracht
+und Sitte und wer das Murgthal bis Freudenstadt und Rothweil, das
+Kinzigthal von Offenburg bis Schenkenzell und Alpirsbach, das
+Simonswälderthal, Höllenthal und viele andere Thäler von der
+würtembergischen Grenze bis zum Rheine besucht hat, weiß am Ende nicht mehr
+recht, wo er den Schwarzwald eigentlich suchen soll, nicht weil Land und
+Leute einen cosmopolitischen Brei bilden, sondern weil man kaum recht Athem
+holen kann, um Verschiedenheiten in der Natur und unter den Menschen zu
+finden.</p>
+<p>Steigt er vom Schluchsen [Schluchsee] oder Titisen [Titisee], wo Schlehen,
+Preiselbeeren und andere Kinder des Nordens allein noch zu finden sind, in
+die Seitenthäler herab, wo Obstbäume die Strohhütten beschatten und wogende
+Saatfelder die saftiggrünen Wiesen mit ihren sprudelnden Quellen allgemach
+ersetzen, die gelben Strohhüte und kurzen, faltenreichen Röcke allmälig
+verschwinden und tritt er aus den Vorhügeln mit ihren Weinbergen in das
+Rheinthal hinaus und wandert vom Wiesenthale abwärts bis zur Murg und zum
+Neckar, so befindet er sich allerdings nicht mehr in der Gebirgswelt,
+sondern in einer gartenähnlichen Ebene, doch das Gebirge kommt ihm weder
+aus den Augen noch aus dem Sinn, die Ebene liefert ihm auch alle
+Augenblicke etwas Anderes und wenn er aus den zahllosen Mannigfaltigkeiten
+die Einheiten heraussucht, theilt er die Menschen am Ende in zwei große
+Partheien, nämlich in Dorfmenschen und Stadtmenschen; im Gebirge herrschen
+die Dorfmenschen, in der Ebene die Stadtmenschen vor und der Unterschied
+der Dorfmenschen unter sich ist bei weitem nicht so groß, wie ihr
+Unterschied von den Stadtmenschen.</p>
+<p>Wer das Leben und Treiben der Schwarzwälder im engern Sinne genau kennen
+lernen will, muß den "Kalender für Zeit und Ewigkeit" oder "Spindlers
+herzige Erzählungen aus neuerer Zeit" zur Hand nehmen, denn Berthold
+Auerbachs Dorfgeschichten, so anmuthig, hinreißend und herrlich sie auch
+uns und vielen tausend Andern vorkommen, sind eben doch keine eigentlichen
+"Schwarzwälder" Dorfgeschichten, sondern laufen fast ohne Schwarzwälder
+Lokalfarben auf die Gegensätze zwischen Stadt und Land hinaus.</p>
+<p>Im Gebirge verschlingt das Dorfleben das Stadtleben, in der Ebene geht´s
+umgekehrt zu und wie das Stadtleben allmälig auch in den Seitenthälern und
+auf den Höhen des Gebirgs zur Herrschaft kommen will, zeigt unter Andern
+die Geschichte des Duckmäusers.</p>
+<p>Das Heimathdörflein desselben liegt an der Mündung eines Thales, das einen
+allmäligen Uebergang vom Schwarzwalde zur Rheinebene bildet und zwar nicht
+blos der Natur, sondern auch des Charakters der Bewohner. Land und Leute
+wachsen immer und überall wundersam zusammen und für ein geübtes Auge ist
+jede Gegend ein Buch, aus dem es die Geschichte, das Leben und Treiben
+ihrer Bewohner so im Allgemeinen herausliest!</p>
+<p>Kehren wir nach diesem kurzen Ausfluge zu unserm Benedict zurück, der aus
+der Schule entlassen, bereis ein bischen größer und vom Mütterlein ein
+bischen weniger gezügelt wurde.</p>
+<p>Sein Vater, der finstere, doch grundehrliche Jacob arbeitet noch immer den
+ganzen Tag, rasirt sich am Sonntag hinter dem Ofen und trägt Nachmittags
+nach der Vesper seinen Nebelspalter in den Hirzen. So lange der Benedict in
+der Schule war, durfte er nicht ins Wirthshaus und nicht einmal den größern
+Burschen den Kegelbuben machen, doch jetzt hilft er dem Vater tüchtig
+arbeiten, stolzirt am Sonntage mit Etwas herum, was bei uns fast so viel
+bedeutet, als die <u>toga virilis</u> bei den alten Römern, nämlich mit
+einer Tabakspfeife und wenn es ihm beifällt, auch ein Schöpplein im Hirzen
+zu trinken, so sieht's der Jacob nicht gerne, doch der Sohn will thun wie
+andere auch und noch mehr, weil er der Held in 5 Dörfern ist. Der Vater
+hört denselben doch lieber herausstreichen als schimpfen und muß eben
+nachgeben, wie andere redliche Väter auch nachgeben.</p>
+<p>Abends mag der Benedict nicht mehr beim Mütterlein spinnen, die kleine
+Hanne kanns thun, wird dieselbe doch mit jedem Tage größer und der Bruder
+geht in die Kunkelstube, um seinen Erzählerruhm aufrecht zu erhalten. Alle
+einzelnen Kameradschaften der Bursche und Mägdlein buhlen um seine Gunst,
+wo die Margareth ist, welche er am liebsten zu haben scheint, sitzt die
+Ofenbank voll und wenn er kommt, kommt Freude und Leben und jedem der
+Feierabend zu frühe.</p>
+<p>Alle Häuser besucht er, jeden Abend ein anderes, in jedem ist er beliebt
+und bekannt und Niemand weiß, welchem er den Vorrang gebe! Uebrigens darf
+man nicht glauben, daß die Buben und Mägdlein unziemliche Kurzweil trieben
+an den langen Abenden, mindestens geschah dies nirgends, wo der Benedict
+hinkam und dieser wußte einen wüsten Gast derb abzutrumpfen und
+heimzuschicken.</p>
+<p>Der Liebling der Jungen wollte auch der Liebling der Alten sein, zudem dem
+Mütterchen eher Ehre denn Schande machen und so wurde in den Kunkelstuben
+nur Ehrbares und oft Heiliges erzählt und nichts Unziemliches geschwatzt
+oder gar getrieben. Der Benedict hielt viel auf Ehre und hätte es sich
+nicht nachsagen lassen, daß ein unehrbares Wort aus seinem Munde gekommen
+und deßhalb liebten ihn auch alle Mädchen und ihre Eltern hatten nichts
+dagegen, wenn dieselben mit ihrer Kunkel und dem Rosenkranz nach dem
+Nachtessen in das Haus wanderten, in welchem der Benedict gerade zu finden
+war.</p>
+<p>Eines Abends sitzt so eine trauliche Gesellschaft im Vaterhause des
+Hansjörgen und der Benedict erzählt bis gegen 10 Uhr, daß den Zuhörern bald
+die Thränen in die Augen schießen, bald die Gänsehaut aufsteigt. Jetzt
+stellt die Margareth ihre Kunkel weg, streicht die braunen Haare aus der
+Stirn, steht auf und sagt gar holdselig: "Benedict, 's ist bald Zeit, wir
+wollen noch Eins tanzen, damit wirs lernen bis Fastnacht!"&mdash;Alle Buben und
+Mägdlein sind dabei; der Benedict hat seine Klarinette bei sich, denn auch
+ein Musikus ist er geworden, der blinde Hans hat ihm die Griffe und Pfiffe
+gezeigt, er spielte bereits die schönsten Hopser, Ländler, Walzer und
+dergleichen aus dem ff heraus und jetzt sucht er den Ton, während Tisch und
+Bänke in eine Ecke gestellt werden und der Hansjörg vor Freuden mit der
+Zunge schnalzt und Sprünge macht wie ein Tiroler.</p>
+<p>In diesem Augenblick tritt jedoch die Ursula, Hansjörgens Mutter in die
+Stube und sagt zum Benedict: "He, Benedict, wollt Ihr tanzen? Weißt wohl,
+daß ich nichts dagegen habe, wenn´s Zeit ist, doch ist heute nicht Freitag
+Abend? Was fällt dir auch ein, an einem solchen Abend blasen zu wollen?
+Kommt am Sonntag oder an einem Tage in der nächsten Woche!"</p>
+<p>Der Benedict wird feuerroth, steckt die Klarinette ein, geht mit dem jungen
+Volke fort und sagt auf dem Heimwege zu den Mädlen, er wisse gar nicht, was
+er darum gäbe, wenn er heute nur nicht in Ursulas Haus gewesen wäre! ...
+Die Ursula war eine Gevatterin seiner Mutter und Gotte dreier seiner
+jüngern Geschwister, hatte ihn von Kindesbeinen an geliebt und geehrt, doch
+wer ihr Haus mit keinem Schritte mehr betrat und ihr auf der Straße fortan
+auswich, das war er, und zwar deßhalb, weil er meinte, sie hielte ihn in
+ihrem Herzen für einen religionsfeindlichen Menschen, der sich nichts
+daraus mache, am Freitag zu tanzen und aufzuspielen!</p>
+<p>Hatte es früher schon schlechte und verrufene Leute im Dorfe gegeben, so
+gab es allmälig auch Aufgeklärte, denn mancher, der als frommer, züchtiger
+Rekrut fortgegangen war und auf Urlaub heimkam, hatte die Welt in der Stadt
+und in der Kaserne mit neuen Augen betrachten gelernt und der reiche Max
+aus dem Rindhofe wanderte jetzt fleißig in die nahe Stadt, wo er in jeder
+Bierkneipe gescheidte Leute und genug kirchenfeindliche Zeitungen fand. Der
+arme Benedict regierte die Jungen im Dorfe, der reiche Max sah dies nicht
+gern, suchte und bekam auch Anhang und daß der vielgepriesene "Zeitgeist"
+auch in diesem Dörflein zu rumoren anfange, zeigte sich vor dem
+Frohnleichnamsfeste. Seit urdenklichen Zeiten saßen jedes Jahr am Tage vor
+dem Frohnleichnamsfeste die Mädchen in der Schulstube und arbeiteten oft
+bis Mitternacht, um das Kreuz und den Altar, zu welchem die Prozession
+morgen aus dem Pfarrdorfe herüberzog, mit den stattlichsten Kränzen und
+Blumen zu schmücken. Sie hätten es sich um keinen Preis nachsagen lassen,
+der Herrgott am Kreuz und das ganze Kreuz sammt dem Altare seien nicht mit
+Kränzen, Blumen und Bändern aufs reichlichste ausstaffirt gewesen. Die
+Bänder wurden von den Mädchen und deren Müttern geliefert und heuer
+kommandirt der Benedict den ganzen Tag im Schulhause, macht den
+stattlichsten Kranz, der die Dornenkrone bedecken sollte und verspricht
+Abends beim Fortgehen, er werde der erste sein, welcher morgen früh den
+ersten Kranz ans Kreuz hefte.</p>
+<p>Dem schwülen Tage folgte eine Regennacht, welche zu stürmisch war, als daß
+man hätte fürchten mögen, die Prozession werde darunter leiden und noch um
+11 Uhr saßen einige Mädchen in der Schulstube, um beim Licht die letzten
+Zurüstungen zu treffen. Der Benedict liegt im Bett und will sich eben vom
+Rauschen des Sturmes in den Baumwipfeln und vom Plätschern des Regens in
+Schlaf lullen lassen, als es leise an seinem Fensterlein klopft und ruft.
+Er springt auf, denn er kennt diese freundliche Stimme und verwundert sich
+über den seltsamen Ton derselben.</p>
+<p>"Hör', Benedict, <i>jetzt</i> sind wir Mädchen zu Schanden gemacht,"
+berichtet die Margareth, welche den hübschen Kopf in das Kammerfensterlein
+hineinstreckt, damit das Wasser vom Dache sie nicht ersäufe.</p>
+<p>"Verlassen und verrathen sind wir, alle Mühe war umsonst, denn die Buben
+haben keine Maien geholt!" bestätigt die Susanne. "Was? keine Maien?" sagt
+der Benedict erschrocken und Margareth sammt der Jutta und dem Vefele, die
+auch herbeieilen, erzählen, der Max habe die Buben aufgehetzt, heuer keine
+Maien im Walde zu holen und gesagt, es sei eine Schande für so große Esel,
+sich noch mit solchen "Kindereien" abzugeben. Daß der Max nicht umsonst
+redete, während der Benedict im Schulhause saß, stellte sich um Mitternacht
+sonnenklar heraus. Die Maien sind jedoch gleichsam die Rahmen, welche das
+Kreuz und den Altar liebend umfassen und wie armselig sieht ein Bild ohne
+Rahmen drein? Je größer, schöner und frischer die Maien, desto größer die
+Ehre für die Mädchen, an den Maien erkannten die Leute aller benachbarten
+Dörfer, wie Buben und Mädchen in diesem Jahre zusammen standen, seit
+Menschengedenken hatten die Maien nie gefehlt, drum that es den Mädchen
+heuer desto weher, sie sahen nicht nur den Herrgott vernachlässigt, sondern
+sich selbst beschimpft.</p>
+<p>Rathlos steht der Benedict, ängstlich stehen seine Herzkäfer vor dem
+Fensterlein, der Regen stürzt wie aus Kübeln vom dunkeln Nachthimmel und ob
+den Vogesen, dem Rheinthale und Schwarzwalde zugleich flammen Blitze und
+kanonirt hundertstimmiger Donner.</p>
+<p>"Geht heim, ihr Lieben, Maien müssen her, ich verlasse Euch nicht!" sagt
+endlich der Benedict, reicht den Mädchen die Hand, schließt das Fensterlein
+und schleicht zu den Eltern. Die Mutter hat all ihre Seiden- und
+Taffetbänder ins Schulhaus geschickt, sie weiß, daß sich die Mädchen heuer
+ganz besonders abmühten, jetzt erzählt er, wie schimpflich die Buben
+gehandelt und die Mutter stößt ihren Alten aus dem Schlafe. "Wär´ der
+Werktag nicht schon vorbei und der Fronleichnamstag angebrochen, so ginge
+ich wahrlich trotz Sturm und Wetter in den Wald!" meint der Benedict
+zögernd, um den Eltern an den Puls zu fühlen.</p>
+<p>"Was an Sonn- und Feiertagen zu Gottes Ehre gearbeitet wird, ist keine
+Sünd´! antwortet die Mutter."</p>
+<p>"Aber woher Maien? Die Weidenstöcke am Bach sind abgehauen, ... das
+Unwetter ist grausig, ich müßte eben junge Birklein holen, ´s ist fast eine
+Stunde in den Wald und wenn mich der Cyriak, der Waldhüter erwischte, gäbe
+es theure Maien!" meint der Benedict. "Ah bah! Cyriak hin oder her, wenn´s
+dir Ernst wäre, würdest du nicht darnach fragen, ob es theure oder
+wohlfeile Maien gäbe! Warum haben denn die Buben keine geholt, he?" sagt
+der Vater.</p>
+<p>"Weil´s der Max, der Willibald und noch ein paar so schöne es für eine
+Schande erklärten und Alle, welche holen wollten, so verspotteten, daß sie
+es bleiben ließen!"</p>
+<p>"Eine ewige Schande ist´s für euch, Buben, euch von dem ungerathenen Max,
+der unserm Herrgott und dem eigenen Vater, dem herzensguten Fidele nur
+Schande macht, in <i>der</i> Art verhetzen zu lassen! Gehst du nicht, so
+stehe ich wahrhaftig auf, wecke den Fidele und wir alte Kracher bringen
+gewiß Maien!" fährt der Jacob auf, wirft die Schlafkappe weg und richtet
+sich aufgebracht im Bette empor.</p>
+<p>Fünf Minuten später eilt der Benedict mit einem Beil und Stricken durch die
+Sturmnacht, kein Faden an ihm bleibt trocken, bis er in den Wald kommt;
+hier ist's stockfinster, doch seine Hände wissen glatte Birkenrinde von der
+der jungen Erlen gut zu unterscheiden und bald hat er vier stattliche junge
+Birklein vor den Wald auf die nassen Wiesen herausgeschleppt. Das Aergste
+ist, daß er kaum zwei auf einmal zu tragen vermag; muß er den Weg doppelt
+machen, so kommt der Tag, ehe alles an Ort und Stelle und die Freude der
+Mädchen fertig ist. Was thut der Benedict? Er springt mit zwei Birklein
+eine Strecke weit, springt zurück, um die beiden andern nachzuholen, macht
+auf diese Weise fort und die ersten Strahlen des Tages sehen die letzten
+zwei Birklein am Altare. Der Regen hat aufgehört, die Schwalben zwitschern
+und die Rothkelchen singen auf den Dachfirsten, der Benedict tropfnaß und
+heidenmäßig schwitzend, springt ins Schulhaus, dann zum Altare zurück,
+heftet richtig, wie ers versprochen, auch den ersten Kranz ans Kreuz und
+dann geht er heim, um noch ein Stündlein zu ruhen.</p>
+<p>Sehr früh kommen einige Bauern zum Altare, um bei der Verzierung des
+Kreuzes zu helfen, alle bewundern die herrlichen Birklein, der Cyriak kommt
+aber auch dazu und sagt:</p>
+<p>"Diesen Vier hab' ichs gestern Abend spät noch vermacht, daß sie heute da
+gesehen werden! ... Am Werktag sind sie nicht geholt worden und diesen
+Morgen auch nicht! ... wer die geholt hat, muß gesalzen werden! ich bring
+ihn heraus, gebt Acht, 's wird theure Maien geben!" brummt er zum Xaver,
+betrachtet ärgerlich die schönen Bäumlein und macht eine Faust.</p>
+<p>"Sie stehen besser hier, als in deinem Revier!" lacht der Xaver.</p>
+<p>"Heut' sind die Birklein noch schöner als gestern, gelt Cyriak?" scherzt
+der alte Liebhardt.</p>
+<p>"Sollen auch schön Geld kosten, ich bringe den Buben heraus!" versichert
+der Cyriak und geht mit starken Schritten das Dorf hinauf.</p>
+<p>Die Ehre der Mädchen war in den Augen aller Einheimischen und Fremden durch
+die Verzierungen und durch die vier prächtigen Birklein herrlich gerettet,
+dafür wurde auch der Benedict von den Mädchen schier in den Himmel erhoben
+und erklärt, er allein sei treu gegen Gott und Menschen, er verdiene, daß
+sie ihn zeitlebens auf den Händen trügen.</p>
+<p>Das Wunderbarste bei der Sache blieb, daß kein Mädchen den Waldfrevler
+verrieth. Um Mittag wurde das Vefele, das heute Nacht bei demselben
+gefensterlet, von ihrem Vater, dem Cyriak, ins strengste Verhör genommen,
+doch sie weiß nichts und ihr Bruder, der Mathes, versichert, er wisse auch
+nicht, wer die Birklein geholt, wenn ihn der Vater auch mit dem Waldbeil
+vor das Hirn schlüge. Wie ein Feuerreiter eilt der Cyriak von Haus zu Haus,
+von Mädchen zu Mädchen, doch die Birklein blieben abgehauen und&mdash;was keine
+Erdichtung, sondern blanke Thatsache ist und ein Licht auf die angebliche
+Schwatzhaftigkeit der Mädchen wirft&mdash;der Benedict unverrathen, mindestens
+für das laufende Jahr.</p>
+<p>Vom Max und dessen Anhange mußte er dagegen Spottreden genug hören, doch
+kümmerte er sich wenig um diese "neumodische Schwitt", wie der Max mit
+seinen Kameraden hießen, welche auch allgemach an Werktagen und am Sonntag
+unter dem Gottesdienst im Wirthshause zu sehen waren. Liberalseinsollende
+Zeitungen und böse Bücher übten wohl nur Einfluß auf diese Bursche, weil
+Aufklärer in jedem Wirthshause saßen; sie selbst waren keine großen Freunde
+vom Kopfzerbrechen und Lesen und ihre Weisheit floß in einem unter dem
+Landvolke allmälig weit verbreiteten Sprichwörtlein zusammen, welches
+heißt: <i>Predigen und Büchermachen ist das Handwerk der Pfaffen und
+G'studirten!</i> Woher solches Sprichwort stamme und welche Leute es am
+liebsten im Munde führten, darauf sah die "neumodische Schwitt" nicht,
+sondern schloß mit ihrem gesunden Bauernverstande ruhig weiter: "Ist der
+Pfaff ein Handwerker, so ist die Kirche seine Werkstätte, Gottesdienst und
+Predigt aber sind Stücke seiner Arbeit. Bei jedem Handwerker hat man die
+Auswahl unter seinen Arbeiten, daher wählt man aus der Predigt gerade das,
+was Einem am besten gefällt und gefällt Einem nichts (was bei steigender
+Aufklärung bald der Fall sein muß), nun, dann läßt man dem Pfaffen seine
+ganze Arbeit und geht am Ende gar nicht mehr in die Werkstätte desselben!"</p>
+<p>Die Eltern der "neumodischen Schwitt" sammt den meisten bejahrtern
+Einwohnern betrachteten die Kirche als das Haus Gottes, den Geistlichen als
+Diener Gottes, thaten, wie ihre Urahnen, hielten Sonn- und Feiertage
+heilig, beteten zu Hause, in der Kirche, im Felde bei Prozessionen und
+Bittgängen, zierten das Kreuz vor dem Dorfe und schliefen nicht ein, wenn
+der Benedict Legenden erzählte. Sie waren der Religion treu geblieben;
+Protestanten, welche über die Jungfrau Maria, die Heiligen, die
+Ohrenbeichte, das Abendmahl, die Ehelosigkeit des Pfarrers witzelten, gab
+es keine und dies aus dem einfachen Grunde, weil es überhaupt im Dörflein
+des Benedict und in der Umgegend weder Protestanten noch Hebräer gab.</p>
+<p>Es lebte da ein gutes, glückliches Völklein und wenn auch die Protestanten
+von ihm als eine Art Heiden betrachtet wurden und die kleinen Kinder davon
+liefen, wenn ein Hebräer auf der Straße zu sehen war, so geschah doch
+Niemanden etwas zu Leide um des fremdartigen Glaubens willen. Was zum alten
+Eisen gehörte, blieb der Aufklärung unzugänglich; der Jacob pflegte zu
+sagen, die "neuen Lehren" seien von "alten Lumpen" längst gepredigt worden
+und dafür wußte er Namen zu nennen. Doch die Aufklärung in religiösen und
+politischen Dingen kam auch in dieses Dorf und ihre erste Frucht war
+Zwiespalt unter dem jungen Volke beiderlei Geschlechtes.</p>
+<p>Der Max saß mit dem Willibald und Andern fleißig im Wirthshause, der Fidele
+und die Eltern der Uebrigen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen,
+ermahnten, baten, weinten, zankten, fluchten und wetterten, doch gab dies
+keinen Zwiespalt unter der Dorfjugend, denn hier zwitscherten die Jungen
+nicht, wie die alten sangen, sondern die Alten mochten sagen, klagen und
+thun, was sie wollten, die "neumodische Schwitt" ließ sich dadurch wenig
+Galle aufrühren und noch weniger graue Haare wachsen.</p>
+<p>Zuerst begnügte sie sich, im Wirthshaus zu sitzen statt in der Werkstätte
+des Pfarrers; bald spotteten sie über Jene, welche beim Alten bleiben
+wollten und in demselben Jahr, in welchem der Max aus der Sonntagsschule
+entlassen wurde, hatte er auch die Magdalene zum Extraschatz, ein armes,
+doch hübsches Mägdlein voll Leben und Feuer.</p>
+<p>Weil sie einige Sommersprossen im Gesichte und rothe Haare hatte, deßhalb
+hieß sie auch "die Rothe" oder das "Fegfeuer" und wegen ihres lebhaften
+ungestümen Wesens zuweilen "der Feuerteufel."</p>
+<p>Unter den Burschen war der Max der Reichste, doch der Benedict der
+Gescheidteste und Angesehenste und letzteres zeigte sich, als jener seine
+Macht erprobte und einen Vorschlag machte, welcher so recht zu der
+"neumodischen Schwitt" paßte.</p>
+<p>Uralte Sitte und patriarchalisches Leben herrschten in diesem Dörflein noch
+und so bestand auch der Gebrauch, daß die Buben den Mädchen insgesammt am
+Neujahr und bei andern Gelegenheiten Geschenke machten, ohne dabei Gedanken
+an nähere Liebschaften zu haben.</p>
+<p>Nun meinte der Max, welcher vielleicht etwas von der Zehntablösungsfrage
+aufgeschnappt hatte, man möge künftig den Mädchen nur noch am Neujahr Etwas
+geben und zwar keine Ringe oder ein Konstanzer Gesangbuch und ähnliches
+Zeug, sondern baares Geld. Er stand gerade unter der alten Linde, welche
+die Jugend so vieler Geschlechter beschattete und die Sache wurde noch an
+demselben Abend in allen Kunkelstuben verhandelt. Die "Rothe" und einige
+andere Mädlen wären mit dem Geldgeschenk zufrieden gewesen, doch wurde viel
+gestritten, der Max und der Bendict [Benedict] redeten sich für und gegen
+die neue Mode schier Lunge und Leber heraus.</p>
+<p>Am Ostermontag kam die Angelegenheit bei den Buben und Mädchen zur
+Berathung und Entscheidung, der Max hatte gotteslästerlich viele Worte,
+Flaschen und Versprechungen aufgeboten, Benedict in den letzten Tagen so
+geschwiegen, daß der Max ihn auf seine Seite zu bringen hoffte, doch jetzt
+trat derselbe für die alte Sitte und seine jungen Herzkäfer auf und siehe
+da, die meisten Buben fielen ihm zu.</p>
+<p>Wüthend zog Max mit den Seinigen von der Linde in den Hirzen; von diesem
+Tage an brachte er dem Benedict den diesmal sehr unverdienten Namen, "der
+Duckmäuser" auf; der Zwiespalt des jungen Volkes offenbarte sich noch an
+demselben Tage darin, daß die Neumodischen sich im Wirthshause abgesondert
+von den Altmodischen setzten, doch geschah keine feierliche
+Kriegserklärung, es wurden einstweilen nur neue Namen aufs Tapet gebracht.</p>
+<p>Benedict hieß fortan "der Duckmäuser" und sein Anhang "die schwarze
+Schwitt", Maxens Roche gab den Anlaß, dessen Schwitt die "roche" zu taufen
+und von "lewatisch gewordenen Schaufelstudenten" und "Knierutschern" war
+beiderseitig viel Munkelns und ingrimmigen Höhnens.</p>
+<p>Viele Buben und Mädchen wußten noch nicht recht, zu welcher Schwitt sie
+halten sollten und am andern Sonntage stehen und sitzen sie nach der Vesper
+um die Linde herum, plaudern und scherzen, singen und lachen, doch will die
+Freude nicht recht in Gang kommen, denn der Benedict fehlt und vergeblich
+läuft bald die Susanne, bald die Margaret mit ihren Kameradinnen ins
+Oberdorf, um den Herzkäfer herbeizuholen. Im Hirzen sitzt der Jacob vor
+seinem Hälbsle, daheim steht die Theres im Garten und ihr Waldburgele hält
+sie immer an der Schürze, das Besele und das Kätherle folgen der Mutter wie
+die Küchlein der Henne, doch weder der Jacob noch die Theres wissen, wo der
+Benedict steckt und die kleinen Schwestern wissen auch nichts, als daß er
+ihnen ein Rad am Wägelein flickte, worauf sie ihre "Doggenbaben" spaziren
+führen, dann die Kappe genommen, den Kittel über das rothe Wamms angezogen
+habe und fortgegangen sei, nachdem er in der Küche beim Anzünden der
+Tabakspfeife sich noch ein bisle verbrannt habe! ... Auf einmal geht der
+Ersehnte mit dem Gregor, seinem liebsten Kameraden vom Unterdorf herauf und
+langsam auf die Linden zu, die Susann' und die Margareth, das Vefele und
+die Apel, die Affer, Sabin' und Andere laufen ihm entgegen.</p>
+<p>"Sag uns doch, warum bist du bös auf uns?"&mdash;"He, ich bin mit Euch durchaus
+nicht bös!"&mdash;"Ja, warum kommst heute nicht?"&mdash;"Ei, bin ich jetzt nicht
+bei Euch?"&mdash;"Du bist bös mit uns, wenn du's auch verhehlst!"&mdash;"Ich bin
+nicht bös, gelt Gregor nit?" "Aber", sagt der Duckmäuser jetzt laut und
+vernehmlich und steht mitten unter dem Haufen, "ich und der Gregor und der
+Mathes bleiben jetzt für uns Herr, und Alle, welche am Frohnleichnamstag
+Maien geholt haben, dürfen nicht mehr zu mir kommen!"&mdash;"Und die, welche
+keine Maien geholt, sollen <i>uns</i> vom Leibe bleiben!" rufen die
+Mädchen.&mdash;"Ich gehe über Feld, wer will mit?"&mdash;"Ich, ich, ich auch,
+wohin?" rufen und lärmen die Buben.&mdash;"Ja, es dürfen keine Andern mit mir
+als solche, die den Mädlen keine Maien geholt haben!" ruft der Duckmäuser.</p>
+<p>Der Stich wurde verstanden, die Buben sonderten sich in zwei Heere, das
+größere sagt: "Benedict, wir sind bei dir!"&mdash;["]Wollt Ihr altmodisch
+bleiben?" fragt der Benedict und Alle antworten. "Ja!" Einer rennt in den
+Hirzen, mit feuerrothem Kopfe kommen der Max, der Willibald und Andere; der
+Max scheidet zuerst seine Rothe von den andern Mädlen ab, die Buben alle
+thun dasselbe, die Scheidung der Lämmer und Böcke, der schwarzen und rothen
+Schwitt ist in wenigen Minuten entschieden, die rothe Schwitt verläßt mit
+ihren Mädchen die Linde, am nächsten Sonntage soll sichs zeigen, ob die
+rothe oder schwarze Schwitt ihren Mädlen größere Freuden zu bereiten
+verstehe!" [verstehe!]</p>
+<p>"Lauter Markgräfler muß auf den Tisch", schwört der Max, "kein Mädle darf
+an den Wänden herumstehen, wenn's auch keinen besondern Schatz hat, bei uns
+gilt die Eine was die Andere, wir bringen Anderes auf's Tapet, als
+Blumenzutragen, Maienholen, den Eckpfosten am Schulhaus verzieren und das
+verwitterte Kreuz, wo der Herrgott bald einen Schnurres von Moos bekommt!"
+Was ist das für ein Munkeln und Gerede die ganze Woche, wie gespannt sind
+die Alten und Jungen, doch ruhig bleiben die Mädlen der schwarzen Schwitt,
+denn ihr Herzkäfer hat gesagt: "Der Max und ich stehen einander gleich dick
+gegenüber am Sonntag, obgleich er der einzige Sohn des reichen Fidele ist
+und ich der des fast armen Jacob; ihr Mädlen sollt nicht zu Schanden
+werden!" Am Sonntag nach der Vesper sitzen die beiden Schwitten mit ihren
+Mädchen im großen Saal beim Hirzenwirth einander gegenüber; dem Duckmäuser
+thut nichts weher, als daß der Hansjörg und dessen Schwester, zwei stille,
+harmlose, einfältige Seelen auch bei der rothen Schwitt sitzen. Die Beiden
+halten den Duckmäuser für ihren Todfeind seit dem Freitag, an welchem ihre
+Mutter demselben das Tanzen und Klarinettblasen verbot, obwohl er ihnen
+kein böses Wort gegeben. Der Max bekommt gar keine Zeit zum Sitzen vor
+lauter Einschenken und Zubringen des Markgräflers an seine "Gemeinmädlen",
+und feurige Wangen und blitzende Augen gibts unter der rothen Schwitt, bis
+endlich der Max seinen Wamms auszieht, das Halstuch locker knüpft, das
+Schnupftuch in einem Knopfloche seiner rothen Weste festbindet, seine Rothe
+am Kopfe nimmt und sagt: "Auf Alte, wir tanzen jetzt Eins!"</p>
+<p>Jetzt wird getanzt, gesoffen und gefressen, daß es erst eine rechte Art
+bekommt. Unter dem Tisch der rothen Schwitt liegen die Scherben aller
+geleerten Flaschen, vom Tische herab regnet der Zwölfer, kein Glas darf vom
+Munde, ehe es ganz geleert ist, nur der Hansjörg und dessen Schwester sind
+von diesem Gesetze ausgenommen; die Pyramiden von Wecken und Bretzeln,
+welche vor den Mädchen gestanden, waren zum guten Theil wieder Teig
+geworden, die rothe Schwitt tanzt, stampft und jauchzt, daß der Boden
+zittert und die Scheiben klirren.</p>
+<p>"Franz", schreit der Max dem Aufwärter zu, der mit seiner weißen Schürze
+schwitzend umherfliegt, "Franz, einen Kübel voll vom Allerbesten, vom alten
+Rothen!"</p>
+<p>"Jo, s'ischt anfangs nöthig, daß Ihr's in Kübeln fordert, d'Butelle sind bi
+Gott alle z'sammeng'schlage!" brummt der Franz.</p>
+<p>"Franz, hol ihnen den Brunnentrog im Hof, sie können die Köpf hineinhängen,
+daß sie bälder voll werden!" ruft der Duckmäuser vom Tisch seiner Schwitt
+herüber und der Willibald schaut ihn giftig an.</p>
+<p>Schon um 5 Uhr trinkt der Max nicht mehr, hört auch nichts von der schönen
+Musik, denn er liegt schwerbetrunken hinter dem Holzschoppen des
+Hirzenwirths und seine Rothe mag auch irgendwo so ein Plätzlein gefunden
+haben; um 6 Uhr ist von der rothen Schwitt nichts mehr zu sehen als eine im
+Markgräfler gebadete und von Flaschen zerhämmerte Tischplatte voll Scherben
+und Teig; die Gäste wurden theilweise fortgetragen, theilweise taumelten
+sie hinaus, um im Freien sich zu lagern, nur der Hansjörg und dessen
+Schwester sitzen noch da und diese führt der Duckmäuser jetzt an die lange
+und dicht besetzte Tafel der schwarzen Schwitt.</p>
+<p>Die Mädlen der rothen Schwitt haben sich theilweise fortgeschlichen,
+theilweise buhlen sie um Aufnahme bei der schwarzen, heute wird aber nichts
+daraus.</p>
+<p>Der Duckmäuser hat auch Pyramiden von Wecken und Bretzeln aufstellen
+lassen, doch nichts durfte verdorben werden; er hat stets denselben Wein
+kommen lassen wie der Max, doch blieb die Tischplatte sauber und Niemand
+wurde zum Saufen gezwungen; Alle sind nüchtern und in Ehren fröhlich, der
+Duckmäuser sitzt stolz zwischen seiner Margareth und der Marzell.</p>
+<p>Den Mädlen der schwarzen Schwitt gefiel's gar wohl, keinen "Batzenvierer",
+sondern denselben Wein wie die der rothen trinken zu dürfen; nunmehr ist
+die rothe Schwitt fort, die Mädlen meinen, man könne jetzt mit dem Zwölfer
+aufhören, weil das Prahlen und Wettzechen vorüber sei, doch jetzt läßt der
+Duckmäuser erst vom Dickrothen ausstellen, bringts der heißgeliebten
+Margareth zu und lacht:</p>
+<p>"He, Ihr glaubt, der Benedict habe einen schwindsüchtigen Geldbeutel, weil
+sein Alter das Knieschlottern bekommt, wenn er ihm einen Batzen geben muß?
+Seid getrost, der Dorfhanswurst hat noch Späne!" Alles Zureden und Lobreden
+der Mädchen half nichts, gab nur zu zärtlichen Wortgefechten Anlaß und alle
+Mädlen gelobten, der altmodischen Schwitt treu zu sein, alle Buben
+schwuren, wie ehrliche Brüder zusammenzuhalten und die Mädlen in Ehren hoch
+zu halten. Erst Abends zehn Uhr schied die schwarze Schwitt vom Hirzen und
+vom Dickrothen, doch kein Betrunkener war zu hören oder zu sehen und den
+ganzen Sommer redeten Alt und Jung vom Ehrentage, welchen der Benedict
+seinen Herzkäfern bereitete.</p>
+<p>Am nächsten Sonntage legt der Duckmäuser der Susanne, die mit ihren
+Kameradinnen aus der Kirche kommt, die Hand auf die Achsel, schaut sie gar
+ernsthaft an und fragt. "Habt ihr recht andächtig gebetet, Mädlen?"&mdash;"Ja!"
+&mdash;"Auch für mich?"&mdash;"Wir beten Alle für dich!" rufen die Mädlen treuherzig
+und dem Duckmäuser wirds wohler ums Herz.</p>
+<p>Er hat sich nichts merken lassen, doch bang und schwüle ist's ihm seit dem
+letzten Sonntag und finstere Ahnungen, als ob ihm etwas Großes, Ungeheures
+bevorstehe, schnüren seine Brust zusammen; jetzt thut ihm das Geständniß
+der lieben Kameradinnen gar wohl und gießt Muth in seine Seele!" [Seele!]
+... Daheim hat der jüngere Bruder schon das Papier gerichtet und die Feder
+gespitzt, damit ihm der Benedict die Predigt dictire; der Benedict kommt
+und dictirt, doch guckt er wieder in Einem fort in eine Ecke und der Bruder
+muß heute gar zu oft fragen: "was kommt jetzt, was soll ich jetzt
+schreiben" und meint, er habe heute nicht recht aufgepaßt, sonst müßte er
+nicht so lange studiren.</p>
+<p>Plötzlich fragt der Vater draußen mit einer Stimme nach dem Benedict,
+welche diesen zittern macht; rasch öffnet er die Kammerthüre und ruft: "Was
+ist's, was gibts?" Die Frage ist noch nicht recht heraus, fühlt sich der
+Benedict am Titus gefaßt, hageldichte Schläge versetzt ihm der Jacob mit
+einem vierfachen, reichlich mit Knöpfen versehenen Seilstumpen und brüllt.
+"Wo hast du Geld geliehen?" "Hab' keines geliehen!" heult der Benedict,
+krümmt sich unter den Eichenfäusten des Vaters und immer wüthender haut
+dieser zu und haut zu, wie der Sohn schon auf dem Boden liegt, denn Weste
+und Wamms hatte dieser ausgezogen und trug nur ein Hemd und dünne
+Sommerhöslein, so daß kein Hieb verloren ging. "Ach, Vater, sechs Kreuzer
+habe ich geliehen!"&mdash;"Bei wem, Schlingel!"&mdash;"Beim Aloys!"&mdash;"Wo hast noch
+geliehen?"&mdash;"Beim Bernhard!"&mdash;"Wieviel?"&mdash;"Nur zwölf Kreuzer!"&mdash;"Wo hast
+noch geliehen?"&mdash;"Beim Stoffel!"&mdash;"Wieviel?"&mdash;"Achtzehn Kreuzer!"&mdash;"Und wo
+noch?"&mdash;"O Jesus, Maria und Joseph, laßt mich gehen, beim Bernhardt!"&mdash;
+"Wieviel?"&mdash;"Einen Sechsbätzner!"</p>
+<p>Auf solche Weise ging das Examen fort, der Jacob bebte vor Zorn und Wuth,
+doch seine Kräfte gaben nach von lauter Zuschlägen, der Benedict aber war
+Eine Beule von oben bis unten und sein Blut rann ihm über das Gesicht und
+den zerfleischten Leib. Athemlos und keuchend steht der Jacob, vermag kaum
+den Seilstumpen mehr in der Hand zu halten, mit heiserer Stimme gibt der
+Benedict die letzte Antwort: "Ach, beim Liebhardt hab' ich zwei Gulden
+geliehen!"&mdash;und aufs neue schlägt der Vater zu, daß sich der Sohn wie ein
+Wurm auf dem Boden krümmt, schreckensbleich steht der Bruder, die
+Schwestern weinen vor Mitleid, die Theres bringt vor Angst und Schrecken
+kein Wort hervor und hat den Muth zum Abwehren verloren, denn sie kennt
+ihren Alten und weiß, wozu ihn die Wuth bringen kann.</p>
+<p>Das Blut Benedicts, der keine Stimme und keine Thränen mehr zum Weinen hat,
+gibt ihr endlich den Muth, in den Augenblicke, wo alle Kinder um Hülfe für
+den Bruder schreien, aus der Küche zu springen, dem Vater, der mit beiden
+Händen seinen Strick hält und zuhaut, unter den Streich zu fahren,
+denselben am Arme zu packen und zur Menschlichkeit zu ermahnen. "Spring
+fort, spring fort, Benedict!" rufen angstvoll die Geschwister und der
+Benedict springt nicht fort, doch wankt er zur Thüre und zur Hinterthüre
+hinaus in den Obstgarten und von da über den Zaun ins Feld.</p>
+<p>Ohne Kappe, ohne Halstuch, ohne Wamms und Weste, ohne Schuhe und Strümpfe
+und dazu ohne Geld wankt der Mißhandelte von Wenigen gesehen und von Keinem
+erkannt, dem Weidengebüsche am Mühlenbache zu.</p>
+<p>Dies waren Folgen des Ehrentages der schwarzen Schwitt.</p>
+<p>Der Vater hatte nicht gewußt, daß sein Sohn die Zeche bezahlte; diesen
+Morgen wandelt der Liebhard mit ihm und andern Nachbarn aus der Kirche, das
+Gespräch kommt auf den Benedict, Alle loben denselben und der Liebhardt
+sagt: "Darfst glauben, Jacob, daß ich deinem Buben die zwei Gulden nicht
+geliehen hätte, wenn er ein liederlicher Mensch wäre!"&mdash;"Was? zwei Gulden
+hat er bei dir geliehen?" fährt der Jacob auf und macht Augen wie
+Pflugräder.&mdash;"Hätte ich das Maul gehalten!" denkt der Liebhardt, der jetzt
+erst merkt, der Jacob wisse nichts um die Sache, doch kann er nicht als
+Lügner dastehen, erzählt die Sache ausführlich und der <i>grundehrliche</i>
+Jacob schämt sich in den Boden hinein, der <i>finstere</i> Jacob aber eilt
+heim, flicht Knoten am Seilstumpen und ist gerade fertig geworden, als sein
+Opfer den Kopf zur Kammerthüre herausstreckte.</p>
+<p>Der Duckmäuser hatte nicht nur beim Liebhardt, sondern noch bei vielen
+Andern, welche keine Buben oder Mädlen bei den Schwitten hatten, Geld
+geliehen, wußte nicht, daß der Vater nur vom Liebhardt etwas wisse, gestand
+zuerst den kleinsten, dann größere, allmälig alle Posten ein und mit den
+Zahlen wuchs so der Grimm des Vaters. Als dieser der Theres Alles erzählt,
+steht die gute, grundehrliche Frau gleich einer Bildsäule da und würde
+ihren Mann zum erstenmal einen Lügner gescholten haben, wenn sie die
+Geständnisse ihres "Augapfels" theilweise in der Küche draußen nicht selbst
+gehört hätte. Beim Mittagessen erschien kein Benedict, in der Vesper fehlte
+er auch und den ganzen Tag bis in die tiefe Nacht hinein war ein Geläufe
+der Buben und Mädlen der schwarzen Schwitt zum Elternhause ihres
+"Herzkäfers", doch vom Benedict wußte Niemand ein Sterbenswörtlein, seine
+Eltern und Geschwister verriethen aber auch nicht, wie er geschlagen worden
+sei und warum.</p>
+<p>Noch um zehn Uhr Abends geht die Margareth mit der Susanne, Marzell und
+Anderen durch das Oberdorf, sie reden lauter Liebes und Gutes vom
+Duckmäuser, eine dunkle Gestalt schleicht hinter ihnen eine Weile her und
+dann verschwindet sie zwischen den Gartenzäunen.</p>
+<p>Es ist der Benedict, der seiner Wohnung zutrollt, die beiden kleinern
+Schwestern stehen noch im Hofe, eilen freudig auf ihn zu und berichten auf
+seine leise Frage, der Vater liege im Bett, die Mutter jedoch sei noch auf,
+sie habe immer geweint und gefürchtet, er werde sich den Tod anthun, doch
+wisse kein Mensch, was der Vater gethan habe.</p>
+<p>Die letzte Versicherung tröstet den Duckmäuser, wenns nur Niemand weiß,
+dann steht alles gut! wie lieb ihn die Mädlen haben und wie hoch ihn die
+Buben der schwarzen Schwitt in Ehren halten, das hat er auf dem Heimwege
+erfahren!</p>
+<p>Am Bache hat er seine schwarzblauen Beulen und blutigen Striemen wehmüthig
+betrachtet, sich dann ins Wasser gelegt und an den Wunden gerieben,
+hoffend, dieselben würden eher unsichtbar werden, dann legte er sich
+zwischen den Weiden nieder und schlief mit hungrigen Magen bis zum Abend,
+wo er noch sitzen blieb, bis es recht finster wurde und dann fortschlich,
+um zu sehen, wie es im Dorfe und daheim aussehe.</p>
+<p>"Gang, Hannesle, lang mer jetzt die Kleider zum Kammerfenster heraus und
+bring mein Geld; es liegt hinter dem Getüchtrog in einem dunkeln Lumpen
+eingewickelt!" sagt der Duckmäuser; der Hannesle geht, berichtet der
+Mutter, der Bruder sei Gottlob wieder gekommen, das Mütterchen bringt das
+Geld selbst und fragt, wozu er so viel geliehen.</p>
+<p>Ihr gesteht er Alles und sie sieht ein, daß der Augapfel Geld lieh, um die
+Altmodischen der schwarzen Schwitt im Dorfe gegen die liederlichen und
+allgemach verrufenen Rothschwittler in Oberhand zu halten, vergißt ihre
+Schaam und würde die Beulen ihres Augapfels gerne nicht nur aus dessen
+Gesicht, sondern von seinem ganzen Leibe mit ihren Zähren abgewaschen
+haben. Sie will ihm Essen holen, er will nichts und sagt, er verdinge sich
+noch heute Nacht in der Stadt oder sonst wo und nur das feierliche
+Versprechen der Mutter, beim Vater ganz gutes Wetter zu machen, bringt ihn
+davon ab, doch bleibt er nicht daheim, sondern geht wieder fort.</p>
+<p>Eine halbe Stunde später kommt der Duckmäuser zum Dorfe, torgelt und
+taumelt und redet mit sich selber wie ein Schwerbetrunkener und findet aber
+doch den Weg zu den Linden, wo noch Buben und Mädchen der schwarzen Schwitt
+stehen, denn das Verschwinden ihres Herzkäfers hat Alle in schwere Unruhe
+und Besorgniß versetzt und Mehrere suchen in den umliegenden Ortschaften
+ihr Haupt.</p>
+<p>Der Mond steigt über den dunkeln Bergen des Schwarzwaldes auf und leuchtet
+ins Thal, die Susanne erkennt den Duckmäuser, Alle springen ihm fragend
+entgegen und sehen seine Beulen und Striemen; er spiele die Rolle des
+Betrunkenen, wiewohl er im Pfarrdorfe drüben nur zwei Schöpplein schnell
+hinabstürzte; sie glauben, daß er heute fortgewesen, im Rausche unbesonnen
+gewesen sei, Händel angefangen und "Pumpes" bekommen habe.</p>
+<p>Dies war's, was er wollte, denn daß ihn seine Eltern so wenig verriethen,
+als die, von welchen er Geld geliehen, wenn er nämlich dieses Geld rasch
+zurückgebe, dessen war er gewiß.</p>
+<p>Der theuern Margareth, der holdseligen Marzell und dem herzensguten Vefele
+erzählte er die Sache vom Liebhardt selbst, doch wollte er auf dem Markte,
+wohin er jeden Donnerstag mit einem Korb voll Eier, Butter und dergleichen
+geschickt wurde, ein großes Unglück gehabt und die zwei Gulden gebraucht
+haben, um den Schaden vor dem strengen Vater zu verbergen!</p>
+<p>Er konnte als armer Bursche mit den paar rothen Batzen, welche die Mutter
+dem Vater für ihn abschwatzte, seine Anführersrollen nicht spielen, der Max
+würde ihn mit seinen Kronenthalern arg zu Schanden gemacht haben. Heimliche
+Schulden drückten den Benedict und seitdem er so gründlich erfahren, was
+der Vater von Schulden halte, wars ihm desto unlieber, weil die Mutter gar
+zu scharfe Augen machte, wenn sie den Marktkorb zurüsten half.</p>
+<p>Ohne dem Augapfel ein Freudlein in Ehren zu mißgönnen, blieb sie sehr
+sparsam und häuslich; seit der Geldgeschichte schien ihr auch ein Licht
+darüber aufgegangen, weßhalb der Benedict seit einiger Zeit manchmal in
+"Brandpeterle's" Haus schlich, welches im Punkte der Ehrlichkeit und in
+einigen andern dazu nicht im besten Geruche stand. Sie paßte gewaltig auf,
+wenn derselbe seinen Marktkorb auf den Kopf nahm und in die nahe Stadt
+marschirte, suchte zuweilen hinter dem Getüchtrog und in andern Winkeln und
+schüttelte den ergrauenden Kopf, obwohl sie niemals etwas Verdächtiges
+fand.</p>
+<p>Man munkelte im Dorfe hie und da von Schulden des Benedict, die rothe
+Schwitt meinte, "er habe es dick hinter den Ohren und sei halt der
+Duckmäuser", doch die Leute wurden nach und nach bezahlt und der rothen
+Schwitt das böse Maul gestopft.</p>
+<p>An einem Dienstag Abend sitzt der Benedict bei den Mädlen unter den Linden,
+da sagt die Marzell: "Gelt, du hast heute ein Pfund Butter bei der krummen
+Lisbeth für s' Baschi's Wittfrau gekauft?"&mdash;"Ja, warum sagst du's?"&mdash;"He,
+die Lisbeth hat dich bei einer ganzen Heerd Weiber ausgerichtet, habest ihr
+kein Geld für die Butter gegeben und nachher doch behauptet, du hättest sie
+bezahlt!"&mdash;"Wart'! der Lisbeth will ichs morgen sagen! Hab' ich je in
+meinem Leben um einen halben Kreuzer <i>betrogen?</i>" fährt der Benedict
+auf und geht bald ein bischen verstimmt heim.</p>
+<p>Am nächsten Markttage steht die krumme Lisbeth mit andern Weibern und
+Mädlen des Dörfleins auf dem Wochenmarkte und just neben einer
+Obsthändlerin. Auf einmal kommt der Benedict, kauft für zwölf Kreuzer Obst,
+gibt der Frau das Geld und geht.</p>
+<p>Eine Viertelstunde später kehrt er eilfertig zurück und fragt die Obstfrau
+schon von weitem: "Nicht wahr, bei Euch habe ich für zwölf Kreuzer Obst
+gekauft?"&mdash;"Ja, das habt Ihr!"&mdash;"Ich habe Euch ja 's Geld nicht gegeben?"&mdash;
+"Doch, doch, Ihr habts mir in die Hand gelegt!"&mdash;"Oh, das kann gar nicht
+sein, ich weiß es von meinem Gelde, die zwölf Kreuzer fehlen mir nicht!"</p>
+<p>Wer keine doppelte Bezahlung will, ist die blutarme Obstfrau, wer darob ein
+tüchtiges Geschrei anfängt, der Benedict und während alle Weiber recht
+aufpassen, sagt er und schaut auf die krumme Lisbeth hinüber. "So ist's!
+Die Eine will ihre Waare gar nicht, die Andere dagegen doppelt bezahlt
+haben! ... Für die halbe Stadt muß ich einkaufen; gehe ich nun auch einmal
+fort und vergesse in Gedanken das Bezahlen, so finde ich bald, wo es fehlt,
+wenn ich die Rechnung über mein Geld stelle! ... Doch zweimal, wie es
+vorgestern Eine mit ihrem Pfund Butter haben wollte, zahle ich nicht gern!"</p>
+<p>"Da sieht man wieder, wie man den Leuten Unrecht thut!" ließen sich die
+Weiber vernehmen und schauten auf die Lisbeth.</p>
+<p>"Ich hab's vorgestern gleich nicht geglaubt, der Benedict geht jetzt schon
+lange auf den Markt und hat sich noch nie etwas zu Schulden kommen
+lassen!["] meint die Apel.</p>
+<p>Abends hört der Duckmäuser von seinen Herzkäfern lauter Liebes und Gutes
+und einer ganzen Heerde Weiber hat die Lisbeth eingestanden, es sei leicht
+möglich, daß sie Benedicts Geld für die Butter verloren habe; ein Loch sei
+nicht in ihrem Rocke, doch habe sie das Geld in der Eile nicht in den
+Beutel gethan und vielleicht mit dem Schnupftuche weggeworfen.</p>
+<p>Sauer, blutsauer ließ sich's unser Held werden, bis die ärgsten Gläubiger
+zufrieden gestellt waren, Angst und Noth stand er genug dabei aus und fand,
+der Erwerb auf krummen Wegen gewähre dem Menschen sehr wenig Freude; er
+würde sich gern mit den paar Batzen begnügt haben, welche die Mutter ihm
+zusteckte, doch sollte er <i>jetzt</i> vor dem Max zurücktreten, aufhören,
+an der Spitze der schwarzen Schwitt zu stehen und so die "Neumodischen"
+Herren im Dörflein werden lassen?</p>
+<p>Der Max besaß Geld wie Heu; nicht blos an hohen Feiertagen und besondern
+Gelegenheiten, sondern jeden Abend, den Gott gab, lebte die rothe Schwitt
+herrlich und in Freuden, sei es im Hirzen oder in Kunkelstuben, und wenn
+die schwarze Schwitt auch nicht groß thun, prahlen und unmäßig sein wollte,
+so gab es doch von Zeit zu Zeit Gelegenheiten zum Geldausgeben und der
+Benedict hätte es nicht sehen können, wie Maxens Rothe, Willibalds Luzie
+und Andere mit Geschenken überhäuft wurden, während die braven, treuen und
+lieben Mädlen der schwarzen Schwitt leer ausgingen.</p>
+<p>Wenn er jetzt zuweilen mit einem kleinen Marktkorbe auf dem Kopfe zum Ort
+hinausging, so wuchs der Korb merkwürdig in die Höhe, ehe er durch das
+Stadtthor keuchte und einige Weiber wollten wissen, das Wunder gehe ganz
+natürlich zu; gewiß war, daß der Benedict unterwegs seinen kleinen Korb
+abstellte, seitwärts vom Wege in das Weidengebüsch des Mühlenbaches trug
+und weit schwerer bepackt wieder hervorkam, sich vorher nach allen Seiten
+umsah, ob kein Unrechter in der Nähe sei und dann rascher als vorher der
+Stadt zulief. Die krumme Lisbeth mit ihren scharfen Augen bemerkte es wohl,
+andere Weiber wußtens bald; sie zogen den Benedict auf wegen seines
+Abstellens bei den Weiden und dieser merkte, daß Mutter Theres sammt andern
+ihres Geschlechtes und manchen Männern dazu seine Ehrlichkeit und
+Redlichkeit stark bezweifelten.</p>
+<p>Der Liebhardt war nicht allein beim Jacob gewesen, als die Geldanleihe zur
+Sprache kam, Andere mochten die Sache herum gesagt haben, Benedicts Eltern
+zahlten alle ihnen bekannten Gläubiger aus, diese merkten auch etwas, das
+Pfund Butter war auch noch nicht vergessen und das Dörflein lag nicht in
+einer Gegend, wo man gestohlen haben mußte, um für unehrlich zu gelten;
+eine wackere Lüge reichte dazu hin und der Marktkorb machte die Mutter so
+mißtrauisch, daß sich der Held der schwarzen Schwitt nicht mehr zu helfen
+wußte. Zuweilen kam jetzt wohl die Schwindsucht an sein Geldbeutelein, doch
+von Zeit zu Zeit besaß er Geld und so vorsichtig er mit dem Ausgeben
+desselben war, schüttelten doch manche den Kopf und meinten, der Max habe
+mit dem Namen "Duckmäuser" keinen üblen Einfall gehabt.</p>
+<h3><a name="3"></a>Duckmäusers Glücksstern erbleicht.</h3>
+<p>An einem Sonntagmorgen tritt der Benedict aus der Kammer in die Stube, der
+Vater rasirt sich gerade hinter dem Ofen und tritt diesmal nicht so glatt
+und sauber wie sonst hervor, denn er hat sich im Eifer geschnitten oder vor
+innerer Bewegung gezittert, seine Stirn ist gefaltet und der Blick so
+finster, daß der Sohn bereut, durch das Löffelgeklirre der Mutter in die
+Stube gelockt worden zu sein.</p>
+<p>"Bist du gestern Nacht nicht wieder in Brandpeterles Haus gewesen?" fragt
+der Jacob und der Mund zuckt bei dieser Frage gar seltsam.&mdash;"Ja, ich war
+ein Viertelstündle dort und hab' geschwind die Geschichte vom Fortunatus
+mit dem Säckel und Wünschhütlein erzählen! müssen!" meint der Benedict
+kleinlaut.&mdash;"Woher hast du denn diese schöne silberne Uhr, die heute Nacht
+aus deinem Sacke rutschte?" fragt der Alte mit blitzenden Augen und
+zitternden Lippen und zieht die Uhr aus dem Kasten&mdash;"Ho, ich habe sie
+gefunden!"&mdash;"So was findet man nicht so am Wege! Kerl, was fängst Du für
+ein Leben an? Gib Acht, gib Acht, daß ich nicht hinter dich komme, 's geht
+dann anders als wegen dem Liebhardt!" donnert der Vater und schlägt die
+Eichenfaust auf den Tisch, daß die blechernen Löffel und zinnernen Teller
+in die Höhe springen und die jüngern Kinder ängstlich zusammenfahren.&mdash;
+"Alter, denk' an unsere Verabredung!" ermahnt die Theres, welche eine
+Schüssel voll gebratener Erdäpfel neben die dampfende Suppe stellt.&mdash;"Wo
+hast du die Uhr gefunden?" forscht der Jacob weit sanfter.&mdash;"Da und da."&mdash;
+"Bah, bah, weßhalb hast du sie denn verborgen? Weßhalb mußte ihr Picken
+erst dein Glück verkünden? Soll man das Maul halten, wenn man Etwas
+gefunden hat? Meinst du, es werde Niemand nach der Uhr fragen? Kerl, Kerl,
+nimm dich in Acht, heute gehst du mir nicht zum Hause hinaus, hast's
+gehört?["]&mdash;"Ja, ja!" versichert der zitternde Benedict und die Mutter
+wirft ihm einen Blick unaussprechlicher Angst und Bekümmerniß zu, denn sie
+ahnt, wie ihr Augapfel zu der schönen Uhr gekommen sein möge. Aus der
+Kirche bringt der Vater die Hiobspost, gestern Abend sei dem Melchior die
+Silberuhr, welche er an der Wand hängen hatte&mdash;weggefunden worden, der
+Benedict glaubt sein Todesurtheil zu vernehmen, doch flicht der Vater
+diesmal keinen Seilstumpen und versetzt dem Bueb nur gelegentlich einen
+Stoß, daß derselbe der Länge nach zu Boden stürzt und will einen Fußtritt
+oben drauf setzen, den die herbeieilende Mutter jedoch verhindert.</p>
+<p>Bei Nacht und Nebel trägt der Jacob die Uhr wieder dahin, woher sie
+genommen wurde, kommt unbeschrieen wieder heim, kann kein Wort reden vor
+Schmerz und Schaam, die Theres aber nimmt den Benedict in die Kammer, fällt
+vor ihm auf die Kniee und bittet ihn unter strömenden Thränen und mit
+aufgehobenen Händen, sich zu bessern und von dem Wege abzulassen, den er
+eingeschlagen.</p>
+<p>Bei allem, was dem Christenmenschen und Kindesherzen heilig ist, beschwört
+sie ihn, vor Gott und den Menschen ehrlich und rechtschaffen zu wandeln und
+bringt ihn zum Schwure, wieder ordentlich zu werden.</p>
+<p>Sie verspürt an Eiern, Butter und dergleichen, daß es dem Duckmäuser
+diesmal Ernst sei; sie kennt ihn inwendig wie auswendig und will Alles
+thun, um ihn auf dem rechten Wege festzuhalten. Sie weiß, es gäbe Eine im
+Dörflein, welche mehr über den Benedict vermöge, denn alle Geistlichen,
+Vater und Muster zusammengenommen, diese Eine hieß Margareth und zu dieser
+geht die tiefbekümmerte Theres, erzählt ihr, wie alle Ermahnungen,
+Warnungen, Schläge und andere Mittel den Buben nicht von Brandpeterles
+wegbringen könnten und wie es mit Melchiors Uhr zugegangen sei.</p>
+<p>Ob der unerwarteten und nie geahnten Nachricht erschrak die Margareth so
+sehr, daß sie den Benedict, für welchen sie freudig ihr Leben gelassen
+hätte, von dieser Stunde an nicht mehr liebte, sondern eher fürchtete, und
+später fürchtete wie selten ein Mensch gefürchtet wird. Sie verrieth
+Theresens Vertrauen mit keiner Silbe, blieb gegen dieselbe eine zärtliche
+Freundin und liebende Tochter, doch die Liebe für den Benedict war aus
+ihrem reinen, blutenden Herzen verschwunden, jeder Blick und jedes Wort und
+die Scheu vor dem verdächtigen Geliebten verrieth es jetzt schon.</p>
+<p>Am dritten Abend darauf rüstet der Benedict seinen Marktkorb, die Mutter
+sieht ihm mit nassen Augen zu, denn er sieht gar bleich und zerstört aus,
+thut wie Einer, der nicht mehr bei sich selbst ist und hört stumm die
+Aufträge herzählen, welche er morgen befolgen soll; schon um 3 Uhr will er
+wie gewöhnlich fortgehen und um diese Zeit pflegt die Mutter noch ein
+bischen zu schlafen.</p>
+<p>Der Marktkorb ist gepackt, der Benedict setzt die Kappe auf und nimmt die
+Pfeife von der Wand. "Wohin willst du noch?" fragt die Mutter.&mdash;"Zu den
+Andern!" brummt der Sohn kurz und grob.&mdash;"Nein, du gehst jetzt nicht zu den
+Andern, sondern bleibst da! ... Wenn gute Worte nichts nützen, dann will
+ich auch anders mit dir anfangen!" ruft die schwergekränkte, erzürnte
+Mutter.</p>
+<p>Der Vater sitzt am Tische, sucht in einem alten Kalender den Tag, an
+welchem die kleine Ammerey zur Welt kam, doch jetzt steht er auf und langt
+nach den Stricken, die neben dem großen Legendenbuch am Kasten herabhängen,
+der Duckmäuser jedoch schießt wie eine Kugel aus dem Rohr zur Thüre hinaus
+in die stockfinstere Nacht hinein.</p>
+<p>Einige Minuten später geht er in das Haus des Brandpeterle, in welchem die
+rothe Schwitt jetzt ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Der Brandpeterle
+sitzt nicht in der Stube, denn er liegt schon längst drüben auf dem
+Kirchhofe, doch dessen verrufene Wittwe setzt eben zwei Krüge Wein auf den
+Tisch, ihre hübsche, doch leichtsinnige Tochter, die Hanne, sitzt auf dem
+Schooße des Willibald, der mit fünf andern Buben und fünf Mädlen der rothen
+Schwitt just vom Duckmäuser redet, denn dieser wird erwartet. An diesem
+Abend wird das bisherige Haupt der schwarzen Schwitt vollends zum Haupte
+der rothen ernannt, die Hanne zur "ehelichen Geliebten" desselben gemacht
+und der erste Beschluß des Neubekehrten heißt: Brandpeterles Haus bleibt
+Hauptquartier der rothen Schwitt, die ganze Jungfrauschaft der schwarzen
+ist im Bann!</p>
+<p>Etwa um die Zeit, wo Benedict sonst den Marktkorb auf den Kopf zu nehmen
+pflegte, tritt er aus Brandpeterles Haus und geht nicht heim, um den Korb
+zu holen, sondern zum Dörflein hinaus und am Kreuze vorüber, wohin er vor
+drei Jahren in der Frohnleichnamsnacht die Maien gebracht.</p>
+<p>Er zieht die Kappe nicht herab, sondern schaut nach der andern Seite.</p>
+<p>Es wird Abend, wird wieder Tag, wird Sonntag, Dienstag und noch einmal
+Dienstag, vom Benedict ist nichts zu sehen und zu hören, die Hanne mit der
+rothen Schwitt wartet so vergeblich wie die schwarze. Am folgenden Sonntag,
+während Alles in der Kirche ist, was nicht ganz notwendig in der Küche oder
+bei der Wiege oder im Krankenbette bleiben muß, tritt der Duckmäuser wieder
+über die Schwelle seines Vaterhauses, die Mutter steht am Heerde und kehrt
+sich um, doch sie fährt erschrocken zusammen und findet keinen Gruß.</p>
+<p>Ohne ein Wort zu sprechen, geht er in die Kammer, zieht ein frisches Hemd
+und die Sonntagskleider wieder an, nimmt einen schweren Geldbeutel aus dem
+Sacke der alten Hosen, steckt denselben ein und geht mit einem barschen
+"Adje" wieder zum Hause hinaus.</p>
+<p>Kein Kundschafter erfuhr, wohin der Benedict gegangen, doch wie es dunkel
+wird, kommt er mit Zweien von der rothen Schwitt das Dorf herauf zur Linde,
+die Mädchen der schwarzen Schwitt drängen sich nicht um ihn herum, wie dies
+sonst immer der Fall war. "Wo ist d´ Margareth?" fragt er&mdash;"Wir wissens
+nicht! ... sie wird daheim sein!" antworten Einige&mdash;"Und Ihr, was thut Ihr
+da? Ihr könntet auch daheim sein!" sagt er und geht dann das Dorf weiter
+hinauf.</p>
+<p>Im Hofe des Brandpeterle sitzen die Dorothea, Klara, die Sabine, welche aus
+der "Feinsten, Fleißigsten und Sittsamsten" auch eine Helden der rothen
+Schwitt geworden ist, vielleicht aus Scheu vor dem Oberhaupte der
+Schwarzen.</p>
+<p>Der Duckmäuser will mit den Mädchen scherzen, die Gefährten dagegen halten
+ihn eifersüchtig ab. "<i>Diese</i> gehen <i>dir</i> nichts an, dir gehört
+die Hanne, laß diese sitzen, wo sie sitzen!"&mdash;"Was? Ihr habt mir nichts zu
+befehlen, ich kann hingehen, wohin ich will und Ihr, wohin Ihr wollt!"</p>
+<p>Mit diesen Worten kehrt der Benedict den Rücken und zu der Linde zurück, wo
+Mädlen der schwarzen Schwitt einsilbig beisammensitzen und kein Lied
+anstimmen.</p>
+<p>"Guten, guten Abend, ihr Lieben! Was macht ihr Lieben?"&mdash;"Ach, was machen
+wir! ... was denkst du aber auch! ... laß jetzt den Karren rennen, wohin er
+rennt!"&mdash;"Was sagt denn die Margareth?"&mdash;"Ach, was sagt sie! ... was wir
+halt auch sagen, daß Solches kein Mensch von dir geglaubt hätte! ... wo
+bist denn gewesen die ganze Zeit?"&mdash;"Weiß es selber nicht!" "Bleibst jetzt
+wieder da?"&mdash;"Dableiben? bei wem?"&mdash;"He, bei wem? bei deinen Leuten!"&mdash;
+"Heute und morgen noch nicht!"&mdash;"Ach, thue es doch der Margareth und uns zu
+lieb und folge deinen Leuten!"&mdash;"Der Margareth? Wißt Ihr nicht, daß sie mir
+den Abschied gegeben hat? daß ich jetzt ein Rothschwitter bin und die Hanne
+meine Herzige ist?"&mdash;Die Mädchen bleiben stumm, einige fahren mit der
+Schürze über die Augen, andere weinen laut.</p>
+<p>"Wenn Ihr zu der Margareth kommt, so sagt ihr, <i>sie</i> habe mich zum
+Herrn in´s Brandpeterles Haus gemacht, gute Nacht!" sagt der Benedict mit
+bebender Stimme, ein ingrimmiger Schmerz wühlt in seinem Herzen und droht
+ihn zu erwürgen, er vermag kaum das "gute Nacht" noch herauszubringen,
+kehrt sich ab und geht. "Benedict höre, ich muß dir noch Etwas sagen!" ruft
+ihm die Susanne nach.&mdash;"Was weißt noch?" fragt er mit unsicherer Stimme.&mdash;
+"Ich wills dir allein sagen!"&mdash;"Gut, Susanne, ich komme noch einmal zu dir
+heute Abend!"</p>
+<p>Um 11 Uhr klopft Einer am Kammerfensterlein der Susanne, diese öffnet und
+der Benedict fragt, was sie ihm denn zu sagen habe.</p>
+<p>Dieses schwache, einfältige Mädchen sagt in einer stundenlangen Rede Alles,
+was Verstand, Ehre, Rechtschaffenheit und Gottesfurcht dem Zuhörer zu sagen
+vermochten; jedes ihrer Worte dringt tief, schmerzlich tief in seine Seele,
+sie fühlt, wie seine Hand in der ihrigen bebt und nimmermehr würde die
+Predigt des begeistertsten Kanzelredners, nimmermehr die Thränen der Mutter
+solch erschütternden Eindruck auf ihn gemacht haben, wie die Rede des
+einfachen Bauernmädchens, in dessen unansehnlichem Körper eine edle,
+herrliche Seele wohnte.</p>
+<p>Stumm hört er die Susanne an, zuletzt schließt diese mit den Worten. "Wir
+Mädlen sind <i>alle</i> bei deiner Mutter gewesen und sie hat uns
+versprochen, dir solle nicht das geringste Leid widerfahren, wenn du nur
+ihr und dem Vater wieder folgen wollest! ... Jetzt sage mir was du thun
+willst!"</p>
+<p>"Liebe Susann, ich kann nicht mehr hier bleiben, ich bin vom ganzen Dorfe
+verachtet!" meint der Benedict düster.</p>
+<p>"Nein, du bist nicht verachtet, Alle haben Mitleid mit dir und von dem, was
+deine Mutter der Margareth, gesagt hat, wissen nur wir vier: ich, das
+Besele, die Marzell' und die Margareth! Wir haben nirgends ein Wörtlein
+gesagt und werden keines sagen, du weißt, daß wir dir treu sind!"</p>
+<p>"Aber die Margareth?"</p>
+<p>"Auch sie vergißt dir Alles und ist nicht mehr böse, wenn du jetzt folgen
+willst! ... Sie ist die ganze Zeit nicht aus dem Hause gekommen, hat nur
+geweint und wenn du noch jetzt zu ihr gehst, wird sie dir das Nämliche
+sagen, wie ich!"</p>
+<p>Verzweiflungsvoll starrt der Benedict zu Boden und schweigt, die Susanne
+bittet noch einmal, Besserung zu versprechen und ermahnt ihn jetzt
+heimzugehen und wieder redlich zu werden, sie wolle immer für ihn beten.</p>
+<p>"Susanne, ich will dir folgen, will heute Nacht noch heimgehen und meine
+Leute um Verzeihung bitten, aber&mdash;es nützt nichts, <i>es ist zu spät!</i>
+... Gott behüte dich liebe Freundin!"</p>
+<p>Verzweiflungsvoll schaut der Benedict zum sternenreichen Nachthimmel empor,
+wischt zwei große Thränen ab und geht, geht jedoch nicht heim, sondern
+zuerst vor das Kammerfensterlein des Besele, dann vor das der Marzell, hört
+bei Beiden dasselbe, was die Susanne gesagt und pöpperlet mit bangem
+klopfenden Herzen endlich noch bei der Margareth an.</p>
+<p>Diese benimmt sich ganz so, wie ihre besten Freundinnen es vorausgesagt
+haben, versöhnt sich mit ihm und schließt ihre Predigt also:</p>
+<p>"Wie oft, wie oft, Benedict, hat das schneeweiße Bäbele selig von dir
+gesagt, es sei nicht alles Gold, was glänze! ... Sei aber fortan jetzt brav
+und redlich, ich bitte dich um Gotteswillen, Allerliebster! ... Denk´ jetzt
+an unsern Herrgott, bete und arbeite, wie dein Vater, der brave Jacob sagt
+und thut! ... Laß solche Sachen bleiben, dadurch wird kein Mensch
+glücklich, wie du ja selbst schon oft gesagt hast!"</p>
+<p>Schon bricht der Tag an, die Schwalben zwitschern, es ist Zeit, den
+Marktkorb endlich zu holen, er geht heim, Vater und Mutter sprechen mit
+ihm, als ob gar nichts vorgefallen wäre, Benedicts Entschluß zur Besserung
+steht fest, ist aufrichtig, aber&mdash;zu spät!</p>
+<p>Drei Tage früher und der Duckmäuser hätte wohl den armen, stets
+verachteten, ungeliebten und durch die Lieblosigkeit der Menschen zumeist
+verderbten Zuckerhannes niemals kennen lernen!</p>
+<p>Wunderbar ist die Macht, welche von einer unschuldigen, tugendhaften,
+christlich gesinnten Jungfrau nicht nur auf das Gemüth eines unverderbten,
+sondern auch eines verderbten, ja lasterhaften Jünglings ausgeübt wird. Die
+hohe Verehrung, welche ächte Katholiken der Jungfrau Maria zollen, wurzelt
+im tiefsten Geheimniß des menschlichen Herzens und wer die Liebe der
+jungfräulichen Mutter nicht versteht, lernt nur schwer die Liebe des
+Gottessohnes zum Menschengeschlechte verstehen. Ein Verächter Marias ist
+gewöhnlich ein schlechter oder mindestens sehr befangener Christ und wer
+die Jungfrauen nicht achtet, ein roher und noch häufiger ein schlechter
+Mensch. Schade, daß heutzutage christlich gesinnte Jungfrauen nicht
+häufiger sind! Hat Satan nicht zuerst die Eva und dann erst, als diese
+gesündigt hatte, durch sie den Adam verführt? Hat die Susanne, welche noch
+lebt und über den universellen Sieg der rothen Schwitt im Dörflein trauert,
+nicht den grenzenlosen Leichtsinn und tief eingewurzelten Hochmuth des
+Benedict in Einer Stunde gebrochen? Wie wäre er sonst unter das Fensterlein
+der Margareth und nach Hause gekommen? ... Mit dem Marktkorbe auf dem Kopfe
+wandert Benedict wiederum der Stadt zu, zuerst holt ihn das Besele, dann
+die Marzell und zuletzt auch die Susanne auf dem Wege ein, alle drei
+sprechen leise und angelegentlich mit ihm und stumm hört er ihre Reden an,
+antwortet zuweilen nur mit einem schmerzlichen: Ach, ich!&mdash;</p>
+<p>Die "Alltagsmarktweiber" des Wochenmarktes stecken ihre Köpfe zusammen und
+verwundern sich ebenso sehr über die fremdgewordene Erscheinung des
+Benedict als über das nachdenkliche Gesicht und zerstreute Wesen desselben,
+denn heute bringt er auch nicht einen seiner sonstigen Marktwitze und
+fröhlichen Späße vor.</p>
+<p>Auf dem Wege waren ihm noch früher als das Besele drei Gensdarmen begegnet;
+diese gingen seinem Dörflein zu, ein schwüles, banges, unheimlichem Ahnen
+erfüllte seine Seele, er sah immer nur die drei Gensdarmen, welche dem
+Hause seiner Eltern zugingen und hörte nur immer, wie dieselben nach ihm
+fragten!</p>
+<p>Er verkaufte den Marktkram und ging dann in die Apotheke, um Arznei für
+sein krankes Brüderlein zu holen. Ihm folgt jedoch einer der drei fatalen
+Gensdarmen und als Beweis, daß derselbe bereits wieder aus dem Dörflein
+komme, folgt auch der kleinere Bruder, der Hannesle deutet bleich und
+zitternd auf den Aeltesten und sagt: das ist unser Benedict! ... Der
+Hannesle wartet auf die Arznei, der Verhaftete übergibt demselben den Korb
+sammt dem Marktgelde und wird vom Gensdarmen in das Amtsgefängniß geführt.
+Man fand nicht mehr bei ihm, was man suchte, doch er dachte an die
+verflossene Nacht, gestand seine ganze Schuld dem Assessor, welchem er
+vorgeführt wurde und kehrte noch am Abend desselben Tages in sein Dörflein
+zurück.</p>
+<p>Der Jacob schmierte gerade ein Pflugrad, als er seinen Ungerathenen kommen
+sah, eilte zum Hause, stellte sich neben die Theres und beide erklärten
+einstimmig, <i>er</i> habe kein Elternhaus mehr, sei für immer von ihnen
+verstoßen und sie wollten vergessen, jemals einen Sohn gehabt zu haben, der
+Benedict heiße.</p>
+<p>Diese furchtbare Erklärung brachte den Duckmäuser nicht außer sich, er
+behauptete, derjenige gar nicht zu sein, welchen die 3 Gensdarmen gesucht
+hätten; seine Unschuld sei gleich erkannt und deßhalb sei er auch gleich
+wieder freigelassen worden nach dem ersten Verhöre. Auf solche Weise
+<i>erschlich</i> er den Eintritt ins Elternhaus.</p>
+<p>Viele Bewohner des Dörfleins jedoch glaubten nicht an seine Unschuld,
+bürdeten ihm zehnmal mehr auf, als er jemals gethan hatte und so wenig sich
+die Mehrzahl scheute, Ehre zu geben wem Ehre gebührt, so wenig scheute sich
+dieselbe, ihren Argwohn und ihre Verachtung dem Benedict ins Gesicht hinein
+zu werfen.</p>
+<p>Als ihm die Mutter ebenfalls den Markt und die häuslichen Arbeiten abnahm
+und dem Gregor übergab, zugleich nirgends einen Schlüssel mehr stecken
+ließ, wo etwas zu holen war, da entleidete dem Benedict das Leben im
+Elternhause und er wäre fortgegangen, wenn die Mädchen ihm nicht in dieser
+Zeit Proben wahrer Freundschaft und Liebe gegeben hätten. Diese scheuten
+weder Muthmaßungen noch Sticheleien und böse Nachreden, theilten ruhig und
+freudig seine Verachtung, gingen offen mit ihm um, kamen zur Mutter Theres,
+um diese zu trösten, zu beruhigen und derselben eine freudenvollere Zukunft
+zu versprechen, insofern solche von ihrem Aeltesten abhänge. Der Duckmäuser
+hatte die arglosen, unschuldigen Mädchen leicht von seiner Schuldlosigkeit
+überzeugt und sie glaubten an seinen guten Willen zur Besserung. Er hielt
+sich möglichst fern von den Leuten, seufzte im Stillen, denn Ruhe blieb
+seinem Herzen fremd. Böses erwiederte er nicht mit Bösem, nahm Alles in
+Demuth hin, betete viel und nach einiger Zeit gab es auch Stunden, wo er
+selbst an eine bessere Zukunft glaubte. Was thut, hofft, fürchtet ein
+junger Mensch nicht in arger Bedrängniß?</p>
+<p>Die treuen Mädchen, welche zur altmodischen Schwitt gehörten, standen mit
+ihrer Treue vereinzelt, denn die meisten Buben und Mädlen ihrer Parthei
+hielten das stille, ruhige, demüthige Benehmen des außer Kredit gekommenen
+Oberhauptes meist nur für einen Akt neuer Verstellung. Dagegen begegnete
+die rothe Schwitt dem Duckmäuser so freundlich, zuvorkommend und
+wohlwollend wie noch nie, denn sie glaubte, jetzt oder nie sei der rechte
+Augenblick da, um ihn ganz an sie zu fesseln.</p>
+<p>"Wie lange werden die treuen Mädchen der alten Schwitt noch zu dir halten?
+Wie lange wird es dauern, bis der letzte und ärgste Schlag im Hause
+geschieht? Bis du von den Besten unter den Guten verachtet, verlassen, aus
+dem Elternhause verstoßen sein wirst? Sind dann alle Deine Anstrengungen
+nicht vergeblich gewesen? Sei pfiffig, Benedict, bei der rothen Schwitt
+winkt Freude und Genuß, <i>gerade jetzt</i> ist es die rechte Zeit zum
+festen Anschluß an dieselbe! Leben die Buben und Mägdlein der rothen
+Schwitt nicht auch im heimathlichen Dörflein? Haben sie nicht ihre Eltern
+hier, Verwandte und Gesinnungsgenossen genug in den umliegenden Dörfern?
+Stelle dich an die Spitze der rothen Schwitt, mache das Leben derselben zur
+Mode, dann wird die allgemeine Verachtung aufhören, sie muß aufhören!" Also
+flüstert in bangen, schlaflosen Nächten der Versucher dem Benedict ins
+Herz, mächtig kämpft die Erinnerung an die Nacht des Fensterleins, mit
+letzter Kraft die Liebe zur Margareth und deren Freundinnen gegen jene
+Stimme an&mdash;er erlebte grausam qualvolle Stunden, der unglückliche
+Duckmäuser! ... "Fort, fort von hier, das ist meine einzige Rettung!" sagt
+er an einem Sonntagmorgen zu sich selbst und geht.</p>
+<p>Nach der Vesper steht er jedoch mit dem Willibald, der ihn eine Stunde vom
+Dörflein traf und zur Umkehr bewog, unter der Linde und sein letztes Wort
+heißt: Ihr dürft auf mich zählen, Willibald, ich komme bestimmt!</p>
+<p>Nach dem Abendessen schleicht er ohne Wamms und Kappe zur Thüre hinaus in
+den Garten; hier hängt Wamms und Kappe an einem Rosenstocke, er zieht sich
+an, setzt die Kappe recht aufs linke Ohr und nach einigen Minuten steht er
+in der Mitte der rothen Schwitt, welche insgesammt im Hauptquartier beim
+Brandpeterle sitzt und ihn jubelnd bewillkommt.</p>
+<p>Die Hanne mit glühenden Bäcklein holt sogleich einen Hafen voll vom Alten,
+ihre Mutter überreicht ihm die Schlüssel zum Keller und zum Speicher, zur
+Fleischkammer und zum Geldkasten, erklärt ihn zu ihrem Eidam und spricht:</p>
+<p>"Hab's schon oft der Hanne gesagt, sag's täglich, Dich und sonst keinen
+Andern will ich im Haus haben, denn Keiner ist im ganzen Revier, der dir
+gleicht! ... Hast ganz Recht gehabt, ganz Recht gehabt, wenn du nur einen
+ganzen Maltersack voll, Maltersack voll bei so einem reichen Geizhals
+erwischt hättest! ... Man muß nicht so dumm sein, nicht so dumm sein, wenn
+man dazu kommen kann! ... Ich hab' eben lauter Esel, der Sepp, der Sepp, er
+muß bei dir lernen!"</p>
+<p>Toll und bunt geht es zu beim Brandpeterle, die rothe Schwitt rast vor
+Freuden über das neue Oberhaupt, selbst der Max hat allen Groll vergessen,
+doch schon um halb neun steht der Benedict auf, um fortzugehen.</p>
+<p>Alle erklären sich dagegen, er bleibt fest und die Alte meint: "Was, du
+willst fort? fort von deiner Schwiegermutter? Willst halt noch zu deiner
+Schläferin, gelt? ... Möcht' nur auch wissen, was du denkst! ... Du der
+lustigste Bueb im Dorf, im Dorf, magst mit einem so todten Mädle gehen, wie
+die Margreth eines ist, während die vornehmsten Mädlen, wie meine Hanne,
+die Hanne dort, die Finger nach dir lecken!"</p>
+<p>Vergeblich jedoch beschwört die Schwiegermutter den Eidam zum Dableiben,
+vergeblich ruft sie:</p>
+<p>"Hanne, schenke ihm ein, er darf nicht fort! ... Du behälst ihn bei dir
+heute Nacht und wenn seine fromme Mutter auch allen Heiligen die Füße
+abrutscht!"</p>
+<p>Doch der Duckmäuser geht, findet die fromme Mutter mit seinen treuen
+Freundinnen auf der Staffel des Hauses sitzend; sie fragen ihn, wo er
+gewesen sei, er gibt eine ausweichende Antwort, doch die Dasitzenden
+errathen die Wahrheit, ohne ihren Gedanken zu offenbaren, er redet wenig
+und legt sich bald zu Bette.</p>
+<p>Von nun an schwankt er haltlos hin und her, nirgends hat er sein Bleiben,
+auch bei der rothen Schwitt bleibt er nie lange und kommt nur, wenn er die
+bösen Geister, welche ihn plagen, im Wein und bei der Hanne ersäufen will,
+sucht dann in der Hölle Ruhe und Frieden und findet stets das Gegentheil
+davon.</p>
+<p>Der Mutter und den treuen Mädlen entgeht seine Haltlosigkeit nicht, sie
+bieten alle Macht ihrer Zärtlichkeit und Liebe auf und bringen ihn wirklich
+dazu, das Haus des Brandpeterle zu meiden, der Hanne und der ganzen rothen
+Schwitt mit Verachtung entgegen zu kommen. Aus dem leichtsinnigen Benedict
+scheint ein ernster, rechtschaffener Mann werden zu wollen, die Mutter und
+die Margareth glauben ihren Herzkäfer Gott und der Tugend gerettet zu
+haben, doch an einem Freitag Morgen tritt ein Zweifarbiger, nämlich der
+Amtsdiener in die Stube und meldet, der Benedict habe morgen früh um 9 Uhr
+vor Amt zu erscheinen.</p>
+<p>Derselbe stand gerade beim Hirzenwirth im Taglohn, erfuhr von der Einladung
+nichts, bis er Abends spät nach Hause kam.</p>
+<p>Da geht das Donnerwetter los, die Eltern meinten, er habe wieder irgendwo
+einen schlechten Streich gemacht und es fehlte nicht viel, so würden sie
+ihn noch in dieser Nacht fortgejagt haben.</p>
+<p>Mit bangem Herzen geht der Duckmäuser am folgenden Morgen vor Amt in die
+Stadt und macht den Rückweg erst wieder nach vier Wochen, weil der
+Gefängnißwärter nichts vom Heimgehen wissen will, bevor die Strafe
+erstanden sei.</p>
+<p>Während dieser Zeit saß die Mutter oft gar traurig und niedergeschlagen am
+Abend mit der Margareth, dem Vefele, der Marzell und der Susanne auf den
+Staffeln und gegen alle Tröstungen unzugänglich, sagte sie hundertmal:</p>
+<p>"Er hört nicht auf zu lügen, hierin liegt der sicherste Beweis, daß er sich
+nicht ändern will! Er hat über unser Haus jetzt eine Schmach gebracht,
+welche nie wieder hinwegkommt, so lange er darin ist, darum soll er auch
+nie wieder in dieses Haus treten, wenigstens so lange ich am Leben bin!"</p>
+<p>Die Mädchen meinten, Benedicts Strafe sei ja nur eine Folge des gewiß
+abgelegten Leichtsinnes, die Mutter habe ihm nach der Rückkehr von der
+mehrtägigen Wanderung Alles verziehen und dürfe also nicht so hart sein,
+wenn sie gerecht handeln wolle, doch Alles half nichts und wenn Theres
+nichts mehr zu erwidern wußte, begann sie zu seufzen oder zu schimpfen.</p>
+<p>An einem Mittwoch Morgen kommt der Benedict durch den Garten auf das Haus
+zu und steht auf der Schwelle der Hinterthüre; die Mutter stand am Heerde,
+jetzt wendet sie sich um, ihre Augen sprühen Feuer, sie eilt ihm entgegen
+und ehe er sich's versieht, spritzt das Blut aus einer Wunde an der Stirn
+und dann schlägt sie die Thüre vor ihm zu mit den vernichtenden Worten:</p>
+<p>"Du, Galgenstrick, kommst nimmer über die Schwelle dieses Hauses, so lange
+ich noch schnaufe! Wirst genug haben an diesem Willkomm, kannst damit
+hingehen, wohin du willst, mich <i>aber nenne nie mehr deine Mutter!"</i></p>
+<p>Sie hat ihrem Sohne den Abschied mit einem scharfkantigen Holzscheite
+gegeben und er wird die Spuren der Wunde inwendig und auswendig ins Grab
+nehmen.&mdash;</p>
+<h3><a name="4"></a>Junges Glück und alter Hochmuth.</h3>
+<p>
+Es gibt nichts Lieblicheres und Wohltuenderes als die sonnenreichen, milden
+Tage, welche von Maria Geburt bis Allerheiligen und manchmal bis in den
+Dezember hinein der Herbst in das badische Land bringt. Oft schaut der
+Schnee von den höchsten Bergen des Schwarzwaldes dem paradiesischen
+Frühling und Sommer des Rheinthales tief ins Auge und der Blick in die
+Schweizeralpen gibt ihm Muth zum Dableiben und muß er sich endlich in die
+schattenreichsten Klüfte flüchten, zuletzt auch diese Schlupfwinkel meiden
+und als neutrales Gebiet zurücklassen, wo weder der Winter noch der Sommer
+herrscht und nur der Frühling sein neckisches Knabenspiel ein bischen
+treibt, so kehrt der Winter von seinem Besuche bei den Schweizerbergen doch
+frühzeitig wieder zurück und versucht es, seinen Schneemantel wieder über
+die Höhen des Schwarzwaldes zu werfen. Entdeckt der September einige Zipfel
+des Schneemantels, so lacht er darob und jagt den Winter mindestens in
+seine Klüfte mit einer etwas stark verbrauchten Sonnenstrahlenruthe zurück;
+der Oktober lacht auch noch, doch heult, lärmt und weint er immer mehr
+dazwischen, denn der Winter redet von seinen Burgen herab schon ein
+ernsthafteres Wörtlein und sendet wohl zuweilen seinen Spion, den Frost in
+das Land des Herbstes; dieser gibt den Gedanken an Eroberung der Burgen
+immer mehr auf, begnügt sich, in den stillen, heimlichen Thälern des
+Schwarzwaldes am Tage herumzuwandern und bekommt endlich genug zu thun, um
+sich den vom Gebirge herabstürzenden Vortrab des Winters vom Leibe zu
+halten; wenn der November endlich auf den Kampfplatz tritt, mit seinem
+wahren Diplomatengewissen und ebenso geneigt, mit dem Sommer und dem Winter
+zu unterhandeln und beide an der Nase herumzuführen, so schaut dieser
+manchmal griesgrämig und finster drein, wenn ihm der Oktober keinen guten
+Neuen credenzt und tüchtig einschenkt. Ist der Wein gut und ein bischen
+viel, dann bringts der November wohl noch dem Dezember zu und mehr als ein
+sonnenhelles Lächeln zuckt über das kahle, verwitterte Gesicht des sonst so
+kalten und menschenfeindlichen Alten, er lüftet wohl seinen Schneemantel
+oder schlendert denselben lustig auf die Schwarzwälderberge zurück und
+stirbt als treuloser Knecht des Winters in der süßen Trunkenheit, welche
+der Oktober, ein rüstiger lebensfroher Fünfziger und der grauwerdende
+November mit seinem abgelebten Intriguantengesichte über ihn gebracht
+haben.</p>
+<p>Am Tage, an welchem der Duckmäuser mit blutiger Stirn und blutendem Herzen
+dem Elternhaufe den Rücken kehren mußte, hatte der Oktober just scharfe
+Händel mit dem Winter bekommen, denn jener hatte den Schneemantel des
+letztern bereits auf den mittlern Bergen entdeckt und fürchtete für seine
+Vorhügel, wo der Wein noch vollends anszukochen war; beide lärmten und
+tobten, daß alle Bäume Reißaus nehmen wollten und weinten vor Zorn und
+Wuth, daß die Mutter Erde ob dem Verderben ihres zersetzten Unterrockes
+auch plätschernd schimpfte und kein trockener Faden an unserm Wanderer
+blieb.</p>
+<p>Seine Werktagskleider hatte der Benedict im Thurme ein bischen stark
+abgerutscht, war neben andern auch mit Flickergedanken heimgegangen, jetzt
+besaß er nichts auf der weiten Welt, denn zerrissene Kleider, ein
+zerrissenes Herz und einen magern Geldbeutel, und weil er doch nicht wußte,
+wohin er sollte, ließ er sich vom Sturm auf's Gerathewohl vorwärts treiben
+und trunken von Schmerz, gleichgültig gegen das Leben, fühlt er wenig vom
+wilden Kampfe der Jahreszeiten und noch weniger von Hunger und Durst.</p>
+<p>Würde ihm ein Gensdarme begegnen, so würde er nichts sagen über Wer, Woher
+und Wohin und ließe sich geduldig in irgend ein Gefängniß führen.</p>
+<p>Gegen Abend kommt er in ein fremdes Dorf und der Leuenwirth nimmt ihn auf,
+weil er demselben einiges Geld zeigen kann. Er ißt und trinkt wenig, weint
+jedoch viele bittere Thränen in sein Kopfkissen, weils ihm wird, als ob die
+Margareth, das Vefele, die Susanne sammt der Marzell in der Kammer wären
+und gar wehmüthig und traurig in das Bett des Verstoßenen hineinschauten,
+der nicht einmal Abschied von diesen lieben Seelen genommen hatte. Er weint
+und betet, redet im unsäglichen Wehe mit sich selber, da fährt ein Gedanke
+durch seine Seele, wie ein falber Blitz durch die stürmische Wetternacht.</p>
+<p>Lebt nicht einige Stunden von hier, in einem Dorfe in der Nähe des Rheines
+ein alter, guter Freund? Ist dieser Freund nicht wohlbestallter
+Schweinehirt seines Dorfes? Braucht ein solcher nicht einen Knecht, wenn
+die Zahl der unartigen, grunzenden Pflegebefohlenen ein bischen groß ist?
+Heißt der Freund nicht auch Mathes, wie neben dem Gregor der beste Freund,
+welchen der Benedict bei der schwarzen Schwitt besaß? Ist jener Mathes kein
+"göttlicher Sauhirte", so ist er doch ein gutmüthiger, lustiger Kamerad und
+ein Musikant dazu. Wie oft ließ er den Brummbaß schnurren an Kirchweihen
+und an der Fastnacht, bei Hochzeiten und sogar bei einigen Festen der
+schwarzen Schwitt und saß er nicht auf der Musikantenbank in der Nähe des
+Benedict, wenn dieser mit seiner Klarinette die schönsten Walzer und Hopser
+in den Tumult und in die Staubwolke des Tanzsaales hineinblies? Hatte er
+nicht manches Glas mit dem Benedict getrunken, diesen seinen
+"Herzgepoppelten" genannt, ihm von den Freuden des einsamen, stillen Waldes
+und des Lebens unter den Schweinen erzählt? Kannte der Mathes nicht die
+Margareth und die Marzelle und Alle, welche dem Duckmäuser jemals lieb und
+werth gewesen? Wo sollte in dieser Zeit sonst ein Plätzlein gefunden
+werden, wo der verstoßene Bueb überwintern konnte?</p>
+<p>Ganz beruhigt schläft Benedict ein, erwacht sehr frühe und lauscht, bis ein
+Getrabe im Wirthshause entsteht, darf nicht lange darauf warten, läßt sich
+den Weg ein bischen sagen und dieser ist nicht schwer aufzufinden. Die
+Sterne stehen noch über den finstern Höhen des Gebirges, als er sich auf
+den Weg macht und es wird nicht Mittag, so findet der Benedict den
+schweinetreibenden Mathes mitten unter seiner Heerde im Eichwald.</p>
+<p>Der Hirtenhund des Mathes würdigt den Gast keines Blickes, denn er erkennt
+in demselben kein rechtes Schwein und was nicht Schwein heißt, existirt für
+ihn gar nicht auf dieser Welt; dagegen hört der Trüffelhund des Mathes mit
+Scharren auf, bellt lustig und rennt dem Ankömmling entgegen, sein Herr
+thut dasselbe und nach 3 Minuten weiß der Benedict, daß er zu keiner
+gelegneren Zeit hätte kommen können.</p>
+<p>Der Mathes erkennt im Unglücke des Freundes eine Schickung des Himmels,
+welcher sich auch eines geplagten Schweinehirten erbarmt; gerade gestern
+ist der Knecht entlaufen, "'s war ein Ueberrheiner, ein Spitzbube", sagt
+der Hirt und installirt sofort durch Ueberreichung des Hörnleins den
+Benedict als neuen Knecht.</p>
+<p>Wie der schmucke Benedict, der trotz des armseligen Gewandes ein hübscher
+Bursche blieb und durch das Tuch um den Kopf etwas Rührendes und
+Malerisches gewann, am andern Morgen mit seinem Horn die Ringelschwänze des
+Rheindorfes zusammenbläst, grüßt ihn von manchem Hofthor herüber manch
+liebliches und freundliches Gesicht, und es kommt ihm vor, die Leute seien
+hier wohl besser als daheim im Dörflein.</p>
+<p>An den letzten Häusern bläst er noch einmal recht herzhaft und freudig und
+wäre das Hörnlein eine Klapptrompete gewesen, so würde er in langgezogenen
+Tönen und raschen Tonläufen der neuen Heimath einen feierlichen und
+jubelnden Morgengruß zugeblasen haben. Jetzt treibt ein gar reinlich
+gekleidetes und nettes Mädle mit brennend schwarzen Augen, zarten rothen
+Wangen und freundlichem Munde ein Mutterschwein sammt drei Ferkeln zur
+grunzenden Armee, blickt auf, steht wie versteinert, geht auf den Benedict
+zu, nennt ihn beim Namen, faßt dessen Hand, begrüßt ihn als Freund und
+ladet ihn dringend ein, doch so bald als möglich in ihr Haus zu kommen.</p>
+<p>Gewiß hat noch kein Feldherr sein siegreiches Heer mit seligeren
+Empfindungen in die Heimath zurückgeführt, als jetzt der Duckmäuser seine
+Ringelschwänzlein zum Walde trieb.</p>
+<p>Er hat Brod, hat einen Freund, hat eine liebe Freundin, was will der Mensch
+mehr? Bis zum Abend muß er im Walde bleiben, der Mathes ist ein
+kurzweiliger Gesell, doch von zarten Gefühlen und schwärmerischen
+Empfindungen versteht er nichts, dem Knechte kommt es vor, als ob der
+kurze, trübe Oktobertag mit seinen dampfenden Bergwäldern ein endloser
+Junitag voll Blüthenduft und Sonnenlicht und herrlicher, doch gar zu
+langsam reifender Früchte sei und kaum sind seine Pflegebefohlenen freudig
+grunzend und lustig schreiend heimgesprungen, kaum sind die letzten von den
+Bäuerinnen unten im Dorfe in die Ställe gelockt worden, so steht der
+Benedict vor der Schulkamerädin und Landsmännin, der freundlichen Rosa; ihr
+Pflegevater, der alte Straßenbasche, ein ehemaliger Unteroffizier, jetzt
+ein zufriedener Bauer und fleißiger Straßenknecht dazu, ladet ihn zum
+Nachtessen ein und die Pflegmutter springt fort, um bei der Scheckenbäurin
+drüben die versprochenen Trauben und beim Adlerwirth eine Flasche
+Ueberrheiner zu holen.&mdash;Lange Jahre haben sich Rosa und Benedict nicht mehr
+gesehen; sie kam fort, ehe die beiden Schwitten im Werden waren und ihre
+Geschichte ist eine in jeder Hinsicht zu wahrhaftige Dorfgeschichte, die
+Rosa spielt fortan eine zu erhebliche Rolle, als daß wir nichts Näheres
+erzählen sollten.</p>
+<p>Rosas Eltern wohnten einst nicht weit vom Schulhause, in welchem der
+Benedict als Unterlehrer und als "der Leichtsinnigste von Allen"
+Knabenlorbeern pflückte. Sie liebte den Unterlehrer, denn er sagte auch ihr
+ein, machte auch ihre Aufsätze, beschützte auch sie beim Schuckballen und
+Ziehen auf der Wiese gegen den Unverstand und die Rohheit des Max,
+Willibald und anderer gar früh keimender Lümmel der rothen Schwitt, welche
+Freude daran fanden, die Mädchen zu necken, zum Weinen zu bringen, ihre
+Kleider zu zerreißen und in den Kinderhimmel derselben hineinzubengeln, bis
+sie sich schüchtern mit Zusehen begnügten oder schreiend heimsprangen. Die
+Freundlichkeit, Güte und Liebe des starken Benedict gegen die schwachen
+Mädlen war auch der Rosa unvergeßlich geblieben, deren Geschick sich minder
+freundlich gestaltete, als das der Kameradinnen, so daß sie ohne Gottes
+besondern Schutz leicht ein weiblicher Zuckerhannes hätte werden mögen,
+deren es jährlich mehr im Badischen wie anderwärts gibt. Rosas Eltern waren
+weder reiche noch arme, sondern mittelbegüterte, dabei grundehrliche,
+gottesfürchtige Leute vom alten Schlage.</p>
+<p>War Benedicts Vater ein bischen zu finster und in Geldangelegenheiten oft
+karg und hart, so war der Vater Rosas fast zu leutselig, zu gut und
+barmherzig, schenkte Jedem gleich sein Zutrauen und litt an der
+Schwachheit, niemals eine Bitte abschlagen zu können, wo das Helfen
+irgendwie in seiner Macht stand.</p>
+<p>Kommt eines Tages ein naher Vetter zum Klaus, wie Rosas Vater hieß, der
+überall der "ehrliche Klaus" genannt wurde und dessen Wort mehr galt als
+heutzutage doppelte gerichtliche Versicherung; der Vetter aber klagte
+erbärmlich, denn er hat Schulden, die Gläubiger wollen entweder bezahlt
+sein oder einen guten Bürgen haben. Klaus redet mit seiner Alten, leistet
+richtig Bürgschaft und sein bloßes Versprechen, im Nothfalle Selbstzahler
+werden zu wollen, beruhigte und befriedigt die Gläubiger des Vetters.
+Dieser jedoch gehört zu den vielen gewissenlosen Schuften, die gar stolz
+und eingebildet im Bauernrock und Herrenmantel an Zuchthäusern
+vorüberwandeln und sich darüber freuen, daß man in der Welt gemeiniglich
+nur die kleinen Spitzbuben hängt, die großen dagegen laufen läßt. Er
+benützt Klausens gutmüthige Schwachheit noch weiter, nimmt auf dessen
+Bürgschaft hin ein ordentliches Kapital auf, macht im Stillen Haus und Hof
+zu Geld und eines schönen Morgens verschwindet er aus dem Dorfe und kommt
+nicht wieder; nach einigen Monaten wandern die Seinigen ihm nach und zwar
+nach Amerika, wo allmälig alle Spitzbuben und Schurken der Welt sich gerne
+ein Stelldichein geben und den ehrlichen Leuten das Spiel verderben.</p>
+<p>Jetzt kommen einige Gläubiger des saubern Vetters zum Klaus, doch ihre
+Hoffnungen sind schwach, denn der Klaus ist kein reicher Mann, hat ein Weib
+und vier unschuldige, unerzogene Kindlein, zudem besitzen sie nicht Schwarz
+auf Weiß und das Ja, welches ehemals aus Klausens Lippen tönte, verhallt
+gewiß unter dem Nein aller Gründe, welche Klugheit, Selbstliebe und
+Pflichtgefühl eines Familienvaters einzugeben vermögen.</p>
+<p>Einige Gläubiger klopfen gar nicht an, sie wollen den biedern, ehrlichen
+Mann nicht einmal durch eine Frage ängstigen.</p>
+<p>Zu den Andern dagegen spricht der Mann wörtlich:</p>
+<p>"Mit all dem Geld, für welches ich gutstand, könnte ich meine Ehre und die
+Reinheit meines Gewissens nicht erkaufen. Ich hab' Euch mein Wort gegeben
+und bin jetzt schuldig mein Wort zu halten, werde es thun, so gut ich's
+eben vermag!"</p>
+<p>Einige Wochen später wird Klausens Häuslein sammt Allem, was darin und
+daran ist, versteigert; er hat deßhalb mit seiner Alten keinen Streit
+bekommen und mit ihr und den Kindlein beim Rindhofbauern, dem Fidele und
+allzuschwachen Vater des schlimmen Max, vorläufig ein Kämmerlein und Brod
+bekommen, doch am dritten Tage nach der Steigerung ist dem Klaus das Herz
+gebrochen, er legt sich ins Bett und stirbt nach wenigen Stunden, während
+er wörtlich also betet. Herr, du hast mich arm gemacht, darum komm' ich
+jetzt zu dir und übergebe dir die Sorge für mein Weib und meine Waislein!</p>
+<p>Gott hat das Gebet erhört; acht Tage später bricht auch dem Weibe das Herz
+und sie folgt ihrem Klaus nach in ein Land, wo es keine Schuldgesetze,
+keine Bürgschaften und keine Versteigerungen gibt.</p>
+<p>Jetzt werden die vier Kindlein verloost und getrennt, sind noch viel zu
+jung zum Arbeiten, das älteste zählt kaum 10 Jahre, das jüngste kaum einige
+Wochen. Die siebenjährige Rosa wandert in das Haus eines wegen seines
+Unverstandes und seiner Rohheit gefürchteten und berüchtigten reichen
+Hofbauern, der nur darauf sinnt, wie das Kind sein elendes Bettlein und die
+Dienstbotenkost mit Zinsen vergüten könne.</p>
+<p>Rosa sollte noch lange zur Schule, doch täglich muß sie den schweren
+Milchkorb auf den Kopf nehmen und stundenweit in die Stadt marschiren,
+sobald der Morgen graut.</p>
+<p>Bei uns fehlt der Schnee gar oft im Dezember und Januar; am Tage regnet's
+und in der Nacht gefrierts, so daß auf allen Wegen und noch mehr auf dem
+Straßenpflaster das Glatteis am Morgen die Wanderer zum Fallen bringt.</p>
+<p>Ein Fehltritt, dann ist's geschehen und so ging es einmal dem Rosele,
+diesem schwachen Kinde; sein Fuß gleitete aus und der Milchkorb lag auf der
+Straße. Wie hat das Kind vor Angst und Schrecken gezittert und gebebt, als
+die Scherben der Milchtöpfe klapperten! Mit weinenden Augen schaut es zu,
+wie die bläuliche Milch in gefrorene Fußtapfen und Wagengeleise rinnt,
+fühlt schon den Seilstumpen sammt dem Farrenwedel des Pflegherrn auf dem
+Rücken, weiß nicht mehr, was es thut, liest endlich einige Kohlköpfe und
+Scherben zusammen, in welchen noch ein wenig Milch zurückblieb und läuft
+still weinend und schluchzend der Stadt zu.</p>
+<p>Vom Korbe herab tröpfelt die Milch noch immer über das grüne Biberkleidlein
+und das Kind sieht bald aus, als ob es einmal Milch geregnet habe, in
+seiner Todesangst hat es die Sache erst auf dem Wochenmarkte wahrgenommen.</p>
+<p>Hier begegnet es seinem ehemaligen Unterlehrer, dem Benedict, denn der
+Hofbauer, bei welchem Rosa lebt, wohnt nicht im Dörflein, sondern gehört
+nur noch zur Gemeinde desselben. Beide sehen sich sonst blutwenig, jetzt
+aber sieht er seine alte Schülerin wieder und hört die schlimmen
+Prophezeiungen der Weiber, welche den unmenschlichen Hofbauern kennen.
+Benedicts Geheimkasse hinter dem großen Getüchtrog ist gerade in Floribus,
+er schenkt dem Rofele gerade so viel als es heimbringen soll, kauft dazu
+neue Milchtöpfe, tauscht dieselben gegen alte aus und weil ein Milchtopf
+ziemlich wie der andere aussieht, geht das vor Freuden weinende Mägdlein
+mit dem Gelde und der vollen Anzahl seiner Töpfe aus der Stadt getrost
+wieder heim.</p>
+<p>Der Hofbauer erfuhr niemals etwas von der Milchgeschichte und das Rofele
+zählte zwölf Jahre, als es von dem Unmenschen erlöst und in demselben
+Rheindorfe beim Sraßenbasche ein Unterkommen fand, in welchem jetzt der
+verstoßene Duckmäuser als Knecht des "Saumathes" lebt.</p>
+<p>Der Straßenbasche ist, wie gesagt, ein alter pensionirter Unteroffizier,
+hat in den napoleonischen Kriegen große und kleine Kugeln tausendweise
+summen, singen und pfeifen hören und brachte er es im Felde bei aller
+Pflichttreue und Tapferkeit nicht weiter als zum Sergeanten, so brachte er
+es im Frieden und in der Ehe nicht einmal zum Vater. Er war von Hause aus
+ein armer Teufel, doch sein ehemals fuchsrother Schnurrbart zündete ein
+Flämmlein im Herzen eines braven und bemittelten Mädchens an, sein
+grundehrliches, biederes Soldatenherz brannte schon vorher ein bischen, der
+Pfarrer schloß den altmodischen Dorfroman mit einer Trauung und beiden
+Leutchen fehlte bei ihrem christlichen, genügsamen und deßhalb sorgenfreien
+Leben nichts zum Glücke außer einem Kinde.</p>
+<p>Gott, welcher den Seufzer des sterbenden Klaus gehört, lieferte dem
+Straßenbasche und dessen bravem Weibe das arme Rosele in Hände und Haus und
+vom zwölften Jahre ihres Alters lebte das Mädchen nicht als Magd, sondern
+als erklärte Tochter und künftige Erbin des ganzen Hauswesens beim
+Straßenbasche. Gar oft hatten die Pflegeeltern die Milchhafengeschichte
+gehört und mit der Erzählerin gewünscht, den edelmüthigen Helfer in der
+Noth kennen zu lernen, jetzt sitzt die seit sechs Jahren zur blühenden
+Jungfrau herangewachsene älteste Tochter des ehrlichen Klaus mit
+freudestrahlendem Gesichte dem Benedict gegenüber und dieser liest aus
+ihren Augen einen ganzen Himmel heraus.</p>
+<p>Der Straßenbasche küßt wahrhaftig in seiner Begeisterung ob der
+Milchgeschichte die Hand des armen Gastes, er und seine Frau betrachten den
+Liebesdienst, als ob er ihnen erwiesen worden wäre, die Rosa hat heute
+wieder Alles lang und breit erzählt, der Benedict fängt bereits an stolz zu
+werden, doch plötzlich fängt die Rosa auch an, in Gegenwart der
+Pflegeeltern dem Staunenden alle Streiche, welche er daheim ausgeübt, von A
+bis Z herzuzählen; an jeden Streich knüpft sie sammt dem Straßenbasche gar
+zärtliche Mahnungen und liebreiche Warnungen und schließt endlich die lange
+Strafpredigt mit den Worten:</p>
+<p>["]Ueberlege, Benedict, überlege nur, was ein Gottloser stiften kann. Du
+hast meine Eltern gekannt und weißt, daß wir Kinder noch glücklich in ihren
+Armen leben könnten, wenn nicht ein schlechter Mensch gemacht hätte, daß
+beide fast mit einander gesunden Leibes ins Grab sanken. Gott gebe ihnen
+ewige Ruhe und ihrem Mörder den Frieden, mir aber Segen, dich für die
+Rechtschaffenheit zu gewinnen. Meinst du, ich hätte dich und jenen
+Marktmorgen je vergessen? Einen leichtsinnigen Streich nach dem andern
+mußte ich von dir hören und das kränkte mich tief in die Seele hinein! ...
+Darfst es glauben!"</p>
+<p>Sie konnte vor Weinen nicht mehr reden, dem Straßenbasche rannen auch die
+hellen Thränen in den halbrothen Bart, sein Weib, die weichherzige Klara
+schloß die fromme Pflegetochter in die Arme, küßte dieselbe und konnte nur
+die Worte hervorbringen: Oh Rosele, mein Kind, mein liebes Kind!</p>
+<p>Regungslos hat der Duckmäuser bisher am Tische gesessen, jetzt steht er
+tief erschüttert auf, um die Hand der Schulkameradin zu küssen und
+feierlich zu geloben, ihr zu folgen, den Leichtsinn und Hochmuth von heute
+an ganz fahren zu lassen und ein Christ in Wahrheit zu werden.</p>
+<p>Spät geht er vom Straßenbasche weg und dieser sammt der Klara haben ihm
+herrliche Aussichten in ein friedsames, ländliches Stillleben mit der
+Pflegetochter, ihrem einzigen Kinde gemacht, wenn er sich nur bessern
+wolle.</p>
+<p>Der Benedict führte sich brav und klaglos auf. Er besaß keine Kleider außer
+den elenden Lumpen, mit welchen er gekommen war, getraute sich nicht, von
+seinen neuen Eltern bessere zu fordern, doch schon vor Neujahr war er vom
+Kopf bis zu den Füßen neu gekleidet, konnte vier nagelneue weiße Hemden
+aufzeigen, dazu einige Sechsbätzner, um der Rosa einen Neujahrskram zu
+kaufen und was das Vornehmste dabei war, er durfte sich zum erstenmal in
+seinem Leben sagen, nur auf ganz ehrlichem Wege zu all diesen
+Herrlichkeiten gekommen zu sein.</p>
+<p>Den ganzen Tag war er mit dem Mathes im Walde bei der Armee; die viele
+freie Zeit benutzte er, um Birkenreiser zu schneiden und Besen daraus zu
+machen, die Besen aber sendete er auf den Markt. Einmal bekam er auch
+Gelegenheit, einem schönen Hasen, der mit offenen Augen hinter einem
+Pfriemenstocke schlief, das Peitschenholz zwischen die Löffel zu legen und
+verkaufe das kleine Vieh an den Adlerwirth. Wenn er Morgens seine
+Ringelschwänzlein zusammenblies, kam manchmal auch eine Bäurin und schenkte
+dem treuen, braven Hirten einige Kreuzer und zu all diesem kamen zwei
+Hochzeiten, wobei der "Saumathes" den Brummbaß wieder schnurren ließ, sein
+Knecht neben ihm die Klarinette blies, daß es fast die französischen
+Zollwächter drüben hörten.</p>
+<p>Bei diesen Hochzeiten trank er auch wieder ein Schöpplein, doch keinen
+Rausch nach Musikantenart; vorher und nachher sah er das Innere einer
+Wirthsstube nicht bis zum Neujahrstage, wo er zum erstenmal mit seiner Rosa
+in den Adler hinüberging, der Straßenbasche mit der Klara kamen später
+auch, ein Freudlein in Ehren kann niemand verwehren!</p>
+<p>Wie daheim, luden ihn die Leute unaufhörlich in ihre Kunkelstuben ein, doch
+er blieb weg, denn entweder hatte er mit seinen Besen zu thun oder er saß
+im stillen, frommen Kreise beim Straßenbasche. Noch in den letzten Tagen
+des alten Jahres bemerkte der Benedict beim Ausfahren, welche Augen und
+Geberden eine Katharin machte und wie sie mit Schauen, Grüßen und Reden
+nicht fertig werden will, am Neujahrstag sagt ihm im Adler die Tochter des
+Mathes: "Käther will Dir fünf Kronenthaler geben, wenn Du sie ins
+Wirthshaus nimmst!"&mdash;"Soll sie nur einem Andern geben, ich habe schon
+soviel, als ich und das Rösele brauchen!"&mdash;"Bist aber doch recht dumm, wenn
+mans so haben kann!"&mdash;"Laß mich dumm sein, Fränz, und bleibe Du gescheidt!"</p>
+<p>Richtig sitzt er am Neujahr neben dem Rösele im Adler und die Wirthin hat
+ihn glücklich gepriesen, wiewohl das Pärlein den ganzen Abend nur zwei
+Flaschen Batzenvierer trank.</p>
+<p>Hatte er doch in kurzer Zeit nicht nur die innige Liebe der alten
+Schulkameradin, sondern auch die volle Zuneigung des braven Basche und
+dessen Weibes errungen, war wohlgelitten bei Jung und Alt und verlebte hier
+die seligsten Tage seines Lebens!</p>
+<p>Weil er in keine Kunkelstube ging, kamen allmählig und besonders nach
+Neujahr Buben und Mädlen, Weiber und Mannen zu ihm in die Behausung des
+"Saumathes," dessen Stube bald zu klein wurde, wenn der Knecht darin zu
+finden war.</p>
+<p>Am Neujahr hätte dieser den Schweinhirtendienst aufgeben können und wurde
+arg von den Leuten im Adler geplagt, sich bei ihnen zu verdingen und der
+Basche selbst redet ihm scheinbar ernstlich zu, doch der Benedict meint:
+"Bah, bah, 's ist nichts; ein Wirthshaus, das wäre gerade der Platz für
+mich, um bald wieder in den alten Werktagshosen zu stecken!"&mdash;"Gelt, Du
+traust gewiß der Magd des Adlerwirths nicht?" lacht der Basche&mdash;"Nein,
+nein, ich traue mir nicht!" erwiederte der Benedict und gar wohlgefällig
+streicht der Alte den halbrothen Schnurrbart.</p>
+<p>Schon seit jenem Tage, an welchem der Duckmäuser bei der ersten der beiden
+Hochzeiten, welche seit Oktober im Adler gehalten wurden, lief sich der
+blinde Michel fast die Füße aus dem Leib, weil er Klarinettblasen lernen
+wollte, der Vater desselben kam auch oft, bat inständig und machte große
+Versprechungen, doch Alles nützt nichts, denn der leiblich blinde Michel
+hat einen geistig blinden Vater und das Haus desselben ist gerade
+dasjenige, in welchem sich die Rothschwittler des Rheindorfes häufig sehen
+lassen. Zwar geht der Basche selbst zuweilen zum Nachbar hinüber, andere
+ehrbare Leute thun es auch, doch der Duckmäuser glaubt, Gelegenheit zu
+meiden sei mindestens für ihn das Ersprießlichste, die Leute, welche ihm in
+die Stube des "Saumathes" nachrennen, bringen ohnehin Anfechtungen und
+Versuchungen genug. Endlich bittet ihn das Rösele, sich des blinden Michels
+zu erbarmen und demselben in der Stube der Pflegeeltern das Klarinettblasen
+zu lehren und jetzt thut er es wirklich.</p>
+<p>Als freundlicher, gefalliger, hübscher Bursche und Geschichtenerzähler
+steht der Duckmäuser längst in hohem Rufe, jetzt wird der Straßenbasche ob
+dem "musikalischen Scheine" desselben schier ein Narr und räth ihm eines
+Abends, zum Militär zu gehen und "Hobist" zu werden und meint, bis zum
+Kapellmeister könne er's leicht bringen. Dieses Wort zündete, denn Hobist
+zu werden, war einer seiner alten Jugendträume und der Gedanke an Erfüllung
+dieses Traumes ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe mehr.</p>
+<p>Wem dies am wenigsten gefiel, war das Rösele und am dritten Abend, wo der
+Basche wieder vom Hobistwerden spricht und der Benedict sich streckt, als
+ob er just unters Maaß stehen wolle, meint sie. "Die Kasern' ist für den
+Benedict noch gefährlicher als der Adler, lieber will ich ihn zeitlebens
+beim Mathes sehen denn beim Regiment!"&mdash;Das heißt den alten Unteroffizier
+ein bischen an der Ehre angreifen und er sagt: "Wer liederlich sein und
+bleiben will, kanns bei der Sauheerd' so gut und wohl noch besser als beim
+Regiment; 's gibt schlechte, gottvergessene Sauhirten und brave
+gottesfürchtige Soldaten!"&mdash;"Wohl, doch kommt Alles auf die Anlage an, die
+Einer hat!"&mdash;"O närrisches Kind, gerade der Anlagen wegen sollte der
+Benedict Hobist werden; 's hat schon Mancher sein Glück beim Militär
+gemacht und er machts auch, das weiß ich zum Voraus!"&mdash;"Ja, wenn er nur
+lauter gute Anlagen hätt', doch hat er auch Anlagen, die bei den Soldaten
+reichlich ... ich will gar nichts weiter sagen!"&mdash;"Bist viel zu ängstlich,
+Rösele; bei den Soldaten ist eine Zucht, wo diese Anlagen, welche dir bange
+machen, zurückweichen müssen; haut er über die Schnur, mein! wie wird er da
+gezüchtiget! ... Übrigens ist er kein Spieler, kein Wirthshaushocker und
+Vieles Andere nicht, es läßt sich nur Gutes hoffen! ... Ich machte mir ein
+Gewissen daraus, gegen sein Glück zu sein!"&mdash;"O Vetter," sagt die Rosa sehr
+ernst und wehmüthig, "wenn der Benedict beim Regiment einmal gezüchtigt
+wird, dann ist's zu spät! ... er ist freilich kein Spieler und kein
+Wirthshaushocker, das ist wahr, doch ist er stolz, leichtsinnig und dabei
+der gute Jockel selbst, das habe ich als Kind auf dem Wochenmarkte schon
+erfahren!"&mdash;"Bah, baperlapap, unser Herrgott lebt auch noch!" meint der
+alte Unteroffizier und langt nach seinem Nasenwärmer, welcher unter der
+Tafel hängt, die seinen Abschied und das Dienstzeichen einrahmt.&mdash;"Ich will
+jetzt nichts mehr sagen, meint die Rosa, doch so lange ich ihn beim
+"Saumathes" sehe, habe ich für ihn gute Hoffnung, es ist der geeignetste
+Platz, um seine ... Anlagen niederzuhalten; dagegen gebe ich alle Hoffnung
+auf und spreche ihm alle Hoffnung ab, wenn er zu den Soldaten geht! ... Ihr
+werdet einmal an mich denken, Vetter!"</p>
+<p>Schweigend hat der Duckmäuser Alles angehört; Rosas letzte Worte wirkten
+auf sein Herz, wie Hagelschlag in Blüthenwäldern, das Blut drang ihm zu
+Kopfe und er mußte sich Gewalt anthun, um seinen Unmuth nicht zu äußern.
+Beim Fortgehen begleitet ihn die Rosa hinaus und unter der Hausthüre fängt
+sie noch einmal von der Sache an.</p>
+<p>Rösele wiederholt Alles, was sie drinnen gesagt hat, der Benedict entgegnet
+"Denk' doch auch an den Vetter, den Straßenbasche! Ist dieser nicht von
+früher Jugend bis ins gesetzte Alter Soldat gewesen und hat er Etwas zu
+bereuen?["]&mdash;"Wohl wahr, doch bevor er zu den Soldaten kam, hatte er auch
+nicht zu bereuen, was du bereuen mußt. Frag' ihn, ob er auch je so
+grenzenlos leichtsinnig gewesen sei, wie Du? Und ob er sich auch soviel
+eingebildet hat, wie Du? Wirst ganz andere Dinge hören, als man von Dir
+hören kann!"&mdash;"Hoh, Rösele, sei doch nicht so hart, was kannst Du mir denn
+seit Oktober vorwerfen und ist's nicht bald ein halbes Jahr?["]&mdash;"Liebster,
+ich sehe und höre wohl, daß Du der alte "Leichtsinn" noch bist und mit
+Gewalt deinen Leib und deine Seele verderben willst. <i>Jetzt</i> stehst Du
+auf deinem Eigenthum, in deinem eigenen Hause und dies so lange, als Du
+hier bleibst, wenn Du aber in eine Stadt gehst, dann" ...&mdash;"Dann nimmst
+einmal einen Andern statt meiner ins Haus, he?" fragt der Benedict etwas
+verhofft.&mdash;"Nein, ich nehme keinen Andern, aber ebenso wenig Dich, wenn Du
+nicht vom Regiment wegbleibst."&mdash;"Rösele, lieb Rösele, sei doch nicht so
+ängstlich, wirst sehen, daß ich halte, was ich Gott und Dir und deinen
+Leuten versprochen habe. Der Vater hat schon gesagt, ich komme hinüber nach
+Freiburg, dann kann ich gar oft zu Dir kommen und siehst doch lieber Einen
+mit dem Säbel an der Seite und dem Kriegshute auf dem Kopfe, als wenn ich
+immer und ewig mit der Geisel und dem Hörnle im Dorf und Wald bei den Sauen
+herumtrummle!"&mdash;"Ja gerade das ist's, was mir so bange macht; ich sehe
+wohl, daß Du dich des Dienstes beim Saumathis schämst und könntest Dich
+nicht schämen, wenn Du deine Umstände nur ein wenig zu Herzen nähmest!"&mdash;
+"Gute Nacht, lieb' Rösele, bleib mir nur treu und gut, dann wird Alles
+recht werden!"</p>
+<p>In den letzten Tagen des Märzmonats wandert der Straßenbasche mit dem
+Benedict nach Freiburg; der Benedict kann die schöne große, vierstöckige
+Kaserne und die Offiziere, Unteroffiziere, Hobisten und Soldaten, welche
+blank und stolz aus dem Thore strömen, nicht genug anschauen; sein Herz
+bebt vor Freude und Bangigkeit, wie er mit seinem Begleiter die steinernen
+Stufen des der Kaserne gegenüber liegenden Kommandantenhauses hinaufsteigt.</p>
+<p>Der Oberst verzieht das ernste Gesicht mit dem grauen Schnurrbarte zu einem
+freundlichen Lächeln, denn der Straßenbasche hat als Unteroffizier unter
+ihm gedient, die Beiden haben Pulver genug mit einander gerochen und kennen
+sich noch recht gut; wenn der Basche ein Geschäft in Freiburg hat, muß er
+zuweilen seinen ehemaligen Hauptmann heimsuchen, 's kostet dem jetzigen
+Obersten nur ein Schöpplein vom Guten und er läßt sich's gar gerne kosten.</p>
+<p>Die Beiden werden also gar herablassend und freundlich empfangen, der
+Straßenbasche rapportirt, was ihm wegen des Duckmäusers auf dem Herzen
+liegt, der Oberst betrachtet den Rekruten und meint, die Sache habe gar
+keinen Anstand, wenn der Junge nur von den Aerzten für tauglich erklärt
+werde und ein gutes Sittenzeugniß aus seiner Heimath mitbringe.</p>
+<p>Wie der arme Benedict vom Sittenzeugniß hört, werden alle Luftschlösser zu
+Wasser, das Herz fällt ihm in die Hosen, er bekommt so ziemlich den
+Knieschlotterer und weil der Straßenbasche auf dem Heimwege auch einen
+bedenklichen Kopf macht und die Neuerungen mit den Sittenzeugnissen
+verflucht, verliert der Rekrut fast alle Hoffnung, jemals in seinem Leben
+Hobist zu werden.</p>
+<p>"Sechs Jährlein Soldatenstand machte den Benedict zu einem Prachtskerl für
+das Rösele, wenn er nur angenommen wird! Gottlob, daß der Oberst mein alter
+Kriegskamerad war!" sagt der Straßenbasche daheim und der Benedict muß
+gleich um ein Sittenzeugniß schreiben.</p>
+<p>Wer sich ob der Betrübniß des Benedict am meisten freut, ist außer der
+Mutter Klara natürlich das Rösele, welches laut darüber jubelt, weil der
+Himmel bereits ihr Flehen erhört habe.</p>
+<p>Am vorletzten Tag des Märzmonats sitzt die Rosa mit der Walburg und Lisi am
+Tische, sie nähen und spinnen und plaudern, die Mutter hat ihr altes
+Gliederreißen und ist gleich nach dem Nachtessen ins Bett gegangen, der
+Vater dagegen sitzt beim runden französischen Ofen, stopft den Nasenwärmer
+mit Dreimännerknaster, reicht dann das Päckle dem Benedict, dieser stopft
+seinen Mohrenkopf auch, zündet dann einen Fidibus an und hält ihn auf die
+Pfeife des Vaters. Der Straßenbasche thut jedoch gerade, was er
+allabendlich thut, nämlich er erzählt von seinen Feldzügen und diesmal von
+einem Gefechte in Spanien; statt tüchtig am Mundspitz zu ziehen, damit der
+Knaster anbrenne, erzählt er immer weiter, der Fidibus brennt beinahe ab
+und wie der Benedict daran erinnert, lacht der Straßenbasche und meint, ein
+Soldat müsse Feuer und Schwert ertragen können, sonst sei er ein Tropf. Auf
+dieses Wort hin hebt der Duckmäuser den eben weggeworfen flammenden Fidibus
+wieder auf, hält denselben wiederum auf den Nasenwärmer und zwischen den
+Fingern fest, bis er gänzlich verbrannt ist.</p>
+<p>Die Mädlen am Tische lachen sich schier krank ob solcher "Dummheit" und die
+Rosa meint sehr offenherzig: "Wenn Dir nur die Finger abgebrannt wären,
+dann würdest Du froh sein, Sauhirt bleiben zu können! ... Vielleicht wär'
+es in anderm Betracht auch noch gut gewesen! ... was kann man sagen!"&mdash;&mdash;</p>
+<p>Der zweite Fidibus entzündet den Nasenwärmer des Straßenbasche und dieser
+beginnt, dem Benedict Verhaltungsregeln für den Militärstand herzuzählen,
+denn schon morgen muß der zweite und entscheidende Gang nach Freiburg
+gemacht werden, vielleicht liegt das Zeugniß des Rekruten bereits beim
+Kommando und&mdash;Probiren geht über Studiren.</p>
+<p>Der Vater kommt eben recht in Zug, da meint das Rösele unwillig: "Das ist
+nichts, Vetter, Ihr braucht ihm nicht noch zu sagen, wie er sich zu
+verhalten habe! ... Wißt Ihr, was er braucht? ... er braucht Etwas, das hat
+niemand, niemand kann ihm's geben... er bleibt bei mir!"&mdash;</p>
+<h3><a name="5"></a>Der Duckmäuser wird Soldat, sucht und findet in der Kaserne Vorbilder</h3>
+<p>
+Am 31. März 183.&mdash;&mdash;es war wiederum an einem Freitag, und Mittwoche mit
+Freitagen spielen im Leben unsers Helden eine merkwürdige Rolle&mdash;steht der
+Benedict im paradiesischen Zustande vor den Regimentsärzten der Freiburger
+Garnison und die Herren machen ein bischen seltsame Augen, Einer davon sagt
+den Grund: "Füße wie zwei Sicheln, Rücken wie das Grammische
+Bierkellergewölbe, vom Kinn bis zu den Knöcheln Eine Dicke, mein Gott, was
+soll denn aus dieser Figur gemacht werden?" ... "Wenn wir noch Einen dieser
+Art hätten, besäßen wir ein hübsches Gestell für die große Trommel!" sagt
+trocken ein grauer Chirurg, der bei Leipzig die Säge drei Tage lang nicht
+aus den Händen gebracht hat.&mdash;"Was hat denn der Mann bis jetzt gearbeitet?"
+fragt der Kritiker wieder.&mdash;"Ich bin ein Bauer!" stottert der Benedict und
+schnappt nach Luft.&mdash;"Ach, da ist der Rückenkorb viel getragen worden, man
+sieht's dem Rücken, den Füßen, dem ganzen Mann an!"&mdash;"Nein, meine Herrn!
+doch auf dem Kopfe habe ich viel und schwer getragen."&mdash;"Das sieht man
+wohl, 's ist eine Terrasse, worauf ein Ball arrangirt werden könnte!" meint
+der trockene Chirurg.&mdash;Nun, tröstet der Oberarzt, die Füße werden sich
+schon wieder strecken, der Tornister wird sich auch Platz machen, der Mann
+sieht gut aus, hat eine starke, ausdauernde Brust, er kann gut werden!&mdash;
+"Aber der kann doch den großen Bombardon noch nicht erspannen?" fragt der
+Graue.&mdash;"Weiß nicht, er hat ... lange Finger, er ist tauglich!" lächelt der
+Oberarzt, Eine Viertelstunde später mißt der Compagnieschneider im Zimmer
+der Staabscompagnie dem Benedict Rock und Hosen an und prophezeit, er werde
+die Montur meisterhaft machen, doch koste es ein Maaß Bier.</p>
+<p>Am ersten April sitzt er auf dem Gang des Hintergebäudes der Kaserne, wo
+die Hobisten hausen, und ein entsetzlich langer Tambour stutzt ihn mit Kamm
+und Scheere um ein Schnäpschen zu einem vollkommenen Hobisten um, hält ihm
+dann den kleinen Spiegel vor und der Rekrut kann sich in seiner nagelneuen
+Montur nicht genug bewundern.</p>
+<p>Schade, daß er nicht sofort zur Säbelkuppel greifen und zum Rösele ins
+Rheindorf hinüber marschiren darf; der Weg ist doch etwas weit und die
+Rekruten müssen zuerst Honneurs machen lernen, bevor sie zum Gitter
+hinauskommen.</p>
+<p>Am zweiten Sonntag nach dem ersten April sagt der Straßenbasche beim
+Mittagessen. "Rösele, am nächsten Samstag gehen wir wieder einmal auf den
+Wochenmarkt, nach Freiburg hinüber und wollen sehen, was er macht!"&mdash;"Ja,
+ich mag gar nichts mehr hören!"&mdash;"Sei doch nicht so einfältig, hast
+verweinte Augen und ganz umsonst; er ist ja kein Kind mehr und sieht an
+Andern, wie weit er mit dem Leichtsinn kommt."&mdash;In diesem Augenblicke
+springt des Nachbars kleine Johanne athemlos zur Thüre herein und keucht
+und sagt: "Rosa, dein junger Vetter ist wieder beim "Sanmathis!"... er ist
+kein Sauhirt mehr! ... hat einen Säbel! ... Soldat ist er!" "Was? ... Beim
+Hirt ist er? ... wirst nicht recht gesehen haben, Hanne!"&mdash;"Ho, er hat mir
+ja einen Wecken gegeben, da guckt, den Wecken hat er mir gegeben!"</p>
+<p>Der Straßenbasche sieht auf und will zur Thüre hinaus, im gleichen
+Augenblick öffnet sich diese und in der Stube steht ein schmucker Hobist,
+der militärisch grüßt und wohlgefällig lächelt.</p>
+<p>"Aber Röfele, kennst ihn noch? jetzt sag' nur nichts mehr, sonst&mdash;..." "O
+Vetter, ich bitt' Euch! ... will gern nichts mehr sagen, wenn einmal dort
+neben Eurem Abschied ein ähnlicher von ihm an der Wand hängt!"&mdash;</p>
+<p>Schon eilen Nachbarn und Freunde herein, Alle wollen den Hobisten sehen,
+sprechen, ihm gratuliren, sogar der blinde Michel tappt herein und greift
+an ihm herum, greift gleich einen Offizier heraus; Alles lobt, bewundert
+den Benedict, tadelt die unerbittliche Rosa und diese muß zuletzt, um den
+Straßenbasche nicht zu erzürnen, auch ein Wörtlein des Wohlgefallens von
+sich geben.</p>
+<p>Wie die Leute wieder fort sind, fragt der Alte: "Wie ist's mit dem Zeugniß
+vom Amt und Bürgermeister gegangen?"&mdash;["]Gar nichts weiß ich davon;
+entweder ist's vergessen worden oder die Offiziere haben es gar nicht oder
+im Wirthshause gelesen! Gewiß bleibt, daß zwei Andere fortgeschickt wurden,
+weil ihre Zeugnisse ein paar Tage ausblieben!"&mdash;"Ho, der Oberst hat eben
+deine Jugend in Anschlag genommen, er ist ein guter Herr, Alles vergißt
+sich leicht, wenn Du brav bleibst!"&mdash;"Ja, brav ist der Oberst! Gestern auf
+der Parade meldete ich mich und bat für heute um Urlaub, um
+Kleinmonturstücke zu holen. Da hat er mich ein wenig finster angeschaut und
+gefragt, ob ich denn eine Kaserne von einem Taubenschlage zu unterscheiden
+wisse. In der Todesangst nannte ich ihm Euern Namen, da strich er den
+großen Schnauz und gab mir Urlaub!"&mdash;"Wie lange?"&mdash;"Morgen früh bei der
+Tagreveille muß ich unterm Kasernenthor sein!"&mdash;"Ja, das sieht ihm gleich,
+er ist noch der alte Fuchser, bis er weiß, wen er vor sich hat!" lachte der
+Unteroffizier.</p>
+<p>Am andern Morgen oder vielmehr kurz nach Mitternacht eilt der Benedict mit
+einem ordentlichen Päcklein Freiburg zu. Mutter Klara und Rösele haben
+feine, blendendweiße Leinwand, woran übrigens im gesegneten Breisgau kein
+Mangel ist, hergegeben, damit der bierdürstende Compagnieschneider 2 paar
+Sommerhosen daraus mache; die Mutter des blinden Michel sorgte für Leinwand
+zu Unterhosen und Kamaschen, die Mutter des Saumathes brachte Hemden und
+Schuhe, der Straßenbasche und Andere schwitzten etwas Geld, das Rösele
+legte 3 baare Gulden dazu; noch nach Mitternacht geben einige Buben dem
+Benedict das Ehrengeleite eine gute Strecke weit und kehren erst auf sein
+wiederholtes Geheiß singend und jodelnd ins Dorf zurück.&mdash;Das Rösele hat
+ihm mit weinenden Augen so dringend empfohlen, Gott vor Augen zu haben und
+sich an brave, erfahrene Kameraden zu halten, der Duckmäuser muß Vorbilder
+suchen und diese sich zu Freunden machen, hat bereits seine Augen prüfend
+umhergeworfen.</p>
+<p>Montags nach der Austheilung der Menage mißt ihm der <i>Feucht</i>, der
+Compagnieschneider die Sommerhosen an und während der Operation fällt es
+dem Benedict bei, dieser Schneider sei das erbaulichste Muster eines
+stillen, frommen, gottesfürchtigen Soldaten. Weßhalb? Er hat die Maaß Bier,
+welche der Benedict ihm wegen der Montur zahlte, noch nicht getrunken, ist
+ein alter Soldat, der schon zum vierten Mal für Andere einstund, ein
+ruhiger gesetzter Mann, welcher den ganzen Tag bei seiner Arbeit sitzt,
+sehr wenig redet, mit Keinem umgeht, sich in seinem Arbeitseifer ungern
+stören läßt; die einzige Gelegenheit, bei welcher er zornig wird und in
+seiner Seehasensprache furchtbare, niegehörte Flüche zum Besten gibt, ist
+die, wenn Einer ihn necken will oder ihm Wachs, Zwirn, die Scheere, Maaße
+und dergleichen verlegt oder wegstipitzt oder nach seinem Ausdrucke "Dreck
+schwätzen" will.</p>
+<p>So lange der Benedict unter den Zweifarbigen steckt, hat sich Meister
+Feucht noch nicht herausgewichst, nicht einmal den ungeheuern rothen
+Schnurrbart gekämmt und wozu hätte er es thun sollen? An Werktagen wie an
+Sonntagen arbeitet der Schneider und kommt kaum zur Stubenthüre, geschweige
+zur Kaserne hinaus.</p>
+<p>Solch Muster der Eingezogenheit und Solidität hätte Benedict nicht unter
+den Hobisten gesucht; diese sind ein ziemlich lustiges und leichtes
+Völklein und der Feucht beinahe der Einzige, an welchen er sich getrost
+anschließen möchte.</p>
+<p>Doch jedes Wort, was der Straßenbasche vorgepredigt, klingt fort in unserm
+Rekruten und so oft er sich dem Compagnieschneider nähern will, glaubt er
+aus dem ernsten, strengen Gesichte desselben folgende Worte des
+Straßenbasche zu lesen:</p>
+<p>"Ein Rekrut soll sich vor allen längerdienenden Leuten stets in
+ehrerbiethiger Stellung und Entfernung halten, sich nicht vorwitzig oder
+gar frech in deren Reden mischen und Vorgesetzten jedes Ranges nur wenn er
+von diesen Etwas gefragt wird, anständig, bescheiden, kurz und wahrhaftig
+antworten!"</p>
+<p>Unter solchen Umständen mußte sich der Duckmäuser einstweilen begnügen, den
+Meister Feucht aus naher Ferne zu bewundern und mit dem Spruche trösten:
+Kommt Zeit, kommt Rath, dann folgt die That!&mdash;</p>
+<p>Am 5. Mai steht der Schneider in aller Frühe auf, bürstet mit der
+Silberglätte die rothgewordenen Messingknöpfe seines Monturfrackes, den
+Säbel, die Bataillenbänder des Tschako's, klopft dann drunten im
+Kasernenhofe Rock und Hosen aus, kleidet sich an und geht zum ersten Mal
+seit 5 Wochen im vollen Staate zur Thüre hinaus.</p>
+<p>Der Benedict besitzt nicht den Muth, Einen um Erklärung des so räthselhaft
+gewordenen Betragens seines Vorgesetzten zu bitten, denn er ist der Jüngste
+von Allen und diesmal sicher auch der Gespannteste. Um 8 Uhr geht der
+Schneider zum Rapport, wird unsichtbar bis um 9 Uhr, wo derselbe mit
+geröthetem Kopfe zur Probe kommt. Letztere ist beendigt, Meister Feucht
+nähert sich seinem Bette, doch zieht er den Frack nicht aus, sondern kämmt
+nur seinen feuerrothen Schnurrbart recht sorgfältig und eilt dann abermals
+raschen Schrittes zur Thüre hinaus.</p>
+<p>Der Schneiderstuhl bleibt heute den ganzen Tag unbesetzt, nicht Eine Nadel
+fädelt dessen Inhaber ein, weil er sich weder beim Mittagessen, noch beim
+Verlesen sehen läßt.</p>
+<p>Abends macht der Duckmäuser einen Spaziergang; kurz vor dem Zapfenstreich
+kehrt er zurück, die Tambours spannen ihre Trommeln, beim Kasernenthor aber
+hält ein Bauer mit einem Mistwagen; er trägt einen Tschako in der einen,
+die Geisel in der andern Hand, auf dem Mistwagen aber liegt lang
+ausgestreckt ein Soldat, ein Hobist, stöhnend, ächzend und unverständlich
+fluchend. Der Benedict erschrickt nicht wenig, wie er in diesem Hobisten
+sein nachahmungswürdiges Muster, nämlich den Compagnieschneider Feucht
+erkennt. Doch, wem ein Unglück begegnet ist, pflegt nicht Versuche zum
+Singen zu machen, der ganzen Welt Brüderschaft anzubieten und vor der
+Kaserne in seligem Entzücken zu jauchzen. Der gute Feucht ist schwer
+betrunken; der Bauer muß ihn abladen, singend legt er sich sofort auf den
+Boden, zwei Soldaten tragen und schleppen ihn zunächst auf die Stockwache,
+von da in den Dunkelarrest für Unteroffiziere und hier mag er nach etwa 36
+Stunden aus überirdischen Sphären wieder zum Bewußtsein seines soldaschen
+Schneiderthumes gelangen.</p>
+<p>Benedict erzählt den Musikanten, was ihrem Schneider begegnet sei, doch
+Keiner verwundert sich darob und der Nachbar zählt kurz Meister Feuchtens
+Erlebnisse auf. Nach drei Tagen wird dieser wiederum erscheinen, sich ruhig
+auf den Schneiderstuhl setzen, genau sechs Wochen lang die Nadel und das
+Bügeleisen schwingen, schweigsam, unermüdlich, ruhelos, denn sechs Wochen
+hat er Kasernenarrest und nur so lange der Schneider von diesem
+festgehalten wird, ist Hoffnung da, daß die Hosen und Röcke der Hobisten
+geflickt werden. Heute über 6 Wochen wird Feucht sich wieder putzen, um 8
+Uhr zum Rapport gehen, um sich als freier Mann zu melden, um 9 Uhr mit
+rothem Kopfe, doch taktfest die Deckel schlagen, um 10 Uhr verschwinden,
+Abends kurz vor dem Zapfenstreich von einem Bauer vom Mistwagen geladen,
+von zwei Soldaten der Kasernenwache in den Dunkelarrest für Unteroffiziere
+geschleppt werden und so fort bis in ferne Zeiten.</p>
+<p>Also hat's der Compagnieschneider Feucht vom Bodensee seit vielen Jahren
+gehalten; alle Obersten und Generale Europas würden ihn nicht dazu bringen,
+frei und freiwillig eine Nadel zu berühren, im Arrest dagegen ist er
+anerkannt der eifrigste und beste Schneider des ganzen Regimentes und
+dereinst wird er im Arrest oder im Rausche Abschied von der Welt nehmen und
+diese wird um ein Original ärmer geworden sein.</p>
+<p>Der Duckmäuser hörte auf, den Compagnieschneider als sein Vorbild zu
+betrachten, er dachte an Rosa und seufzte.</p>
+<p>Unter 30 bis 40 Mann sollte es keinen braven und frommen geben? Nein, unter
+den Musikanten des Regimentes gibt es nachahmungswürdige, wackere und
+geschickte Leute, vorzüglich unter den Hobisten erster Klasse, doch diese
+sind verheirathete Männer, wohnen gar nicht in der Kaserne, lassen sich
+nicht zu einem jungen Menschen herab, kommen nur Morgens mit dem
+Kapellmeister zur Probe und der Benedict darf ihnen höchstens die
+Säbelkuppel anstreichen, die Knöpfe und Anderes recht glänzend putzen.&mdash;</p>
+<p>Im Zimmer befindet sich ein junger Mann, auf welchen das Auge des
+Enttäuschten fällt. Derselbe spricht fast noch weniger als Meister Feucht,
+geht auch mit Niemanden um, er liest beständig. Er liest vor und nach der
+Probe, liest während des Mittagsessen, liest den ganzen Nachmittag und wenn
+er Abends zuweilen ausgeht, nimmt er jedesmal einen Pack Bücher mit und
+bringt einen andern zurück. Schon lange hätte ihn der Duckmäuser gerne um
+eines seiner interessanten Bücher gebeten, doch er getraute sich dessen
+nicht, Straßenbasche's Ordre kommt ihm nicht aus dem Sinn; bald eilt ein
+glückliches Ohngefähr dem Schüchternen zu Hülfe. Eines Morgens steht der
+Lesefreund sehr frühe auf, setzt sich ans Fenster, liest und vergißt vor
+lauter Lesen das Morgenessen, liest fort, bis der Kapellmeister erscheint.</p>
+<p>Jetzt steht er auf, schleppt seine große Trommel an ihren Platz, haut
+während der Probe ingrimmig auf das Kalbsfell hinein, schlägt einigemal
+fehl und erhält dafür 2 Tage Zimmerarrest, um die Gedanken zu sammeln.
+Mittags kommt er zum Benedict, ersucht denselben, ihm einen Pack Bücher in
+die Leihbibliothek Waizeneggers zu tragen und alle zu bringen, deren
+Nummern auf dem beigelegten Zettel ständen. Freudig geht der von
+Kindesbeinen an dienstfertige Duckmäuser mit den Büchern fort, läuft jedoch
+nicht die Kaiserstraße, sondern den Löwenrempart hinauf; auf diesem kleinen
+Umwege ist er sicherer vor honneurswüthigen Unteroffizieren und Offizieren
+und kann ein bischen in die Bücher hineinschauen. Ein leidenschaftlicher
+Geschichtenerzähler ist der Duckmäuser von jeher gewesen, die Titel dieser
+Bücher eröffnen ihm eine neue Welt, er begreift die Lesewuth des großen
+Trommelschlägers, indem er liest: Bruckbräu oder der baierische Hiesel
+geschildert als Wildschütz, Räuberhauptmann, und landesverrufener
+Erzbösewicht&mdash;Simon Tanger der furchtbare Seeräuber&mdash;die sechs schlafenden
+Jungfrauen, eine Ritter- und Geistergeschichte&mdash;Ritterkraft und
+Mönchslist.&mdash;Die Grafen von Löwenhaupt&mdash;Tausend und Eine Ausschweifung.</p>
+<p>Zitternd vor Freude, denn jetzt hat unser Rekrut gefunden, an was er sich
+halten soll, was ihn vor aller Gefahr wahrte und damit sein zeitliches und
+ewiges Glück feststellt, tritt er in die Bibliothek und die langen Reihen
+aufgestellter Bände entflammen vollends die längst gehegte Sehnsucht nach
+recht vielen Büchern zur Leidenschaft. Bisher hatte er leidenschaftlich
+Musik getrieben, denn in der Kaserne hatte er am ersten Tage den gewaltigen
+Unterschied zwischen der Dorfkirchweihenmusik und der Musik einer
+militarischen Musikbande entdeckt, unter welcher wahre Künstler und
+Virtuosen steckten; die Regimentsmusik, versetzte ihn in trunkenes
+Entzücken und kein Hobist übte sich fleißiger auf seinem Instrumente, denn
+der Duckmäuser. Doch Clarinettblasen konnte er auch nicht den ganzen Tag
+und weil er stets dachte, alle Gelegenheit meiden sei das Beste und fast
+immer zu Hause blieb, so fühlte er oft herzliche Langweile.</p>
+<p>Nunmehr wollte er seine ganze Zeit theilen zwischen der Clarinette und den
+Büchern und er thats. Bald unterschied er sich vom großen Trommelschläger
+nur noch dadurch, daß er durch seinen Eifer für Musik sich die ganze
+Achtung und Liebe seines Kapellmeisters erwarb, bald keiner Belehrung mehr
+bedurfte, Alles vom Blatte wegblies und ein ordentlicher Künstler wurde.</p>
+<p>Er hätte einen wirklichen Virtuosen abgeben und zugleich mehrere
+Instrumente erlernen können, doch dazu reichte die Zeit nicht hin, denn
+wenn er gerade mit einem rechten Bücherhelden zu thun hatte, vergaß er oft
+Essen, Trinken und Schlafen, bis er Alles wußte, was derselbe gethan und
+welches Fräulein er beglückt oder welchen Tod er erlitten habe.</p>
+<p>Die Clarinette und der Katolog Waizeneggers verschlangen über ein Jahr
+eines stillen, glücklichen, genußreichen Lebens, ließen ihn alle
+Bierschenken, Wirthshäuser und Stadtmamsellen vergessen; alle Vorgesetzten
+achteten und liebten ihn, die Spöttereien und Neckereien leichtfertiger
+Vögel berührten ihn wenig, er gewann durch seine Freundlichkeit und
+Dienstfertigkeit die meisten Kameraden für sich, ohne ihre Einladung zum
+Ausgehen anzunehmen. An Samstagen fehlte er niemals auf dem Münsterplatze,
+wenn er glauben durfte, die Rosa zu treffen, Abends schrieb er zuweilen
+Briefe voll Gluth, Inbrunst und Tugendsinn und wenn er Urlaub bekommen
+konnte, eilte er ins Rheindorf hinüber.</p>
+<p>Von Zeit zu Zeit brachte er seinem Rösele kleine Geschenke, vergaß niemals,
+dem Straßenbasche einige Päcklein ächten Portorikos, der kleinen Johanna
+und andern Kindern Milchbrödlein mitzubringen. Der alte Unteroffizier
+wußte, was ein stets ordentlich gefüllter Geldbeutel bei einem Soldaten und
+insbesondere bei einem Hobisten zu bedeuten habe, sah das gesunde Aussehen
+und die Nüchternheit des künftigen Schwiegersohnes, hörte, wie begeistert
+derselbe von seinem Stillleben in der Kaserne sprach und wie fremd ihm die
+Stadt blieb, er jubelte vor Freuden und die vornehmsten Bürger des Ortes
+sammt dem alten, ehrwürdigen Geistlichen eilten in das Haus des
+Straßenbasche, wenn es hieß, der Zweifarbige sei im Dorfe wieder gesehen
+worden.</p>
+<p>Als noch im nächsten Frühling die Hobisten der Rosa auf dem Wochenmarkte
+dasselbe bestätigten, was sie im vorigen Sommer schon gesagt, daß nämlich
+der Benedict sicherlich durch sein ewiges Lesen noch ein "Pfaffe" werde und
+in ein Kloster wandere, da verloren sich auch ihre Besorgnisse, sie glaubte
+an die vollkommene Besserung ihres Geliebten und fühlte sich glücklich.&mdash;</p>
+<p>Eines Tages sitzt der Duckmäuser mit dem Leibe auf dem wieder einmal
+verwaisten Schneiderstuhle des Meister Feucht, mit den Gedanken jedoch
+schwärmt er in überirdischen Regionen und mittelalterlichen Zeiten.</p>
+<p>Während der Hobist an einem Stücke Komißbrod kaut, hält der Romanleser just
+auf einem glänzend schwarzen Streitrosse, den Leib mit einer silbernen
+Rüstung bedeckt, auf dem Haupte einen goldenen Helm mit wehendem
+Federbusche und hinaufgezogenem Visir als Sieger beim Turnier auf der
+Todesklippe vor dem Balkon der Ritterfräuleins. Die Königin aller
+Schönheit, die bezaubernde 17jährige Gräfin Etietta, um welche sich binnen
+kurzer Zeit 700 Ritter, 300 Grafen, 90 Herzoge und 11 kaiserliche und
+königliche Prinzen bereits todtgeschlagen, reicht ihm eine mit Gold und
+Edelsteinen reich geschmückte himmelblaue Schärpe und heftet zum Zeichen,
+daß sie ihn unter Allen einzig und allein liebe, eine rothe Schleife an
+seine Lanze. Eben will er in die Schranken zu den Rittern zurücksprengen,
+als ein dickköpfiger Füselier zur Stube herein und gerade auf ihn losgeht,
+um zu melden, Hobist Benedict werde im Münster von 2 Frauen erwartet.</p>
+<p>Er plumpt in die schaale, prosaische Wirklichkeit zurück, doch bang und
+freudig zugleich schlägt sein Herz fort, denn augenblicklich denkt er an
+Etwas, dessen Mangel einzig und allein die Seligkeit seines Kasernenlebens
+stört.</p>
+<p>"Der Eltern Segen baut den Kindern Häuser, ihr Fluch reißt sie darnieder!"
+hat er als Unterlehrer viele hundertmal gehört, gelesen und geschrieben und
+das furchtbare Wort "Nenne mich nie mehr Deine Mutter!" tönt wie Todtensang
+und Eulenschrei in den sonnenhaften Himmel der Gegenwart hinein.</p>
+<p>In aller Eile putzt er sich, eilt zur Kaserne hinaus, doch läuft er weit
+langsamer, wie er bei der Post aus der Kaiserstraße auf den Münsterplatz
+einlenkt, er muß sich erinnern, daß er vor kurzem Sieger im großen Turnier
+bei der Todesklippe gewesen sei und als Hobist mindestens so vielen Muth
+besitzen müsse, um im Nothfalle vor einer alten Frau zu erscheinen.</p>
+<p>Durch eine Seitenthüre tritt er in den herrlichen Tempel, wandert durch den
+Säulengang emsig umherspähend hinauf und entdeckt endlich die Rosa, welche
+betend vor einem Nebenaltare kniet. Dieselbe ist allein; doch nein! Die
+gigantische Säule hat Rosas Nachbarin verborgen, er kennt dieselbe nicht
+recht, doch sieht er soviel, daß es ein altes Mütterchen und sein pochendes
+Herz sagt ihm, wer es sei. Er bleibt stehen, hustet ein wenig, Rosa schaut
+um, steht auf, nimmt das ebenfalls sich erhebende Mütterchen bei der Hand,
+beide kommen auf den Hobisten zu&mdash;das Mütterchen ist Mutter Theres.</p>
+<p>Welch Zusammentreffen, welch Wiedersehen!</p>
+<p>"Das ist Euer Sohn, mein geliebtester Freund!["] sagt die tiefbewegte Rosa;
+laut weinend wankt das Mütterlein heran, sieht vor Thränen die Hand nicht,
+welche ihr der Sohn entgegenstreckt und erst als er fragt: "Mutter, seid
+Ihr mir noch immer böse" spricht sie leise schluchzend: "Nein, Benedict, Du
+bist wieder mein Kind!" und reicht ihm die verwelkte Hand.</p>
+<p>"Gott sei Lob und Dank!" jubelt der Hobist und tritt in einen Kirchenstuhl,
+um für die Erfüllung seines einzigen Wunsches zu danken, die Mutter und
+Rosa thun das Gleiche.</p>
+<p>Alle Drei gehen in die Kaserne, der Benedict freut sich, den Weibern, die
+vom Inwendigen einer Kaserne gar wunderliche Vorstellungen herumtragen,
+Alles zeigen und erklären zu dürfen und ermangelt nicht, die Freude
+derselben durch Vorzeigung einiger seiner lieben Bücher vollständig zu
+machen. Aus der Kaserne geht's in den Löwen hinüber, ein guter Markgräfler
+wird aufgestellt, der Hobist weiß schon, daß Mutter und Geliebte nicht alle
+Jahre zu einem Gläslein vom Besten kommen.</p>
+<p>Das Aussehen und die schöne, ehrende Kleidung sammt den Reden und Benehmen
+des Duckmäusers versetzten im Bunde mit dem Gläslein dessen Mütterlein in
+den siebenten Himmel, sie reicht ihm alle Augenblicke die Hand, ihr Auge
+ruht unbeweglich auf ihm und sie kann ihn nicht oft genug ihrer Liebe
+versichern und um Verzeihung bitten.</p>
+<p>Mutter und Geliebte begleiten den Helden um 5 Uhr Abends zum Verlesen, der
+alten Frau schießen Zähren in die Augen, wie sie ihren verlornen und
+wiedergefundenen Sohn so blühend und stattlich im geschlossenen Gliede
+stehen sieht und wie dessen Name verlesen wird, meint sie, die ganze
+türkische Musik mit den lieben Engelein im hohen Himmel müsse einen
+Freudentusch darauf folgen lassen und vergißt alle Schmerzensthränen,
+welche er ihr schon ausgepreßt hat.</p>
+<p>Abends sagt sie beim Abschied mit weinenden Augen: "Schau' Benedict, schon
+lange und viel tausendmal habe ich gewünscht, sterben zu können, mein Jakob
+hat's ebenso gehabt, nun aber wünsche ich mir, noch lange zu leben, denn
+ich bin wieder eine glückliche Mutter; viel Thränen hab' ich vergossen um
+deinetwillen, diese aber, die jetzt über meine alten Backen fließen, sind
+süß, es sind Freudenthränen!"</p>
+<p>Mutter und Sohn sind glücklich, am glücklichsten ist das Rösele, welches
+bald mit ihr vor Freuden weint, bald ihn wie ein Engel anlächelt und sich
+von diesem Tage kindlich an Mutter Theres anschmiegt.</p>
+<p>Am nächsten Morgen trennen sich alle Drei, sie versprechen bald möglichst
+wieder zusammenzukommen, die Mutter hat fahren sollen, doch es durchaus
+nicht gethan, der Sohn hat zuerst dem Rösele ein kleines, dann der Mutter
+ein großes Geleit gegeben und kehrte glücklicher als je in die Kaserne zur
+Klarinette und zu den Büchern zurück, welche der große Trommelschläger
+indessen für ihn ausgelesen hat.</p>
+<p>Wo und wie kamen Mutter Theres und das Rösele zusammen?</p>
+<p>Auf dem Wege von Freiburg nach Sanct Georgen steht bis zur Stunde links an
+der Landstraße ein winziges Kapellchen; die Rosa war vom Straßenbasche nach
+Freiburg geschickt worden und hörte in diesem Kapellchen weinen und beten.
+Sie trat hinein und kniete neben der Mutter Theres, jedoch ohne dieselbe zu
+kennen, denn erstens ist das Kapellchen winzig wie die Neuzeit und
+dämmerungsreich wie das Mittelalter und zweitens ist's schon eine schöne
+Zeit, seitdem der ehrliche Klaus am Herzbruch starb, weil er keinen
+Wortbruch begehen wollte, das Rösele sammt den Geschwistern ist aus dem
+Dörflein fortgezogen und ein großes, stattliches "Maidle" geworden.</p>
+<p>Tief und schwer seufzt, bitterlich weint das Mütterchen und aus ihren Reden
+entnimmt Rosa, daß schwerer Kummer um eines Ungerathenen willen ihr Herz
+drückt und daß sie eine Landsmännin vor sich habe, welche im Begriffe
+stehe, eine Wallfahrt nach Marien Einsiedeln zu machen, was bei einer so
+alten, gebrechlichen Frau schon Etwas heißen will. Nach wenigen Fragen weiß
+das Mädchen, Benedicts Mutter stehe neben ihr, das liebende Herz wallt auf
+und fragt, ob das Mütterlein schon lange nichts mehr vom Sohne gehört habe
+der Benedict heiße. Doch die Frage wirkt arg, das Mütterlein schreit auf
+und bricht fast zusammen, fleht unter Thränen, diesen Namen nicht mehr zu
+nennen, kein Wort mehr von dem Sohne zu reden.</p>
+<p>Daheim im Dörflein schämten sich die Eltern des Duckmäusers so sehr, daß
+sie um keinen Preis nach demselben gefragt oder auch nur dessen Namen
+genannt hätten. Die Dorfbewohner wußten dies, schonten deßhalb die
+unglücklichen Leute, doch wußten diese von der Margareth, daß der Benedict
+am Rheine drüben die Schweine hüte, denn der "Saumathis" sagte es bei einem
+Besuche der Verwandten, welche er im Dörflein besaß. Kein Mensch wußte
+jedoch, daß der Schweinhirt zum Hobisten geworden und in der Kaserne zu
+Freiburg sei, Mutter Theres hatte sich ihr banges und doch halbfreudiges
+Ahnen beim Durchmarsche durch Freiburg auch nicht erklären können. Jetzt
+sagte das Rösele, was und wo der Benedict zu finden, gab sich selbst zu
+erkennen und suchte die Alte zu bewegen, mit ihr in die Stadt
+zurückzugehen. Lange und harnäckig bleibt die Mutter dabei, den Sohn nicht
+sehen zu wollen, aber das Rösele hört mit guten Versicherungen, Bitten und
+Betteln nicht auf und so kam es zuletzt doch, daß die Beiden zusammen durch
+das Breisacherthor in die schöne, freundliche Kaiserstraße und beim Museum
+hinüber in das Münster wandelten, in welchem Bernhard von Clairvaux den
+Kreuzzug gegen die Ungläubigen im fernen Morgenlande, heuer die Jesuiten
+wahrhaft zeitgemäß den Kreuzzug gegen den Unglauben im Herzen der Zuhörer
+predigen.</p>
+<p>Ein Soldat schlägt einem hübschen Mädchen selten oder niemals eine
+freundliche Bitte ab und so geschah es, daß ein dicker Füselier, der auf
+dem Münsterplatze stand, die Zähne am Winde trocknete und am wunderbar
+schönen, durchbrochenen Münsterthurm schwindelnd und staunend hinaufsah,
+auf Rosas Geheiß eiligst zur Kaserne trabte und den Hobisten Benedict
+mitten im Siege von der Gräfin Etietta weg ins Münster zum armen Mütterlein
+und zur Pflegetochter des Straßenbasche zauberte.</p>
+<h3><a name="6"></a>Die Kirchweihe</h3>
+<p>
+Vater Jakob zählt dem Hannesle just aus dem ledernen, eingeschrumpften
+Opferbeutel vier rothe Batzen als Kirchweihgeld auf den Tisch, dieser hält
+jeden sorgfältig zum Licht, um etwas höchst Ueberflüssiges zu untersuchen,
+nämlich ob es auf dieser Erde auch Falschmünzer gebe, welche auf den
+Einfall gerathen sein könnten, falsche Schweizerbatzen zu machen; das
+Vefele sitzt mit der kleinern Schwester auf der Ofenbank und redet mit
+Benedicts Schwestern, die Susanne nennt alle Buben, mit welchen sie auf der
+Kirchweih tanzen und nicht tanzen werde, Mutter Theres sitzt am
+Spinnrädlein und netzt den Faden, da&mdash;klopft es leise und bescheiden an der
+Thüre. Die Mutter denkt an einen muthwilligen Buben, am allerwenigsten an
+ihren Sohn, von dessen Wiedersehen sie einzig und allein ihrem Alten gesagt
+hat; sie weiß, derselbe sei nicht mehr in Freiburg, sondern mit seinem
+Regimente in Carlsruhe drunten und gegenwärtig mache derselbe die große
+Revüe mit. Sie sagt deßhalb nicht "Herein," sondern: ["]d'Herren sind
+draußen, d'Bettelleut drinnen!" und die Susann' ruft mit ihrer
+glockenhellen Stimme: "Wir sind nit gärn klopft!"</p>
+<p>Aber die Thüre geht auf, außer der Mutter erschrecken Alle gewaltig, denn
+ein großer, glänzend geputzter Soldat mit Tschako und nachläßig
+überhängendem grauem Mantel steht mitten in der Stube und lächelt, daß der
+keimende kohlschwarze Schnurrbart beträchtlich in die Länge wächst.</p>
+<p>Der Hannesle macht Augen wie Pflugräder, die kleinern Kinder schleichen
+schüchtern hinter dem Ofen, der Jakob steht befremdet auf, doch die Susanne
+schreit mit dem Vefele aus Einem Munde: "Ohje 's isch jo Euer Duckmäuser!"</p>
+<p>Er ist's richtig, denn der Oberst hat ihm nach der Revüe Urlaub auf 14 Tage
+gegeben, obwohl er diesmal nicht zum Straßenbasche wollte. Nach der Revüe
+nehmen ja die meisten Hobisten Urlaub und hätte der Benedict nach
+jahrelangem Besinnen sich nicht wieder einmal im Dörflein sehen lassen
+sollen? ...</p>
+<p>Jetzt fängt das Händedrücken, Küssen, Grüßen und Fragen an, der finstere
+Jakob thaut ordentlich auf, die beiden Mädchen wissen nicht, was sie vor
+Freuden thun sollen, denn sie möchten ebenso gern bleiben als die
+unverhoffte Ankunft des alten Herzkäfers den Kammerädinnen ansagen. Endlich
+rennt das Vefele ins Unterdorf, die Susanne ins Oberdorf und ehe eine halbe
+Stunde vergeht, hat Benedict all den alten Lieblingen in die klaren
+Aeuglein geschaut und herzinnige Freude über seine Ankunft darin
+herausgelesen. Allen? Wir irren, denn zwei fehlen, erstens Maxens Rothe und
+zweitens die Sabine. Die Rothe ist in Folge ihres unordentlichen Lebens bei
+ihrer Schwitt nach langer, schmerzlicher Krankheit schon im 18. Jahre
+gestorben, die Sabine, zur rothen Schwitt desertirt, trägt eine Frucht
+ihres aufgeklärten Lebens auf den Armen und verbirgt sich gleich einer
+Eule, weil sie noch nicht so weit gekommen, gleich 5 Kameradinnen, welche
+zur alten Garde der rothen Schwitt gehören und mit ihren Verdiensten um
+Vermehrung des Menschengeschlechts stolz thun.</p>
+<p>Die Meisten jedoch stehen und sitzen fröhlich und freudig in Jakobs Stube,
+erst nach Mitternacht bringen sie es über sich, dieselbe zu verlassen, doch
+keine schließt daheim ein Auge, jede hat's am andern Morgen gestanden.</p>
+<p>Am andern Tage wandelt an der Hand des alten Lehrers der Benedict der
+Kirche zu; der rothe fliegende Haarbusch auf seinem glänzenden Tschako
+scheint die Oriflamme zu sein, welcher das ganze Dörflein in Einem Truppe
+folgt, mehr als ein bejahrter Mann und mehr als Einer wird lediglich durch
+das Gedränge verhindert, dem ehemaligen Dorfhanswurst, welchen sie als
+kleines pausbackiges Büblein mit schwarzen Augen voll Leben und
+Beweglichkeit gesehen und geliebt, öffentlich einen Kuß zu geben.</p>
+<p>Nur die Buben der rothen Schwitt ließen sich nicht herbei und die Mädlen
+derselben thaten gleich verscheuchten Hühnern.</p>
+<p>Während der langen Abwesenheit des Duckmäusers hatte die rothe Schwitt im
+Dörflein große Siege gefeiert, denn es gab keinen Burschen, welcher dem
+reichen, wüsten und wilden Max herzhaft und beharrlich mit Glück
+entgegentrat, die schwarze Schwitt hatte ihr Haupt verloren und zerfiel.
+Mancher Bube und manches Mägdlein trat zur rothen Schwitt über, weil sie
+auch ein Vergnügen oder mindestens ihre Ruhe haben wollten. Seit 2 Jahren
+gebot der Marx auf allen Tanzböden und in allen Wirthshäusern, über alle
+Vergnügungen der Dorfjugend, schloß alle "Altmodischen" davon ab und weil
+die rothe Schwitt auch in den umliegenden Ortschaften ihre Anhänger und
+Verbündeten zählte, welche ebenfalls emporkamen, so wurden diejenigen,
+welche hartnäckig altmodisch bleiben wollten, nicht nur von allen Freuden
+und Festen ausgeschlossen, sondern auch noch auf alle möglichen Weisen
+verfolgt und gekränkt. Max sah immer noch die verhaßte schwarze Schwitt
+fortbestehen, so lange nicht <i>alle</i> Buben und Mädlen ihm anhingen und
+wirklich gab es Viele, welche beharrlich von allen Festen wegblieben und
+Alles erduldeten, denn Solches thaten.</p>
+<p>Die Treuesten unter den Altmodischen waren Söhne und Töchter recht
+christlich gesinnter Eltern, denn wie konnten diese ihre Kinder bei einer
+Gesellschaft sehen, deren Anführer der Max vom Rindhofe war? Zog sich der
+Max durch sein abscheuliches, gottloses Leben nicht einen Leibschaden zu,
+so daß er auch leiblich verkrüppelte? Bezeugte nicht der eigene Vater
+desselben, sein Einziger werde mit jedem Jahre liederlicher und bringe ihn
+frühzeitig in die Grube? Weinte der herzensgute Fidele nicht oft bei seinen
+Nachbarn die bittersten Thränen über den ausgearteten Sohn und ließ sich
+nur dadurch trösten, weil er demselben weder durch Rede noch That jemals
+ein böses Beispiel gegeben habe? Lagen die Gesinnungen der rothen Schwitt
+nicht in täglich sich häufenden Werken offen und erschreckend zu Tage?</p>
+<p>Alles dies bewirkte, daß trotz dem Zerfallen und Zusammenschmelzen der
+schwarzen Schwitt nach Benedicts Abfall stets ein kleines Häuflein braver
+Buben und Mädlen altmodisch blieb, man mochte gegen sie unternehmen was man
+wollte.</p>
+<p>In der letzten Maiennacht zeigten die Rothschwittler so recht ihre Bosheit
+und ließen dieselbe an der armen Margareth und deren Schwestern aus, deren
+Wohnhaus mit mehr als 500 Maien ganz umstellt wurde. Nahe am Kammerfenster
+entdeckte man am Morgen des ersten Mai einen Strohmann von abscheulicher
+Gestalt, einen Besen, mit Dünger bestrichen und mit einem Rosenkranze
+behängt, eine Ofengabel mit Salbhäfelein; da einen Stab mit einem alten
+Kochhafen, dort einen mit einigen Rinderschuhen, viele andere mit
+Ochsenohren, Hahnenkämmen, Gansschnäbeln, Schwänzen von Katzen und Hunden,
+der Eierschaalen, Nachttöpfe, Schlapphüte, weiblichen Zwilchröcke und
+dergleichen gar nicht zu gedenken.</p>
+<p>Heuer an der Kirchweih wollte der Max das Oberkommando in zwei Dörfern
+führen und, da er als Krüppel doch den Willibald Tanzkönig sein lassen
+wollte, vor Allem dafür sorgen, daß die "Altmodischen" zu keinem Freudlein
+gelangten&mdash;die plötzliche Erscheinung des Duckmäusers am Kirchweihsonntage
+machte jedoch einen gewaltigen Strich durch seine Rechnung und er merkte
+gleich, die meisten der ehemaligen Schwarzen seien eben doch keine rechten
+Rothen geworden.</p>
+<p>Begleitet von Alten und Jungen, von Altmodischen, deren Gesichter vor
+Freude strahlen und von Neumodischen, die den Stiel rasch umkehren, weil
+sie keine aufrichtigen Rothschwittler sind, tritt der Benedict in die
+Kirche; die beurlaubten und alten Soldaten aber weisen ihm den ersten Platz
+im Soldatenstuhle an und versprechen, aus allen Dörfern des Stabes ihm zu
+Gefallen auf die Kirchweihe seines Dörfleins zu kommen. Kaum ist der
+Nachmittagsgottesdienst beendet, so beginnen 6 Musikanten im Hirzen
+Straußische Walzer zu spielen, das Wirthshaus und der Tanzsaal wimmelt von
+Infanteristen, Dragonern und himmelhohen Kanoniren, welche der Benedict aus
+der Kirche mitgebracht hat, andere fremde Buben und Mädlen kommen auch und
+die Rosa ist verabredetermaßen bereits seit Mittag nach langen Jahren
+wieder einmal im Heimathdörflein und hat das Grab der rechtschaffenen
+Eltern bereits besucht; das ganze Dörflein ist voll Leben und Freude und
+die seit zwei Jahren von jeder Lustbarkeit ausgeschlossenen Getreuen der
+ehemaligen schwarzen Schwitt werden die Heldinnen dieser Kirchweihe, mit
+Ehrenbezeugungen und Lobreden von den achtbarsten Bürgern, geschweige von
+den Jungen, überschüttet.</p>
+<p>Kein rechter Rothschwittler durfte sich diesmal im Tanzsaale blicken lassen
+und ihre entehrten Mädlen, welche sonst die vornehmste Rolle zu spielen
+pflegten, dürfen sich nicht einmal dem Hirzen nähern.</p>
+<p>Einige reiche Bauern, wie der Fidele, Maxens Vater und der Liebhardt,
+legten einige Kronenthaler zusammen, um den getreuesten Mädlen der
+schwarzen Schwitt, welche rasch wieder auflebt, eine Freude zu machen, am
+Kirchweihmontag wurden schöne Halstücher gekauft und dieselben am Dienstag
+ausgetanzt.</p>
+<p>Schon am Montag traten einige rechtschaffene Männer, denen das Treiben beim
+Brandpeterle und Andern längst ein Gräuel gewesen, im Hirzen in den Bund
+der schwarzen Schwitt und gelobten auf Benedicts Zusprache öffentlich und
+feierlich, fortan über die Sitten der christlichen Jugend des Dörfleins zu
+wachen, die ehr- und schamlosen Maxianer zu vertilgen.</p>
+<p>Dies und noch weit Aergeres muß der Max mit anhören, der mit dem Willibald
+und zwei Anderen in einem Winkel der Wirthsstube würfelt.</p>
+<p>"Dort hinten, sagt der tiefbewegte Fidele und deutet auf den Max, dort
+hinten hockt mein Schöner, den ich wohl noch am Galgen sehen muß!" ... Zum
+Vater des Duckmäusers, zum Jacob gewendet, der heut mehr als ein Hälbsle
+schluckt, sagt er weinend:</p>
+<p>"Euer Sohn hat Euch viel Kummer gemacht und manche Thräne ausgepreßt, denn
+er war leichtsinnig, aber doch nie so liederlich und so bis ins Innerste
+verdorben, wie mein Einziger dort hinten! ... Dieser macht Euch jetzt
+wieder Ehre, Freude und Trost, der meinige wird mir Kummer bereiten bis zum
+Grab und mein einziger Trost bleibt, daß Gott und Ihr wisset, wie ich meine
+Pflicht als christlicher Vater erfüllte! ... Hab´ Alles gethan, ihn an Leib
+und Seele gesund zu erhalten, jetzt ist er doch an Leib und Seele ein
+Krüppel!"</p>
+<p>Der Max schüttelt in seinem Winkel den Würfelbecher sehr lebhaft und thut,
+als ob er den Vater gar nicht höre; solch Benehmen empört alle Anwesenden,
+der Benedict stachelt den Hansjörg, mit dem er einst auf dem Katzenbänklein
+gesessen und Andere auf, nach zwei Minuten fliegt der Max zum Hirzen hinaus
+in den Straßenkoth, der Willibald und die Andern schleichen eiligst davon.</p>
+<p>Von dieser Stunde an haßt der Max den Benedict tödtlich und schon am Abend
+wird letzterer gewarnt, sich wohl in Acht zu nehmen, weil der Max mit
+geladener Pistole auf ihn lauere, doch Jener fragt wenig darnach und
+gebraucht blos die Vorsicht, während der Urlaubszeit Abends nie ohne Säbel
+auszugehen.</p>
+<p>Am glücklichsten fühlten sich während dieser Kirchweihe die alten Herzkäfer
+des Duckmäusers, die geehrten und beschenkten Jungfrauen der schwarzen
+Schwitt und nur Eine bekennt, daß sie nicht so glücklich sei, wie dies der
+Fall sein könnte. Diese Eine ist Margareth, Benedicts alte Geliebte, welche
+die Rosa an dessen Hand sieht. Die Rosa merkt dies wohl, spricht mit dem
+Benedict und sogar mit der Margareth selbst hierüber und erklärt, sie wäre
+bereit, für den Duckmäuser das Leben zu opfern, doch wenn er der älteren
+und damit mehr berechtigten Freundschaft gedenken wolle, so wolle sie
+entsagen.</p>
+<p>Die Margareth jedoch meint, nicht sie, sondern das Rosele habe den Benedict
+vor gänzlichem Verderben gerettet, die Entsagung müßte dem Rosele schwer
+fallen und könne ihr nicht zugemuthet werden. Beide Mädchen meinten es
+aufrichtig und wohlwollend mit einander und ebenso mit dem Benedict, ihr
+liebreicher Streit gab den sehr zahlreich anwesenden Gästen Anlaß zu einem
+Gespräche, wie es wohl in einer Stadt sehr selten vorkommen mag.</p>
+<p>Die Meisten kannten den Duckmäuser von Kindesbeinen an, sie wollten den
+Schiedsrichter zwischen der Margareth und dem Rosele machen und bei dieser
+Gelegenheit wurden alle Streiche, welche der Gegenstand ihres Streites
+jemals begangen, öffentlich besprochen; er erfuhr, daß die Wände Ohren
+haben; gar Vieles kam jetzt erst zur allgemeinen Kenntniß und er selbst war
+gescheidt und edel genug, bei der Aufdeckung seiner unsaubern Stücklein
+selbst mitzuwirken; dafür redeten Viele auch vom Guten, was er an sich trug
+und vollbracht hatte.</p>
+<p>Endlich erhebt sich der älteste und ehrwürdigste Mann der Gemeinde, der
+eisgraue Korbhannes, welcher seit mehr als zwanzig Jahren kein Wirthshaus
+inwendig gesehen hat, heute seinem Liebling zu Ehren kam und seinen Sitz
+zwischen dem alten Schulmeister und dem Stabhalter nehmen und sich von
+diesen zechfrei halten lassen mußte. Er nimmt langsam die Zipfelkappe herab
+vom zitternden Haupte, es wird so still in der dichtgedrängten Stube des
+Hirzenwirths, daß man hätte können eine Stecknadel fallen hören und dann
+spricht der Greis, während er mit glänzenden Augen umherschaut:</p>
+<p>"Ich weiß, daß ich von Gott und der Welt geliebt und geehrt werde; von
+Gott&mdash;dies beweist mein alter grauer Schädel,&mdash;von der Welt&mdash;dies sehe ich
+mit meinen Augen in diesem Augenblicke ... Heute ist noch ein Freudentag
+für mich vor meinem Tode, an welchem ich wie ein Jüngling mit Euch und dem
+lieben Herrgott Gesundheit trinken werde! Es ist ein glücklicher Tag, denn
+ein Verlorner unseres Dörfleins ist ja wieder gefunden&mdash;das allein macht
+mich heute so jugendlich und ist ja auch die einzige Ursache, daß der Vater
+Steffen dort und die Mutter Ursula dort drüben in ihrem hohen Alter noch
+einmal zu der ledigen Jugend auf der Kirchweihe sich gestellten! ... Es ist
+der größte Schmerz für rechtschaffene Eltern, ein ungerathenes Kind zu
+haben, aber auch der seligste Augenblick, wo ein verirrtes Kind wieder in
+ihre Elternarme zurückkehrt. Davon haben wir heute einen sprechenden
+Beweis, denn wer könnte wohl theilnahmlos bleiben an der Freude der Theres
+und des Jacob? ... Möge Gott dem Benedict auch ferner Seine Barmherzigkeit
+erzeigen, daß wir einst so wie jetzt hier voll Freuden in der Ewigkeit
+beisammensitzen dürfen! ... Gott weiß es, wie ich den Benedict liebte,
+seitdem er die ersten Hosen an hatte und diese Liebe ist nicht
+verschwunden, als er, mit Schande und Fluch bedeckt, sich aus dem Dörflein
+entfernte! ... Heute, da wir ihn als Mann und Christ wieder unter uns
+haben, brennt mein Herz recht für ihn und wird ewig brennen! Ich sage:
+ewig, denn gar bald wird mich Gott zu sich nehmen und daher glaube ich auch
+vor Euch Allen ein Vorrecht zu haben, dem Benedict zu rathen, wie er
+glücklich bleiben wird!"</p>
+<p>Sich zum Duckmäuser wendend, fahrt der Alte fort:</p>
+<p>"Dir rathe ich nun, fürchte Gott und halte Wort, dann kannst du einst mit
+derselben Ruhe und Freude in die Ewigkeit schauen, wie du es an mir siehst
+und nun, was diese zwei Mädlen betrifft, die dich mit gleicher Liebe
+lieben, so entscheide du selbst, denn Eine nur kann´s sein!"</p>
+<p>Nach dieser Rede setzte sich der Greis, kein Beifallsgeklatsche ließ sich
+hören, doch in mehr als Einem Augenpaar standen Thränen, der Benedict
+jedoch betrachtet arg verlegen bald die Margareth, bald die Rosa und dann
+wieder seine Mutter, welche neben Margarethens Großmutter, der alten Ursula
+sitzt.</p>
+<p>Er weiß nicht, was er reden soll, hofft, Mutter Theres werde entscheiden,
+doch diese ist zu gewaltig erschüttert von der Rede des Korbhannes und dem
+Edelmuth der beiden Mädlen, es entsteht eine lange, peinliche Pause, bis
+sich endlich gar die bereits 81jahrige Ursula erhebt und redet:</p>
+<p>"Wie der Korbhannes vorhin gesagt hat, so muß ich auch sagen: ich habe den
+Benedict da von seiner Kindheit bis jetzt mütterlich geliebt und er allein
+ist´s, der mich, eine 80jährige Großmutter, noch einmal aus der stillen
+Stube in den Hirzen brachte und mir vor meinem Tode den Vorgeschmack ewiger
+Seligkeit kosten läßt;&mdash;aber ich bin der Meinung, er sei noch lange nicht
+aus allen Gefahren! ... Ich will mit diesen Worten den Ernst seiner
+Besserung nicht bezweifeln, allein er ist noch zu jung und unerfahren, um
+sich an fremden Orten unter fremden Leuten stets auf dem ebenen Wege
+halten zu können. Wir können noch wohl Ursache bekommen und besonders ihr
+Jüngern, über ihn so zu trauern und ihn so zu beklagen, wie wir uns heute
+über ihn freuen; er ist noch nicht gewonnen, so lange er von Fremden
+umgeben ist. Darum aber bin ich der Meinung, es sei am besten, er bleibe
+seiner einstweiligen Retterin, wie ich das brave Rosel nennen muß,
+anvertraut! ... Dieses Mädchen, von der uns oft unbegreiflichen Vorsehung
+gar früh in die fremde Welt hinausgeschleudert und der rohesten Behandlung
+preisgegeben, hat sich trotz allen widrigen Umständen gar lieblich, Gott
+und Menschen wohlgefällig entfaltet! ... Das Rosele bekam von Gott die
+Gnade, zu bewirken, was wir alle sehnlichst zu wirken wünschten und doch
+nicht vermochten! ... Alle unsere Ermahnungen, Warnungen und Strafen
+blieben fruchtlos bei diesem Verirrten, das Rosele aber hat ihn durch ihren
+Blick wieder zu einem Christenmenschen gemacht, dessen wir uns heute alle
+freuen! ... Dies scheint mir ein Beweis zu sein, daß er für keine andere
+als für das Rosele und das Rosele für keinen andern als für ihn geboren
+sei! ... Wohl mag ihr durch den Benedict noch Bitteres genug zustoßen, doch
+sie ist wie keine andere von Allen, die hier sitzen, so für Ausdauer in
+Leiden und Widerwärtigkeiten gemacht, daß sie ihn wohl zum zweiten und
+drittenmal retten könnte, wenn's, was Gott verhüte, die Noth erfordere! ...
+Gewiß bleibt, daß dem Rosele eine Kraft und Gnade innewohnt, um seine Seele
+zu bewahren, daß dieselbe nicht ganz für Religion erkalte und ersterbe! ...
+Die Hoffnung und das Zutrauen auf dieses Mädle kann mir Niemand nehmen und
+darum sag' ich: unsere Margreth soll dem Rosele nicht in den Weg treten!"</p>
+<p>Alles stimmte bei, die Margareth verzichtet mit einem Kusse, welchen sie
+der Rosa gibt und wobei ihr doch Thränen in die Augen schießen, die sie
+mannhaft zurückdrängt, die Rosa aber hat während Ursulas Rede oft die
+Gesichtsfarbe gewechselt und später dem Benedict, welcher sie deshalb
+befragte, gesagt, erstens habe sie bei der Aufzählung seiner alten Fehler
+einen großen Schmerz empfunden und sich denken können, wie wehe es ihm
+thue, zweitens habe die Großmutter alle bangen Ahnungen vom Soldatenleben,
+welche sie gewaltsam unterdrückte, wieder auferweckt, es sei ihr gar
+seltsam und unheimlich ums Herz.</p>
+<p>Der Duckmäuser sagt, bei der Aufzählung seiner Sünden sei es ihm gewesen,
+als ob man Alles nur sage, um Andere zu warnen und vor Schaden zu behüten
+und beruhigt die Geliebte ein wenig, so daß sich dieselbe zur Mutter Theres
+setzt und mit dieser sich unterhält.</p>
+<p>Der Benedict nimmt dann die 80jahrige Ursula in den Tanzsaal und noch heute
+redet man davon, wie er zuerst mit der alten Prophetin und nachher mit der
+schwächlichen Mutter Theres tanzte und wie gewaltig die Freude diese beiden
+Frauen verjüngte und kräftigte, so daß sie es zur Verwunderung aller
+Anwesenden aushielten bis zum letzten Ton, wiewohl von keinem bedächtigen
+Menuett, sondern von einem Bauernwalzer die Rede gewesen ist.</p>
+<p>Freilich war der Hobist auch der beste Tänzer der Gemeinde und trug die
+zwei Alten fast immer schwebend im Kreise herum. Nach drei Kirchweihtagen
+wußte er wieder einmal, Tanzen sei auch eine Arbeit und das Rosele pries
+sich glücklich, weil er mindestens nicht bei ihr seine Müdigkeit und
+Abgeschlagenheit aller Glieder geholt hatte; die alten Herzkäfer der
+schwarzen Schwitt dagegen meinten, er habe ihnen unsäglich viel Ehre
+angethan, doch hätte er mit Jeder noch ein bischen mehr walzen können!</p>
+<p>Auf große Freud' folgt großes Leid! heißt ein altes Sprichwort und daß es
+gar oft ein wahres werde, erfuhr der Held der herrlichen Kirchweihe bald,
+ja das Leid trieb ihn aus dem Dörflein in die Garnison zurück, noch ehe
+sein Urlaubspaß abgelaufen war.</p>
+<p>Er sitzt eines Abends, wo das Rosele wieder daheim beim Straßenbasche
+sitzen und diesem von der seit urdenklichen Zeiten unerhörten Kirchweihe
+ihres Geburtsortes erzählen mag, mit Vater, Mutter und einigen Hausfreunden
+am Tische; das Gespräch kommt auf die Leichenbegängnisse und das Leidtragen
+der Soldaten. Der Duckmäuser erklärt, jeder Soldat, welcher Leid tragen
+wolle, trage einen schwarzen Flor am Arme oder auch nur eine schwarze
+Schleife auf der Brust, je nachdem ihm an der verstorbenen Person mehr oder
+weniger gelegen sei.</p>
+<p>Darauf fragt die Mutter:</p>
+<p>"Nun, wenn ich einmal sterbe, dann wirst du gewiß einen recht großen Flor
+tragen?"</p>
+<p>Rasch und lächeld [lächelnd] meint der Benedict:</p>
+<p><i>"Wenn Ihr einmal sterbet, dann stecke ich einen weißen Federbusch auf
+meinen Kriegshut!"</i></p>
+<p>Hat jemals Einer Grund bekommen, einen unbesonnenen Scherz bitterlich zu
+bereuen, so ist dieser Eine der arme Hobist.</p>
+<p>Kaum ist das Wort aus seinem Munde, so wendet ihm die Mutter den Rücken zu
+und unfähig, ein Wort zu reden, beginnt sie so heftig und laut zu weinen,
+daß alle Dasitzenden erschrecken. Was half es, daß Alle die Weinende zu
+beruhigen suchten und ihr den Scherz erklärten? Daß der Benedict endlich
+selbst mitweinte und sich anbot, unter ihren Händen augenblicklich zu
+sterben, wenn er damit beweisen könne, wie aufrichtig er sie liebe?</p>
+<p>Das von unsäglicher Liebe erfüllte Mutterherz scheint in Einem Augenblicke
+gänzlich versteinert zu sein; sie hört später mit Weinen auf, doch bleibt
+sie unerbittlich, kein gutes Wort kommt mehr gegen ihn aus dem Munde, sie
+mag und will ihn nicht mehr sehen, er muß aus dem Hause, soll es bei ihren
+Lebzeiten nicht mehr betreten.&mdash;Der Wunsch ging in Erfüllung.</p>
+<h3><a name="7"></a>Wie Einer fast ohne Schuld des Teufels werden kann</h3>
+<p>
+Von Allen, welche ihn liebten und fruchtlos versucht hatten, den Duckmäuser
+mit der Mutter auszusöhnen, tief bedauert, kehrte derselbe in die Garnison
+zurück.</p>
+<p>Das Erste, was er erfährt ist, daß sein Regiment nach Freiburg zurück
+verlegt wird. Rasch schreibt er diese frohe Nachricht seiner Rosa und
+bittet dieselbe, ihn doch um Gotteswillen mit der Mutter auszusöhnen, auf
+ihr ruhe hierin noch seine einzige Hoffnung.</p>
+<p>Der Abmarsch nach Freiburg wird so rasch angetreten, daß er Gelegenheit
+bekommt, die Antwort auf den Brief selbst zu holen, weil dieselbe doch
+etwas lange ausgeblieben ist.</p>
+<p>Freudig wird er vom Straßenbasche, Saumathis, vom Rosele und allen
+Bekannten empfangen, doch&mdash;Roseles Antwort lautet untröstlich genug. Was
+er, der Vater, die Geschwister, die Mädlen der schwarzen Schwitt, der
+Korbhannes sammt der Ursula und vielen Andern nicht vermocht hatten, setzte
+auch das Rosele nicht durch, im Gegentheil erging es ihr am schlechtesten.</p>
+<p>In ihrer Unschuld und Liebe bat sie am eindringlichten, versicherte, nicht
+weichen zu wollen, bis ihrem Benedict der übel angebrachte, doch arglose
+Scherz verziehen sei, dafür fiel auch sie bei Mutter Theres in volle
+Ungnade und diese wies sie aus ihrem Hause, um niemals wieder über die
+Schwelle desselben zu treten.</p>
+<p>Solche Kränkung schmerzte, empörte, allein die Liebe duldet Alles und das
+Mädchen bedauerte nur, daß auch seine Bemühungen vergeblich gewesen, der
+Straßenbasche mit seinem Weibe schüttelt den Kopf und meint, die Weiber
+seien ein wunderliches, unergründliches Volk.</p>
+<p>Kaum ist der Benedict wieder in die Garnison zurück, so entdeckt er den
+Nebelspalter des Vaters und richtig steht dieser bald vor ihm und erzählt,
+die Mutter habe ihn hergeschickt, damit er dem Herrn Kapellmeister
+empfehle, den Hobisten Benedict recht strenge zu halten und niemals wieder
+zu beurlauben.</p>
+<p>"Abschlagen hab ich´s der Mutter nicht können; seit jenem Abend redet und
+deutet sie wenig, nimmt grausig ab und ist kränklich, bin halt zum Herrn
+Kapellmeister gegangen und hab´ ihn zuerst gefragt, wie du dich
+aufführtest. Er hat dich sehr herausgestrichen, deßhalb habe ich meinen
+Auftrag auch nicht ausgerichtet, ´s wär eine Ungerechtigkeit. Halte dich
+nur brav, die Mutter wird auch wieder anders werden!"</p>
+<p>So sprach der Vater, als er vom Sohne Abschied nahm.</p>
+<p>Das Mütterlein wurde jedoch nicht anders, sondern sandte an der Stelle
+ihres Alten die Salome zum Herrn Kapellmeister. Salome war ein lediges,
+jedoch mit fünf lebendigen Kindern gesegnetes Weibsbild, trug Gebetbuch,
+Rosenkranz, den Loosungsgroschen und die Karte zum Kartenschlagen stets in
+Einer Tasche, übernahm Wallfahrtsgänge für die halbe Welt, deßhalb auch die
+Wallfahrt zum Herrn Kapellmeister, zumal Mutter Theres ihr ordentlich
+spendirt und noch mehr versprochen hatte, wenn sie etwas ausrichte.</p>
+<p>Die Salome wußte gar ehrbare und erbauliche Gesichter zu schneiden, Alles
+gut einzufädeln, was sie einfädeln wollte und es war ihr ein Leichtes, den
+Kapellmeister, einen wackern, offenen Soldaten, der nicht gerne an
+Verstellung glaubte, weil er selbst aller Verstellung fremd war, gegen den
+Duckmäuser einzunehmen.</p>
+<p>Zuerst beschrieb sie demselben den answendigen, dann den inwendigen
+Benedict von der Geburt bis zur letzten Kirchweihe, erzählte alle Streiche
+desselben, wußte den unseligen Scherz mit dem Traueranlegen als Verbrechen
+darzustellen, beschrieb dann auch die Rosa als ein verdorbenes,
+gottvergessenes und heuchlerisches Geschöpf und schloß, indem sie den
+Kapellmeister im Namen der tief bekümmerten und gekränkten Mutter des
+Benedict bat, diesem keinen Urlaub mehr zu geben und ganz besonders auch
+die Ausflüge ins Rheindorf zum Rosele zu untersagen.</p>
+<p>Wer schon bei der nächsten Probe dem staunenden und betretenen Duckmäuser
+in Gegenwart aller Hobisten sein ganzes früheres Leben, seine "ganze
+verfluchte Duckmäuserei" und die schändliche Rede gegen die alte Mutter
+vordonnerte und ihm öffentlich aufs strengste verbot, jemals wieder einen
+Fuß zu der "liederlichen Fuchtel" ins Rheindorf zu setzen, das war der Herr
+Kapellmeister.</p>
+<p>Wie verächtlich betrachteten die ältern Hobisten jetzt den Benedict, wie
+schadenfroh lachten die jüngern und besonders die leichtsinnigsten über den
+"Klosterbruder!"</p>
+<p>Einen Brief nach dem andern, einer rührender als der andere, schrieb
+derselbe an die Mutter, um ihr Herz zu erweichen; nie erhielt er eine
+Antwort und weil er nicht mehr zum Rosele hinüber durfte, kam dieses mit
+und ohne den Straßenbasche zuweilen herüber.</p>
+<p>Solches wird dem Kapellmeister gesteckt, einem Hagestolz, der als Todfeind
+aller Bekanntschaften seiner Untergebenen, besonders der jüngern bekannt
+ist und jetzt den Umgeher seines Verbotes recht zu fuchsen sich vornimmt.</p>
+<p>Wo fehlen beim Militär jemals Gelegenheiten zum Strafen, wenn ein
+Vorgesetzter darauf ausgeht, Einem das Leben zu entleiden?</p>
+<p>Selten fand eine Probe statt, bei welcher der Kapellmeister den Hobisten
+Benedict nicht andonnerte oder strafte, dieser gewann bald Aehnlichkeit mit
+seinem ersten Vorbilde, dem Compagnieschneider, insofern auch er bereits
+immer Zimmerarrest hatte.</p>
+<p>Von der Kirchweihe bis zur Fastnacht hielt der Duckmäuser aus und machte
+seine Sache durch sein heißes Blut nicht schlimmer; das Romanlesen verlieh
+ihm Gleichgültigkeit und Erhabenheit gegen die Quälereien prosaischer
+Seelen und Genuß, weil er sich selbst für einen von Schicksalstücke arg
+Verfolgten halten mußte.</p>
+<p>An Fastnacht bekamen alle Hobisten, sogar Meister Feucht für 3 Tage Urlaub,
+Benedict sollte beim Adlerwirth im Rheindorfe drüben aufspielen&mdash;der
+Kapellmeister jedoch gab ihm an der Stelle des Urlaubes drei Tage
+Zimmerarrest.</p>
+<p>Am Fastnachtsonntag saß er mutterseelenallein im Zimmer, hatte deßhalb auch
+die Zimmertour und weil's gerade ein Brodtag war, so faßte er das Brod für
+die Hobisten und legte jedem seine zwei Laibe auf das Bett. Gegen Abend
+hielt ers nicht mehr aus, sah nur immer das weinende Rosele vor sich, nahm
+sich Urlaub aus dem eigenen Tornister, trat Abends zehn Uhr halberfroren in
+Straßenbasches Haus, verlebte im Rheindorfe zwei lustige Tage und kehrte am
+Aschermittwoch in die Kaserne zurück.</p>
+<p>Beim Eintritt in die Stube kommt ein Hobist auf ihn zu und klagt, weil ihm
+ein Laib Brod fehle; der Duckmäuser behauptet, jedem beide Laibe auf das
+Bett gelegt zu haben und wie er noch redet, wird er arretirt und wegen
+eigenmächtigen Urlaubes zum erstenmal ins Dunkle gesetzt.</p>
+<p>Kaum tritt er aus dem Arreste, so kommt der Oberlieutenant, fragt nach dem
+Laibe Brod, welcher dem Hobisten fehlte; der Benedict schwört hoch und
+theuer, das Brod richtig gefaßt und richtig ausgegeben zu haben, eine
+Untersuchung wird eingeleitet und der Duckmäuser wegen Unterschlagung eines
+Brodlaibes im Werthe von 7 Kreuzern standgerichtlich zu drei Tagen Arrest
+verurtheilt; ein standgerichtliches Urtheil hat aber stets die Entziehung
+der Einstandserlaubniß zur Folge und dies setzt den Bestraften in arge
+Betrübniß.</p>
+<p>Kaum ist er frei, so findet sich der Brodlaib; Alles beruhte auf einer
+Verwechslung mit dem Brode eines andern Hobisten, der Benedict fordert
+beide Hobisten dringend auf, seine Unschuld an den Tag zu legen; sie wollen
+ihn insgeheim mit einer kleinen Vergütung zum Schweigen bringen, doch er
+will nichts als seine Ehrenrettung, dazu lassen sie sich nicht bewegen, er
+verflucht und verwünscht Beide und&mdash;merkwürdig! beide starben noch in jenem
+Jahre, der eine ertrank, der andere bekam einen Blutsturz nach dem andern
+und starb gleichfalls.</p>
+<p>Benedict gedachte der bangen Ahnungen des Rosele; eine schöne Gelegenheit
+zur Erlernung des Schreinerhandwerkes bietet sich ihm an, er faßt ein Herz,
+geht zum Oberst und fordert seinen Abschied. Der grundehrliche, brave,
+jedoch barsche und rauhe Soldat nimmt den Degen, schlägt das Hobistlein
+nach Noten herum und poltert: "Ich will dir den Abschied auf den Rücken
+schreiben, du Hundsfötter, du! ... Wir müssen dich fuchteln, sonst stirbst
+du im Zuchthause, du verstellte, heimtückische Bestie!"</p>
+<p>Brav durchgewalkt kehrt der Verzweifelnde in sein Compagniezimmer zurück,
+welches er drei Frühlingsmonate nicht mehr verlassen darf. Er vergeht fast
+vor Schmerz, doch hält er immer ritterlicher aus, denn seine Romane
+verleihen ihm Trost, Muth, Heldenkraft. Zum Musiciren spürt er wenig Lust
+mehr, liest wie der große Trommelschläger den ganzen, lieben langen Tag,
+denkt und lebt sich ganz in seine Bücher hinein und ist fest entschlossen,
+nach dem Muster der heldenmäßigsten Ritter allen Flohstichen und
+Keulenschlägen eines widrigen Geschicks mannhaften Trotz zu bieten!</p>
+<p>Während der Verbannung im Compagniezimmer kam ein schwarz versiegelter
+Brief vom jüngern Bruder, vom Hannesle, welcher ihm meldete, die Mutter sei
+gestorben und habe ihm in ihrer letzten Stunde Verzeihung angedeihen
+lassen.</p>
+<p>Seit jenem Abende, an welchem Benedict harmlos scherzte, er werde für sie
+mit einem weißen Federbusche auf dem Kriegshute trauern, gab sich Mutter
+Theres einer Schwermuth hin, welche nicht mehr wich; sie wurde still und in
+sich gekehrt, suchte immer die Einsamkeit, aller Trost und alles Gerede
+blieben von ihr ungehört und den Namen ihres Sohnes durfte Niemand nennen,
+wer sie nicht in die furchtbarste Aufregung versetzen wollte. Von Tag zu
+Tag nahmen ihre Kräfte sichtbar ab, sie wurde bettlägerig, ihr Zustand
+verschlimmerte sich und die Aerzte mit ihrer Weisheit standen rathlos am
+Krankenbette.</p>
+<p>Schon zur Zeit der Fastnacht, an welcher die rothen und schwarzen
+Schwittler sich endlich in die Haare geriethen und barbarisch prügelten,
+wie dies im weinreichen Baden gar oft der Fall zu sein pflegt, erwartete
+man das Ende der Mutter Theres und die herrliche Margareth wich fast nicht
+mehr von deren Bette.</p>
+<p>Schwankend zwischen Leben und Tod lag die Dulderin viele Wochen; in ihren
+letzten Tagen nannte sie häufig den Namen ihres Sohnes, doch so oft man
+fragte, ob man denselben herbeiholen sollte, schüttelte sie verneinend den
+Kopf. Plötzlich schien sie von Neuem aufzuleben, die Krankheit gewichen zu
+sein, sie vermochte wieder deutlich zu sprechen, bat, den Benedict
+herbeizuholen, sie wolle und müsse demselben Alles verzeihen, wenn sie
+selbst Verzeihung bei Gott erlangen wolle, <i>denn Alles habe sie dereinst
+an ihrer eigenen Mutter verschuldet.</i></p>
+<p>Halb aufgerichtet im Bette legte sie vor allen Anwesenden das Bekenntniß
+ihrer Schuld ab und kaum war solches geschehen, so sank sie tod [todt] in
+ihr Kopfkissen zurück!</p>
+<p>Es gibt unzählige Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon sich die
+Philosophen gar nichts oder nicht gerne träumen lassen, weil jeder Luftzug
+aus einer überirdischen Welt ihre gar emsig und kunstreich gewobenen
+Spinnengewebe zu zerreißen im Stande ist.</p>
+<p>Werke sind besser als Worte, <i>Thatsachen</i> lehren eindringlicher denn
+alle Spitzfindigkeiten der verständig gewordenen Vernunft, deßhalb mag die
+Jugendgeschichte der Mutter Theres das räthselhafte Benehmen während der
+letzten Zeit ihres Lebend erklären oder doch einigermaßen aufklären.</p>
+<p>Ihr Vater, ein vermöglicher und braver Mann starb sehr frühe, von einem
+zweiten Manne bekam ihre Mutter noch einen Sohn und zwei Töchter. Dem
+letzten Willen des Vaters gemäß sollte Theres, sein einziges Kind, die
+Hälfte seiner Hinterlassenschaft in Empfang nehmen, sobald sie das
+achtzehnte Jahr erreicht haben würde, die andere Hälfte jedoch erst nach
+dem Tode der Fränz, ihrer Mutter. Theresens Stiefvater war ein roher,
+wüster, leidenschaftlicher Mann, mit welchem Mutter Fränz recht unglücklich
+lebte und welcher sich immer mehr dem Trunke ergab. Geduldig ertrug Therese
+alle Unbilden und Mißhandlungen, welche ihr Stiefvater sammt den
+Stiefgeschwistern ihr alltäglich anthaten, wurde 18, 20, 22 und 24 Jahre
+alt, blieb bei der Mutter, deren einziger Trost sie war und dachte nicht an
+die Herausgabe des halben Vermögens.</p>
+<p>Armuth und Elend nahmen jährlich im Hause zu, der Stiefvater verkaufte, was
+ihm beliebte; von allen Seiten wurde Therese gewarnt, ihr Eigenthum zu
+retten und in ihrem 26. Jahre verließ sie endlich das Haus der Mutter und
+heirathete den Jacob.</p>
+<p>Bei dieser Gelegenheit kommt die schlechte, gewissenlose Wirthschaft des
+Stiefvaters an den Tag, Fränz schaut jammernd in die Zukunft und bittet die
+Obrigkeit um Hülfe, der Trunkenbold wird endlich mundtod [mundtodt]
+gemacht, mißhandelt die Fränz ärger als je, bis sich der Himmel erbarmt
+und die Arme von ihrem Quälgeiste erlöst.</p>
+<p>Theres hauste mit dem Jacob, ihre Stiefschwestern heiratheten auch kurz
+nach einander, die Fränz lebte jetzt allein mit ihrem Sohne, dem Paul.
+Dieser schlug seinem rohen, wüsten, trinklustigen Vater in Allem nach, doch
+war er noch jung und wurde vorläufig nur von Neid und Mißgunst verzehrt,
+weil er sehen mußte, wie die Therese, seine Stiefschwester, die schönsten
+Grundstücke und Hausgeräthe und Anderes dem Jacob in die Ehe brachte. Am
+meisten schmerzten ihn die beiden Rappen, seine Lieblinge, welcher der
+Schwager aus dem Stalle holte und wenn der Paul gar daran dachte, die
+Stiefschwester werde nach dem Tode der Mutter Fränz die andere Hälfte ihres
+väterlichen Vermögens beanspruchen, dann wußte er sich fast nicht mehr zu
+helfen vor Neid und Haß, zumal der eigene Vater mit all seiner Habe fertig
+und auf Unkosten der Fränz beerdiget worden war.</p>
+<p>Mutter Fränz mußte dem Paul ihre Vorliebe schenken, ob sie wollte oder
+nicht und dieser war kaum volljährig, so suchte er eine reiche Frau zu
+bekommen. Im Dorfe und in der Umgegend nicht sonderlich gut angeschrieben,
+durfte er nicht an jeder Thüre anklopfen, zuletzt erschlich er sich die
+Liebe eines sechszehnjährigen Mädchens, der hübschen, muntern und
+vermöglichen Christine und die Mutter derselben gab die Heirath zu, weil
+die ältere Tochter sich hatte verführen lassen und weil sie fürchtete,
+gleiche Schande an der jüngern erleben zu müssen. Der Vogt, ein
+unumschränkter Dorfmonarch und vielgeltender reicher Mann, war Christinens
+Vetter, hatte deren Heirath mit dem Paul ungerne gesehen, doch als diese
+nicht mehr verhindert werden konnte und geschehen war, nahm er sich des
+Paares gewaltig an.</p>
+<p>Bald redete Paul mit dem vielvermögenden Vetter, auf welche Weise die
+Therese um ihre halbe Erbschaft gebracht werden könnte; der Vogt versprach
+Alles zu thun und hielt Wort, bald entspann sich eine Dorfintrigue, worin
+Mutter Fränz, ihre Kinder aus zweiter Ehe und ihre Tochtermänner
+Hauptrollen spielten. Die Leute munkelten und redeten viel von diesen
+Intriguen, Jacob und Therese bekümmerten sich anfangs wenig darum, weil sie
+auf ihr geschriebenes und gültiges Recht pochten, doch wie endlich
+allgemein und laut gesagt wird, Fränz habe ihre älteste Tochter verstoßen
+und von der halben Erbschaft ausgeschlossen, geht Therese zur Mutter, um
+dieselbe über das Geschwätz zu befragen. Mutter Fränz erschrickt sichtbar,
+kann der Tochter nicht in die Augen schauen, gibt lauter ausweichende
+Antworten und dies beunruhigt natürlich diese gewaltig.</p>
+<p>Am andern Morgen langt Jacob seinen langen Rock aus dem Kasten, setzt den
+Nebelspalter auf und begleitet sein Weib zum Hofe des Dorfmonarchen.</p>
+<p>Der Vogt hört Alles ruhig an, dann donnert er los:</p>
+<p>"Du, Theres, bist eine eigensinnige, bösartige Tochter gewesen, kannst es
+vor Gott nicht verantworten! ... Thut deine Mutter wirklich also, wie du da
+klagst und fragst, so hat sie Recht, du hast's tausendfältig an ihr
+verdient! ... Als deine Mutter im größten Elende bei ihrem liederlichen
+Manne schmachtete, bist du fortgelaufen, hast einen Mann genommen, die arme
+Frau wie eine Räuberin ausgeplündert! ... Wäre ich damals Vogt gewesen oder
+hätte mich's angegangen, ich würde dir einen Strick um den Hals gelegt
+haben, du unbarmherziges Thier!"&mdash;Die Ungerechtigkeit der Mutter und
+Stiefgeschwister kränkte die schuldlose Therese zehnmal mehr, denn der
+Verlust der halben Erbschaft, doch vertraut sie auf ihr gutes Recht und
+Gott, und hütet sich, den Anklagen des Dorfmonarchen durch ein böses Wort
+gegen die Mutter eine Handhabe zu geben.</p>
+<p>Sie hütet sich nicht wochen-, sondern <i>jahrelang</i> und es scheint Gras
+über die Angelegenheit gewachsen zu sein, über welche erst der Tod der
+Mutter Fränz Aufschluß und volle Gewißheit zu geben vermag.</p>
+<p>Eines Morgens kommt der mürrische, versoffene Paul zur Therese und fordert
+einen ausgehauenen Schweinstrog, welcher in Jacobs Hof steht, von ihr
+zurück, weil der Schweinstrog nicht ihrem, sondern seinem Vater zugehört
+habe. Therese lacht dem Paul ins Gesicht und gibt zu verstehen, sie sei im
+Stande, ganz andere Forderungen zu machen, wenn das Betragen der
+Stiefgeschwister es erheische.</p>
+<p>Jetzt fährt der Stiefbruder auf, schreit ingrimmig:</p>
+<p>"Was <i>du</i> zu erwarten hast, das hast du schon und darfst dich
+glücklich schätzen, wenn du nichts herauszahlen mußt!" und poltert zur
+Stube hinaus, deren Thüre er zuschlägt, daß das ganze Haus und Therese vor
+Zorn und Entrüstung zittert. Wenige Minuten später kommt Mutter Fränz, weiß
+nichts von dem Vorgefallenen, klagt über Unwohlsein und die noch unwillige
+und aufgeregte Therese meint:</p>
+
+<p>"Sterbet in Gottes Namen, Ihr könnt nichts Besseres thun! ... <i>Nur sagt
+es mir zuvor, daß ich mir ein weißes Kleid kaufe zum Leidtragen für
+Euch!"</i></p>
+<p>Diese Aeußerung kränkte Mutter Fränz bitter, sie verließ die Stube, kam nie
+wieder zurück, verfiel in eine langwierige Krankheit und ließ der ältesten
+Tochter erst wenige Minuten vor dem Tode Vergebung angedeihen. Mehrere
+Wochen saß diese Tag und Nacht beim Krankenbette der Mutter, die 3
+Stiefkinder kümmerten sich nicht im mindesten um die Sterbende, denn sie
+hatten, was sie wollten, nämlich ein schriftliches Testament, nach dessen
+Wortlaut Therese auch nicht Einen Kreuzer erhielt.</p>
+<p>Sterbend verlangt Mutter Fränz das Testament, welches gleich nach der
+ersten und letzten Beleidigung von Seite Theresens geschrieben worden,
+zurück, um es zu vernichten, doch ein Tochtermann hatte es in Verwahrung
+und war über Feld gegangen, der Vogt wird herbeigeholt und hört das letzte
+Wort der Mutter Fränz: "das Testament ist ungültig, un&mdash;" Kaum ist diese
+eine Leiche, so kommt der Tochtermann von der Reise zurück, zeigt das
+Testament, der Vogt erklärt, der Widerruf gelte nichts, weil die Sterbende
+nicht mehr bei Besinnung gewesen, Theresens halbes Erbe bleibt verloren,
+denn diese fängt keinen Prozeß an, sondern betrachtet die Enterbung als
+eine Strafe des Himmels.</p>
+<p>Mutter Theres war eine fromme, gottesfürchtige Frau; eine freudlose und
+leidenreiche Jugend hatte sie vorbereitet, mit dem finstern, strengen, doch
+dabei fleißigen, grundehrlichen und gerechten Jacob glücklich zu leben. Der
+Benedict war es, der ihr zumeist Sorge und Kummer bereitete, sie an alte
+Zeiten erinnerte und am Ende glauben machte, er sei von der Vorsehung
+bestimmt, an ihr die Verwünschungen zu erfüllen, welche Mutter Fränz nach
+dem erwähnten Auftritte gegen sie ausgestoßen hatte.&mdash;Der Besuch in der
+Kaserne und die Kirchweihe hatten ihre abergläubischen (wenn man's so
+nennen will!) Befürchtungen zerstreut; der, welchen sie von je am
+zärtlichsten geliebt und welcher sie am tiefsten betrübt hatte, war
+wiedergefunden. Sie liebte denselben von jeher mehr als eine gewöhnliche
+Mutter, mehr als alle andern ihrer Kinder, <i>warum</i>&mdash;wußte sie selbst
+nicht; die Kirchweihe weckte die ganze Gluth ihrer zärtlichsten und
+sicherlich nicht durch Romanlesen verminderten oder gesteigerten wahrhaftig
+leidenschaftlichen Liebe,&mdash;Der unglückselige Scherz, welchen der Hobist
+machte, in derselben Stube, in welcher vor vielen Jahren Mutter Fränz ihre
+Tochter verfluchte und in einer Stunde machte, wo das Licht noch nicht
+angezündet war, so daß sie nur die verhängnißvollen Worte vom <i>weißen
+Leidtragen</i> hörte, die Miene des Sohnes jedoch nicht sah; dies
+überzeugte sie von Neuem, <i>der Fluch des Himmels laste noch auf ihr und
+ihr ältester, geliebtester Sohn sei geboren, um diesen Fluch zu
+erfüllen.</i></p>
+<p>Gewiß war sie selbst überzeugt, derselbe habe es mit den paar Worten nicht
+böse gemeint, doch diese paar Worte sprach nicht der Benedict, sondern
+sprach nach ihrer Ueberzeugung der zürnende Gott zu ihr.</p>
+<p>Sie hat den Sohn verflucht als ein Werkzeug des Fluches, hat ihm verziehen,
+weil der Tod sich ihrer nicht erbarmen wollte&mdash;wird der Fluch oder die
+Verzeihung sich als leitender Gedanke durch die fernere Lebensgeschichte
+ihres Sohnes ziehen?&mdash;</p>
+<p>Der Duckmäuser ward durch den Tod und die Verzeihung der Mutter nicht
+sonderlich ergriffen; er erblickte in diesem Vorfalle nur einen neuen
+Beweis für die aus seinen Romanen geschöpfte Ueberzeugung, zu einem
+abenteuerlichen Leben bestimmt zu sein.</p>
+<p>Ein von der Vorsehung zu wunderbaren Dingen ausgerüsteter Mann seiner Art
+läßt sich durch alle Anfechtungen der prosaischen Außenwelt wenig berühren,
+lebt in andern Zeiten und höhern Regionen und begnügt sich, prosaischen
+Vorgesetzten tiefe Verachtung und ritterlichen Trotz entgegenzusetzen und
+diesem "Gewürme", welches auf der Keule des Herkules herumkriecht,
+thatsächlich zu beweisen, daß man nach seinen kleinlichen und winzigen
+Chikanen so wenig frage, als nach den Ansichten und der Ordnung der
+gegenwärtigen prosaischen Welt überhaupt.</p>
+<p>Der Oberst hatte den Hobisten in den Zimmerarrest und damit in die ohnehin
+geliebte Romanenwelt hineingeprügelt, drei Monate lang lebte der Hobist dem
+Obersten zum Trutz sehr glücklich in Burgen, bei Turnieren, focht wacker
+gegen Sarazenen, befreite mehr als Ein Ritterfräulein mit blauen Augen und
+hochwallendem Busen, oder zog sich als weitgefürchteter Räuberhauptmann in
+unzugängliche Felsburgen zurück.</p>
+<p>Kaum während der Probe wußte der Glückselige Etwas von der prosaischen
+Wirklichkeit und mehr als einmal redete er bei seinen Erbsen und Kartoffeln
+laut genug von fehdelustigen Rittern, treuen Knappen und Fräuleins, welche
+ihm statt Gänseweines Nektar kredenzten. Wie die Hobisten von je den großen
+Trommelschläger verlacht und verspottet hatten, so verspotteten und
+verlachten sie jetzt auch den Benedict&mdash;hatte sich jener wenig daraus
+gemacht, so bewirkten sie bei diesem das Gegentheil. Mehr als einmal kamen
+gutmeinende Vorgesetzte und Offiziere, um dem Hobisten Benedict
+zuzusprechen, damit er nicht in Doctor Rollers Hände falle, allein Güte und
+Ernst prallten an ihm ab.</p>
+<p>Die drei Monate des Zimmerarrestes waren beinahe zu Ende, da tritt ein sehr
+beliebter, gebildeter und braver Adjutant in das Hobistenzimmer und macht
+dem Bedict [Benedict], der stets mit Rittern und Fräuleins redet, ganz
+ruhige, vernünftige und menschenfreundliche Vorstellungen. Doch dieser hört
+ihn kaum und wie der Adjutant ihm das Narrenhaus prophezeit, streckt er die
+Hand aus und spricht wörtlich also:</p>
+<p>"Du bist nicht als ein Apostel berufen und hast einem so unerschrockenen
+Ritter meiner Art durchaus keinen Vorwurf zu machen, deßhalb schweige, wenn
+ich dir nicht den Fehdehandschuh vor die Füße werfen und dir meine Kraft
+fühlen lassen soll!"&mdash;</p>
+<p>Die Antwort des Adjutanten lautete auf 3 Tage Dunkelarrest, der
+Dunkelarrest machte den Kopf des Duckmäusers nicht heller! ... Endlich sind
+die 3 Monate des Zimmerarrestes verflossen, beim Beginne derselben war der
+Frühling kaum im Werden, jetzt findet der Befreite Leben, Bewegung, Freude,
+Liebe und Schönheit allenthalben; Alles, was er sonst gleichgültig
+betrachtete, hat für ihn hohes Interesse, er fühlt sich gleichsam
+neugeboren und ein schöneres, höheres Leben ist in ihm wach geworden!&mdash;</p>
+<p>
+Lesefrüchte</p>
+<p>
+Es steht zu vermuten, daß der Straßenbasche ein oder auch zweimal die
+Treppen des Commandantenhauses hinanstieg, um den Herrn Obersten, seinen
+alten Kriegsgefährten zu besuchen, die angetastete Ehre seines Rosele zu
+retten und für den Benedict ein gutes Wort einzulegen. Eines Tages nämlich
+sprach der Oberst zum Kapellmeister:</p>
+<p>"Hören Sie, Ihr Hobist, der Benedict, ist kein schlechter Kerl, aber er
+wird durch seine verfluchte Leserei ein größerer Narr, denn der große
+Trommelschläger! ... Der Kerl hockt noch im Zimmerarrest, dauert mich halb
+und halb und wenn zuweilen sein Schatz vom Rheine herüberkommt, um ihn zu
+besuchen, so wollen wir nichts dagegen haben. Es soll ein verständiges,
+braves Mädchen sein und ganz geeignet, den Kerl vor dem Narrenhaus zu
+bewahren!"</p>
+<p>Der Kapellmeister schrieb sich diese Ordre hinter die Ohren und wendete
+nichts dagegen ein, wenn Straßenbasches Pflegetochter an Sonntagen zuweilen
+in die Kaserne kam, um den gefangenen Träumer zu besuchen, wurde jedoch
+diesem nicht grüner.</p>
+<p>Die Veränderung, welche in diesem vorging, blieb der Rosa nicht verborgen,
+denn er sprach jetzt häufig in einem himmelhohen Style, welchen sie nicht
+verstand und die einst so demüthigen, bescheidenen und ergebenen Reden
+desselben nahmen allmälig ein Ende. Sie ermahnte ihn gar zu
+lehrmeisterisch, den Obern zu gehorchen und brav zu werden, langweilte ihn
+mit ihren prosaischen Predigten und obwohl er in ihrer Gegenwart die
+lichtesten Augenblicke hatte und niemals vergaß, hundertmal "auf Ritterwort
+und Handschlag" Gehorsam zu geloben, so hegte sie doch wenig Hoffnungen und
+kehrte jedesmal nachdenklicher zum Straßenbasche zurück.</p>
+<p>Jetzt stolzirt der Benedict an schönen Sommerabenden als freier Mann in der
+Gegend herum, die Gestalten seiner Romane steigen von den Burgruinen herab
+in die Ebene, wandeln um ihn herum und er entdeckt gar viel Ritterliches
+und Fräuleinhaftes in den schöngeputzten Städtern und Städterinnen.</p>
+<p>Außer den Mädlen der beiden Schwitten und der Rosa mit ihren Kamerädinnen
+hat er noch keine Weiber kennen gelernt, doch weiß er jetzt, jene seien
+prosaische, gefühllose, ungebildete "Bauerndötsche" in Zwilchröcken, mit
+sonnenverbrannten Gesichtern, braunen Armen und abgearbeiteten, rauhen
+Händen. Wie niedlich und zierlich sind dagegen die Städterinnen gekleidet,
+wie zart, von Liebesgram gebleicht oder von beglückter Minne verklärt die
+Wangen, wie grazienhaft der Gang, wie fein und tugendsam ihr Benehmen!
+Täglich sieht er Hunderte, für die er sofort Lanzen haufenweise brechen
+würde und täglich Eine, welche auf milchweißem Rosse mit fliegendem
+Schleier auf ihrem Zelter sitzt, neben ihm den steilen Burgweg
+hinaufreitet, der Burgwart stößt gewaltig ins Horn, die Knappen schwingen
+jubelnd ihre schartigen Flamberge, der alte Kuno macht seine Meldungen, der
+Ritter führt die Ritterin in den hohen Rittersaal und getheilt zwischen
+Minne und Kampf verlebt er in der neugebauten Burg seiner Väter endlose
+Jahre voll Seligkeit&mdash;bis in Freiburg der Tambour seine Kameraden zum
+Zapfenstreich herausschlägt und der zum Hobisten degradirte Ritter auf des
+Schusters bescheidenem Rappen in den prosaischen Kasernennothstall
+zurücksprengen muß! ... Der Straßenbasche trägt nichts Ritterliches und
+Knappenhaftes an sich, die Rosa bleibt ein ehrliches, gutes, doch plumpes
+und grobfühlendes Landmädchen, nur der große Trommelschläger versteht
+vollkommen Benedicts Seufzen, Fühlen und Denken, theilt dessen romantischen
+Weltschmerz; noch mehr, der Trommelschläger hat viele Bekanntschaften in
+der höhern Frauenwelt der Städte gemacht und versichert, neben zahllosen,
+prosaischen, abgeschmackten Klötzen gebe es unter den Dienstmägden und
+Bürgertöchtern zarte, empfindsame Seelen, der treuesten Minne würdig und
+von der anmuthigsten Hingebung!</p>
+<p>Geht der Duckmäuser über den Karlsplatz oder in den romantischeren
+Alleegarten, wo die Ritterfräuleins mit zarten Früchten der Minne sitzen
+und wandeln, dann richtet er sich stolz empor, nimmt das Schwert unter den
+Arm, schreitet mit Ritterschritten eines Niebesiegten an denselben vorüber,
+nicht ohne ihnen züchtige und minnigliche Blicke zuzuwerfen und ist voll
+Liebessehnen und Seligkeit! ... Wie oft steht er auf dem Schloßberge mit
+dem großen Trommelschläger und beide verfluchen die schaale Wirklichkeit,
+in <u>specie</u> den Klotz im Kommandantenhause und die Klötze in der
+Kaserne oder sie träumen von jener Zeit, wo der riesenhafte Münster noch
+nicht gebaut war, auf dem Kippfelsen drüben wohl mancher Lindwurm hauste
+und in der Ebene mannhafte Ritter prosaischen Pfahlbürgern ihren Kram
+abnahmen, dieselben zur Unterhaltung todtschlugen oder in schauerliche
+Burgverließe schleppten! Manchmal wandelt der große Trommelschläger mit
+einer Nymphe des Schwarzwaldes oder der Stadt durch die Auen, neben ihm der
+Duckmäuser mit klopfendem Herzen, unsäglichem Wonnegefühl und tiefer
+Wehmuth! Im Spätsommer bekommt Letzterer wieder einmal Urlaub, fliegt mit
+Ritterfräuleins liebestrunken in das Rheindorf, dessen schaale Wirklichkeit
+ihn ein bischen stark langweilt und bald zieht er durch das Land, um wo
+möglich irgend eine Burg und Abenteuer aufzutreiben.</p>
+<p>Er wandelt zwar allein herum für prosaische Augen, doch neben sich hat er
+stets die lustige, minnigliche "Itania." Alle Augenblicke breitet diese
+ihre Schwanenarme nach ihm aus, er drückt sie an den Ritterbusen, erklärt
+ihr die Schönheiten der Landschaften und redet von seinen und seiner Gegner
+Burgen, deren hohe Thürme sich in den Silberwellen der Flüsse spiegeln.</p>
+<p>Jeder verwitterte Steinhaufen und jeder epheuumrankte Thurm ist ein Magnet,
+welcher den Hobisten unwiderstehlich die steilsten Berge hinaufzieht und je
+höher er steigt, desto prachtvoller und einladender steht die Burg da im
+alten Glanze, desto lebhafter wird das Freudengetümmel im Schloßhofe und
+jede Distel scheint eine Trompete zu sein, welche dem Längstersehnten, von
+einer bösen Fee Verwunschenen, den Morgengruß einer neuen Zeit
+entgegenschmettert.</p>
+<p>Allenthalben und überall sucht er seinem Ritterthume Ehre zu machen; es
+kann nicht fehlen, der stattliche Bursche in der glänzenden Uniform erobert
+durch sein galantes, edles Benehmen, durch seine gebildet klingenden
+hochtrabenden Reden und durch Schilderungen seiner edeln Abstammung und
+Güter im Sturmschritte das Herz eines Fräuleins und dafür, daß er an keine
+Dulzinea von Tobosa geräth, ist schon gesorgt, weil er nicht in Andalusien
+oder Estremadura, sondern im Großherzogthum Baden und in einem Herbstnebel
+des 19. Jahrhunderts herumfährt! ... Die Erkorene ist freilich kein
+anerkanntes, sondern ein verwunschenes Fräulein, wie deren sogar an den
+Brunnen zu Freiburg und anderswo angetroffen werden, doch wohnt sie nicht
+nur auf einem Berge, sondern bei einer Burg, kann mindestens als Tochter
+eines Burgwartes gelten, der für anlangende Gäste zu sorgen hat und sucht
+sich allseitig über die Wirklichkeit zu erheben. Ist es unmöglich, die
+namenlosen Reize Itanias zu beschreiben, so begnügen wir uns mit der
+Angabe, das Töchterlein des Burgwartes sei ein recht hübsches und lebhaftes
+Kind von 16 Jahren, in Benedicts Augen natürlich die "engelgleiche Itania"
+von Kopf bis zu den Füßen geworden.</p>
+<p>Ein höflicher Vater, eine für Ritterlichkeit zugängliche Mutter, ein
+holdes, schuldloses, zutrauliches und plappersüchtiges Fräulein,
+vortrefflicher Wein, eine Burg vor Augen, ein Feenland am Fuße des Berges&mdash;
+was konnte unserm Ritter zur Glückseligkeit fehlen? Nichts, höchstens ein
+etwas längerer Urlaubspaß.</p>
+<p>Drei Tage voll Seligkeit verlebte er hier; die Seligkeit ward nur Eine
+Stunde gestört, weil ein Hornist seines Regimentes, welcher den Abschied
+genommen und im Heimathsorte am Fuße des Berges sich häuslich
+niedergelassen hatte, gleich einem Gespenst in das Paradies seiner Träume
+hineinstolperte und aus purem Neid über das Minneglück sogar schlechte
+Witze über die Arreste und Zimmerarreste des ehemaligen Kameraden riß.</p>
+<p>Am letzten Abend sah der Mond ein liebendes Paar innerhalb der zerfallenden
+Burgruine, fürchterliche Schwüre ritterlicher Treue hörte die Nachtluft,
+perlende Thränen im Augenpaar Itanias küßte der trauernde Benedict hinweg,
+denn morgen mußte er in die Welt hinaus, den Kampf mit den Tücken des
+Schicksals von Neuem aufzunehmen und nur die Gewißheit, die edelste Perle
+des Landes dereinst zu besitzen, gibt ihm Muth zum Scheiden, Trost im
+furchtbarsten Schmerze.</p>
+<p>Itania lebte auf dem Lande, doch schon ihr Wohnhaus hob sie hoch über die
+prosaische Alltagswelt empor; aus einem "Pensionate" kürzlich
+zurückgekehrt, trug sie noch Hut und Schleier, war ein zartgebautes,
+schlankes und belesenes Mädchen, liebte und verstand Ritterromane, kannte
+die Welt nur durch diese, denn zwei langweilige Religionsstunden
+wöchentlich geben weder Gottes- noch Weltkenntniß; auf diese Weise wird der
+kleine Roman des Hobisten begreiflich und das Unglück lag nur darin, daß er
+es weit ernstlicher mit diesem Romane meinte, als die 16jährige Itania
+selbst und daß es ihm gelang, sich rasch die Gunst der Eltern zu gewinnen.</p>
+<p>Auf dem Rückwege eilt er in sein Heimathdörflein, jedoch nicht, um das Grab
+der Mutter oder die Herzkäfer der alten Schwitt zu besuchen, sondern um den
+Vater zu drängen, damit ihm dieser augenblicklich 50 Gulden vom
+mütterlichen Vermögen herausgebe, welche er binnen einem Jahre
+zurückzuzahlen schwört. Jacob macht ein gar bedenkliches Gesicht, will
+wissen, wozu das Geld dienen solle und zudem hat er fast keines im Hause,
+doch der Duckmäuser weiß den Alten so zu täuschen und zu bereden, daß
+dieser noch in der Nacht den schweren Gang zum alten Liebhardt macht, die
+Summe holt und dem Sohne gibt.</p>
+<p>Kaum graut der Morgen, so eilt Benedict aus dem Dörflein, macht zuweilen
+Sätze wie ein Hirsch und kommt richtig wieder in seine Kaserne, wo er kaum
+erwarten kann, bis der große Trommelschläger aus dem Arrest erlöst wird, um
+diesen in das Geheimniß seines Glückes einzuweihen.</p>
+<p>Außer dem Kapellmeister und Benedict haben nämlich gerade alle Musikanten
+des Regimentes Strafen auf dem Hals, weil sie bei einem gemeinsamen
+Ausfluge Gelegenheit bekamen, ohnentgeldlich gut zu essen und beliebig zu
+trinken, des Guten zu viel thaten und deßhalb von der Ironie des Schicksals
+dahin gebracht wurden, sich auf dem Heimwege gegenseitig mit Fäusten und
+Säbeln zu belehren.</p>
+<p>Die innere Seligkeit treibt den Duckmäuser in das Gewühl des Wochenmarktes
+und wider Erwarten findet er hier das Rosele, welches ihm einen
+freundlichen Morgengruß entgegensendet, der von ihm gar kühl und betreten
+erwiedert wird.</p>
+<p>"Weßhalb so trotzig heut'? Bist bös mit mir oder was ist mit dir?"</p>
+<p>"Muß ich dir Alles sagen? Bin ich unter deiner Oberherrschaft, so daß ich
+über mein Verhalten Rechenschaft abzulegen habe?"&mdash;"Ei, ei, so gefällst du
+mir, wenn du auf diese Weise anfängst? Womit habe ich denn das verdient?"</p>
+<p>Benedict kehrt dem armen Mädchen den Rücken, plaudert mit der
+Sergeantenfrau, welche ihm die Hemden wäscht, kauft dann in Rosas Nähe
+einige Rettige und verschwindet im Gewühle.</p>
+<p>Am folgenden Tage Abende bringt ihm eine Frau einen Brief vom Rosele voll
+zärtlicher dringender Bitten um Aufschluß über sein befremdendes und
+kränkendes Benehmen, voll liebreicher Mahnungen und gutgemeinter Warnungen.
+Benedict sagt der Ueberbringerin einen Ort, wohin er am Sonntage kommen und
+die Antwort mitbringen werde.</p>
+<p>Richtig kommen Beide zusammen, er gibt dem Rosele einen Brief, sagt Adje,
+kehrt eilig um und rennt fort, ohne auf das Nachrufen des staunenden
+Mädchens zu hören, welches den Brief sofort erbricht, liest und mit
+zitternden Knieen beinahe zusammenbricht.</p>
+<p>Er lautet also:</p>
+<p>"Rosa! Du weißt, wie man mich seit Langem hier gehalten hat und nun habe
+ich die sicherste Nachricht erlangt, daß Du und nur Du die einzige und
+alleinige Schuld daran bist. Will ich mein Loos ändern, so muß ich Dich für
+immer meiden, was ich um so lieber thue, weil ich glauben darf, Du seiest
+nicht die bisher vermeinte fromme Rosa, sondern eine Schmeichlerin voll
+Falschheit und Trug. Besuche mich nicht, ich werde Dir fortan nur mit
+tiefer Verachtung begegnen. Glaubst Du Forderungen an mich zu haben, so
+schreibe Alles genau auf und schicke mir die Rechnung, ein anderes
+Schreiben werde ich nicht annehmen oder ungelesen zerreißen.</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Hobist Benedict."</p>
+<p>Die edle Rosa ist des Schreibers Schutzgeist gewesen; noch vor acht Tagen
+war sie mit dem Straßenbasche beim Oberst und Kapellmeister und legte ein
+gutes Wörtlein für den wahrhaft Geliebten ein, sie hat ihn aus einem
+liederlichen Sauhirten zu einem Menschen gemacht, mit Güte und Wohlthaten
+überhäuft und&mdash;dann den Lohn der Welt empfangen, der sie vernichten würde,
+wenn sie nicht um Gottes und der unsterblichen Seele des Benedict willen
+gehandelt hätte.</p>
+<p>Gott meinte es wohl mit Rosa, als Benedict es böse meinte.</p>
+<p>Er opferte seinen Schutzengel einem Trugbilde und that es auf eine Weise,
+welche uns vollkommen an ihm irre machen müßte, wenn nicht ein geheimer
+besonderer Beweggrund ihn bei Abfassung des Schreibens geleitet hätte.</p>
+<p>Dieses war jedoch der Fall.</p>
+<p>Von Kindesbeinen an strebte er nach der Gunst der schönern und bessern
+Hälfte des menschlichen Geschlechts, das heißt, nach der Gunst der Mädchen
+und Frauen, mit welchen ihn sein Leben in Berührung brachte. Als Schulknabe
+und Unterlehrer beschützte er die Kamerädinnen gegen Rohheiten, half
+denselben in der Schule und bei Schularbeiten, that Alles, um sie angenehm
+zu unterhalten und für sich einzunehmen. Was der Knabe erstrebt und
+gewonnen, wollte der Jüngling nicht einbüßen, sondern erhalten und
+vermehren und hieraus erklären sich großentheils seine Tugenden und
+Verirrungen, jedenfalls seine Nüchternheit, Mäßigkeit, Scheu vor
+Geldspielen und die Sucht, Geld auf alle Weisen und durch alle Mittel zu
+erhalten. Er sparte, betrog, stahl, um seine Rolle als Haupt der
+altmodischen Schwitt behaupten und den Anhängerinnen derselben kleine
+Geschenke und frohe Stunden machen zu können. Wie viele seiner Herzkäfer
+hat er in einer Reihe von Jahren erfreut, welche Opfer hat er oft gebracht,
+um der Margareth, dem Vefele, der Marzell oder einer Andern ein kleines
+Geschenk machen zu können! ...</p>
+<p>Seitdem er in der Montur steckt, ist es die Rosa, welcher er Geschenke
+aufdrängt, um ihr seine Liebe, dem Pflegvater seine Sparsamkeit zu
+beweisen. Er wandelt auf ehrlichen Wegen, muß sich Alles am eigenen Munde
+absparen und wenn die Geschenke auch nur lauter Kreuzer kosteten, so machen
+60 Kreuzer bereits einen Gulden und ein Gulden ist für einen Hobisten schon
+ein Sümmchen.</p>
+<p>Jetzt hat sich der demüthige Hobist zu einem stolzen, mannhaften Ritter
+gruduirt [graduirt], welcher jedem Adjutanten den Fehdehandschuh kühn vor
+die Füße wirft; der Ritter hat bitterlich gespart, um eine Ritterfahrt
+unternehmen zu können, auf dieser Fahrt fand er das Idol, wornach sein
+überhirnter Verstand und sein fieberhaft pochendes Herz dürstete. Die
+holdselige 16jährige Itania winkt im langen Kleide und mit fliegendem
+Schleier von der Burg herab Tag und Nacht dem armen Hobisten in seiner
+Kasernenstube zu. Großartig ist ihm die Einzige entgegengetreten, großartig
+hat der Ritter sich gezeigt, großartig muß das erste Geschenk sein, welches
+er seiner Gebieterin zu Füßen legen will.</p>
+<p>Der Hobist log sehr unritterlich beim Vater, um 50 Gulden zu erhalten, er
+handelte mehr als unritterlich an Rosa, um sich desto ritterlicher gegen
+Itania zeigen zu können. <i>Die Geschenke an Rosa müssen aufhören!</i>&mdash;
+hierin liegt der Schlüssel zu dem herzlosen, lügnerischen und
+niederträchtigen Abschiedsbriefe, welchen er derselben in die Hand drückte
+und dann vom bösen Gewissen getrieben fortrannte.</p>
+<p>Die bisherige Geliebte muß wissen, <i>weßhalb</i> er ihr keine Geschenke
+mehr macht; ein allmäliges Abbrechen und Sparsamwerden würde ihm bei ihr
+und dem Straßenbasche nichts nützen und viel schaden, geschweige daß die
+himmelanstrebende Itania keinen knickischen und knausigen halbgetreuen
+Ritter zu ihren ätherischen Füßen sehen will! ...</p>
+<p>Die 50 Gulden reichen noch zu keinem großartigen Geschenke hin, die
+Ersparnisse bei Rosa machen wenig aus, das ritterliche Einkommen muß durch
+Sparsamkeit und Arbeit vermehrt werden, denn um Unverlornes mit "kühnem
+Griffe zu finden," dazu ist der Benedict doch allzu ritterlich gesinnt und
+allzu prosaisch gewitziget worden.</p>
+<p>Bisher bekam der Tabaksverkäufer monatlich 40 Kreuzer für Tabak, der
+Apotheker 12 für Pomade, die Leihbibliothek 48 für Entzückungen und
+Verzückungen, die Wirthshäuser nur 36 bis 40 Kreuzer, endlich trug er auch
+dem kleinen Liebling der Rosa, nämlich der Johanna und dem Schwesterlein
+des blinden Michel Milchbrödlein und dergleichen Geschenke zu.&mdash;Itania
+winkt vom hohen Söller herab und die bisherige Monatsrechnung des Hobisten
+reducirt sich auf Null.</p>
+<p>Der große Trommelschläger ist noch immer ein lesender Narr, der Duckmäuser
+hat den Rubikon zwischen Idee und Wirklichkeit überschritten und ist zum
+<i>handelnden</i> Narren geworden.</p>
+<p>Er verkauft seine beiden Tabakspfeifen, thut alles, um ja Niemanden zu
+begegnen, mit dem er anstandshalber einen Schoppen Bier trinken müßte,
+unterrichtet mit allem Eifer zwei Damen der Stadt, die seidenrauschende und
+juwelenstrahlende Tochter eines halbverzweifelten Bierbrauers und die den
+hohen Adel durch ihren Aufputz beschämende Primadonna des städtischen
+Theaters auf der Guitarre, musizirt im Orchester des Theaters, wodurch ihm
+die Leihbibliothek mehr als ersetzt wird, endlich schreibt er in jedem
+freien Augenblicke Noten für Damen und Offiziere ab und vermehrt dadurch
+sein Einkommen ganz gewaltig.</p>
+<p>Doch noch nicht genug&mdash;der Benedict verzehrt monatlich nur einen einzigen
+Laib prosaischen Komißbrodes, verkauft 14 andere monatlich um 3 Gulden 30
+Kreuzer; für das Fleisch erhält er jeden Mittag einen Groschen, endlich
+schnürte der Held seinen widerspenstig knurrenden Magen mit einer vom
+Meister Feucht zur guten Stunde erbettelten Binde immer fester zusammen und
+träumt allnächtlich von vollen Humpen und Wildschweinköpfen, welche ihm
+Itania kredenzt und vortrefflich zubereitet.</p>
+<p>Der große Trommelschläger bleibt der Einzige, welcher den Ritter Benedict
+lobt, bewundert, tröstet, die andern Musikanten spotten und lachen oder
+schimpfen beide "Büchernarren" brav aus.</p>
+<p>In der Stadt wurde er von seinen Zöglingen oft eingeladen, Etwas zu
+genießen&mdash;doch ein Ritter ist kein Schmarotzer, läßt sich nur so weit
+herab, zu nippen oder einen einzigen Bissen zu genießen, um den Anstand und
+Ruf zu wahren und sprengt dann hungrig weiter.</p>
+<p>Meister Feucht vom Bodensee aß wie ein Löwe und soff alle sechs Wochen
+trotz einem Urgermanen, blieb dabei spindeldürr und schüttelte jetzt
+unaufhörlich den Kopf, weil Ritter Benedict nicht aufhörte, ganz ordentlich
+und blühend auszusehen.</p>
+<p>Große Affekte und Leidenschaften sättigen auch den Leib, wenn sie Kinder
+des Glückes sind, davon wußte Meister Feucht sammt seinen Kameraden wenig
+oder dachte nicht daran.</p>
+<p>Benedict hielt mondenlang aus, machte sogar eine große Revüe mit und dankte
+Gott, der ihm schon als Knabe die Fähigkeit gegeben zu hungern, um den
+Mädlen Geschenke machen zu können.</p>
+<p>Die Revüe nützte seinem Magen, schadete jedoch seinen Finanzen so gewaltig,
+daß er sich selbst in seinem letzten und wohlfeilen Vergnügen
+beeinträchtigte. Bisher war die Dämmerungszeit sein gewesen; er hatte neben
+dem großen Trommelschläger tiefergreifende, sehnsuchts- und wehmuthsvolle
+Septimen- und Mollakkorde den Lüften anvertraut, um sie der angebeteten
+Itania melodisch zuzuflüstern&mdash;jetzt übernahm er es, zwischen Licht und
+Dunkel Monturstücke, Waffen und anderes Zeug für den Regimentsfourier und
+Verwaltungsfourier zu putzen und erhielt von jedem derselben monatlich
+anderthalb Gulden.</p>
+<p>Nebst einem herzbrechenden und hochbegeisterten Briefe hat er für mehr denn
+fünfzig Gulden Schmuckwaaren an Itanien gesendet, die Antwort voll
+Liebesgluth blieb nicht lange aus, deßhalb nahm er die Gelegenheit wahr,
+kaufte für 36 Gulden Zeug zu einem fräuleinhaften Gewande und sandte es mit
+einem bogenlangen Briefe ab. Er wartet mit fieberhafter Spannung auf
+Antwort, hungert und spart, spart und hungert, denn im Frühling will er die
+Burg besuchen und sich im vollen Glanze eines begüterten Ritters zeigen.</p>
+<h3><a name="8"></a>Itania, das Kasernenhäschen, der Deserteur.</h3>
+<p>
+Der Duckmäuser erhielt wirklich manchen Brief, in welchem Itania mit den
+schönsten zärtlichsten und wohlgesetztesten Worten ihre innigste Liebe und
+unverbrüchlichste Treue gegen ihn ausdrückte. Hundertmal des Tages zog er
+diese Briefe aus der Brusttasche, küßte und las sie und las sie noch
+einmal, bevor sie eingesteckt wurden. Der große Trommelschläger las
+Itaniens Briefe auch und wenn er von Itanien anfing, dann hafteten
+Benedicts Augen auf ihm, wie die eines Schwerkranken auf dem Arzte und
+beide überlegen, welche Geschenke an Neujahr der Huldgöttin zu Füßen gelegt
+werden sollten.</p>
+<p>Eines Morgens kommt der Glückliche vom Exerzierplatze heim, da erscheint
+der Briefträger, um ihm zu sagen, es sei ein Päcklein für ihn da und er
+möge es in seiner Wohnung holen. Eiligst geht er mit, erkennt Itanias Hand
+auf der Adresse, unterschreibt den richtigen Empfang, fliegt zurück ins
+Compagniezimmer und öffnet das Päcklein mit zitternder Hand, denn er
+erwartet das wohlgetroffene Bildniß wohleingewickelt zu finden, um welches
+er das Burgfräulein zu bitten wagte, und ein artiges Gegengeschenk.</p>
+<p>Doch&mdash;schreckensstarr und todtenblaß steht er da, denn all' seine Geschenke
+sieht er wohlgeordnet vor seinen Augen, glaubt zu träumen und aus seinem
+überirdischen Frühling plötzlich in den trostlosesten badischen
+Altweibersommer hineingeworfen zu werden! ...</p>
+<p>Meister Feucht streicht seinen Fuchsbart und lacht wie ein Spitzbube, der
+erste Fagotist schleicht hinter den schier zusammensinkenden Benedict und
+schaut hinter dessen Rücken in folgende Hiobspost hinein:</p>
+<p>"Freunt! Vergebe sie mer, wenn ich ihne mit diesem Schreiben und dem
+Zurikgeben des Bagets duschieren sollte. Sie seind mir lieb und werth, aber
+ich will, kann und darf Nix von Ihne wisse, meine Ehre erlaubt es nicht,
+denn wir wissen Alle sehr genau, daß Sie wegen schlechter Aufführung
+öffentlich bekannt geworden, mußten aus dieser Ursach das elterlich haus
+verlassen und stehen beim Regimend auch nicht in guter Haltung. So seind
+unsere genauesten Erfahrnisse. Ich bitte daher, kommen Sie mir zu Liebe ihr
+Lebtag nicht mehr auf die Burg, denn ich gebe mich durchaus in keiner
+Beziehung mit einem so schlechten Basaschier ab und schäme mich genug, nur
+Wohlgefallen an ihne gehabt zu haben.&mdash;Das Present aber (Gott was haben wir
+für Angst gehabt, bis es wieder aus unserm Haus), so große Freid ich daran
+hatte, könnte ich nicht behalten, weil ich befirchten mußte, daß es
+gestolenes Gut sei. Nehme Sie es daher wieder und geben Sie es Einer, die
+mit ihne gleich gesinnt ist, sonst schlagt mich der Vater tod, was übrigens
+nicht nöthig ist.</p>
+<p>Mit durchdolchter Liebe und bleibender Achtung bin ich in Eile</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;ihnige ehemalige treue Itania."</p>
+<p>Der Duckmäuser zittert vor Schrecken, Wuth und Schmerz, vermag weder zu
+reden, noch zu denken und zu handeln, sitzt wie ein Sterbender auf seinem
+Bett, bleibt etwa eine Stunde sitzen, dann zerreißt er den Brief in hundert
+Fetzen und zermalmt (der große Trommelschläger hat denselben abgeschrieben,
+um der staunenden Nachwelt einen Beweis der Herzlosigkeit unseres
+tintenkleksenden Saeculums zu geben!) die Fetzen zu Staub, ballt die Fäuste
+und knirscht. <i>"Warte, Karnali, du sollst's büßen!"</i> Mit diesen Worten
+dachte er an Rosele, denn er glaubte, diese habe aus Rachsucht nach der
+Burg geschrieben und Alles verrathen.</p>
+<p>Der Seidenstoff war unter Itanias zarten Händen bereits zu einem
+Weiberrocke geworden, der Hobist packt denselben zusammen, um ihn einer
+Nätherin zu verkaufen. Hier trifft er mehrere junge Mädchen, schämt sich,
+ein Kleid auszukramen, geht unverrichteter Sache wieder fort, tritt in ein
+Bierhaus und die Kellnerin, ein etwas verblühtes doch hübsches Mädchen
+meint:</p>
+<p>"Das ist ein Wunder, daß Sie allein kommen und dazu noch an einem Werktage.
+Haben Sie sich heute verirrt?"&mdash;"Ich denke, es wird noch Mancher bei
+Straßburg über die Brücke gehen, ohne von Ihnen gesehen zu werden!"&mdash;"Um
+Vergebung, habe ich <i>den Herrn Ritter</i> etwa beleidiget?"&mdash;"Nein,
+durchaus nicht, gnädiges Fräulein, ich bin nicht so leicht zu beleidigen!"</p>
+<p>Das Wort "Herr Ritter" hat die Gemüthsstimmung des Duckmäusers plötzlich
+verändert, er fängt ein langes freundliches Gespräch an, trinkt Bier dazu,
+überzeugt sich, daß die Kellnerin Agatha eine ganz gewaltige Romanenleserin
+gewesen sein muß, sich trotz dem duftendsten Ritterfräulein zu benehmen
+weiß und&mdash;schon am andern Tage bringt er derselben Itanias Gewand und alle
+Kostbarkeiten dazu als Weihnachtsgeschenk, beredet sie, das prosaische
+Bierhaus aufzugeben und einen gemächlichen Dienst zu suchen, dabei weniger
+auf Lohn, denn "auf gute Behandlung" zu sehen.</p>
+<p>Der große Trommelschläger war überzeugt, Itanias Brief sei ein Blendwerk
+der Hölle, ein Zwangsbrief und der Ritter könne durch einen neuen Brief
+wieder zu Ehren kommen, die Geliebte vielleicht aus unsäglichen Gefahren
+befreien, doch Agatha versteht es, den Benedict zu bezaubern und zu
+fesseln, in jeder Hinsicht die Seinige zu werden!</p>
+<p>Alles Arbeiten und Sparen hörte plötzlich auf, der Held war wenig mehr in
+der Kaserne, verlor Zeit, Geld und noch weit mehr bei der Agatha und diese
+benutzte die Gelegenheit vortrefflich, ihn in jeder Beziehung auszusaugen.
+Itanias Gewand und Schmuck taugte nicht zu ihren bescheideneren Kleidern,
+schöne Worte und Liebkosungen bewogen den Ritter, sie als Burgfräulein
+vollständig und standesgemäß zu equipiren, sein Geld flog weg wie Spreu,
+zum Arbeiten bekam er keine Zeit mehr und verlegte sich in der Raserei
+seiner durch die beständig gereitzte Sinnlichkeit aufgestachelten
+Leidenschaft auf&mdash;kühne Griffe, wobei ihn das Glück außerordentlich
+begünstigte, so daß es wieder Spätjahr wurde, ohne daß er
+Unannehmlichkeiten bekam.</p>
+<p>Uebrigens mußte Vater Jacob nicht nur erleben, daß die 50 Gulden, die er
+von Liebhardt geliehen, nicht mehr zurückkamen, sondern auch, daß sein
+ritterlicher Sohn häufig in der Nacht ins Dörflein kam und am Morgen mit
+einem Theile des mütterlichen Vermögens von dannen zog, dabei den
+Säbelgriff selten aus der Hand ließ.</p>
+<p>Nach der großen Revüe machte Ritter Benedict eine Luftfahrt mit Fräulein
+Agatha, verschwendete in 3 Tagen 20 Kronenthaler theils auf Rechnung seines
+Vermögens, theils auf Regimentsunkosten.</p>
+<p>Ein sogenannter Zufall ließ ihn während der Luftfahrt entdecken, die
+Tieffühlende und Hochpoetische habe schon vor Jahren als zartsinnige
+Jungfrau der badischen Regierung ganz unberufen zwei kleine Unterthanen
+geschenkt und sei unter dem Namen "Kasernenhäschen" bekannt gewesen. Solche
+unromantische Enttäuschung bewirkte, daß in grimmem Zorne der Ritter der
+bisher Angebeteten den Fehdehandschuh ins Gesicht schleuderte, ohne die
+Hand vorher aus dem Handschuhe herauszuziehen und dieselbe auf dem Wege
+verließ.</p>
+<p>Sein Urlaub lautete auf 8 Tage und weil nach 3 Tagen sein Geldbeutel leer
+geworden, hätte er in die Garnison zurückkehren sollen.</p>
+<p>Er that es nicht aus drei triftigen Gründen, nämlich erstens aus
+Liebesschmerz, zweitens aus Furcht vor einem Wauwau beim Regimente, der ihm
+gar bange Ahnungen machte und drittens aus Furcht vor der Zukunft, weil
+eine Hauptquelle seines Einkommens, sein mütterliches Vermögen, vom
+hartnäckigen Vater Jacob verstopft worden war.</p>
+<p>Nachts kommt er in das Rheindörflein, wo Rosa wohnt und wo er als Knecht
+des Saumathis so glücklich gelebt hat; er will in den Adler, da begegnet
+ihm sein alter Freund und Gutthäter, der Straßenbasche, packt ihn am Arm
+und zwingt ihn, mit ihm zu gehen. "Was hat's Rosele verbrochen, daß Du sie
+so verächtlich von Dir stießest?&mdash;Warum kannst Du so gegen uns sein, was
+haben wir Dir zu Leide gethan?&mdash;Bist Du denn nicht mehr unser Freund? Mein,
+wenn Du wüßtest, was alle Leute sagen!"&mdash;fragt und klagt der alte
+Unteroffizier, doch hartnäckig bleibt der Duckmäuser dabei, Rosa sei an
+allem Unheil Schuld, was ihm beim Regimente zustieß und wodurch jetzt sein
+Glück für immer zerstört sei!</p>
+<p>Mutter Clara weiß gar nicht, was sie für ein Gesicht machen, geschweige was
+sie reden soll, das Rosele sitzt neben ihr auf der Ofenbank, bringt vor
+Schluchzen und Weinen keine Silbe hervor, endlich geht er zur Thüre hinaus,
+läßt jedoch seine Kappe auf der Bank liegen. Rosa steht jetzt auf, geht ihm
+nach und hält ihn fest:</p>
+<p>"Wo willst jetzt hin?" fragt sie seufzend und schluchzend.</p>
+<p>"Fort, so weit als die Welt offen steht, um Dir aus den Augen zu kommen!"
+schnauzt er und will sich trotzig losreißen; sie hält ihn aus Leibeskräften
+fest und weil er alle Fragen unbeantwortet läßt, will sie nur das Einzige
+wissen, was er denn Schlechtes von ihr gehört habe, er möge es ihr
+unverhehlt ins Gesicht sagen.</p>
+<p>Er bleibt stumm, sie erinnert an das Leben im Heimathsdörflein, an
+Jugendzeit und Schuljahre, an die Zeit seines ersten Jahres bei den
+Soldaten, an die Kirchweihe und will Alles thun, um ihn von Neuem zu
+bessern, will ihm all ihr Geld freudig geben und zwar eine Summe, welche
+ihn mehr als gerettet hätte, doch er brummt: "Hab Deine paar Groschen nicht
+nöthig, behalte Du sie nur, Du wirst sie einmal nöthiger brauchen können!"
+reißt sich von seinem weinenden Schutzengel los und verschwindet in der
+finstern Nacht.</p>
+<p>Weil sein Urlaubspaß noch gültig war, hinderten die Zollwächter seine Fahrt
+über den Rhein nicht, zumal im nächsten französischen Dorfe gerade die
+Kirchweihe gefeiert wurde, wobei badische Gäste selten fehlen.</p>
+<p>Wir finden den Deserteur am andern Abend todesmüde vom Umherirren im
+"grünen Baum" zu "Wanzenau," einem etwa zwei Stunden von Straßburg
+entfernten Dorfe.</p>
+<p>Der Wirth, ein braver, als Elsässerfranzmann gegen "Deutschländer"
+pflichtgemäß ein bischen eingenommener Mann, hat nicht nur den Deserteur
+gern ins Haus aufgenommen, sondern sich von dem Schlaukopfe auch einen
+stattlichen Bären auf die Nase binden lassen.</p>
+<p>Der Hobist behauptete, auf den Rath seiner Angehörigen desertirt zu sein,
+um dadurch 50 Rohrhieben und dem sichern Tode zu entgehen, was ihm Alles
+wegen eines zerbrochenen Säbels drohe. Er habe nämlich bei einer Kirchweihe
+in einem badischen Dorfe aufgespielt, sein Säbel hatte an der Wand
+gehangen, die Tänzer hätten vorigen Dienstag eine schwere Schlägerei
+angefangen, sich seines Säbels bemächtiget, Verwundungen damit angerichtet
+und zur guten Letzt die Waffe gar zerbrochen. Am Mittwoch hätten die
+verhafteten Bursche von keinem Säbel Etwas wissen wollen, der Wirth habe
+geradezu geläugnet, vom Benedict einen solchen zum Aufheben bekommen zu
+haben, somit bleibe die "ganze Schmier" an ihm hängen und seine einzige
+Rettung, in Frankreichs großmüthigen Armen Schutz zu suchen! ...</p>
+<p>Den Wirth zum grünen Baum, zugleich Maire des wohlhabenden Ortes hat das
+Klarinettblasen des Duckmäusers dermaßen entzückt, daß dieser sein und gar
+rasch der Liebling der ganzen Dorfjugend geworden ist. Am Tage arbeitet er
+auf dem Felde, es kommt ihm sauer genug an, nachdem er so lange nur auf
+Kasernenbrettern herumrutschte, doch vergibt er dem deutschen Fleiß nichts
+gegenüber der französischen Landeskraft, Abends macht er in einem großen
+Saale, worin unter Tags die hübschen Elsässerinnen mit ihren hellen
+Aeuglein Welschkorn abschleizen, Musik und verdient schweres Geld.</p>
+<p>Alles geht vortrefflich, er läßt sich gerne neckend "Schwob" oder
+"Gelbfüßler" nennen und denkt nicht ans Heimgehen, sondern an eine große
+Hochzeit, welche einer der reichsten Bursche des Departements (die
+Stadtherren freilich ausgenommen) hier feiert. Diese Hochzeit lockt sehr
+zahlreiche Gäste herbei, währt drei Tage, der klarinettblasende Ritter
+hätte sich in Wein und Bier ersäufen können, wenn er gewollt hätte, doch er
+will dies nicht und aus guten Gründen. Der "große Maier," ein Schuster des
+Dorfes, der kürzlich von seinem Cuirassierobersten beurlaubt wurde, will
+dem armen Deserteur zeigen, daß er sich jetzt unter Franzosen befinde und
+veranstaltet eine Collecte, welche so bedeutend ausfällt, daß der Benedict
+ganz leicht ins Badische hätte zurückgehen und als ehrlicher Mann auftreten
+können, wenn er nur gescheidt gewesen wäre.</p>
+<p>Doch sein Hochmuth läßt's ihm nicht zu; bereits vor der Hochzeit haben ihn
+der große Maier, der Allis, der Stegenklemens, der Rappenschorsch und
+Andere liebgewonnen und wenn das Schwitzen auf den Aeckern nicht wäre,
+würde er wohl beim Wirth zum grünen Baum sein Lebenlang bleiben können!</p>
+<p>Während der Hochzeit wimmelt es im Wirthshause vom Dache bis zum Keller von
+Gästen, das ganze Rathhaus ebenso, die 5 Musikanten kommen gar nicht mehr
+zum Athmen, der lederne Instrumentenbeutel voll Franken und
+Fünffrankenthalern bleibt ihr einziger Trost, der Benedict aber macht der
+deutschen Musik unglaubliche Ehre.</p>
+<p>Man muß französische Musik mit deutscher verglichen haben, um dies leicht
+zu begreifen, denn Musikanten und Sänger sind die Franzosen nicht, lieben
+jedoch Musik und Gesang enthusiastisch und&mdash;Elsässer wollen in Allem
+Franzosen sein.</p>
+<p>Ein Friedensrichter wurde durch die "dütschen Walser" des Deserteurs
+dermaßen begeistert, daß er sofort mit dem Wirthe ausmacht, er soll den
+"Schwob" nach der Hochzeit zu ihm senden, er werde dann denselben nach Metz
+bringen und mit Hülfe seines Bruders, des Majors zu einem Hauptmusikanten
+des 35. Regimentes machen.</p>
+<p>Doch Alles sollte anders kommen, der Duckmäuser in keine französische
+Uniform, sondern in einen germanischen Zuchthauskittel schlüpfen!</p>
+<p>Am 4. Tage machten die Buben und Mädlen die üblichen Hochzeitspossen und
+Umzüge, die Musikanten mußten überall voranschreiten, die Lustigkeit währte
+tief in die Nacht und der dienstfertige Benedict suchte dieselbe auch auf
+andere Weise denn durch seine Klarinette zu erhöhen.</p>
+<p>Er hatte in der Heimath einmal zugesehen, wie der Max in einer Scheune
+seiner rothen Schwitt eine katholische Messe las und unternahm jetzt
+dasselbe vor einem großen Haufen junger Leute. Still und lautlos sahen ihm
+Alle zu bis zur Communion, wo er bei Nachäffung des kelchtrinkenden
+Priesters beinahe erstickte. Jetzt erhob sich ein fürchterliches Toben,
+Lärmen und hundert Stimmen riefen: "Meinst, wir seien lutherisch, Du
+Schwob!&mdash;Schlagt den Schwob tod!"[tod!]&mdash;Nieder mit dem Ketzer!"</p>
+<p>Der lange Maier streckt den Dorfhanswurst mit einer einzigen Ohrfeige der
+Länge nach auf den Boden, die Zunächststehenden fallen über ihn her, sie
+hindern sich gegenseitig durch ihre Anzahl im Zuschlagen und er würde
+sicher nicht lebendig davon gekommen sein, wenn nicht der alte Geistliche
+sammt dem hochgeachteten Notar des Ortes zu seiner Hülfe herbeigeeilt
+wären. Sie nahmen sich seiner barmherzig und kräftig an, die Fäuste ließen
+ihn los, die Bursche und Männer tobten und lärmten nur noch bunt
+durcheinander.</p>
+<p>Zu dem bleichen, zitternden Deserteur sagt der Adjunkt von Killstett. "Wir
+wissen wohl, daß bei Euch drüben die Geistlichen nur Vormittags eine Stunde
+geistlich, die übrige Zeit des Tages aber weltlich sind und daß ihr
+Gelbfüßler alle lutherisch seid, doch bei uns kommt ihr mit solchen Späßen
+nicht an!"</p>
+<p>Alle Freundlichkeit und Liebe gegen den Duckmäuser hat ein Ende, das
+Brautpaar läßt den Hochzeitgästen und Musikanten sagen, sie möchten den
+"gottlosen Schwob" ja nicht mehr ins Hochzeitshaus bringen, Gott könnte
+ihnen keinen Segen schenken, wenn sie einen solchen Menschen wissentlich
+unterhielten. Der große Maier macht bereits wieder Augen wie Pflugräder,
+die Gesichter Anderer verkündigen einen neuen Sturm, der ehrwürdige Pfarrer
+muß die Aergsten abermals beschwichtigen, Benedict sucht ängstlich
+Gelegenheit zum Fortkommen, findet solche und kommt mit einigen Tritten und
+Stößen glücklich ins Freie.</p>
+<p>Doch eilt er nicht sofort aus Wanzenau weg; der volle Instrumentenbeutel
+hält ihn fest, er getraut sich nicht zurückzukehren und seinen Antheil zu
+fordern, weil er im Dunkeln oder beim Wiedererscheinen gar zu leicht den
+verdienten Lohn für sein Messelesen ernten könnte; die Theilung des Geldes
+unter den Musikanten sollte erst am Ende der Hochzeit vorgenommen werden,
+somit befindet er sich in einer recht mißlichen Lage und klettert zunächst
+auf einen Baum, wo er sicher vor Entdeckung und im Stande ist, seine
+Gedanken zu sammeln. Er wartet bis die meisten Leute wieder zum Rathhause
+zurückgekehrt sind, klettert alsdann vom Baume herab, paßt eine gute
+Gelegenheit ab, schleicht trotz einiger nachläßig gewordener und theilweise
+betrunkener Aufpasser ins Haus zurück, erobert in der Geschwindigkeit nicht
+blos seinen Lohn, sondern den ganzen schwergefüllten Instrumentenbeutel und
+macht sich dann eiligst aus dem Staube.</p>
+<p>Jedoch noch nicht über die letzten Gärten und Häuser des Dorfes
+hinausgekommen, vernimmt er bereits Allarm, hört auf allen Seiten schreien
+und hinter sich einige Verfolger, darunter den großen Cuirassier, der
+ungeheure Sätze macht und seinen Sarras unter schrecklichen französischen
+und elsässischen Flüchen schwingt.</p>
+<p>Hat ein Romanenheld jemals den Silberschein des Mondes in die unterste
+Hölle verflucht, so ist dieser der Benedict gewesen, während der
+nächtlichen Galoppfahrt aus Wanzenau. Gleich einem Riesen der fabelhaften
+Vorzeit schreitet der große Maier mit blitzendem Pallasch brüllend durch
+die Mondnacht, hinter ihm quicken die gewöhnlichen, diesmal außergewöhnlich
+erbosten Menschenkinder, jede Sekunde erhöht die Todesangst des
+galloppirenden Benedict, denn jede Secunde bringt die Feinde näher und
+vermehrt deren Zahl, schon hört er die schweren Athemzüge des keuchenden
+Riesen, schon schwingt dieser die furchtbare Waffe und gebietet dem
+"Spitzbuben" Halt auf Leben und Tod&mdash;im entscheidenden Augenblicke läßt
+Benedict den schweren Instrumentenbeutel klirrend fallen, der Riese bleibt
+stehen, der Verfolgte jedoch stürzt sich verzweifelnd in die Brisch, welche
+breit und tief genug ist, um mit Dampfschiffen befahren zu werden, die
+Todesangst verzehnfacht seine Kraft und glücklich erreicht er das
+jenseitige Ufer.</p>
+<p>Drüben stehen die Verfolger, der große Maier ist im Besitze des
+Instrumentenbeutels, man findet es nicht mehr der Mühe werth, den Deserteur
+anders denn durch Schimpfnamen und Verwünschungen zu verfolgen, von denen
+dieser bald nichts mehr hört, weil er triefend doch wohlgemuther auf's
+Gerathewohl vom Flusse ins Land einwärts läuft.</p>
+<p>Mit Tagesanbruch kommt er in ein Dörflein, sein Geldbeutel ist auch ohne
+den Instrumentenbeutel ordentlich gespickt, im Wirthshause legt er sich
+sofort ins Bett, schläft volle 36 Stunden; seine Kleider sind indessen
+getrocknet, Nöthiges schafft er an, wandert nach Straßburg "der
+wunderschönen Stadt," meldet sich auf der Mairie nach Algier, wird von da
+auf die Praefektur, von hier zum Rekrutirungskapitain, von diesem mit einem
+Schreiben zu einem Komissaire beim Metzgerthor geschickt. Das Schreiben muß
+ein Uriasbrief gewesen sein, denn der Komissaire ließ den verwunderten
+Duckmäuser in den Neuthurm führen und hier volle 23 Tage Betrachtungen über
+die Artigkeit und Zuneigung französischer Behörden gegen deutsche
+Deserteurs anstellen.</p>
+<p>Nach dieser Frist ward unserm Helden eröffnet, bis auf weitere Ordre werde
+Niemand nach Algier angeworben, somit müßte er die Reise nach Afrika
+aufgeben; verstehe er jedoch ein Handwerk, so erhalte er einen für ganz
+Frankreich gültigen Paß, widrigenfalls nur einen Paß in die Schweiz oder
+über die Kehlerbrücke.</p>
+<p>Weil er kein Gewerbe erlernt hatte, begnügte er sich seufzend mit einem
+Passe nach der Schweiz, wurde freigelassen, ging in den rothen Löwen und
+setzte sich etwas tiefsinnig hinter ein "Kännle" Bier.</p>
+<p>Hier zieht er seinen Paß hervor, studirt vergeblich an dem französischen
+Geschreibsel herum, möchte es ums Leben gern verdeutschen, flucht im besten
+Deutsch leise vor sich hin, bis ein Herr, der in der Nähe sitzt und sich
+nicht schämt, ein deutsches Wort zu sprechen, welche Schaam bei manchem
+Philister der guten alten Reichsstadt Straßburg gefunden wird, ihm endlich
+aus der Noth hilft. Dieser Herr setzt einen Nasenklemmer auf die nach
+altdeutscher Sitte riechende Kupfernase, steckt dieselbe tief und gründlich
+in den Paß und eröffnet dem erschreckenden Hobisten, daß er mit diesem
+Passe nicht weiter als bis Basel komme, von dort aber nach Deutschland
+ausgeliefert werde, weil in dem Passe bemerkt wäre, er sei ein Deserteur.</p>
+<p>Solch' ächtwälsche Hinterlist empört den aufrichtigen Duckmäuser ganz
+gewaltig; er beschließt im Zorn, sich den Weg nach Basel zu ersparen und
+gleich über die Kehlerbrücke zu spazieren, wo ein Häuflein alter
+Waffengefährten stets zu finden, doch der Herr bemerkt, es sei noch nicht
+aller Tage Abend und etwa um 20 Fränkchen ließe sich wohl auch noch ein
+anderer Paß auftreiben.</p>
+<p>Der Duckmäuser geht den Handel ein, zahlt die 20 Franken in der Freude
+seines Herzens, macht aus dem alten Uriasbrief Fidibus und dämpft ein
+halbes Dutzend kölnische Pfeifen, während er die Rückkehr des Herrn mit dem
+neuen Passe erwartet. Erst als Abends die Lichter im rothen Löwen
+angezündet werden, geht unserm Helden auch ein Licht auf, doch ein ziemlich
+düsteres; er stolpert durch die Stadt und Wälle bis zum Denkmal des wackern
+Generals Defaix und weiß nicht, ob er sich in den "freien, deutschen Rhein"
+stürzen und dadurch allen Verfolgungen und Gefahren des Erdenpilgerlebens
+entgehen oder über die Brücke wandern und gute Miene zum bösen Spiel machen
+soll.</p>
+<p>Nachdenklich setzt er sich auf einen Stein, schaut nach dem fernen
+Schwarzwalde hinüber und träumt melancholisch von Itanien, bis ihn ein
+kleiner Mann anredet und seinem Geschicke eine neue Wendung gibt; leider
+schlägt dieselbe abermals zum Unheile und diesmal zum größten alles
+erdenkbaren Unheiles aus.&mdash;</p>
+<p>Bis hieher mag unsere Erzahlung gehen, den weitern Verlauf mag der Held
+derselben selbst erzählen, weil wir jetzt doch wissen können, wen wir vor
+uns haben und in das Zuchthaus zurückkehren müssen.</p>
+<p>
+ * * * * *</p>
+<p>
+Die Nacht hat ihren sternbesäeten Schleier über die wunderliebliche
+Landschaft ausgebreitet, durch welche das Auge manches kranken Gefangenen,
+der sich an einem der Fenster des Krankensaales der warmen Sonnenstrahlen
+freute, sehnsüchtig und träumerisch hinschweifte.</p>
+<p>Im Krankensaale, worin heute der Duckmäuser einzelne Abschnitte seiner
+Geschichte mit vielen Verbesserungen und Verzierungen einigen Mitgefangenen
+zum Besten gegeben, brennt nunmehr eine Laterne und vertheilt Licht und
+Schatten ohne alle Rücksicht auf Kranke und Hausordnungen ziemlich
+unzweckmäßig.</p>
+<p>Von der Außenwelt vernimmt das Ohr nur noch den regelmäßigen Schritt der
+Hofwachen, zuweilen ein fern vorüberfliehendes Rollen der Kutschen oder die
+muntern Lieder der Fidelen, welche in der nächsten Brauerei des Lebens
+Unverstand mit und ohne Wehmuth genießen und wacker Bier dazu kneipen.</p>
+<p>Im Krankensaale dagegen hat die Nacht manche Unterbrechung der tiefen
+Stille zu verdoppeln. Das Murmelthier schnarcht seinen kellertiefen
+Grundbaß, der Seeräuber versucht von Zeit zu Zeit mit einem
+ohrenzerreißenden Tenor einzufallen, der Exfourier flucht zuweilen leise
+zuweilen laut über die Störenfriede, welche ihn nicht einmal an seine
+Braune denken, geschweige einschlafen lassen, der Wirthssohn beneidet die
+tiefen, schweren Athemzüge einiger genesenden Nachbarn und wälzt sich
+ruhelos im Bette hin und her, die Auszehrenden hüsteln und ächzen, ein
+Fieberkranker phantasirt von einem Amtmanne mit krummer Nase und scharfen
+Klauen, der Patrik vom Hotzenwald droht von Zeit zu Zeit am Husten zu
+ersticken, der glückselige Donatle lacht im Traume laut auf, der brave
+unermüdliche Krankenwärter spazirt auf Socken aus und ein, denn in der
+nächsten Stube liegt Einer, dessen Laufpaß in die ewige Heimath beinahe
+unterschrieben ist und zum Ganzen gibt der Pendel der Schwarzwälderuhr den
+schwerfälligen, melancholischen Takt.</p>
+<p>Der Duckmäuser schläft auch noch nicht, denn er muß dem Zuckerhannes,
+welchem er Hoffnung auf Genesung und Befreiung eingeredet hat, seine
+Geschichte vollends erzählen.</p>
+<p>Dieser glaubt nicht, den Todeskeim aufgeblüht in der leidenden Brust zu
+tragen, sondern an Genesung und Befreiung und für letztere mindestens
+scheint dem Unerfahrenen kein Strohhalm, sondern eine Schiffsladung von
+Hoffnung vorhanden zu sein.</p>
+<p>Ist nicht am ersten Montage des laufenden Monats als am üblichen Besuchtage
+die Emmerenz vom Hegäu herabgekommen und wie ein rettender Engel vor dem
+Drathgitterfenster des Flechtwaarenmagazins gestanden und hat dem
+ehemaligen Schatz Trost und Muth eingeredet? Erzählte sie nicht voll
+Freuden, der Fesenbauer sei ins Dörflein und zu ihr gekommen und habe
+merken lassen, er bereue die Sünden, welche er gegen die Brigitte begangen
+und das Unglück, welches er über den Hannesle gebracht? Hat besagter
+Fesenbauer nicht geschworen, er gäbe gerne seinen kleinen Finger, wenn er
+damit dem Hannesle aus dem Zuchthause verhelfen könnte? Hat ein reicher
+Bauer kein Gewicht beim Amt, bei der Regierung, den Landständen und beim
+Großherzog und wird das einmal rege Gewissen des Michel wieder verstummen?
+Wird dieser nicht Alles thun, um eine neue Untersuchung einzuleiten und
+wird für seinen Sohn dieselbe nicht gewaltige Verminderung der Strafzeit,
+baldige Begnadigung oder gar sofortige Freilassung zur Folge haben?</p>
+<p>Also sprach die Emmerenz am Besuchtage, ebenso heute morgen wieder der
+Duckmäuser, welcher aufrichtig an die Möglichkeit der Befreiung,
+zweifelhaft jedoch an das Wiederaufkommen seines Freundes glaubt und wie
+sehr haben die hoffnungsreichen Reden der Beiden das kranke Herz des
+kranken Zuckerhannes erquickt!</p>
+<p>Hoffnung und Freude sind für Kranke oft die wirksamsten Arzneien, der
+Zuckerhannes hat's erfahren; er kann vor Aufregung nicht schlafen und hört
+dem Duckmäuser zu, welcher ihm den Rest seiner Geschichte in die Ohren
+flüstert, nämlich seiner auswendigen Geschichte, welche mit dem Eintritte
+ins Zuchthaus schließt, während die inwendige noch nicht in den rechten
+Gang gekommen ist und erst in der Zelle zu Bruchsal dazu kommen wird.</p>
+<p>Jetzt erzählt er vom rothen Löwen zu Straßburg, vom Steine beim Denkmal des
+Generals Defaix, wir spitzen die Ohren und hören weiter Folgendes erzählen:</p>
+<p>"Wie ich so verlassen ohne Paß dahocke und recht betrübt an die Itania
+denke, von der mich sichtbare und unsichtbare Berge trennen, kommt ein
+klein, klein Männle auf mich zu und fragt gar sanft, was ich denn da
+mache?["]&mdash;"Ho Nichts!"&mdash;"Nichts? wenn der Mensch nichts macht so sündigt
+er!"&mdash;"Ja und wenn er Etwas macht, so kommt er in des Teufels Küche, wie
+ist da zu helfen?"&mdash;"Was haben Sie für eine Religion?"&mdash;"Ho, ich bin
+katholisch!"&mdash;"Katholisch? ... armer Mensch!"&mdash;"Ja, ein armer Teufel bin
+ich, doch nicht weil ich katholisch, sondern hier fremd bin!"&mdash;"Hier fremd
+und dort fremd, armer, armer Bruder!"&mdash;</p>
+<p>Kurz, das Männlein fängt ein Gespräch mit mir an, ich merke, daß es sehr
+fromm ist, thue auch fromm, erfahre, er sei kein Straßburger, sondern habe
+blos einen kleinen Spazirgang gemacht, weil er vor lauter Liebe zum Lamme
+oft nicht mehr recht schnaufen könne, wohne mehrere Stunden oberhalb
+Straßburg, heiße Meister März und sei ein vom Herrn mit zeitlichen Gütern
+reichgesegneter Mann, der in diesen Zeiten babylonischer Verwirrung seinen
+Brüdern, welche die "Diener am Worte" und den Herrn Jesum Christum hoch
+hielten, gerne unter die Arme greife, aus zeitlichem Elend und dem ewigen
+Höllenpfuhl errette.</p>
+<p>Natürlich stellte ich mich immer frömmer, Meister März entdeckte mir bald,
+er sei am 5. October 1831 Abends zwischen 5 und 6 Uhr in dem an zeitlichen
+Gütern und gottseligen Seelen so reichen Basel bei Mariot in den Stand der
+Gnade gekommen. So Etwas sollte mir passiren, ich könnte den Gnadenstand
+brauchen! meinte ich und wer mich beredete, nach Straßburg zurückzugehen,
+um zu übernachten und morgen mit ihm heimzufahren, der war mein Meister
+März.</p>
+<p>Derselbe logirte bei einer gottseligen Wittwe in der Nähe des
+Kleberplatzes; ich übernachtete in einem Wirthshause... ich glaube, es hieß
+zum goldenen Apfel! ... und am andern Morgen holte mich Meister März ab und
+freute sich sehr, weil ich just in einer großen Bibel las, die der kleine
+Wicht mir schon am Abend nebst vielen abscheulich langweiligen Traktätlein
+verehrt hatte.</p>
+<p>Er führte ein Wägelchen bei sich und ich sah auf den ersten Blick, daß er
+ein gutes Männlein sei gegen Gleichgesinnte und das Gute oder Schlimme an
+sich trug, alle Leute gleichgesinnt machen zu wollen. Die gottselige Wittwe
+hat ihm viele Bibeln und ganze Päcke erbaulicher Flugschriften mitgegeben,
+auf der Landstraße verschenkte er seine Bibeln an Handwerksbursche,
+Marktweiber, Bauern und Bettler und als ich beim Ausstreuen und Vertheilen
+der Traktätlein half, lächelte er gar lieblich... Stelle dir ein
+hellbraunes Männlein vor, mit zarten Löcklein vor jedem Ohre, das Köpfchen
+etwas zur Seite geneigt, die Augen den ganzen Tag voll Wasser und
+Freundlichkeit, mit bleichen Wangen, einer löschhornartigen Nase, fromm
+verzogenen und selig lächelndem Munde, im ganzen Gesichte kein Härlein
+außer etwa 10 bis 12, welche einen Backenbart vorstellen sollten, ganz
+einfache doch hübsche Kleider und du hast den Meister März, dessen feine
+zarte Händlein eher einem Schulmeisterlein, denn einem Schreiner
+anzugehören scheinen.</p>
+<p>Er redete lauter gottselige Dinge von Zion, Babel, den Freuden des
+Lämmleins, von der Sündhaftigkeit des Menschengeschlechtes, vom Gnadenstand
+der Anhänger des "lieben, einfältigen Evangeliums," vom "treuen
+Gottesmanne" Martinus Luther, vom Antichrist und von der babylonischen Hure
+und ehe ich mit ihm heimkam, wußte ich schon, die Offenbarung Johannis
+werde von uns fleischlichgesinnten Papisten seit 18 Jahrhunderten
+<i>nicht</i> verstanden, doch <i>er</i>, der Meister März und andere
+gottselige Leute, bei denen der heilige Geist täglich sein Absteigequatier
+nehme, wüßten, daß das tausendjährige Reich und die Zerstörung des
+römischen Babel in ganz naher Aussicht ständen und daß der Teufel jeden am
+Schopfe nehmen werde, welcher es zuließ, daß die katholische Abgötterei
+"die Geister gedämpft" habe.</p>
+<p>Er beredete mich unterwegs einen falschen Namen anzunehmen und mich für
+einen von den "römischen Geistlichen schwer verfolgten Freund der Diener am
+Worte" auszugeben, welcher wegen Verbreitung von Schriften der Anhänger des
+lieben einfältigen Evangeliums um sein Brod gekommen sei. Zunächst
+versprach er dagegen, mich in seinem Hause aufzunehmen, das
+Schreinergewerbe, zu welchem ich stets Freude hatte, lernen zu lassen und
+mit allem auszurüsten, was zu einem behäbigen und wohlanständigen Leben in
+Gottseligkeit gehört, wenn ich etwa als einen "Praedestinirten" mich
+erwiese!</p>
+<p>Kannst Dir leicht denken, daß mich Meister März arg langweilte, doch habe
+ich mich stets nach den Leuten gerichtet, diesmal befand ich mich in der
+höchsten Noth, er versprach mir Alles, was ich brauche und der Wein sammt
+dem Likör, welchen er neben seinen Bibeln in der Truhe des Wagensitzes
+hatte und gegen Abend so wacker genoß, daß ich an den Compagnieschneider
+Feucht dachte, setzten mich so ins Feuer, daß ich schon auf dem Wege ein
+geistliches Lied von ihm erlernte, welches er abwechselnd unter Weinen und
+Lachen sang und dessen Melodie ich auf der Klarinette nachspielte. Meine
+Geschicklichkeit entzückte ihn dermaßen, daß er laut weinte, mir die Zügel
+um den Arm band, auf die Knie sank und mit gefalteten Händen die ersten
+Strophen seines Lieblingsliedes sang.</p>
+<p>Es war gut, daß es Nacht war und uns Niemand begegnete, ich blies so
+rührend als möglich und er sang unter Thränen:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Was ist ein Kreuz-Luft-Hühnelein?
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Laßt's auch nur Kreuz-Luft-Putchen sein:
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ein Thierlein, das die Henne reucht,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Mit welcher sich das Lamm vergleicht
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dort bei Jerusalem! ...</p>
+<p>... Auf dem Wege sprach Meister März in keinem Wirthshause ein, doch
+beinahe in jedem Dorfe saß eine gottselige "Schwester", welche mit ihm in
+die Nebenkammer ging, um dem Lamme für die glückliche Ankunft des Bruders
+zu danken und uns dann besser bewirthete, als es der Grünbaumwirth in
+Wanzenau bei allem Reichthum hätte thun können.</p>
+<p>Spät in der Nacht kamen wir im Wohnorte und Hause des Meisters März an;
+eine Schaar andächtiger Frauen und gottseliger Männer sammt zwei jungen,
+äußerst bleich und fromm aussehenden "Dienern am Worte" waren in einem
+Hintergebäude des Hauses noch in Gebet und Betrachtungen versunken, Meister
+März stellte mich denselben vor und ich sah, wie große Augen alle machten
+und zusammenschauderten, als sie hörten, ich sei ein "Papist aus
+Dütschland."</p>
+<p>Einige liebliche Mädlen und gottselige Wittwen versprachen, für mich, den
+in den Banden des Irrthums, der Ungnade und des Satans gefangenen Mitbruder
+inbrünstig zu bitten und ihre Liebe rührte mich dermaßen, daß ich helle
+Thränen vergoß!</p>
+<p>Du weißt, Zuckerhannes, daß ich wohl der geschickteste Schreiner des
+Zuchthauses bin, ich habe als Gefangener dieses schöne Gewerbe in einer
+Reihe von Jahren vom Fundamente aus gelernt, doch den ersten Grund dazu
+legte ich bei Meister März.</p>
+<p>Meister März arbeitete nicht selbst; er führte mit einem Gehülfen und
+Obergesellen das Geschäft und betete, machte Besuche und Reisen, hielt in
+der großen Werkstätte Versammlungen, gab mir Essen, Trinken, Kleider, ließ
+mich nicht als Lehrjungen, sondern als Bruder behandeln, betete stündlich
+um meinen Gnadenstand und suchte mich auf jede Weise zu überreden, der
+"römischen Abgötterei" zu entsagen.</p>
+<p>Er hielt viel auf meinen gescheidten Kopf und meine frommen Gesinnungen und
+ich darf wohl behaupten, daß ich jetzt einer der reichsten Schreiner des
+Elsasses und leicht der Schwager meines Meisters wäre, wenn ich es nur über
+mich gebracht hätte, meinen Glauben abzuschwören!</p>
+<p>Nach und nach erzählte ich ihm viele Streiche und Verirrungen meines
+Lebens, aber er ließ deßhalb nicht nach mit Zudringlichkeit und meinte, der
+Mensch sei unfähig ein gottgefälliges Werk zu vollbringen, die Werke des
+Menschen seien ohne Bedeutung und der Glaube allein mache selig, ich aber
+müsse noch zum Glauben und Gnadenstand gelangen, das habe ihm eine
+wunderbare Erscheinung schon in Straßburg angekündiget und er sei das
+Werkzeug, welches mich aus einem heidnischen Gefäße des Zornes zu einem
+christlichen Gefäße der Gnade mache.</p>
+<p>Mein Meister hatte schon manche Seele für "das Wort" gewonnen, bei mir
+machte er sammt seiner arg verliebten Schwester große Versprechungen, kam
+doch nicht rasch genug zum Ziele und merkte, daß es mir nur darum zu thun
+sei, geschwind ein Schreiner zu werden und dann in die sündige Welt
+hinauszuwandern, in Paris statt in Zion Arbeit zu suchen! ... An der
+katholischen Religion liegt mir in der That wenig; man vergißt dergleichen
+Dinge in der Kaserne, wo Evangelische und Juden darüber spotten und im
+Zuchthause ist es ebenso, aber ich brachte es nicht über mich, meinen alten
+Glauben abzuschwören, wiewohl ich mit den Lutherischen in ihre Conventikel
+und Predigten ging, aus Klugheit und zur Unterhaltung die Schriften von
+Jung-Stilling und Anderen las, auch das alte Testament fast auswendig
+lernte und Mariotts wässerige Traktätlein fleißig vertheilte.</p>
+<p>Daheim im Dörflein hat meine Mutter von den Lutheranern mir früh viel Arges
+erzählt; ich verabscheute dieselben beinahe, wie ich die Juden fürchtete,
+hielt sie für böse Geister, aus welchen einmal der Antichrist erzeugt werde
+und konnte mich von dem Aberglauben nicht losreißen, ein abgefallener
+Katholik sei ewig ein Kind der Hölle und des Teufels. Vieles, was ich im
+Hause meines Meisters sah und hörte, bestärkte mich im Aberglauben der
+Mutter; Hochmuth und Wollust spielen bei den Muckern eine wüste und
+unerträgliche Rolle und so oft ich auch versprach, meinen katholischen
+Glauben fahren zu lassen, wenn man mir noch ein wenig Frist lasse, ebenso
+oft trat ich zurück, wenn die Frist vorüber war.</p>
+<p>Eines Abends, wo der Meister mich schon recht kühl und bissig behandelte,
+so daß ich gerne fortgelaufen wäre, wenn ich nur einen Paß und Geld gehabt
+hätte, spottete ich über die Frömmigkeit einer Betschwester, die ich bei
+einem Andern als ihrem Manne ertappte.</p>
+<p>Am andern Morgen kommt der Mann der Betschwester, verflucht meine böse
+Zunge und babylonische Herzensverwirrung, der Meister März seufzt, verdreht
+die Augen und lispelt: ["]Benedict, du bist und bleibst ein abgöttischer
+Papist, entweder nimmst du noch heute meinen Glauben an oder gehst aus dem
+Hause, denn mein Gewissen duldet es nicht, mich mit einem Unmenschen deiner
+Art abzugeben, der eine fromme Schwester verläumdet!" Ich antworte patzig,
+das fromme Männlein wird ganz wüthend, verdammt mich in die unterste Hölle,
+ich gehe den Bündel zu schnüren und wenn Meister Märzens Schwester mir
+nicht gesagt hätte, mich augenblicklich aus dem Staube zu machen und ihrer
+angenehmen Nächstenliebe eingedenk zu bleiben, so würde mich der Gensdarm
+erwischt haben, denn dieser war keine zehn Schritte mehr vom Hause, als ich
+zur Hinterthüre hinausschlich.</p>
+<p>Ohne Paß und Kleider, besaß ich nichts außer einem Fünflivre, den Mamsell
+März mir in der Eile zugesteckt hatte, lief gleich einem Feuerreiter Tag
+und Nacht und kam halbtod [halbtodt] wieder nach beinahe vierteljähriger
+Abwesenheit in Straßburg an.</p>
+<p>Hier blieb ich über Nacht, spazirte bei Kehl über die Brücke und schlug den
+Weg nach meinem Heimathdörflein ein, um den Rest meines mütterlichen
+Vermögens oder doch einige Napoleons zu holen und mich damit in die Schweiz
+zu machen. Glaubst du es, mein lieber Zuckerhannes?</p>
+<p>... Schläfst du? ... Nun, s'ist gleich aus; ich reiste zu meinem Vater auf
+ähnliche Weise, wie du, hungerte am Tage, lief bei Nacht und fand auch eine
+kühle, böse Aufnahme! Du weißt es! Alles im Dörflein ist todtenstill, wie
+ich hinkomme, nur einige Hofhunde bellten in die Nacht hinaus, zu Hause lag
+Alles wie der Vater im Schlafe; ich klopfe, er steht auf, schaut zum
+Fenster heraus, erkennt mich, rennt fort, um die Flinte zu holen und droht,
+mich elenden Spitzbuben über den Haufen zu schießen, wenn ich nicht
+augenblicklich fortgehe.</p>
+<p>Die Verzweiflung macht mich rasend, der Teufel zeigt mir einen Bengel, der
+mitten im Hofe lag, ich packe denselben und schlage so wüthend auf die
+Thüre los, daß alle Geschwister und die Nachbarn wach werden und laut
+rufen.</p>
+<p>Plötzlich öffnet der Vater die Thüre, drückt die Flinte auf mich ab, die
+Kugel streift aber blos die Achsel ["]... schau da, Zuckerhannes, dies
+Wundmal ist die ewige Erinnerung an jenen fürchterlichen Augenblick! ...
+ich haue in blinder, besinnungsloser Wuth mit dem langen, knorrigen Bengel
+in den dunkeln Hausgang hinein und ehe ich den dritten Schlag thue, packen
+mich des Liebhardts Knecht und der Hansjörg, der mit mir so lange auf dem
+Katzenbänklein gesessen, von hinten, der Hannesle stürzt mit dem Lichte und
+einem alten Säbel aus der Thüre und ... ich schaudere, wenn ich daran
+denke, du magst dir alles Andere selbst denken!" ... Schaudernd kehrt sich
+der Duckmäuser ab, schlüpft mit dem Kopfe unter den Teppich und es bleibt
+ungewiß, ob er weine oder schlafe.</p>
+<p>Der altersgraue, finstere und allzuharte, doch sonst brave Jacob lag
+blutend damals in der Hausflur, der Kopf war ihm auf einer Seite ganz
+zerschmettert, er stöhnte und röchelte nur noch wenige Augenblicke und
+verschied, ehe irgend eine Hülfe kommen konnte.</p>
+<p>Sein Sohn, der ehemalige Unterlehrer, Dorfhanswurst, Anführer der
+Altmodischen, Schweinehirt, Hobist und Schreiner ist ein <i>Vatermörder</i>
+geworden und sitzt als solcher jetzt schon lange Jahre im Zuchthause. Er
+ist gelassen, gleichmüthig, folgsam, arbeitsam, doch <i>gebessert</i> ist
+er nicht, schiebt die Schuld seines Unglückes nur auf Andere und wenn er
+auch zugibt, der Teufel habe ihn schlecht und verbrecherisch gemacht, so
+weiß er doch nicht, auf welche Weise er der Herrschaft des Teufels zu
+entrinnen vermöchte.</p>
+<h3><a name="9"></a>Der Duckmäuser läßt sich Etwas erzählen.</h3>
+<p>
+Der Duckmäuser liegt im Schlafsaale und flüstert zum Kameraden hinüber:</p>
+<p>"Schau, es geht jetzt ins 10. Jahr&mdash;bis Peter und Paule wird's just zehn,
+daß mich die Gensdarmen geholt haben und darfst glauben, daß ich wenig
+Freuden erlebte und nur so mitmachte von einem Tag zum andern und war froh,
+wenn ich recht ermüdet im Schlafsaal lag. Der Zuckerhannes blieb der Erste
+und Letzte, mit Dem ich mich näher einließ und ihm meine wahre Geschichte
+erzählte. Er ist ein guter, armer Kerl, hat's auch im Zuchthaus besser
+gefunden als draußen und sie würden ihn schon wieder gekriegt haben, davor
+bin ich nicht bange! ... Ist Einer <i>einmal</i> da gewesen, so geht's das
+zweite Mal viel leichter bei den Rechtsverdrehern und bei denen, die sie
+schon in den Klauen gehabt haben! ... 'S ist gut, daß er tod ist!"</p>
+<p>"Ja, weiß Gott, seufzt der Donat, 'n armer Teufel hockt geschwinder im
+Zuchthaus, als man eine Hand umkehrt. Bin jetzt das erste Mal da, aber ich
+hab' meine Sach in Amtslöchern und Correctionshäusern schon mitgemacht und
+es ist mir wunderlich gegangen, könnte ein Buch davon schreiben!"</p>
+<p>"Ei, draußen kannst du doch Einem aus dem Wege gehen, der dir nicht gefällt
+oder ihm Eins hinter die Ohren schlagen, aber hier? ... Seit der Teufel den
+Spaniolen hereingebracht hat, ist's mit meiner Ruhe aus; wenn ich den
+dürren Halunken mit seinen falschen Augen, die eine halbe Stunde weit im
+Kopf drinnen liegen, nur ansehe, ist mir das Leben verleidet und ich
+zittere an allen Gliedern und er regiert Alles, leitet Alles, kann's mit
+den Aufsehern, daß es ein Schade ist. Fünf Jahre war ich nie im Arrest,
+jetzt komme ich alle Augenblicke hinein und Alles ob dem Spitzbuben!</p>
+<p>"Der Spaniol ist ein Teufelskerl und ich meine immer, ich hätte ihn auch
+schon gesehen in Donaueschingen oder in der Neustadt ... nein es war in
+Lengkirch, wo er 3 oder 4 verschlossene Wagen mit fremden Thieren
+commandirte und auf die Freiburgermesse zog... Er mahnt mich an Einen, dem
+ich auch gerne mit der Holzaxt winkte!"</p>
+<p>"Verdammt, ich kann heut nicht schlafen, 's geht mir jedesmal so, wenn ich
+Beize kochen muß, das Geschäft ist zu leicht für mich! brummte der
+Duckmäuser;&mdash;weißt Du was, Donat, erzähle mir deine Geschichte, ich erfahre
+dann wieder, wie's draußen bei ordentlichen Leuten zugeht und lerne Dich
+kennen!"</p>
+<p>"Kann auch nicht schlafen, Du hast mir Deine Sache auch ausführlich
+erzählt, eine Ehre ist der andern werth! ... Wer hat heute Nacht die
+Wache?"</p>
+<p>"Der alte Moritz, der sieht nichts und hört nichts und wenn er kommt,
+rieche ich ihn von weiten."</p>
+<p>"Riechen? ich habe noch nichts gerochen! meinte der Donat."</p>
+<p>"Hoho, warte nur, bis Du ein, zwei, drei, fünf Jährle hockst, dann wirst Du
+Schnaps oder Tabak auf hundert Schritte riechen durch allen Gestank
+hindurch! ... Fange nur ruhig an, wir stecken die Köpfe unter den Teppich
+und ich halte die Ohren zu Dir, wie der Pfarrer, wenn er Beichte hörte!"</p>
+<p>"Ja, Du mußt mir aber <i>mehr</i> glauben als er, er glaubt Keinem mehr,
+weil die Meisten ihn anlügen, und die vor Allem, die Begnadigung wollen.
+Der Stoffel hat mir erst gestern gesagt, er habe im Beichtstuhle mehr Gutes
+als Böses gebeichtet und zwar so, daß bei seinen Gutthaten jedesmal ein
+kleines Häkchen war, daß sie halb und halb wie eine Sünde aussehen! ... Er
+spielt den heiligen Crispin, der den Reichen Leder stahl, um den Armen
+Stiefel zu machen; es war gut, daß dieser nicht im Badischen lebte, wo sie
+allgemach das Almosengeben bei drei Gulden Strafe verbieten, wenn man sein
+eigen Sach' herschenkt!"</p>
+<p>"Nur zu, das gibt Rekruten fürs Zuchthaus! lachte der Duckmäuser. Wenn's
+Bettele verboten wird, wird das Stehlen erlaubter! ... Doch, fange an,
+kannst schon ein bischen laut reden, das Murmelthier schnarcht wie
+besessen, daß man sein eigen Wort kaum hört!"</p>
+<p>"Das Beste ist, daß man Gedanken nicht einsperren kann, ich hocke da, doch
+meine Gedanken streifen den ganzen Tag herum, und am liebsten nach dem
+Unterland oder das Höllenthal hinauf gegen Lenzkirch, denn dort ist meine
+Heimath, nämlich in jener Gegend, die für so rauh und wüst verschrieen wird
+und mir doch hundert Mal besser gefällt, als der Breisgau mit allem Wein
+und Obst und Kesten und der großen, schönen Stadt Freiburg dazu. Ich sehe
+wahrhaftig mein niederes Strohdach und die langen braunen, hölzernen Wände,
+den Milchbrunnen, den Misthaufen beim Hause und die Halde worauf es still
+und heimelig steht und hinabschaut in das Thal mit den zerstreuten Häusern.
+Ringsum lauter Tannenwald und dunkle Höhen, statt Trauben Tannenzapfen,
+statt Aprikosen und Kesten, Schlehen und Elzbeeren und statt Welschkorn und
+Tabak einzelne Hafer- und Kartoffelfelder, die selten gut ausgeben. Aber
+wie schön ist's, wenn der haushohe Schnee schmilzt, die würzige
+Frühlingsluft aus den Tannenwäldern herüberweht und die blitzenden Bächlein
+durch die Matten eilen, mit ihrem würzigen Grün, den gelben, rothen und
+weißen Blumen! ... Holz, Vieh, Milch und Schmalz gibt's bei uns auf dem
+Walde und kunstfertige Leute dazu und in so mancher Strohhütte steckt mehr
+Geld und Gut und vielleicht auch Bravheit, als hier wohl in manchem
+Herrenhause."</p>
+<p>"Wenn Du so anfängst, dann werden wir vor Morgen nicht fertig; rede nicht
+lang von der Heimath, sonst muß ich an meine denken, nein, <i>die</i> ist
+schön! ... Der Mensch ist halt auch wie das Vieh, er geräth am besten, wo
+er daheim ist und ist ihm dort am wohlsten, wenn's in Sibirien wäre!&mdash;O
+Gott!"&mdash;</p>
+<p>"Sibirien? Ja, das badische Sibirien nennt man meine Gegend und noch mehr
+die rechts gegen den Schluchsen und Feldberg zu. Meinethalben, ich möchte
+doch mein Lebenlang gern als der ärmste Holzschläger oder Kohlenbrenner
+dort leben! Jetzt will ich erzählen, wie Du es wünschest, aber wie
+wünschest Du es? Ich kann halt nicht viel besser reden, als mir das Maul
+gewachsen ist und man kriegt so wunderliche Gedanken!"</p>
+<p>"Thatsachen will ich, lauter Thatsachen!" flüsterte der Duckmäuser.</p>
+<p>"Aha, Thatsachen! weiß was das ist, wer ins Zuchthaus soll, erfährts!
+Herrgott, wie haben sie mich mit den verdammten "Thatsachen" gequält, die
+Leuteschinder und am Ende doch wegen Etwas verurtheilt, was gar keine
+Thatsache ist! ... will also mit Dir reden, wie es der Asessor haben
+wollte, lauter Thatsachen! paß auf!"</p>
+<p>Gerade wie der Zuckerhannes hatte ich auch keinen Vater, daß heißt, der
+Halunke wollte nichts von mir wissen. Meine Mutter war bei Lenzkirch daheim
+und diente in Freiburg in der Salzgasse und später in der Egelgasse. Sie
+soll ein hübsches "Mensch" gewesen sein und ich glaube es, denn ihre
+schwarzen Augen und Haare und ihr kurzer stämmiger Leib blieb, als die
+rothen Backen längst verschwunden und der Mund nicht viel mehr lächelte.
+Die Studenten, Offiziere und andere Herren waren ihr sehr auf den Fersen,
+sie wußte davon zu erzählen, aber sie wollte lange gar keinen Liebhaber und
+am Ende doch lieber Einen, der sich offen mit ihr sehen ließ, als so einen
+Vornehmen, der nur ins geheim lockt und schmeichelt und jede Gans weiß,
+wohinaus das Ding will. Am Ende bekam sie ein Unteroffizier am Bändel, der
+ihr ganze Packe Briefe und Gedichte schrieb, in der Dämmerung niemals im
+Hausgange fehlte, lauter Liebes, Gutes und Süßes gelobte und nicht ruhte,
+bis ich da war. Er gab um Heirathserlaubniß ein, sagte und schwur es
+wenigstens, doch war er noch kein Einständer und als das Regiment nach
+Carlsruhe kam, war meine Alte petschirt und heulte sich fast die Augen aus
+dem Kopf. Sie that mich zu meiner Großmutter im Haus auf der Halde, das ich
+Dir beschrieb und ich verlebte dort meine besten Tage. Die Zeit, wo ich den
+ganzen Tag eine Rotznase hatte und im bloßen Hemd herumklunkerte, ist die
+schönste gewesen und ich wollte nur, daß ich wieder ein "Hemmetklunker"
+wäre! ... Ich ging ins achte Jahr und hatte schon einigemal die Schule
+besucht, wenn der Weg nicht verschneit war und auch die Mutter oft gesehen,
+die mir jedesmal die Nase alle Augenblicke putzte und mir Gutseln oder
+Butterwecken brachte, was ich um mein Leben gern aß, da legte sich die
+Großmutter hin und starb. Ich durfte nicht mehr in der Hinterstube bleiben,
+wo ich wie im Himmel gelebt, denn die andern Leute auf der Halde hätten
+mich zwar behalten, allein die Mutter war unten im Dorfe verheirathet und
+nahm mich zu sich.</p>
+<p>Der Gang von der Halde war der Gang in mein Unglück.</p>
+<p>Meine Mutter hatte einen Wittwer geheirathet, der für einen Uhrenmacher in
+Lenzkirch arbeitete, jedoch nicht in Lenzkirch sondern daheim.</p>
+<p>Dieser Wittwer besaß eine durstige Gurgel, einen Humor, wie ihn der Teufel
+nicht besser haben kann und 3 Kinder von der frühern Frau, die er unter den
+Boden gebracht hatte mit Schimpfen und Schlagen.</p>
+<p>Er zeigte mir, was es heiße, einen Stiefvater zu besitzen und plagte mich
+sammt der Mutter um die Wette, prügelte seine eigenen Kinder dazu und wer
+von Allen geschimpft, geschlagen, gestoßen wurde und kaum mehr als ein
+Kreuzschnabel zu fressen bekam, der war ich ... Meine Mutter mußte es vom
+frühen Morgen bis tief in die Nacht hören, daß sie ein Soldatenmensch und
+ich ein Bankert sei und wenn der Stiefvater besoffen von Lenzkirch kam, gab
+es oft die ganze Nacht keine Ruhe.</p>
+<p>Die Mutter schlug mich nie, aber tausend Mal sagte sie, um meinetwillen
+allein müsse sie leben wie ein Hund und es gereue sie, mich nicht in die
+Dreisam geworfen oder erwürgt zu haben, bevor ich recht auf der Welt war!
+Dafür mag der Teufel dem Unteroffizier danken!</p>
+<p>Die Leute im Dorfe waren nicht so arg wie die Landleute des Zuckerhannes,
+ich bekam es besser und trieb mich die meiste Zeit in andern Häusern herum,
+wo ich zu essen genug bekam, weil man wußte, wie mich der Stiefvater
+behandelte und mich sammt der Mutter bedauerte, die sich tagaus tagein
+schinden und plagen mußte und das ganze Jahr keine gute Stunde dafür bekam.
+Der Pfarrer sah das Elend und sprach sie von dem wüsten Kerl weg, der aber
+konnte mit dem Hauswesen und den 3 Kindern nicht allein fertig werden und
+weil meine Mutter sich doch nicht ganz scheiden lassen konnte, ließ sie
+sich durch seine Bitten und Versprechungen bethören und zog wieder mit mir
+zu ihm. Bald fing der alte Tanz wieder an, meine Mutter bekam auch ein Kind
+und dann gleich noch eines und seitdem konnte auch sie mich nicht mehr
+leiden und ich irrte Tag und Nacht aus einem Hause ins andere, wo man mir
+einen Platz am Ofen gönnte und etwas Warmes gab. Solches war auch nicht
+überall der Fall, ich mußte auch von fremden Leuten bittere Dinge hören und
+Schläge hinnehmen, doch hatte ich meine bestimmten Häuser und suchte mich
+wohl daran zu machen durch Viehhüten oder Botengänge nach Lenzkirch oder in
+die Neustadt oder was man mich sonst hieß.</p>
+<p>Ich besuchte auch die Schule und betete fleißig, denn oft genug sagte die
+Mutter "Donatle, bete und denke an Gott, du hast sonst Niemanden auf der
+Welt, ich kann Deine Mutter nicht sein, das siehst Du!"</p>
+<p>Gottlob, daß sie unter dem Boden ist, meine Kette da brächte sie sonst
+hinab; sie ist schon lange todt und habe ihren Leichenzug nicht gesehen,
+Gott schenke ihr die ewige Ruhe und Glückseligkeit! Auf der Welt hat sie
+wenig Gutes gehabt und war doch keine böse Frau, nur zu gut für den
+schlechten Stiefvater!</p>
+<p>Ich war bald 14 Jahre alt, da wurde unser Pfarrer versetzt und <i>den</i>
+Tag, wo der neue zum ersten Mal in die Schule kam, vergesse ich in meinem
+Leben nicht! Das fortwährende Schimpfiren und Verlästern der Geistlichen
+ist nicht schön und recht, es gibt gute Herren unter ihnen und der neue war
+Einer davon.</p>
+<p>Er betrachtete mich genau, weil ich gar elend dreinsah und keinen Fetzen an
+mir trug, den ein Lumpenmann hätte nehmen mögen, fragte mich, wer und woher
+und dies und das und heißt mich am andern Tage ... es war just ein
+Donnerstag und wir hatten "Vacanz"... in den Pfarrhof kommen.</p>
+<p>Kannst Dir denken, daß ich den Tag kaum abwarten konnte und hoffte, Etwas
+zu kriegen. Als ich zu ihm hineintrat, fragt er mich, ob ich den Weg nach
+Bonndorf wisse, ich sage: ja; dann fragt er, ob ich einen Brief an den
+Herrn Stadtpfarrer in Bonndorf besorgen wolle und ich sage: gern! Da mußte
+ich mich in ein anderes Zimmer setzen, die Köchin brachte mir Etwas zu
+essen und ein Glas Wein, daß ich meinte, jetzt auch einmal ein großer Herr
+zu sein. Nachher gab mir der Pfarrer noch einen Sechser und meinte, ich
+solle in Bonndorf etwas essen, doch ich hatte gegessen, einen Sechser in
+meinem Leben noch nicht gehabt und der Wein gab mir Kraft und Muth, daß ich
+gar nicht spürte, was für ein Wind von Sankt Blasien herpiff [herpfiff] und
+daß ich baarfuß herumzottelte. Ich flog wahrhaftig, denn in Bonndorf
+glaubte ich wieder Etwas zu bekommen, bekam auch einen Zwölfer und einen
+Brief retour. Als ich den Brief abgab, fragt der Herr, ob ich meinen
+Sechser gebraucht habe, ich zeigte ihm den Fetzen Papier, den ich zwischen
+Lenzkirch und Bonndorf gefunden, worin ich mein Geld eingewickelt hatte und
+streckte es hin, damit er es wieder nehme. Doch ließ er mir nicht nur das
+Geld, sondern schenkte mir auch einen Rock, ein paar Hosen und bezahlte den
+Schneider, der mir eine prächtige Montur daraus zuwege machte; kurz, der
+Pfarrer wurde mein Vater, ihm zu Liebe lernte ich besser in der Schule und
+es war ein großes Unglück, daß der gute Herr sehr bald aus der Gegend
+fortkam, denn er hat mir oft gesagt, ich müßte eine gute Profession lernen
+und wenn dieses geschehen wäre, läge ich nicht in einer Kette hier!</p>
+<p>Kann's nicht beschreiben, wie gut der Mann gegen mich elendes Kind gewesen
+ist, Gott wirds ihm entgelten und ich will froh sein, wenn er nichts von
+mir erfährt!</p>
+<p>Ich möchte noch Vieles sagen, lauter Thatsachen, Duckmäuser, könnte die
+halbe Nacht allein vom Pfarrer erzählen und thäte es lieber als das Andere,
+denn der Weg, den ich jetzt betrat, war kein guter. Aus der Schule
+entlassen, trieb ich mich einige Jahre in der Gegend herum, und trieb bald
+Dieses, bald Jenes, um leben zu können und den Stiefvater nicht um Etwas
+ansprechen zu müssen. Es ging mir gerade, wie den Hasen des Fürsten von
+Donn'schingen im Winter, nämlich es war Winter und ich hatte nichts zu
+beißen und zu nagen, da kamen ein Mann und eine Frau aus einem Zinken nicht
+weit von meinem Orte&mdash;ich traf sie in der Sonne zu Neustadt, nein, es war
+in der Post, ich sehe noch immer den dicken Posthalter mit der großen
+rothen Nase, wie er mit dem Schoppen herwatschelt und jedesmal sagt:
+"Gesegne's Gott, 's ist ächtes Breisgauergewächs!"&mdash;Also die Beiden
+brachten mir's zu und sagten nach längerem Hin- und Hergerede: "Weißt du
+was, Donatle? 'S ist Winter, hast Uebel Zeit, dein Stiefvater ist ein Lump,
+du hast erfahren genug wie er uns anfeindet, aber du bist ein änstelliger
+[anstelliger] Bursche, kein Mensch will sich Deiner erbarmen, komm zu uns,
+bis es besser wird. Du arbeitest, was es zu arbeiten gibt, viel ist's
+jedenfalls nicht und wenn Du auch Nichts kriegst, hast Du doch zu essen und
+ein Obdach!"</p>
+<p>Das kannst Du glauben, daß ich mich nicht lange besann, sondern einschlug;
+es war besser als Holzmachen oder Schneeschaufeln oder Leiternmachen, was
+ich schon thun mußte. Ich ging auf der Stelle mit dem Glasjakob und seiner
+alten Fränz, mit der ich ein Stück biblische Geschichte durch machte, bloß
+daß die Sache einen unbiblischen Ausgang nahm.</p>
+<p>Die Fränz hatte 48 Jahre auf dem Buckel, graue Haare und Runzeln genug,
+keine drei ganze Zähne mehr und eine Nase wie ein Ulmerkopf, kurz es war
+ein altes, wüstes, ungattiges Thier und hatte außer dem ältesten Sohne, der
+2 Jahre älter als ich war und längst mit dem Reff auf dem Buckel als
+Glashändler im Unterland hausirte, noch 5 Kinder und die beste Seele von
+der Welt zum Manne.</p>
+<p>Sie konnte recht gut meine Mutter sein, doch bald machte sie es wie
+Putiphars Frau und weil ich nicht der Joseph, sondern der Donat bin, hing
+sie mir bald am Halse und ich wurde bis über die Ohren in sie verliebt.</p>
+<p>Du magst es glauben oder nicht, so ein armer Tropf wie ich kommt nicht
+leicht zu einem Weibsbilde und hat doch auch sein Fleisch wie Andere, die
+Fränz war die Erste, mit der ich zu thun bekam. Sie wurde ganz und gar
+hirnverrückt und wüthend, und ich ein vollkommener Narr! ... Item sie
+schafft Rath, beredet ihren guten blinden Jakob, ihr einen Heimathschein
+ausfertigen zu lassen, lügt ihm vor, sie wolle ihre Freundschaft besuchen
+und in ihrer Heimath eine kleine Erbschaft holen, die sie gemacht habe, der
+Mann ist voller Freuden, sie geht, in Lenzkirch finden wir uns und reisen
+nicht gegen Bonndorf sondern durch das Höllenthal nach Freiburg und wutsch
+dich! saßen wir über dem Rhein, arbeiteten in einer Fabrik in Mühlhausen
+drüben und lebten wie Vögel im Hanfsaamen!</p>
+<p>Nach einigen Monaten hatte ich das Elsaß und die Fabrik und die Fränz genug
+und wollte sie mir vom Halse schaffen. Aber sie hängte sich an mich wie
+eine Klette, als sie den Butzen merkte und ich verließ sie bei Nacht und
+Nebel. 'S freut mich noch, wenn ich mir vorstelle, wie sie am Morgen
+aufwachte, nach mir griff und nichts fand als das leere Nest, was mag
+<i>Die</i> für Augen gemacht, geschimpft und geflucht haben!&mdash;Ich hatte
+mich mit Kleidern gehörig ausstaffirt, trug ein wälsches Hemd oder eine
+Blouse, wie mans dort drüben nennt und ziemlich Geld in der Tasche, denn
+haushälterisch war die Fränz stets gewesen, das muß ich ihr nachsagen! Ich
+glaube wahrhaftig, daß ihre Verfluchungen mich verfolgten, denn geliebt hat
+sie den Donat, sonst würde sie nicht Mann und Kinder verlassen und mir
+angehangen haben!</p>
+<p>Also ich laufe einige Tage, da begegnet mir be- [bei] Karlsruhe drunten ein
+Mann, fragt woher, wohin und was und da er hört, ich suche einen Dienst,
+gleichviel was für einen, angagirt er mich als Knecht, das heißt, ich mußte
+immer Fische nach Karlsruhe schleppen und Fischhäuser hüten. Mir gefiel
+Alles außer dem frühen Aufstehen, aber die Herrlichkeit dauerte nur kurze
+Zeit.</p>
+<p>Muß ich just an des Großherzogs Geburtstag zu einem Wirth nach Karlsruhe
+und ihm sagen, er möge zu meinem Herrn fahren und die Fische holen, die
+bestellt worden seien; dieser läßt den Knecht einspannen und der
+Mathäubesle, also hieß der Knecht, ein fuchsrother Kerl voll Sommerflecken
+im Gesichte, der am Titisee daheim war, meint: Landsmann, fahr mit! ... Wir
+sitzen auf dem Wagenbrett, der Mathäubesle will zufahren, da fängt ein ganz
+verfluchtes Kanoniren an, der Gaul wird scheu, der Mathäubesle kann's nicht
+mehr halten, springt über die Leitern hinab, ich will unten durch, bleibe
+hängen und das wüthende Roß schleppt das Wägele sammt mir einige hundert
+Schritte weit, wo endlich einige Dragoner stehen und ihm den Weg
+versperren.</p>
+<p>Kannst Dir denken, wie ich zugerichtet war; halbtodt wurde ich in ein
+fürnehmes Spital getragen. Keinen Fleck am ganzen Leib gabs, der mir nicht
+wehe that, ich war nur Eine Wunde und Ein Pflaster, lag viele Wochen
+elendiglich darnieder und wäre wohl nicht davon gekommen, wenn die
+Karlsruher Aerzte mich armen Kerl nicht so fleißig und sorgfältig besucht
+und für mich gesorgt hätten, als ob ich nicht der Donatle vom Schwarzwald,
+sondern ein Prinz wäre.</p>
+<p>Die halbe Kost fing just an, mir recht zu schmecken, da wurde ich aus dem
+Spital entlassen und durfte nicht mehr zum Fischhändler, sondern wurde
+heimgewiesen mit dem Zeugniß, daß ich arbeitsunfähig sei und mich zuerst
+erholen müsse. Eines Theils war es mir nicht recht, denn der Fischhändler
+hatte ein Prachtsweib und dieses war zu mir in den ersten Tagen in die
+Kammer gekommen und hatte Dinge geredet, die mir klärlich zeigten, ein
+junger, starker Schwarzwälder sei ihr weit lieber als so ein alter,
+abgelebter Stockfisch, der ihr Mann hieß. Sie hätte mich gut gehalten, die
+Arbeit war ohnehin nicht weit her und große Lust zum Arbeiten hat mich mein
+Leben nie geplagt, wenn es nicht sein mußte. Anderseits gefiel mir aber
+auch das Herumziehen und als ich beim Sternen die Steig hinausging und mich
+wieder von meinen Bergen umschlossen sah, freute es mich gewaltig, doch
+dachte ich wieder ans Fortgehen nach einigen Wochen und die Sache kam so,
+daß ich bald gern ging von wegen der Fränz.</p>
+<p>"Wie ist's denn der alten Schachtel gegangen?" fragt der Duckmäuser
+begierig.</p>
+<p>"Besser als sie's verdiente!["] ... Nachdem ich sie verlassen, zog sie
+einige Tage im Breisgau herum, wurde mit dem längst abgelaufenen
+Heimathsschein erwischt, heimtransportirt und zunächst zur Abkühlung 8 Tage
+in Schatten gesetzt. Dann wurde der Jacob in die Neustadt citirt, befragt,
+ob er sein entlaufenes Weib wieder wolle, er sagte Ja und sie ging mit ihm
+heim. Da sie alle Schuld auf mich geschoben hatte, bekam ich bei der
+Heimkunft auch meinen Theil und mußte 14 Tage sitzen. Zum Jacob wollte und
+durfte ich nicht mehr, wollte auch nichts mehr von der Fränz wissen. Geld
+hatte ich keines, Schaffen wollte ich nicht so schwer, essen und trinken
+hält Leib und Seele zusammen und um Etwas zu bekommen, langte ich zu, wo
+war, anfangs mit erschrockenem Herzen, bald kecker. Die Mutter war todt,
+der Stiefvater warf mich aus dem Hause, ein Handwerk konnte ich nicht,
+Taglöhnern kostet Armschmalz, ich zog in der Gegend herum, wurde auf dem
+Michaelimarkt in der Neustadt arretirt und auf 2 Jahre zu den Blaukitteln
+nach Bruchsal geschickt. Dies war schlimm, doch schlimmer war's, als ich
+nach 16 Monaten begnadiget wurde und mit Laufpaß heim mußte. Ein paar
+Zwilchhosen, ein Wamms von Sommerzeug, ein grobes Hemd, welches mir die
+Strafanstalt gab nebst einem paar Schuhen und einer Kappe, die ich einmal
+einem Besoffenen vom Schädel gerissen, war nebst 42 Kreuzern Alles, was ich
+auf Erden besaß, wie ich heimkam.</p>
+<p>Wie konnte ich in solchem Aufzuge Arbeit suchen, mich vor den Leuten sehen
+lassen oder auch nur in die Kirche gehen? Die Fränz, kein Mensch wollte
+Etwas von mir wissen und doch war mir die Lust am Stehlen vergangen. Es
+gehört Spitzbubenglück dazu, ich hatte keine Fiduz und keine Courage mehr,
+um gleich wieder zuzugreifen. Ich ging hinüber in die Neustadt, trank mit
+den letzten 12 Kreuzern Muth und begab mich gerade zu auf das Amt, um zu
+melden: "ich <i>wolle</i> nicht mehr stehlen, aber ich <i>müsse</i> es,
+wenn ich keinen Heimathschein und keine Kleider sammt einigen Batzen
+bekäme, um <i>anderswo</i> Arbeit zu suchen; im Grunde wär's mir lieber
+hier, aber niemand wolle mich beschäftigen." Ein Herr vom Amte zog
+mitleidig den Geldbeutel, der Amtmann gab mir einen Rock, denn ich heulte
+wie ein Schloßhund und um Martini darf man auf dem Swarzwalde
+[Schwarzwalde] kein Zwilchwamms und sonst nichts tragen, wenn man nicht
+erfrieren will. Ein Schreiben an den Bürgermeister verschaffte mir Alles,
+was ich brauchte, sogar mehr, nämlich Grobheiten, weil ich nicht zuerst zum
+Bürgermeister, sondern gleich vor die rechte Schmiede gegangen war. Ich
+kannte den Vogt schon, er war ein unmenschlicher "Packer," der ja wußte,
+woran ich war und doch kein Zeichen that, als ob er mir helfen wolle.</p>
+<p>Mit dem Heimathschein und einigen Batzen Geld zog ich ab, verkaufte in
+Freiburg den Rock des Amtmanns, weil ich ihn doch nicht ohne gehörige Hosen
+tragen und auch nicht zurecht machen lassen konnte und zog jämmerlich bis
+hinab nach Ettlingen, denn dort war Arbeit genug zu finden, weil eben die
+große Spinnerei gebaut wurde. Weil meine Papiere richtig waren, kümmerte
+sich die Polizei nicht um meinen Anzug und leeren Geldbeutel, denn Arbeit
+hatte ich auf der Stelle. Eine Wohnung zu finden, war keine Kleinigkeit,
+ich wurde an vielen Orten abgewiesen und wie eben die Armen am liebsten den
+Armen helfen, fand ich zuletzt bei blutarmen Leuten auch eine Wohnung. Kost
+konnten sie mir nicht geben, wollte auch keine, denn Kleider waren vor
+Allem nöthig; Kleider kosten Geld und mein Taglohn war nicht gar groß. Ja,
+der Donat <i>kann</i> arbeiten und hungern, <i>wenn er muß</i>; drei
+geschlagene Monate sah ich kein Stücklein Fleisch und keinen Tropfen Wein,
+sondern erhielt mich fast nur bei Brod und Milch, schlief dabei recht gut
+und konnte das schönste Weibsbild ansehen, als ob ich ein Klotz geworden
+wäre! ... Nach drei Monaten hatte ich aber nicht nur Kleider, sondern auch
+das ganze Wohlwollen der Werkmeister und insbesondere das der Tochter
+meiner Hausleute, ohne daß ich letzteres wußte, weil sie nie ein Bröselein
+davon verlauten ließ, wenn sie aus ihrem Dienst von Karlsruhe auf Besuch
+herüberkam. Als die Fabrik so weit fertig und Maschinen eingerichtet waren,
+saß ich einmal recht bekümmert nach 12 Uhr bei einem der letzten Sandhaufen
+in der Sonne und dachte an die Zukunft, da kommt auf einmal der Director
+der Spinnerei auf mich los, ein braver Herr, der mich oft im Auge gehabt,
+jetzt aber just fast das erstemal mit mir redete und sagte: "Donat, weil Er
+als Fremd so lang und fleißig hier gearbeit hat, will ick Ihn in die
+Spinnerei nehmen als Lehrlink. In 3 Mond kann Er die Sack, kriegt täglich
+36 Kreuzer. Wenn Er keine dumme Deutsch ist, bekommt Er dann ein Maschin
+und verdient schön Geld! Was sagt er zu der Sack?"</p>
+<p>Kannst Dir einbilden, Duckmäuser, daß ich da stand wie aus dem Himmel
+gefallen und zehnmal in Einem Brumm "Ja" sagte; ich muß roth und recht
+einfältig dreingesehen haben, denn der Herr lachte und meinte:</p>
+<p>"Nehm' er nix für ungut, ich bin ein Franzos und sprecke etwas heroisch,
+bin hitzig, aber ick fresse keine Deutsch und meine es nit so böse!"</p>
+<p>Der Herr Director wurde mein zweiter Schutzengel, wie der Pfarrer mein
+erster gewesen; sein Auge blieb stets auf mich gerichtet, er gab mir viele
+Ermahnungen und hielt mich von Vielem ab, denn der Teufel juckte wieder
+hollops in mir. Die Spinnerei wollte mir nicht gefallen, die Lehrmeister
+waren lauter Franzosen und neidisch, einen Deutschen zu lehren. Der Herr
+Director machte, daß ich als Zuschläger in die Schmiede kam, wo ich einen
+andern Director und täglich einen Gulden erhielt. Konnte es nicht lange
+aushalten, bekam Blutspeien und wurde fremd. Eben stand ich in meiner
+Kammer, um das Bündele zu schnüren, da ließ mich der alte Director kommen
+und machte mich herunter, weil ich so mir nichts dir nichts davonlaufen
+wollte, ohne ihm ein Brösele zu sagen und fuhr mich dann an:</p>
+<p>"Gestern hab' ick die Mann, der an das laufende Maschin war, entlassen. Er
+liebt die Sauf und soll nit unglücklick werden. Will Er sick besser halten,
+als der Vorgänger, so thu' ick Ihn an seine Stell. Er bekam taglik einen
+Gulden zwölf Kreuzer, Ihm geb' ick acht und vierzig Kreuzer täglik, aber
+nock eine Gehilf, will Er?"</p>
+<p>Kannst denken, wie froh ich war und es kam noch besser, denn die Käth, also
+hieß die Tochter der Hausleute, kam nach Hause, weil sie krank gewesen war
+und den Dienst bei der Herrschaft verloren hatte, bei der sie 6 Jahre in
+Einem Zug gedient hatte. Sie hatte die "Durchschlechten" gehabt, war noch
+sehr schwach, doch ein braveres Mädle wächst im ganzen Unterland nicht; ich
+wurde in sie ganz anders verliebt als in die Fränz, betrachtete die Käth
+wie eine Heilige, sie und der Herr Director haben mich vor Vielem bewahrt!
+&mdash;Vier Monate später führt der Satan den rothen Mathäubesle auch nach
+Ettlingen und dieser leichtsinnige Passagir wurde mein Freund, weil er mein
+Landsmann war, zog mich zum Saufen und Spielen, so oft er konnte und war
+mit den Weibsleuten nicht heikel! ... Untreu wurde ich der Käth nicht oft,
+aber nach 6 Monaten verfehlten wir uns und ich wäre ein schlechter Kerl,
+wenn ich sagte, <i>sie</i> sei schuld daran gewesen. Sie hat mich oft genug
+davor gewarnt und mir die Leviten gelesen, aber die Beste hat schwache
+Stunden und ich war in diesem Punkte kein Held wie Du, wenn's wahr ist!</p>
+<p>Als die Eltern die Sache merkten, sollte ich auf einmal aus dem Hause und
+ging auch, weil ich das Heulen und Schimpfiren nicht mehr sehen konnte.
+Alle Sonntage traf ich mit der Käth in Busenbach zusammen, doch die Eltern
+waren ihr auf den Socken und wollten auch dies nicht mehr leiden.</p>
+<p>Eines schönen Morgens muß ich vor Amt, der Asessor schnauzt und bellt mich
+an, ich müsse binnen 3 Tagen die Fabrik und den ganzen Amtsbezirk
+verlassen, wo nicht, so müßte mich der Gensd'arme holen. Ganz vertattert
+frage ich warum und da sagt er mir, ich hätte ein Mädchen mit einem Kind
+und sei auch schon in Bruchsal gesessen.</p>
+<p>"Ja, das ist wahr, sage ich, aber darf ein Mensch, der seine Strafe
+erstanden und sich ehrlich und redlich ernähren will, nirgends mehr
+arbeiten?"&mdash;"Er kann arbeiten, wo Er will, aber in diesem Amtsbezirk ist's
+mit Ihm Mathäi am Letzten!"&mdash;Jetzt sage ich, der Asessor soll mir in den
+Heimathschein schreiben, weßhalb ich nicht mehr hier arbeiten dürfte, er
+aber sagt, ich habe es gehört, was zu thun sei und soll mich packen!</p>
+<p>Ich besann mich auf dem Heimwege und blieb in der Fabrik.</p>
+<p>Acht Tage später werde ich richtig auf die Wachtstube gerufen, sind da 2
+Gensd'arme, führen mich vor Amt und der Asessor sagt, ich müsse jetzt 24
+Stunden ins Loch und wenn ich in 8 Tagen nicht fort sei, lasse er mich
+heimtransportiren.</p>
+<p>Bei der Rückkehr in die Fabrik nahm mich der Herr Director ins Verhör, wo
+ich gewesen sei und weil ich für ihn durchs Feuer gegangen wäre, entdecke
+ich ihm Alles haarklein und erfuhr wieder, was das für ein braver Mann war.
+Er spricht mir Muth ein, meint, wenn es Jedem der 1400 Menschen, die in der
+Fabrik arbeiteten, an der Stirne geschrieben stünde, was er schon gethan
+habe, müßte er Manchen fortschicken. Ich soll ihm und der Käth folgen und
+brav für mein Kind sorgen. Die acht Tage verstrichen und kein Mensch dachte
+daran, mich auf den Wald zu jagen.</p>
+<p>Gehe ich an einem Sonntage Mittag von Busenbach nach Ettlingen, die Käth
+ist bei mir und hat unser Kind auf dem Arm, kommt uns just der Asessor mit
+2 Herren entgegen, stellt mich auf dem Wege, thut aber ganz leutselig,
+erzählt Alles den andern Herren und sagt zu mir: "Er wisse, daß ich immer
+Kostgeld für mein Kind zahle, habe auch ein gutes Lob von den Herrn in der
+Fabrik, solle nur brav bleiben und für mein Kind sorgen und so fortmachen!"</p>
+<p>Solche Rede gefiel mir sehr wohl und wenn ich alles überlege, muß ich
+sagen, daß ich mein Glück selbst mit Füßen getreten habe und ein Narr
+gewesen bin, mehr auf den rothen Mathäubesle, als auf den Herrn Director
+und andere Leute gehört zu haben, die es gut mit mir meinten. Ich hatte
+eine neue Heimath gefunden und wenn ich gescheidter gewesen wäre, würde ich
+darnach gestrebt haben, die Käth zu heirathen, die längst wieder in einer
+Küche zu Karlsruhe stand. Für mein Kind zahlte ich immer redlich das
+Kostgeld, aber statt bei meinem schönen Verdienst zu sparen, zog ich mit
+dem rothen Kaiben und Fabrikmenschern herum und habe mehr als Eine Nacht
+ganz durchgesoffen und gespielt und allgemach Schulden bekommen.</p>
+<p>Wenn das Fabrikglöckle zur Arbeit rief, war ich oft voller Schlaf und
+halbbesoffen dazu und hätte einmal leicht bei meiner Maschine das Leben
+verloren, wenn nicht der Herr Director mich im letzten Augenblicke gepackt
+und irgendwo hingelegt hätte, um den Rausch auszuschlafen. Die Käth kam an
+Sonntagen, so oft sie konnte, hielt mich vom Saufen ab, wir Beide sollten
+nur Einen Schoppen trinken, gab mir die besten Vermahnungen, ich plärrte
+oft vor Rührung und fluchte oft wie ein Türke, denn ein Hitzkopf bin ich,
+Duckmäuser! ... He, schläfst Du?"</p>
+<p>"Warum nicht gar, doch mach's kurz, in der Stadt draußen brummelt die
+Lumpenglocke und bis halb Fünfe ist's dann nimmer so lang!"</p>
+<p>"Auch gut, wills kurz verlesen!["] ... Mein Mädchen predigte umsonst, der
+Herr Director stellte mir Himmel und Hölle vor, aber der rothe Mathäubesle
+und Andere bekamen immer mehr Gewalt über mich, ich triebs immer ärger und
+ärger und wurde endlich entlassen. Die Käth weinte sich schier die Augen
+aus dem Kopf, die Eltern schimpften kannibalisch, aber jetzt war Hopfen und
+Malz verloren, der Asessor schnitt ein böses Gesicht, that fuchsteufelswild
+und ich zottelte eben wieder in den Schwarzwald hinauf.</p>
+<p>Daheim bekam ich Arbeit beim Fürsten als Holzschläger und hielt's ein
+Vierteljahr mit dem Waldleben recht gut aus, obwohl die Arbeit ganz anders
+war als in der Fabrik, wo eigentlich der Arbeiter nur Befehlerles spielt
+bei der Maschine. In meinem Ort lobten mich die Leute sehr, weil ich so
+lange fort war, gut gethan und rechtes G'häs mitgebracht habe und als ich
+das Saufen wieder anfing, hätte mich ein Vorfall belehren können, daß ein
+armer Tropf schon deßhalb nicht versaufen sollte, was er auf und anbringt,
+weil man gleich glaubt, er habe das Geld dazu gestohlen.</p>
+<p>Kommt eines Abends&mdash;es war just beim Nachtessen und ich spedirte die
+Kartoffel Nro. Dreißig ins Unterquatier!&mdash;kommt so ein Gensd'arm, schaut
+mich an, fragt wer und was, sieht meine Uhr an der Wand und nimmt sie weg,
+muß ihm mein Trüchle öffnen; er nimmt einen Rock, zwei paar Hosen, ein paar
+nagelneue Stiefel, drei Hemder, einen Hut, Schirm, endlich einen Stutzen
+und zuletzt mein Geld, es waren 18 Gulden 12 Kreuzer&mdash;und die Hausleute
+hattens in Verwahrung, weil ich das Trüchle nicht gut schließen konnte.
+Auch der Donat selbst gefiel ihm so, daß ich im Amtsgefängnisse
+übernachtete und zwar 6 mal. Man hatte dem Accisor unseres Ortes 50 Gulden
+gestohlen und 100 dabei liegen lassen und ich stand im Verdachte, wieder
+"gekratzt" zu haben. Aber ich konnte nachweisen, woher all' meine
+arretirten Sachen waren, es stellte sich heraus, daß der eigene Schwager
+des Accisors die 50 Gulden weggekratzt habe&mdash;es war auch ein Lediger, der
+gern ein Mäßlein lupfte, wie ich und ein Spezel von mir, ein völlig
+g'scheidter Kerl und nicht so schlecht, wie der rothe Mathäubesle, der doch
+nie im Zuchthaus war!&mdash;kurz, ich wurde nach sechs Tagen wieder frei, der
+Amtmann sagte gleich, ich hätte beim Accisor nicht gestohlen, denn ich
+würde die 100 Gulden auch eingesackt haben und ich glaube, er hätte Recht
+gehabt, wenn mir nicht die rechte Spitzbubencourage überhaupt mangelte.</p>
+<p>Auf dem Heimwege&mdash;am Tage Mariä Geburt wars!&mdash;traf ich ein Weibsbild, das
+ich schon früher gekannt hatte und nicht viele Flausen machte. Diese
+Apollon war viel jünger und netter als die Fränz, dafür aber schlimmer,
+wollte überall sein, wo es lustig zuging, vertrieb mir die Lust zur Arbeit,
+machte mich leichtsinnig und allgemach ging alles Geld fort, ich verkaufte
+alle meine Sachen, vergaß die Käth sammt meinem Kinde ganz und gar!</p>
+<p>Höre Duckmäuser, Du hast Recht, es ist nicht das Aergste, daß Du den Alten
+umbrachtest, ich begreife, daß die Hannette oder Hindania oder wie das
+wälsche Mensch hieß, Dir weit mehr Gedanken macht!</p>
+<p>Die Käth kam aus dem Unterland herauf, um mich zu besuchen, es wurde mir
+gesagt und ich ging so lange fort, bis ich glaubte, daß sie die
+Höllensteige wieder hinab sei.</p>
+<p>Sie hinterließ mir bei der Adlerwirthin Wünsche für mein Glück und was ich
+suche, das werde ich schon finden, soll nur das Kostgeld für das arme Kind
+nicht ganz vergessen, sie bringe es nicht auf und ich kennte ja die Armuth
+ihrer Eltern!&mdash;Will's mir doch das Herz zersprengen, wenn ich jetzt in
+meinen Ketten an die Käth denke! ... Wie verlassen war <i>ich</i> an Vater
+und Mutter, wie oft und viel habe <i>ich</i> deßhalb schon geplärrt und
+jetzt mache ich's gerade wie der schlechte Unteroffizier!&mdash;Gottlob, daß der
+Vater der Käthe keiner ist, wie mein versoffener Stiefvater, der jetzt von
+seinen Buben in den alten Tagen gehauen wird trotz einem Tanzbären!&mdash;
+Käthe's Kind hat einen guten Großvater, er trug es immer auf den Armen
+herum, ohne daß er mich je leiden konnte und habe ihm doch mein Lebenlang
+nicht ein Augvoll Böses gethan! ... Ich fand bald, was ich suchte, nämlich
+das Zuchthaus, wohin mich eine That brachte, zu welcher ich von der
+erzliederlichen Apollon in der Besoffenheit beredet wurde. Wurde wegen Raub
+verurtheilt, Gott weiß, daß ich nie an Raub dachte, obwohl ich vielleicht
+bald wieder zum Stehlen gebracht worden wäre. Man hat mir nicht geglaubt,
+doch Du wirst mir glauben, Duckmäuser, denn wozu sollte ich hier lügen, wo
+Stehlen und Rauben fast Ehrensache sind? Verurtheilt bin ich, kann nichts
+daran ändern und denke eben, ich hab' die schwere Strafe an der Käth
+verdient und an meinem Kind, an denen ich schlecht genug handelte... Wegen
+Raub bin ich verurtheilt, doch höre, wie Alles zuging, pure Thatsachen!</p>
+<p>Am 13. Juni heuer, es war an einem Sonntagmorgen und wunderschönes Wetter,
+beredet mich die Apollon sie zu begleiten, sie wolle nach Aha 'nauf, um
+eine alte Kamerädin zu besuchen. Wir gehen; der Himmel wölbte sich wie ein
+seidenes Sonnendach über die Berge, alle Matten prangten mit Millionen
+Blumen, der Titisee glänzte wie ein Metallspiegel, die alten braunen Hütten
+mit ihren Strohdächern sahen aus, wie großmächtige Aschenhaufen, wo die
+Buben und Mädle, der neumodischen steinernen kalten Paläste Johannisfeuer
+angezündet hatten, die Luft wehte mild und frisch aus den noch dampfenden
+Thälern am Feldberge, man hörte nichts als den Klang der Glocken, der durch
+die Tannenwälder zitterte, zuweilen einen Vogel oder einen Schuß oder einen
+Peitschenknall und hätte die Gegend für ausgestorben halten können, wenn
+nicht die stämmigen Mädle mit den gelben Strohhüten und altfränkischen
+Juppen mit ihren Burschen und das Herrenvolk aus Lenzkirch auf der Straße
+hin- und hergewandelt und aus allen Kirchen die Anhöhen hinauf und ins Thal
+hinab heimgegangen wären. Ich rauche gemüthlich das Pfeifle, betrachte
+Alles und sage endlich zu der Apel, die in Einem Zug fortschwätzt, ohne daß
+ich auf sie hörte: "Apel, ich glaubte, es ginge in eine Kirche; mir ist's,
+als ob meine Mutter auferstanden wäre, dort zwischen den Weißtannen immer
+herüberschaute und sagte: "Donatle, denk an Gott und bete, hast Niemanden
+auf der Welt!"["]</p>
+<p>Die Apel lacht laut auf und sagt: Hab's schon gemerkt, daß ein halber Narr
+neben mir wandelt. Du weißt, daß ich geschworen habe, erst wieder in
+d'Kilch zu gehen, wenn ich die Granatenhalsschnur habe, nach der du mir das
+Maul schon hundertmal wässerig gemacht hast. Gehe meinethalben in die Kilch
+oder zu der bucklichen Hanne, du Tropf und laß mich mit Frieden, hast mich
+doch nicht gerne!</p>
+<p>"Apel sage ich&mdash;du kriegst die Halsschnur, sobald ich Geld habe. Aber wir
+hätten nach der Kirche auch noch den Weg nach Aha gefunden!"</p>
+<p>Jetzt wird sie ernstlich böse, geht auf die andere Straßenseite, sagt:
+"Geh' in die Schweiz und werde Kapuziner, du Lalle! Ist da draußen nicht
+auch die Kilch? Bin ich schlechter als die Andern, die den ganzen Tag den
+Rosenkranz drillen? Na, na, die wüste "Unterländersau" steckt dir im Kopf,
+hast die Apel satt und willst anderes Futter, du schlechter, ehrloser
+Kerl!"</p>
+<p>Sie sagt kein Wort mehr, ich habe nicht übel Lust, ihr von wegen der
+"Unterländersau" den Hals zuzuschnüren, daß ihr die Lälle zum bösen Rachen
+heraushängt, aber sie springt voraus, nachher reuts mich wieder und mache
+gutes Wetter. Ich sah wohl, daß die Apel mein Unglück sei, doch ich habe
+Niemanden auf der Welt und ein Weibsbild <i>muß</i> ich haben!&mdash;Wir laufen
+und laufen wieder selbander und kommen bald zum Rößle, wo es die Steig
+hinabgeht und links über die sumpfigen Matten durch Hinterzarten den Wald
+hinein, bergauf bergab nach Aha 'nauf. Sie wollte haben, daß ich mit ihr in
+den Sternen hinabginge und dort Forellen bezahlte, denn die Forellen der
+Posthalterin sind im ganzen Land berühmt und das Herrenvolk, das mit dem
+Eilwagen fährt, frißt im Sternen Forellen und sauft Markgräfler dazu, daß
+ihm der Ranzen zerspringen möchte. Die Apel that gar gern wie
+Herrenmenschen thun, war auch in der Hoffnung, wo man den Weibern nichts
+abschlagen soll, aber <i>ich</i> ging dennoch nicht in den Sternen, der
+Teufle führte mich in das Rößle ob der Steig und die Apel blieb nicht
+draußen und lief nicht allein weiter, wie sie gedroht hatte.</p>
+<p>Wir fressen einen Kalbsbraten, 's war ein Stück so groß wie ein Roßkopf,
+dazu ein Scheffel Salat; der Wein ist ganz gut, die Apel und ich bürsten,
+daß es eine Art hat, obwohl wir nicht mehr einen Brabanter im Vermögen
+besitzen.</p>
+<p>Auf einmal geht die Apel hinaus, steht vor dem Rößle, hält die Hand über
+die Augen, stiert immer auf den Weg, der von Hinterzarten durch die Matten
+führt, kommt herein und thut wie ein Narr, daß ich bezahle und mit ihr
+fortgehe.</p>
+<p>"Komm, Donat, geschwind, wir gehen nicht nach Aha, es thut's ein andermal
+auch, wollen zurück gegen Lenzkirch!" drängt sie. Ganz verwundert zieht sie
+mich an der Lafette vorbei, wo der Wirth gerade aus dem Fenster schaut und
+wahrscheinlich ob unsern rothen Gesichtern lacht. Hinter dem Bären schlagen
+wir die Straße nach Lenzkirch ein, im nächsten Wäldchen steht sie still und
+sagt gar freundlich:</p>
+<p>"Donat, <i>jetzt</i> will ich den größten Beweis von Liebe, den du mir
+geben kannst und wenn du's <i>nicht</i> thust, adje Parthie!"</p>
+<p>Ich hätte damals dem Teufel den Schwanz ausgerissen, wenn die liebe Apel
+gewunken hätte und schwöre ihr Alles zu thun, außer Stehlen und Umbringen.</p>
+<p>"Komm ein bischen hinter die Tannen, wir wollen passen. Es ist hoher
+Mittag, weit und breit kein Mensch, doch kommt in einigen Minuten ein
+Maidle von Hinterzarten, das mich schwer erzürnt hat am Georgentag, wo ich
+auch nach Aha ging und in Hinterzarten einkehrte. Sie hat mir vor einer
+Stube voll Leut alle erdenklichen Schandnamen gesagt und gemacht, daß ich
+fort mußte. <i>Die</i> packst du an, schleppst sie in den Wald, im
+Nothfalle bin ich auch da, sie kennt dich nicht, aber mich, deßhalb komme
+ich nur im Nothfalle. Ist gar stolz auf ihre Larve; du sollst sie recht
+demüthigen, das übermüthige Ding; es kommt nichts heraus und zu nehmen
+brauchst du ihr weiter nichts! ... Hat sie ihren Theil, so lassen wir sie
+wieder springen, willst du, Herzensdonätle?["]</p>
+<p>Ich war stark benebelt, die Sache kam mir recht spaßhaft vor, richtig da
+kommt das Mädle und sieht aus, wie der Tag im Vergleich zu der Apel. Ich
+schlich hinter ihm her, die Apel blieb abseits im Walde, das Herz klopfte
+mir, daß ich fast keinen Athem mehr bekam, die Apel winkt immer wie
+besessen, endlich fasse ich ein Herz, packe das Maidle und zerre es den
+Straßengraben hinab in den Wald. Es schrie wie ein Dachmarder, wehrte sich
+aus allen Kräften, ich riß ihm unversehens eine Granatenschnur mit einem
+goldnen Kreuze weg, was später im Grase gefunden wurde und warf es zu
+Boden!&mdash;Ihr vermaledeites Geschrei führte zwei Bauernbursche her, die von
+Lenzkirch die Höhe rasch heraufgestiegen waren. Diese halfen dem Maidle,
+prügelten mich kreuzlahm, banden mir dann die Hände mit meinen eigenen
+Hosenträgern und schleppten mich nach Lenzkirch!"&mdash;Das ist meine Geschichte
+und jetzt urtheile du, ob ich einen Raub begangen habe und gerecht oder
+ungerecht leiden muß! Ich erzählte Alles haarklein, wie es gegangen war,
+doch mußte halt ein Räuber sein, da half Alles nichts mehr. Mich reut's bis
+auf's Blut, daß ich nur ein Brösele gestanden habe."</p>
+<p>"Nein, bist kein Räuber, armer Tschole, bist halt auch ein Unglückskind!&mdash;
+Was hätte es dem Maidle geschadet, wenn du zum Ziele gekommen wärest? ...
+Aber mit der Apel, wie gings da?" fragt der Benedict verächtlich und
+spöttisch zugleich.</p>
+<p>"Ja, die Apel, die Apel! Diese wurde nicht entdeckt und war <i>vor mir</i>
+in der Neustadt, um mich bei Amt anzugeben. Sie beschwur, daß ich
+<i>sie</i> bereden wollte, an der Sache Theil zu nehmen; sie habe solches
+nicht über s'Gewissen gebracht, mich nicht abhalten können, zumal in ihren
+Umständen und mich deßhalb angezeigt. Ich sei ein schändlicher Kerl und
+wenn <i>sie</i> nicht gewesen wäre, würde ich schon mehr als hundert
+Weibsbilder unglücklich gemacht haben. Ist solche Falschheit nicht
+himmelschreiend? ... Ich weiß woher das kommt!"</p>
+<p>"Ei, die Apel trug eben keine Lust, nach Bruchsal zu kommen" meinte der
+Duckmäuser.</p>
+<p>"Wohl, doch der Hauptgrund ist, weil das liederliche Weibsbild wieder mit
+einem alten Schatz liebäugelte, der fast der zweite Spaniol war."</p>
+<p>"War der Donatle, so lange ich Geld und Sachen zu verkaufen hatte, im Rößle
+blieben mir noch 10 Batzen übrig, 5 davon gab ich ihr und sie wußte, daß
+meine Herrlichkeit ein Ende hatte und ich das Hemd vom Leibe verkaufen
+mußte! Der Kilian von Prechthalen, ein Wittmann, mit dem sie einmal einige
+Jahre im Lande herumgezogen, hatte einen Brief geschickt und ihr angeboten,
+mit ihm zu hausen. Die Apollon sagte mir selbst, sie sei entschlossen, ins
+Prechthal zu wandern, sobald sie ihr Kind der Gemeinde abgeliefert habe.
+Geben konnte ich nichts mehr, drum verließ sie mich. O die Menschen sind
+falsch, grundfalsch, Duckmäuser, es gibt keine Ehrlichkeit mehr auf der
+Welt und der Ehrlichste wird am meisten angeschmiert! Falsch wie Galgenholz
+hat die Apel, der ich Alles anhing, an mir gehandelt! ... Es möge ihr in
+der Hölle zehntausend Jahr auf der Seele brennen!"</p>
+<p>"Wie lang bist du denn mit der Apel umgegangen?" fragte der Benedict. "Hoh,
+sieben Monate mindestens zottelte ich aus einem Wirthshaus und einem Orte
+in den andern."</p>
+<p>"Und arbeitetest nicht?"</p>
+<p>"Der Fürst wollte keinen Holzschläger meiner Art lautete der Bericht des
+Försters. Dieser konnte mich anfangs leiden, doch wurde ich bei ihm
+angeschwärzt, daß ihm die Augen überliefen. Unsereins soll eben kein
+Freudele haben und wird gleich Alles krumm genommen!" seufzt der Donatle.</p>
+<p>"Hast mir auch schon erzählt, wie du den Bauern Schinken aus dem Kamin und
+Schmalzhäfen aus dem Trog geholt hast, mich wunderts nur, daß du soviel auf
+deine Ehrlichkeit gibst!" ... lächelte der Vatermörder. "Oh du Daps,
+entgegnet der Donatle, vertragen sich solche "G'späß" nicht mit der
+Ehrlichkeit? Dann wären alle Leute Spitzbuben! Was schadet so ein Beinle
+oder Häsele einem Packer oder Holzhändler oder Wirth? Zudem hat die Apel
+das Meiste geholt, sie konnte es mit den Weibern und noch mehr mit den
+Knechten und theilte Alles redlich mit mir!"</p>
+<p>"Sauberes Leben das, du ehrlicher Donatle!" meint der Benedict.</p>
+<p>"Spotte du nur über mein Unglück, hast's auch nicht besser gemacht! ... Bin
+eben schief in die Welt gerutscht, die Fränz, der rothe, verdammte
+Mathäubesle und die Apel, lauter Leute zehnmal nichtsnutziger als ich sind
+eben an meinem ganzen Unglück Schuld! ... Hab erst am vorigen Sonntage
+daran gedacht. Ich las in der Kirche, wie sich Ludwig der kleine
+Auswanderer von einem Schmetterling und Kukuk verführen ließ und im Walde
+verirrte und dachte gleich, Fränz und Apel und die Fabrikthierer im
+Unterland seien <i>meine</i> Schmetterlinge, der rothe Mathäubesle mit
+seinen wüsten Reden und Liedlein <i>mein</i> Kukuk gewesen, die Amtsleute
+aber <i>meine</i> Sperber und Weihe und so ist's! ... Hätte ich <i>dein</i>
+Vermögen und <i>deine</i> Mädlen, deine Mutter und den Meister März dazu
+gehabt, dann wär' der Donatle nicht neben dir, weißt du's? Ich bin kein
+Spitzbube, aber <i>du</i> bist Einer und ein Mörder dazu!" ... flüsterte
+der zornig werdende schuldlose Donat. Mit einer sehr unzierlichen Redensart
+kehrt sich der Duckmäuser um und beginnt zu schnarchen.</p>
+<p>Der Schwarzwälder brummt noch einige Redensarten, sieht, daß der Patrik mit
+hellen, offenen Augen zu ihm hinüberstarrt und den Kautabak lustig von
+einem Backen in den andern wirft, von Zeit zu Zeit in eine Düte spuckend,
+die er im Schreinermagazin gefunden haben mag. "Iech ha der's gs'ait, ma
+cha nüt mitem Duckmüser ha, s'isch e Chalb wia der Amtma vu Instetten!"
+sagt der Patrik, dessen scharfe Ohren Alles gehört hatten.</p>
+<p>Der Patrik ist nach Geburt und Art ein "Hotzenwälder" neuern Schlages, bei
+dem außerordentlich viel Ungeschlachtheit und ungezähmte Leidenschaft sich
+mit Mutterwitz vermählen, während von biederer Frömmigkeit und
+Rechtschaffenheit der ehrwürdigen Altvordern bei ihm blutwenig verspürt
+wird. Pauperismus und Sittenverwilderung fanden sammt der Aufklärung den
+Weg auch in die Thäler der ehemaligen Grafschaft Hauenstein, welche in
+neuester Zeit das Calabrien des badischen Oberlandes zu werden droht;
+mindestens steht eine Diebsbande dieser Gegend nach der andern vor den
+Geschwornen in Freiburg, an Brand, Mord und Todtschlag hat es schon früher
+nicht gemangelt und mit der uralten, schönen malerischen Tracht scheint
+auch die uralte Einfachheit des Lebens, der Sitte und die fromme Gesinnung
+täglich mehr zu verschwinden.</p>
+<p>Der Patrik stolperte aus seinen Bergen in das wohlhabende fruchtbare
+Hügelland des Kleckgaues, diente an verschiedenen Orten, am längsten beim
+Posthalter in Instetten, wo er als Hausknecht sich unmäßig in den guten
+Rothen verliebte und zuletzt fortgejagt werden mußte, weil er soff, daß er
+manchmal einen Güterwagen für eine Baßgeige hielt und mit dem theuern Hafer
+umging, als ob er vom Himmel herabregne. Er lungerte dann einige Zeit im
+"Züribieth" herum, trieb Alles, was der Brief vermochte und kam zuletzt mit
+den Landjägern in eine so schiefe Stellung, daß er gerathen fand, sein
+Glück wiederum "im Dütschland" zu probiren. Leider jedoch ereilte diesen
+Sohn Teuts, dem die Treue zum Rothen nicht nur aus den Augen blitzte,
+sondern auch aus der Kupfernase schimmerte und die Liebe zur Trägheit
+unsäglich tief im Herzen saß, nicht das Glück, sondern das Unglück und
+jetzt erzählt er dem Donatle, was er im Zuchthause schon hundertmal erzählt
+hat, nämlich die "wahrhaftige und kurze" Geschichte seiner "unsäglichen
+Schuldlosigkeit."</p>
+<p>Rauh und eckig wie die tosenden Waldbäche und Felsen seiner Heimath ist
+Patriks Sprache; man glaubt eine Sägemühle krächzen zu hören und ein Pommer
+oder Mecklenburger würde keine Silbe davon verstehen, wenn er nicht etwa
+Hebels allemannische Gedichte an springenden und singenden Theeabenden mit
+wüthenden Beifall radebrechte; dabei flucht der Patrik trotz dem derbsten
+Hochbootsmann und braucht Bilder, vor denen selbst der Idyllendichter Voß
+von Heidelberg bis Eutin fortgaloppirt wäre.</p>
+<p>In wie vielen schattenreichen Gebäuden der gute Hotze schon herumwanderte,
+ehe er in den grauen Kittel schlüpfte, verschweigt er dem Donatle klüglich;
+es ist spät, er macht die Sache kurz und sein vom Brummbaß des
+Murmelthieres beschütztes Geflüster ließe sich etwa übersetzen wie folgt:</p>
+<p>"Man hätte mich auf den Grund schlagen sollen neun Monate vor meinem
+Geburtstage, nämlich in der Gestalt meines Vaters, der die Dummheit beging,
+einen Kerl auf die Welt zu setzen, welchem das Unglück wie der eigene
+Schatten folgt. Die Mutter hat's mir oft prophezeit, ich sei für das Kreuz
+geboren und habe ein grausiges Kreuz auf dem Hirnschädel gehabt und im
+Meerfräulein zu Laufenburg hat einmal ein Käshändler mit dem Vater
+gewettet, daß ich noch lange vor ihm am Galgen oder im Zuchthause stürbe ob
+schuldig oder unschuldig, denn die Constellation der Gestirne&mdash;davon
+versteht ein Kalb deiner Art freilich nichts!&mdash;sei bei meiner Geburt die
+schlimmste von allen erdenkbaren Constellationen gewesen. Bin jetzt 27
+Jahre und 13 Herbstmonate auf der Welt und weiß, daß der Teufel morgen
+allen Leuten die Füße abschlüge, wenn ich heute Schuster würde, drum ist
+mir auch alles Eins und der Vater hat mich nichts lernen lassen ... Hör'
+nur Einen Spuk, Donatle, dann hast genug und wirst dich nicht mehr
+verwundern, weßhalb ich auch hier alle Schick ins "schwarze Loch" komme.
+Sitze also im Engel zu Lottstetten und versaufe den letzten Rappen, damit
+er mir nicht aus dem Sack fällt und schlendere dann wohlgemuth auf der
+Straße nach Instetten ... der Fußweg über die Wiesen war so schmierig wie
+das fünfte Element im Polakenland!&mdash;weiter und denke an meinen alten
+Schatz, mit der ich in der Weihnachtsnacht hinter der Klosterkirche von
+Rheinau zum erstenmal zusammentraf. Ganz in Gedanken versunken laufe ich
+den Berg hinan, merke gar nicht, daß ich einem leeren Güterwagen begegnete,
+bis ich hinter mir rufen hörte. Hört ein gescheidter Mensch in einer
+Gegend, wo auf der einen Seite Wald und weit und breit kein Mensch zu sehen
+ist, hinter sich Halt brüllen, so schaut er sich nicht um und springt, daß
+ihm die Schrittstecken wackeln. Wiewohl ich nun der dümmste Gedanke meines
+Vaters bin, war ich doch gescheidt genug, diesmal zu springen und erreiche
+das Höchste ganz athemlos, weil mein Verfolger immer fort brüllt und auch
+springt. Doch was geschieht? Mir entgegen kommt gerade ein Gensd'arme, der
+mich im Verdachte hatte, daß ich ihm einmal in Instetten im Finstern Eins
+aufs Dach gab ... es war Einer, der mich früher ins Bürgerstüble brachte
+und von dort in den Thurm von wegen einer Trudel, der ich Nachts in die
+Kammer gestiegen bin! Unser Gensd'arme sieht mich kaum, nimmt er's Gewehr
+von der Achsel, macht am Hangriemen herum und schreit ebenfalls Halt!&mdash;
+Außer den beiden Haltschreiern sah ich weit und breit nur mich, denke an
+die Prophezeiung meiner Mutter selig, springe über die Straße links in die
+Felder und sehe im Umschauen, daß der verdammte Grünrock mir nichts dir
+nichts auf mich anlegt, als ob ich ein Hase wäre. Ganz verwundert bleibe
+ich stehen, denke: Patrik, aha, die Constellation ist wieder da! Der
+Gensd'arme kommt und brüllt: Halt Spitzbube, Ihr seid arretirt. Gleich
+darauf keucht ein schwäbischer Fuhrmann, den ich auch nicht leiden mochte,
+weil er nie in der Post zu Instetten, sondern im Engel zu Lottstetten
+einstellte, auf mich los und schreit ebenfalls: Hab' ich dich Spitzbube,
+liederlicher!</p>
+<p>"Hört, Ihr Hagelsketzer, ich bin kein Spitzbube!" sage ich mit der größten
+Mäßigung und war mir schon nicht wohl dabei, weil ich meinen Heimathschein
+in Bülach drüben liegen gelassen hatte.</p>
+<p>"Erzspitzbube, Halunke!" antworten die Beiden ganz besessen, sind keine
+drei Schritte mehr vom Leibe und während ich vor Erstaunen die Hände über
+dem Kopfe zusammenschlage, klirrt eine Kette, ich reiße die Augen auf und
+was meinst, Donat, was mir Unglücksmenschen passirt war? Im Vorbeistreifen
+am Güterwagen blieb eine Wagenkette an mir hängen und vor lauter Gedanken
+an die Rheinauerei und später vor Angst und Schrecken hatte ich den Butzen
+gar nicht bemerkt. Es war eine schöne schwere Kette und habe nachher alle
+Sterne vom Himmel herabgeflucht, weil der Kaib von Fuhrmann nicht schlief,
+während sonst Güterfuhrleute oft von einem Wirthshaus zum andern fahren,
+ohne ein Auge aufzumachen. Dieser heillose Streich war noch das Geringste;
+der heimtückische Schwabe hatte auch noch seine Brieftasche und die
+silberbeschlagene Tabakspfeife in die Tasche meines Manchesterkittels
+gesteckt, während ich sinnend an ihm vorüberstreifte. Der Gensd'arme und
+der Schwabe konnten mich nicht leiden, 's war offenbar ein abgekartetes
+Spiel, um mich ins Elend zu bringen, ich zeigte mich bereit, dies
+hundertfach zu beschwören, doch der Amtmann half den Beiden und ich, armer,
+armer Tropf, der ich gehofft hatte, im Adler zu Instetten"&mdash;</p>
+<p>"Jetzt ist's genug, ihr Waschweiber, ich will meine Ruhe, ich bin nicht im
+Zuchthaus, um euer Sumsen zu hören!" ... schrie das Murmelthier mit
+zornrothem Antlitz, stand im Hemde im Hintergrund des Saales gleich dem
+Rachegeist der Hausordnung und trommelte wüthend auf dem
+zusammengeschrumpften Schmeerbauche herum.</p>
+<p>"Ob <i>Ihr</i> auf der Stelle in Euer Nest geht? Ob ich kommen soll? Wartet
+nur, das wird Euch eingetränkt! Die Ruhe auf solche Weise stören, Nachts um
+Zwölfe krakehlen, als ob Ihr der Gockler in diesem Saale wäret?!["]</p>
+<p>Ob dieser Philippika streckte Mancher den Kopf in die Höhe, der Aufseher,
+der alte Moritz stand mit rothem Kopfe unter dem Guckfenster, sein grauer
+Schnurrbart richtete sich in die Höhe, wie die Stacheln eines
+Stachelschweines, das seinen Feind erschießen will. Das erschrockene
+Murmelthier, ein wahres Bierfaß auf zwei wandelnden ungeschälten Stecken
+rannte mit einem Harrassprunge in das Bett, die Bretter brachen zusammen
+und jammervoll saß der Edle auf den Trümmern seines Glückes, nachdem er
+dreimal von oben nach unten gekugelt!</p>
+<p>"Herr Moritz entschuldigen, <i>nicht</i> mein College da war der
+Ruhestörer, sondern <i>die</i> dort hinten, vor Allem der Duckmäuser, der
+nicht eine Minute schweigt und all meine Warnungen verachtet, weil er mich
+nicht als legitimirten Aufseher des Schlafsaales anerkennt. Er hat den
+Donat zum Plaudern verführt und dann den Patrik! ... Offenheit ist meine
+Sache, der Wahrheit die Ehre, an Zeugen wird's nicht fehlen! ... Es wird
+ruhig sein, ich garantire Ihnen, mein Herr!" Diese Rede des Spaniolen
+besänftigt den alten Moritz, der sich mit der ernsten Mahnung ans Strafbuch
+in den Gang zurückzieht.</p>
+<p>"Oh, wäre ich in einer Zelle, der Kerl wird sonst noch kalt durch mich!"
+murmelt der Duckmäuser und knirscht mit den Zähnen.</p>
+<p>"Der Spaniol ist ärger als die Apel, der Teufel soll ihm heute Nacht noch
+das Genick brechen!" sagt der Donat leise vor sich hin.</p>
+<p>"Siehst du, Donat, die Constellation? Morgen gehts wieder ins schwarze Loch
+mit Hungerkost und Gänsewein, Alles von wegen der
+Strohlshagelsconstellation!" ... "O Vater, du Hornvieh, ich möchte dich
+noch unterm Boden auf den Grund schlagen, du bist schuld an Allem!"...
+seufzt der Patrik und kehrt sich auf die andere Seite.</p>
+<p>"Wann, o wann hört der Lärm und Gestank dieser Marterhöhle für mich auf!"
+flüstert Martin der Wirthssohn leise vor sich hin und läßt einen tiefen
+Seufzer fahren, während die Augen trostlos durch die vergitterten Scheiben
+in die sternenleere, schwarze, traurige Regennacht hinausstarren.</p>
+<p>Von jetzt an vernimmt man nur noch das Schnarchen des Murmelthieres aus dem
+Abgrunde der zerbrochenen Bettlade sammt dem Geschnarche eines halben
+Dutzends Anderer, die schwer gearbeitet oder den Schnupfen haben. Einige
+reden im Schlafe, weinen, fluchen, schlagen um sich und der schwere,
+schwüle Dunst dieses Saales tragt wohl dazu bei, auch die Traumwelt der
+Gefangenen mit wilden, düstern Gestalten und Bildern zu bevölkern. Aus
+jenem Verschlag im Hintergrunde, dem von Zeit zu Zeit Einer zuschleicht,
+wehen Moderdüfte über die Schläfer.</p>
+<h3><a name="10"></a>Bruchsal.</h3>
+<p>
+Wer auf der Eisenbahn zwischen der altberühmten Musenstadt Heidelberg und
+dem schönen Karlsruhe fährt, wird selten ermangeln, bei der Station
+Bruchsal nach einem großen Bau hinüberzuschauen, welcher gleichzeitig an
+die Pracht und an das Elend unseres Jahrhunderts mahnt.</p>
+<p>Er sieht einige freundliche Häuser durch einen baumlosen Garten geschieden,
+in gleichen Abständen hinter einander stehend, an eine hohe graue Ringmauer
+sich anlehnend, die mit Thürmen besetzt ist, zwischen denen Schildwachen
+auf und abgehen. Vom Thore führt ein mit Schieferplatten gedecktes Gebäude
+einem Thurme zu, von dessen hohen Zinnen der Blick weithin durch die
+Rheinebene bis Mainz schweifen mag und von diesem Thurme mit seinen im
+Sonnenglanz blitzenden großen Fensterscheiben strahlen vier lange, aus
+röthlichen Sandstein errichtete Gebäude aus, alle gleich hoch, alle mit
+derselben Anzahl länglicher, vergitterter Fenster und Stockwerke versehen.
+Das Ganze erinnert an eine mittelalterliche Burg oder noch eher an die aus
+dem Revolutionskrater des Jahres 1789 verjüngt erstandene Bastille, welche
+aus dem Völkerbienenstock und Wespennest Paris in das stille,
+idillischschöne Rheinthal wanderte. Es lehnt sich an einen niedern
+Höhenzug, von welchem Weinberge, Obstbäume, Felder und Matten starr
+hinabschauen in das fremdartige, geheimnißvolle Leben, welches sich in den
+Höfen still und einförmig hin und her bewegt.</p>
+<p>Diese mit großen Kosten, aber auch für Jahrhunderte errichtete Masse von
+Gebäuden, gleichsam den Anfang einer neuen und großartigen Vorstadt
+Bruchsals abgebend, bildet ein Ganzes, dessen Beschreibung uns um so mehr
+überzeugte, daß wir ein zu Stein gewordenes Abbild der Idee der
+Zweckmäßigkeit vor uns haben, je mehr jene ins Einzelnste einginge.</p>
+<p>Hier ist wohl der <i>einzige</i> Platz in Deutschland. <i>wo die
+Einzelnhaft mit jener Folgerichtigkeit durchgeführt wird, welche die Härten
+des amerikanischen Systems vermeidet, ohne den Grundgedanken der
+vollkommenen Trennung der Gefangenen zu beeinträchtigen.</i></p>
+<p>Es ist ein Wunderbau und ein großer, fruchtbarer Gedanke in ihm lebendig
+geworden, der Gedanke, <i>die Gesellschaft nicht nur vor ihren Feinden zu
+bewahren, sondern diese oft weit mehr unglücklichen als verbrecherischen
+Feinde zu beständigen Freunden der Menschheit und Gottheit zu machen.</i></p>
+<p>Die ersten unvollkommenen Anfänge eines derartigen Baues entstanden in der
+Quäkerstadt jenseits des Meeres; die Ersten, welche das einzigrichtige
+Mittel ergriffen, um die für die Gesellschaft und die Verbrecher gleich
+großen Gefahren des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Sträflinge
+abzuwenden, waren Männer, welche noch heute zu den Edelsten unseres
+Geschlechts gezählt werden und deren Ruhm in einem bessern Jahrhundert den
+zweideutigen Ruhm der meisten Kriegshelden so hoch überfliegen wird, als
+der völkerbeglückende Geist christlicher Liebe über der finstern
+Gewaltthätigkeit thierischer Rohheit und Selbstsucht steht.</p>
+<p>Noch niemals gab es eine große Erfindung, niemals blitzte ein ins
+Völkerleben eingreifender neuer Gedanke auf, wogegen sich nicht zahllose
+Widersacher erhoben hätten. Jede neue Erfindung und Einrichtung ist eine
+Kriegserklärung gegen diejenigen, welchen dadurch ins Handwerk gegriffen
+wird, deren Nutzen, Eitelkeit, Denkfaulheit, bequeme Gewohnheiten bedroht
+erscheinen. Ungefährlich werden die Liebhaber des alten Schlendrians, je
+mehr die Zeit eine neue Erfindung oder Einrichtung bewährt. Je weniger
+Bürgschaften für solche Bewährung vorliegen, desto schwankender,
+zweifelhafter, unentschiedener werden dann auch diejenigen sich verhalten,
+deren Besonnenheit und weitschauender Blick sich nicht damit verträgt, das
+schadhafte Alte mit ungeprüftem Neuen zu vertauschen, insbesondere wenn das
+Alte noch verbesserlich erscheint und das Neue nur mit großen Opfern und
+Gefahren eingeführt zu werden vermag.</p>
+<p>In Amerika ist die Verwerfung gemeinsamer Haft längst entschieden und der
+Streit dreht sich dort nur noch um die Frage, ob die <i>scheinbare</i> und
+<i>halbe</i> Trennung der Gefangenen durch das sogenannte Schweigsystem
+oder die <i>wirkliche</i> und <i>vollständige</i> durch das System
+absoluter Vereinzelung räthlicher und fruchtbringender sei, eine Frage,
+welche auffallend erscheinen würde, wenn man nicht wüßte, daß die Erfahrung
+viele Bedenken, Vorurtheile und Gefahren der einsamen Haft wirklich oder
+scheinbar bestätigte.</p>
+<p>Einerseits wurden die Forderungen und Erwartungen zu hoch gespannt,
+anderseits die Leistungen zu gering befunden, weil eben die Lösung der
+Frage der einsamen Haft nur durch Versuche allmählig geschehen und dabei
+nicht leicht vermieden werden kann, daß verkehrte Maßregeln und untaugliche
+Leute den Vielen Waffen in die Hand geben, die das Kind gerne mit dem Bade
+ausschütten.</p>
+<p>England und Frankreich mit andern Ländern, in Deutschland Preußen voran
+scheinen von der Unverbesserlichkeit der gemeinsamen Haft längst überzeugt;
+jenes sendet seine Verbrecher mit altgewohntem Krämergeiste baldmöglichst
+nach Australien, um jene einst so glücklichen Eilande mit dem Gifte
+europäischer Verdorbenheit zu beglücken und sich selbst das zweibeinige
+Ungeziefer weit vom Leibe zu schaffen; die Franzosen ergriffen den Gedanken
+der einsamen Haft mit gewohnter Lebendigkeit und führten ihn an manchen
+Orten ins Leben, doch einerseits würde die allgemeine Einführung der
+Zellenhaft viele Millionen verschlingen und anderseits tobte die
+federnmordende Feldschlacht zwischen Liebhabern des Schweigsystems und der
+Zelle, wobei sich die Anhänger des Alten und Bestehenden vergnüglich die
+Hände rieben und sich hinter das Flicken machten.</p>
+<p>In Preußen zunächst, wo die Regierung auch im Gefängnißwesen Großes leistet
+und wacker für Vereine für entlassene Gefangene kämpfte, hat der edle
+Julius insbesondere eifrig gewirkt für einsame Haft. Es wurden
+Zellengefängnisse nach englischem Muster gebaut, die folgerichtige
+Durchführung der einsamen Haft leider auch nach englischem Muster
+aufgegeben. Einzelne in andern Ländern redeten und schrieben Vieles von
+bisher unentdeckten Verbesserungen der gemeinsamen und noch weit mehr von
+der abscheulichen Kostspieligkeit und der menschenmörderischen
+Abscheulichkeit der Einzelhaft.</p>
+<p>In allen Ländern Europas erhoben sich die edelsten und gelehrtesten Männer
+<i>für</i> seltener auch <i>gegen</i> die Einrichtung, gegen deren
+Einführung der Kostenpunkt die einleuchtendste und beliebteste Einwendung
+blieb.</p>
+<p>Daß in einer so wichtigen Frage nicht nur die Vernunft, sondern manchmal
+auch die Leidenschaft im Humanitätsmantel das Wort ergriff, viel Sinnloses,
+Unwahres und Lächerliches zu Tage gefördert, Mücken zu Elephanten gemacht
+und die altberühmten Hochschulen des Lasters, nämlich die alten Zuchthäuser
+als wahre Tugendschulen angerühmt wurden, versteht sich von selbst und mehr
+als Einer brütete ein sogenanntes "System" aus, das auf den Gedanken
+hinauslief: "wenn <i>alle</i> Gefängnißbeamte <i>meine</i> Erfahrung und
+<i>meinen</i> Geist hätten, um <i>meine</i> Klassen unfehlbar
+durchzuführen, dann wäre aller Noth ein Ende gemacht!" Hätten doch diese
+"Systematiker" ins eigene oder ins nächste beste Eheleben hineingeschaut,
+wo die <i>Gewohnheit des Umganges</i> gegen Schattenseiten der Gatten und
+Kinder <i>abstumpft</i>, dann bedacht, daß ihre Pfleglinge Leute voll
+Irrthümer, Fehler, Leidenschaften und Laster, das vom Gesetz erzwungene
+Beisammenleben ein vielköpfiges, leidenvolles und verdrießliches, jedes
+gute Beispiel von vornherein ein zweideutiges sei, sie würden endlich doch
+den eigentlichen Grundfehler aller gemeinsamen Haft, die <i>unabwendbare
+mehr oder minder völlige Abstumpfung gegen Recht, Sitte und Religion</i>
+gemerkt und endlich eingesehen haben, daß die Besserung nicht aus Tabellen
+der Rückfälligen bewiesen werde, für schlechte Gesellschaft kein Kräutlein
+gewachsen sei und ein schlechter Kerl der Gesellschaft schweren Schaden
+bringen könne, ohne deßhalb wiederum den Männern des Rechts in die Haare zu
+gerathen.</p>
+<p>Nicht zweideutige Listen von Rückfälligen, sondern getreue und
+gewissenhafte Berichte über das Leben und Treiben aller Entlassenen möchten
+entscheiden, ob die Besserung in gemeinsamer Haft kein Unding und in
+einsamer kein schöner Traum gutmüthiger Menschenfreunde sei! ...</p>
+<p>In Preußen wie in Baden sind die Strafanstalten, in welchen gemeinsame Haft
+besteht, wohl so gut eingerichtet und verwaltet, als in Baiern oder
+anderswo, in manchen Dingen vielleicht noch weit besser, obgleich kein
+großes Geschrei damit gemacht wird&mdash;doch die uralten Erbschäden jener
+Haftart lassen sich nie und nimmermehr beseitigen. Was unser Baden
+insbesondere betrifft, so lese man den vortrefflichen Commissionsbericht
+Welkers, die Verhandlungen in den Kammern der Landstände, die Schriften der
+Herren Mittermaier, v. Jagemann, Diez und Anderer, um sich zu überzeugen,
+daß die badische Regierung sich ein Verdienst um die deutschen Lande, um
+die Menschheit und bei Gott erwarb, als sie das Zellengefängniß in Bruchsal
+erbaute und einrichtete, welches jetzt über 5 Jahre Gefangene beherbergt
+und die einsame Haft, wie dieselbe in Deutschland sich durchführen läßt,
+unter den mißlichsten Umständen zu Ehren bringt.</p>
+<p>Bestände die Besserung darin, daß die Gefangenen sich nicht beim
+Uebertreten der Hausordnung erwischen lassen und fleißig arbeiten, dann
+wäre es unnöthig gewesen, ein kostbares Zellengefängniß nach dem Muster von
+Pentonville aufzubauen, weil Folgsamkeit und Fleiß bei der überwiegenden
+Mehrzahl der Gefangenen jeder nicht ganz unmenschlich und hirnlos
+geleiteten andern Anstalt angetroffen werden.</p>
+<p>Der großartige Bau zu Bruchsal hat großartige Summen gekostet, die
+Unterhaltung der Anstalt bleibt kostspieliger als diejenige eines andern
+Zuchthauses, wiewohl der Gewerbebetrieb in einer Weise blüht, wie nirgends,
+deßhalb wird die Frage entstehen, ob die Früchte solcher Opfer werth seien?</p>
+<p>Die Thatsache, daß es Rückfällige gibt, möchte verleiten, die Frage mit
+Nein zu beantworten und vom Versuchen mit der einsamen Haft abschrecken,
+allein nicht die Thatsache an sich, sondern die Ursachen derselben werden
+entscheiden und je weniger einerseits diese Ursachen in einem notwendigen
+Zusammenhange mit dem Grundsatze des Einzelsystems stehen, je unläugbarer
+anderseits die erfreulichen Folgen des Systems vorwiegen, desto mehr wird
+man obige Frage mit Ja beantworten müssen.</p>
+<p>Weßhalb?</p>
+<p>Kehren wir zu unsern Geschichten zurück.</p>
+<p>Ein kalter, nebliger Herbstmorgen schaut über das Rheinthal, die Thurmuhren
+von Bruchsal schlagen halb fünf Uhr und lange Reihen erleuchteter
+Fensterchen leuchten in die nächtliche Gegend hinaus und erregen wehmüthige
+Gefühle dem Menschenfreunde, der die dunkeln Umrisse des Zellengefängnisses
+bei der Wanderung aus Bruchsal gen Ubstadt erkennt oder den langgedehnten
+Ruf der Schildwachen vernimmt, der klagend von der hohen Ringmauer
+herabtönt. Hinter jedem dieser vergitterten Fenster lebt ein menschliches
+Wesen, ein Lebendigbegrabener und büßt viele Monde, viele Jahre, vielleicht
+sein ganzes Leben lang eine That, der Du Dich vielleicht unter gleichen
+oder auch nur ähnlichen Lebensverhältnissen ebenfalls schuldig gemacht
+hättest. Er lebt einsam und wie viel liegt in dem Worte einsam!</p>
+<p>Auch Du liebst zuweilen die Einsamkeit, hast wohl Zimmermanns schönes Buch
+über dieselbe gelesen, doch vor gezwungener beständiger Einsamkeit
+schauderst Du zurück, denn Du weißt ohne den Hugo Grotius jemals gelesen zu
+haben, der Mensch sei keineswegs für ertödtende Einsamkeit, sondern für die
+Gesellschaft geboren, er werde nicht durch Vereinzelung sondern durch
+Mithülfe seiner Nebenmenschen Mensch.</p>
+<p>Kurzsichtiges Wohlwollen macht Dich geneigt, den Gegnern der einsamen Haft
+beizustimmen, wenn dieselben predigen, solche Haftart sei "unseres
+Jahrhunderts und der Menschheit unwürdig!"</p>
+<p>Für Jeden, der niemals selbst gefangen war, bleibt es schwer, sich in die
+Lage eines Gefangenen und vor Allem eines Zellengefangenen vollständig
+hineinzudenken; in dieser Schwierigkeit finden wir den vornehmsten Grund,
+weßhalb es zahlreiche Gegner der Einzelhaft gibt und weßhalb manche
+Wortführer derselben mit den aberwitzigsten Behauptungen und krassesten
+Vorurtheilen Anklang bei hochgebildeten, religiösgesinnten und
+einflußreichen Leuten, geschweige beim gewöhnlichen Volke finden.</p>
+<p>Die Durchführung der einsamen Haft ist eine Aufgabe, deren Lösung nur
+<i>allmählig</i> geschehen und je nach den Eigenthümlichkeiten eines Landes
+und Volkes sich mehr oder minder eigenthümlich gestalten wird.</p>
+<p><i>Sklavische Nachahmung ausländischer Gefängnisse</i> mögen in Verbindung
+mit der <i>sorglosen Wahl der Beamten und Aufseher</i> der guten Sache der
+Einzelhaft bisher wohl den meisten Eintrag gethan und in Preußen vielleicht
+den hauptsächlichsten Anlaß zur Verpfuschung des Systems abgegeben haben.</p>
+<p>Das Zellengefängniß zu Bruchsal wurde bekanntlich nach dem Muster von
+Pentonville erbaut und eingerichtet, doch sahen wir mit eigenen Augen, wie
+sehr alle gemachten und reifenden Erfahrungen benutzt und allmählige
+Verbesserungen eingeführt wurden, welche namhafte Verschiedenheiten
+zwischen dem englischen Muster und dem deutschen Abbilde begründen.</p>
+<p>Der Duckmäuser lebt seit 4 Monden in einer Zelle, sein Haß gegen den
+Spaniolen führte den Anlaß zur Versetzung dieses langjährigen Gefangenen
+herbei; mit düstern Ahnungen sah er die eiserne Thür der Bruchsaler
+"Bastille" hinter sich schließen, doch seine Ahnungen haben sich diesmal
+nicht erfüllt, vielmehr hat die einsame Haft einen Schimmer von Glück über
+das Stillleben dieses Unglücklichen verbreitet. ...</p>
+<p>Schlag halb 5 Uhr erwachte er aus einem erquickenden Schlafe, sprang aus
+dem Bette, dessen Seegrasmatratze ihm trotz der Härte ganz anders mundet,
+als das ebenfalls harte und bald zerriebene Stroh seiner altgewohnten
+Lagerstätte.</p>
+<p>Während er sich bemüht, Kopfpolster, Leintücher und Teppich in die
+vorgeschriebene Ordnung zu legen, vernimmt er den Wiederhall der
+Wasserkrüge, welche der Hausschänzer draußen auf dem Gange auf die
+steinernen Platten stellt, das sich stets wiederholende Rauschen des
+Brunnens, die Schritte des Aufsehers, der eine Zelle nach der andern
+aufschließt.</p>
+<p>Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, der Aufseher tritt mit der Lampe
+herein, zündet das Licht an, welches auf dem eichenen Tische steht,
+ergreift die vordere Stange des in starken Riemen hängenden Bettes,
+schließt dasselbe an die Wand, wodurch der Raum der Zelle um ein Namhaftes
+vergrößert wird und entfernt sich mit dem Wasserkruge des Gefangenen.</p>
+<p>Dieser schließt zunächst den aus 2 Tafeln bestehenden Tisch&mdash;die vordere
+dieser Tafeln ist mit schwarzem Firniß überzogen und man sieht darauf die
+Figuren des pythagoräischen Lehrsatzes sammt den halbverwischten Zahlen
+einer Rechnung&mdash;ebenfalls an die Wand, thut Gleiches mit dem Bänkchen,
+welches ziemlich unzweckmäßig unsern Benedict zwingt, dem durch das Fenster
+herabdringenden Lichte den Rücken zu kehren und während er einige
+Augenblicke in den sternenlosen Nebelmorgen hinausblickt, benützen wir die
+Zeit, um uns ein bischen in diesem Raume umzuschauen.</p>
+<p>Die Zelle ist hoch und bildet ein längliches Viereck, dessen gewölbte Decke
+gut geweißelt, dessen Wände mit hellem Grün angestrichen sind und dem
+Bewohner gestatten, 8-9 Schritte in die Länge und 4 in die Breite zu thun,
+wenn es denselben beliebt, in gerader Richtung zu gehen anstatt durch die
+schräge den Weg zu verlängern. Rechts von der Thüre ist das Bett an die
+Wand angeklappt, weiter hinten befindet sich ein Kleiderrechen, dort hängt
+am Nagel ein langer Stock, vermittelst dessen der Gefangene in den Stand
+gesetzt wird, den obern Flügel seines Fensters beliebig zu öffnen. Die
+Fensterscheiben sind gut verbleit, die obern hell und rein, die untern hie
+und da von geripptem oder geblendetem Glase.</p>
+<p>Ein Schrank steht auf der entgegengesetzten Seite links von der starken,
+rothbraun angestrichenen Thüre, an der sich ein Glockenzug, oben die
+eingeklammerte Nummer der Zelle, unten eine Vorrichtung befindet, welche
+Jedem gestattet, die ganze Zelle von Außen zu überschauen, während der
+Gefangene nichts davon bemerkt, sich folglich in jedem Augenblicke
+beobachtet glauben darf. Der Schalter in der Thüre bleibt geschlossen, wenn
+
+der Aufseher nicht etwa Essen und Trinken oder Werkzeuge hereingibt und die
+Thüre selbst kann nur von Außen geöffnet werden. Oben auf dem genannten
+Schranke stehen Schreibmaterialien und Bücher, im obersten Gesimse
+desselben der Wasserkrug, an welchem gleichfalls die Zellennummer hängt,
+unten ein kleiner Verschlag, in welchem die Eßgeräthe sammt dem Brode
+verschlossen werden, unten dran steht eine blecherne Waschschüssel; Seife
+und Kamm liegen neben Aufputzlumpen und zur Seite hängt ein Kehrwisch sammt
+Schäufelchen. Hinter dem aufgeklappten Tische und Bänkchen steht eine
+Hobelbank und der übrige Theil der Zelle wird durch Bretter, Klötze,
+Werkzeuge und angefangene Arbeiten aller Art ausgefüllt. Erwähnen wir noch,
+daß die Hausordnung an der Wand durch einen grünen Lichtschirm theilweise
+bedeckt wird und unter derselben ein biblischer Kalender sammt einem
+Stundenplan für Schule und Kirche hängt, so haben wir so ziemlich alle
+Gegenstände beschrieben, die sich im Bereiche des Duckmäusers befinden,
+wenn wir die mit Draht eng übersponnenen Oeffnungen für frische und
+erwärmte Luft nicht vergessen, welch' letztere Oeffnung durch einen
+Schieber von Eisenblech beliebig geöffnet und geschlossen werden kann.</p>
+<p>Numero Hundertzehn, wie der Vatermörder fortan heißen soll, hat sich
+gewaschen, vielleicht ein leises Gebet dazu gemurmelt und hängt das
+Handtuch an den Rechen, als der Aufseher den Schalter öffnet und den
+gefüllten Wasserkrug hereingibt. Jetzt wird die bekannte Stimme eines
+Obermeisters im Gange hörbar, der Gefangene spitzt die Ohren und ergreift
+einen Hobel oder eine Säge oder den Polierlumpen, um an seine Arbeit zu
+gehen.</p>
+<p>Um 6 Uhr rufen die Schildwachen auf der Ringmauer abermals ihr eintöniges
+Wer da; draußen wird es heller und heller, die Spatzen jagen sich bereits
+aus ihren Nestern, zwitschern vor dem Fenster ihren Morgengruß herein; das
+Oeffnen schwerer Thüren, das Fahren eines Wagens, die Frühmeßglocken
+gewähren dem Ohre des Gefangenen hinreichende Beschäftigung, abgesehen vom
+Geräusche der Arbeit, den Schritten des über dem Kopfe weggehenden
+Mitgefangenen, dem Lärm im Gange, dem zeitweiligen Geschelle, welches die
+Gefangenen eines andern Flügels oder Stockwerkes in den Spazierhof
+einladet.</p>
+<p>Abermals öffnet sich der Schalter, der Aufseher reicht ein halbes Laiblein
+gutgebackenen, schmackhaften Brodes herein, Nro. 110 langt aus dem
+Verschlage ein stumpfes Messer sammt Salzbüchse, beginnt zu essen und
+während er kaut, löscht er die Lampe aus, in welcher eine Mischung von
+entwässertem Spiritus und Terpentin den Brennstoff bildet, betrachtet den
+Kalender und streicht ruhig den gestrigen Tag durch&mdash;der lebenslänglich
+Verurtheilte träumt von dereinstiger Befreiung und hat seine Gefängnißtage
+zählen gelernt, er glaubt, daß ihn jeder Strich im Kalender der schon 10
+Jahre entbehrten Freiheit näher bringe:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Welt wird alt und wieder jung!
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Der Mensch hofft immer Verbesserung!</p>
+<p>Jetzt läutet's auch hier in den Hof. Nro. 110 schließt den Schieber der
+Luftheizung, öffnet das Fenster, zieht den Zwilchkittel an über das wollene
+Unterwammes, ergreift die blecherne Nummer ob der Thüre, hängt dieselbe in
+ein Knopfloch und setzt eine blauwollene Mütze auf, deren mit 2
+Augenlöchern verzierter Schild herabgelassen werden muß und den größten
+Theil des Gesichtes bedeckt, so daß kein Gefangener das Angesicht des
+Andern zu sehen im Stande ist. Diese Mütze macht unstreitig einen
+peinlichen Eindruck auf fremde Besucher und in der ersten Zeit auch auf den
+Gefangenen, doch ist letzterer bald daran gewöhnt und während der Schaden
+nicht zu finden ist, welchen diese Mütze bringt, läßt sich ihr Nutzen desto
+besser absehen und wozu ohne Noth Etwas beseitigen, was für den Grundsatz
+der <i>vollkommenen Trennung der Gefangenen</i> wesentlich ist? Man hat
+zwar noch niemals erlebt, daß die Leute einander durch ihr bloßes
+flüchtiges Anschauen mit ihren Fehlern anstecken und läßt sich nicht
+läugnen, daß ein Zellenbewohner den vor ihm Hergehenden möglicherweise
+trotz der Maske am Gange und den Umrissen der Gestalt erkennt, allein
+Dreierlei läßt sich ebenfalls nicht läugnen, nämlich daß erstens die Maske
+jedenfalls dazu beiträgt, Anknüpfung von Bekanntschaften zu erschweren,
+ferner den Gefangenen vor den Blicken neugieriger Besucher der Anstalt
+beschützt und endlich den großen Vortheil bietet, daß er nach der
+Entlassung nicht leicht Zuchthausbrüder trifft, welche ihn erkennen und in
+unangenehme oder gefährliche Lagen versetzen.</p>
+<p>Zudem trägt der Gefangene die vielbeschrieene Maske, die von Dickens
+überschwänglicher Einbildungskraft seltsam genug ein "Grabhemd" genannt
+wird, nur auf dem Wege in Hof, Badzellen, Schule oder Kirche, somit selten
+länger als einige Minuten.</p>
+<p>Jetzt öffnet sich die Thüre von Nro. 110, Nro. 109 ist bereits 10-15
+Schritte voraus und 110 folgt ihm in der Art, daß der Abstand vom
+Hintermann 111 ebensoviele Schritte beträgt.</p>
+<p>Lauernd steht der Aufseher des dritten Stockwerkes an einem Platze, von wo
+aus ihm nicht die leiseste Bewegung der in den Spazierhof gehenden Bewohner
+des ersten Stockwerkes zu entgehen vermag und wenn Einer seine Schritte
+nicht gehörig beschleunigt oder gar Lust zum Umherschauen zeigt, verweist
+ihn die Stimme des Aufpassers augenblicklich in die Schranken der
+Hausordnung.</p>
+<p>Nro. 110 eilt durch den Gang die Treppe hinab in den Hof. Eine frische
+Morgenluft weht von den Hügeln herüber, dessen Bäume mit ihren vielfarbigen
+Blättern, dessen Weinberge und blumenlose Wiesen ihn an die Herbstmorgen
+auf dem Lande mahnen. Krächzend eilen einige Raben dem Walde zu, er hört
+das Krähen einiger Hähne in der Nachbarschaft, das unaufhörliche Gezänke
+zahlreicher Vögel im Hofe und auf dem Dache. Die Bäume, Sträucher und
+Blumen, die Holzstöße und Faßdaubenpyramiden im Hofe dieses Flügels&mdash;
+dieser ganze Anblick gewährt einen Schimmer von Freiheit.</p>
+<p>Schon ist Nro. 110 in das runde Häuschen eingetreten, von welchem die
+zahlreichen, etwa 10´ hohen Mauern der Spazierhöfe ausstrahlen, welche
+vielleicht mit einer versteinerten Sonnenblume verglichen werden können,
+deren meiste Blätter in regelmäßigen Zwischenräumen herausgerissen wurden.</p>
+<p>Nro. 110 eilt in den bereits offenstehenden, für ihn bestimmten Spazierhof,
+dessen eine Mauer mit einem ziemlich langen Regendache von Eisen, dessen
+beide Mauern an ihrer Mündung durch ein hohes eisernes Gitter verbunden
+sind und dessen Boden mit gelblichem Sande aufgefüllt ist.</p>
+<p>Eifrig eilt er zwischen dem Gitter und dem geschlossenen Thürchen hin und
+her, schaut zuweilen nach den Wolken, die grau und schwerfällig gegen
+Westen ziehen, nach der Schildwache, die in ihren Mantel gehüllt still und
+stumm von der Ringmauer herabschaut, um den visitirenden Korporal oder die
+Ablösung zu erwarten oder nach dem Zellenflügel, dessen Fenster im matten
+Scheine des über die Berge schauenden Morgenrothes schimmern oder er
+verfolgt den trägen Gang der Spinne, eines andern Insectes, welches an der
+Mauer herumkriecht.</p>
+<p>Oben in seinem Häuschen hört er den Aufseher hin- und hergehen, der alle
+Spazierhöfe und Spaziergänger mit Einem Blicke oder Einer Wendung
+überschaut, hört die eiligen Schritte der Nebenmänner und diese Art von
+Mittheilung ist wohl die einzige, welche in den Spazierhöfen stattfindet.</p>
+<p>Die Wände zu verschreiben, Zettel in den nächsten Hof zu werfen, ein Duett
+im Husten anzustimmen sind Dinge, welche so wenig ungeahndet bleiben, als
+wenn Einer von seinem Zellenfenster in den Hof herabschaut.</p>
+<p>Jetzt wird geschellt, die halbe Stunde des Spazierganges ist vorüber, in
+derselben Ordnung, wie die Gefangenen gekommen, gehen sie auch wieder in
+ihre Zellen zurück.</p>
+<p>Nro. 110 hat Fenster und Thüre offengelassen, die Zelle ist vollständig
+gelüftet, er schlägt die Thüre zu und geht daran, den Boden zu reinigen,
+der aus Ziegelplatten besteht. Durch das viele Gehen löst sich von diesen
+Ziegelplatten ein feiner Staub ab, der jedoch nur dann sehr ungesund werden
+mag, wenn der Zellenbewohner ein unreinlicher Bursche ist, was bei den
+Falkenblicken des Obermeisters und Aufsehers nicht wohl angeht.</p>
+<p>Unser Gefangener reinigt die Zelle, schließt das Fenster, öffnet den
+Schieber der Luftheitzungsöffnung aus welcher eine wohlthuende Wärme
+herausströmt und geht dann wieder an seine Arbeit.</p>
+<p>Abermaliges Schellen, das Zuschlagen der Schalter der Zellenthüren
+verkündiget die Austheilung der Morgensuppe; Nro. 110 rüstet sein
+Schüsselchen, der Aufseher öffnet den Schalter, füllt dasselbe und schlägt
+rasch wieder zu, um weiter zu gehen.</p>
+<p>Der Zellenbewohner ißt und arbeitet dann mehrere Stunden; von Zeit zu Zeit
+tritt ein Werkmeister oder Aufseher herein und bleibt einige Augenblicke,
+um Etwas anzuordnen oder nachzuschauen.</p>
+<p>Um 10 Uhr öffnet sich die Thüre, der Director mit seinem freundlichen,
+wohlwollenden Gesichte tritt herein.</p>
+<p>Jene Art von Besuchen, wie sie in England gang und gäbe sind, wo der
+Aufseher die Thüre aufreißt, der Beamte sein stereotypes: <u>"is all
+right?"</u> herabschnurrt und sofort weiter geht, wenn der Gefangene nicht
+ein besonderes Anliegen vorzubringen hat&mdash;solche Besuche, welche lediglich
+einer polizeilichen Controlle entsprechen, sind für den Gefangenen fast
+werthlos, für den Beamten sehr bequem, in Bruchsal glücklicher Weise
+unbekannt.</p>
+<p>Besuche der Beamten tragen hier den Charakter einer Wohlthat an sich, sind
+ein mächtiges Mittel der Erholung, geistigen Anregung, Bildung, Versöhnung
+mit der Strenge des Schicksals und der Gesetze, der Besserung. Täglich in
+viele Zellen eilen, welche die verschiedenartigsten Menschen beherbergen,
+die verschiedenartigsten Gemüthsstimmungen antreffen, sich Lunge und Leber
+herausreden, aus verschiedenartig erwärmten Zellen in die eisige Zugluft
+der Gänge hinaustreten, Gerüche aller Art und Staub ebenfalls einathmen&mdash;es
+ist ein Geschäft, das im Laufe weniger Jahre die Gesundheit des kräftigsten
+Mannes erschüttert, ein Geschäft, welchem sich schwerlich Einer unterzöge,
+der nicht eine bedeutende Portion ursprünglicher Menschenliebe im Herzen
+hat.</p>
+<p>Was bei andern Gefangenen selten oder nie der Fall sein wird, ist bei
+Zellenbewohnern der Fall: die ins Einzelnste gehende Controlle jedes
+Einzelnen, das Lesen seiner Untersuchungsakten, Briefe und Besuche unter
+vier Augen gewähren dem einsichtsvollen Beamten eine mehr oder minder
+vollständige Kenntniß jedes einzelnen Gefangenen.</p>
+<p>Dieser müßte ein Heuchler erster Größe sein, wenn er mondenlang, jahrelang
+eine falsche Rolle spielen, sich nicht <i>unwillkürlich</i> in seinen
+Reden, Geberden, Handlungen als derjenige zeigen sollte, welcher er
+wirklich ist. Er wird offen, vertraulich, manchmal bis zur Unverschämtheit
+offen und vertraulich gegen die Beamten aus dem ganz einfachen und
+einleuchtenden Grunde, <i>weil er keine andere Gesellschaft hat.</i> Wo
+Sträflinge beisammen leben, kann der Beamte sich nicht leicht mit Einzelnen
+besonders abgeben, muß Einen wie den Andern behandeln und der Gefangene
+findet gar keinen Grund, weßhalb er einem Beamten Blicke in sein Innerstes
+gestatten, sich dadurch in den Augen desselben herabsetzen sollte, zumal
+das natürliche Interesse ihn auffordert, nur seine Lichtseiten leuchten zu
+lassen, um sich Wohlwollen zu erwerben. So gewöhnlich Verstellung und
+Heuchelei in gemeinsamer Haft sind, so leicht eine mehr oder minder falsche
+Rolle hier mit Glück gespielt werden mag, weil der in der Heuchelei
+liegende Zwang nur ein sehr vorübergehender ist&mdash;so selten mag in
+Zellengefängnissen in die Länge und mit Glück geheuchelt werden. Es wird
+für den Zellenbewohner zur psychologischen und moralischen Nothwendigkeit,
+sich so zu geben, wie er ist und dieses setzt die Beamten in Stand,
+<i>Jeden nach seiner eigenthümlichen Art und Weise zu behandeln.</i> Je
+mehr aber Einer nach seiner Art und Weise behandelt wird, desto mehr wird
+er uns seine Zuneigung und sein Vertrauen zeigen.</p>
+<p>Durch nachläßige, taktlose oder unmenschliche Behandlung der Zellenbewohner
+von Seite der Beamten und Angestellten mag wohl die gute Wirkung des
+Einzelsystems sich häufig genug in das Gegentheil verkehrt haben und man
+bürdete dem System die Schuld untauglicher Angestellten und Beamten auf,
+nicht zu vergessen des Wahnes, man bedürfe keiner besondern Bildung, um als
+Beamter unter Sträflingen zu wirken, könne jeden Schreiber und Tabellenheld
+dazu brauchen ... Ein geistreicher und berühmter Rechtsgelehrter sagte uns
+vor einiger Zeit, die einsame Haft sei eine "Pferdekur;" wir stellen
+Solches keineswegs in Abrede, meinen jedoch, bei Menschen, welche mehr oder
+weniger Thierisches und Unterthierisches an sich tragen, schade eine
+Pferdekur wenig und der Schmerz derselben werde um so erträglicher und
+fruchtbringender, heilsamer, je geschickter der Arzt sei!</p>
+<p>Der Duckmäuser ist heute verstimmt, der Morgen ist so trüb und
+unfreundlich, Wind und Wetter, die verschiedenen Zeiten des Tages und der
+Nacht, des Jahres, manchmal auch der Wechsel des Mondes üben einen so
+großen Einfluß auf das Gemüth Einsamlebender aus!</p>
+<p>Er thut heute, was er als alter Gefangener selten oder niemals zu thun
+pflegt, fängt nämlich an, nachdem er eine kleine Abhandlung über eingelegte
+Schreinerarbeit zum Besten gegeben, über die lange Dauer seiner
+Gefangenschaft zu reden und von der Wahrscheinlichkeit, daß er wohl hier
+sterben müsse.</p>
+<p>Die Hausordnung gibt jedem andern Gefangenen Hoffnung auf Berücksichtigung
+von Gnadengesuchen, wenn die Hälfte der zuerkannten Strafe überstanden ist
+&mdash;doch was geht dies einen Gefangenen an, dessen Todesstrafe in
+<i>lebenswieriges</i> Gefängniß umgewandelt wurde? Für ihn ist die Zelle in
+der That ein Sarg, er ist ein Lebendigbegrabener und dennoch bleibt er ein
+Mitglied der menschlichen Gesellschaft, denkt lieber an die Erde als an den
+Himmel und findet in den Besprechungen dieses einen Ersatz für die
+Entbehrung der Genüsse, welche jedem Bettler zu Gebote stehen.</p>
+<p>Die Einsamkeit vermehrt den Alpdruck des vernichtenden Wortes:
+"lebenswierige Gefangenschaft", er hat die Bedeutung dieses schauerlichen
+Wortes erst in neuerer Zeit recht fühlen gelernt!</p>
+<p>Was soll der Director thun? Dem Unglücklichen den Schein jeder Hoffnung
+nehmen und die düstere Stimmung desselben vermehren? Nein, er redet von der
+<i>Möglichkeit</i> dereinstiger Befreiung, von Auswanderung nach Amerika
+und scheidet aus der Zelle, einen Glücklichen hinter sich zurückzulassen.</p>
+<p>Numero Hundertzehn schaut ihm gerührt nach; ist dieser auch nicht im
+Stande, ihn dereinst zu befreien, so wünscht er doch, dieses thun zu
+können; Theilnahme und Wohlwollen eines Freien und Glücklichen sind aber
+für den Gefangenen unschätzbare Güter und die Hoffnung stirbt erst mit ihm.</p>
+<p>Er steht vor dem Kalender, trägt nicht übel Lust, den heutigen Tag roth
+anzustreichen, doch läßt er es bleiben und greift frischer und muthiger als
+je nach seinem Hobel und je näher die Einbildungskraft das Jahr der
+Befreiung herbeizaubert, desto ärger hobelt er darauf los!</p>
+<p>Abermaliges Schellen, Aufschließen der Zellenthüren, Herausmarschiren
+vieler Gefangenen. Es ist eilf Uhr, heute wird Religionsunterricht für
+Katholiken ertheilt, die Religionsstunde der Evangelischen ist bereits
+vorüber. Bald kommt die Reihe des Marsches an Numero 110; noch einige
+eilige Hobelstöße, dann rüstet er sich wieder aus, wie zum Gange in den
+Hof, jetzt öffnet sich die Thüre abermals und 110 eilt 109 nach durch den
+Gang, viele scharfbewachte Stiegen hinauf in die Kirche.</p>
+<p>Die amphitheatralisch gebaute Kirche des Zellengefängnisses zu Bruchsal zu
+beschreiben, wäre zu weitläufig; es genügt zu wissen, daß jeder Gefangene
+seinen besondern Verschlag hat, eine Art Miniaturzelle, welche ihm das
+Sitzen, Knieen und Stehen gestattet und so eingerichtet ist, daß Keiner den
+Andern, Jeder den Altar, die Kanzel, den Priester, einzelne Aufseher zu
+sehen vermag, denen keine seiner Bewegungen entgeht.</p>
+<p>Numero 110 hängt die Zellennummer an ihrem bestimmten Platze auf und bald
+erscheint der Geistliche auf der Kanzel, um den Religionsunterricht zu
+beginnen.</p>
+<p>Derselbe pflegt gewöhnlich in einer Reihe zusammenhängender Vorträge dieses
+oder jenes Buch des neuen Testamentes zu erklären, doch seit einiger Zeit
+belehrt er über die heiligen Sakramente der Buße und des Abendmahles und
+macht den klaren, schönen Vortrag durch das Einmischen von Stellen aus den
+Werken namhafter Gottesgelehrten noch anziehender, nicht ohne die
+Einwendungen und Angriffe der hauptsächlichsten Gegner der katholischen
+Lehre zu berühren und mit jener eindringlichen Ruhe abzuweisen, welche die
+Frucht eigener tiefer Ueberzeugung ist.</p>
+<p>Heute behandelt er insbesondere die wahrhafte, wirkliche und wesentliche
+Gegenwart Christi im Abendmahle, eine Lehre, welche Allen, die die Liebe
+nicht vollkommen verstehen oder die Wirkungen dieses hochheiligen
+Sakramentes nicht an sich selbst empfunden haben, unbegreiflich, sinnlos,
+ja als eine Herabsetzung und Entwürdigung Gottes erscheint, während die
+Andern den Triumpf der Religion in ihr vollendet sehen.</p>
+<p>"Will gar nicht verlangen, daß Gott mit mir Eins und ich selbst dadurch
+gottähnlich werde, dürfte ich nur menschenähnlich sein und beim
+Straßenbasche als der ärmste Taglöhner leben! ... Um mich hat sich Gott
+niemals bekümmert, Seine Liebe und der Fluch meines Lebens reimen sich
+nicht zusammen! ... Wenn der Pfarrer wieder kommt, soll er eine harte Nuß
+zum Aufbeißen haben!" ... denkt der Benedict, während der Geistliche
+verschwindet, die Verschläge nach einander wiederum geöffnet werden und er
+die Schneckenstiegen hinab in den Gang und in seine Zelle marschirt.</p>
+<p>Der Geistliche eines Zellengefängnisses hat besondere Vortheile vor andern
+Gefängnißgeistlichen. Erstens kann er die ganze Religionsstunde seinem
+Vortrage widmen und den Stoff desselben verdoppeln und verdreifachen;
+zweitens kommt er zu jedem einzelnen Gefangenen, spricht mit diesem unter
+vier Augen und kann sich vom Eindrucke überzeugen, welchen sein Vortrag
+machte, denselben wiederholen, ergänzen, vertheidigen, bei Neueingetretenen
+mit Früherm vermitteln; drittens endlich ist er keinen Verdächtigungen und
+Verleumdungen ausgesetzt, während der Sträfling so wenig von Hohn und Spott
+als von falscher Schaam weiß, dazu Zeit und Gelegenheit besitzt, Etwas für
+seine religiöse Ausbildung zu thun und zudem die Gedanken, welche sich ihm
+während der Religionsstunde aufdrängten, in der Einsamkeit nicht anhaltend
+zu verscheuchen vermag.</p>
+<p>Bei Leuten, welche nur für kurze Zeit verurtheilt sind, mögen
+Gleichgültigkeit oder Leichtsinn die Oberhand behalten, bei Solchen,
+welchen die Liederlichkeit und Gottverlassenheit zur zweiten Natur
+geworden, mag die Religion der Liebe manchmal als Religion des Schreckens
+wirken und mancher alte Sträfling mag bleiben, was er längst geworden oder
+stets gewesen ist.</p>
+<p>Von der Stadt herüber läuten die Mittagsglocken, die ablösende
+Wachmannschaft eilt gemessenen Schrittes über die Ringmauer. Schon beim
+Gang aus der Kirche stieg ein vielversprechender Duft aus der Küche des
+Mittelgebäudes, jetzt ertönt ein mehrstimmiges Schellen, dann das Klirren
+der Eßkessel und Schöpflöffel und der eilige Schritt der Aufseher, welche
+sich in der Küche sammeln, um die Portionen für ihre Pflegbefohlenen
+abzuholen. Heute ist kein Fleischtag.</p>
+<p>Jeden andern Tag prangt ein winziges Stücklein Fleisch in der zinnernen
+Schüssel, ein Spatz vermöchte es bequem im Schnabel fortzutragen und doch
+bleibt Etwas immer besser als Nichts.</p>
+<p>"Suppe!" Der Benedict hebt sein Schüsselchen unter den Schalter, der
+Aufseher schöpft ihm seine Portion aus dem Kessel, schlägt den Schalter zu
+und geht weiter.</p>
+<p>Die Suppe, eine gute schmackhafte Reissuppe, ist noch sehr heiß, aber sie
+muß schnell gegessen werden, denn der Aufseher wird gleich mit der
+Hauptspeise da sein.</p>
+<p>Heißes Essen schadet den Zähnen, Zuwarten kann dem Magen schaden, unter
+zwei Uebeln wählt ein gescheidter Mensch das kleinere, deßhalb ißt der
+Benedict die heiße Suppe.</p>
+<p>"Hersch!&mdash;Hersch!" rufts im Gange.</p>
+<p>"O jerum!" jammert unser Esser und weiß weßhalb. Der "Hersch" ist nichts
+anderes als Hirsebrei, eine im badischen Unterlande gewöhnliche Speise der
+Armen, im Zuchthause zu Freiburg wie überhaupt im Oberlande unbekannt und
+der Benedict mag nun einmal den fatalen "Hersch" nicht.</p>
+<p>"Hersch!" ruft der Aufseher vor dem Schalter und bald ist das Schüsselchen
+gefüllt. Auch diese Speise ist noch heiß, allein sie hat keinen Nachfolger
+mehr und was der Benedict morgen nicht thun wird, weil er morgen Knödel
+bekommt, vor denen übrigens ein guter Baier das Kreuz machte, das thut er
+heute, stellt nämlich das Schüsselchen auf den Schrank, um den Brei kalt
+werden zu lassen und später zu essen.</p>
+<p>Bevor die Anstalt Bruchsal die Kost für Gefangene, Kranke und Aufseher
+selbst bereitete, war sie für die erstere manchmal herzlich schlecht und
+zudem bekam der Zellengefangene Ursache, besonders nach den schönen
+Brodlaiben Freiburgs zu seufzen.</p>
+<p>Dort wird jetzt die Kost und hier noch immer das Brod von der Anstalt
+unmittelbar bereitet, in beiden Fällen profitirt der Staat sammt den
+Gefangenen.</p>
+<p>Wie mancher Kostgeber ist schon durch augenlose Gefängnißsuppen reich
+geworden, wie unzuverlässig ist die strengste Controlle, wenn Beamte und
+Angestellte nicht zuverlässig und gewissenhaft sind!&mdash;</p>
+<p>Numero 110 klappt den Tisch an die Wand, das Vorderblatt desselben ist eine
+schwarz lakirte Schultafel, er greift zur Kreide, vertieft sich in den
+pythagoräischen Lehrsatz und berechnet alsdann, wieviel Kubikzoll die
+Commode enthalten werde, welche unter seiner kunstfertigen Hand entstehen
+soll.</p>
+<p>Todtenstille herrscht minutenlang ringsum, die meisten Aufseher sind den
+Beamten zum Essen nachgeeilt, aber wenn Jemand im Mittelbau eine Schüssel
+fallen läßt oder sich nur herzhaft schnäuzt, können es sämmtliche Bewohner
+der vier großen Flügel und die Nächsten so deutlich als die Fernsten
+vernehmen. Wenn der Spruch: Wände haben Ohren&mdash;irgendwo gültig und die
+Allwissenheit der Beamten irgendwo mehr als Redensart ist, so wird dies
+sicher in einem Zellengefängnisse der Fall sein. Auf ihren Bureaus
+vernehmen die Beamten jedes laute Wort und jedes auffallende Geräusch,
+selbst wenn es von den äußersten Enden der Zellenflügel ausgeht.</p>
+<p>Jetzt scheinen selbst die sonst so geschwätzigen, zänkischen Spatzen Siesta
+zu halten, selten flattert einer vor dem Gitterfenster von Numero 110
+vorüber und noch seltener sitzt einer vor dem Fenster, um sein graues
+Röcklein zu putzen oder dem Gefangenen einen bessern Appetit
+zuzuzwitschern.</p>
+<p>Letzteres ist auch nicht nöthig, denn obwohl der Duckmäuser den Hirsebrei
+nicht liebt, so haßt er doch den Hunger noch weit mehr, folglich hat der
+Brei bereits das Ziel seiner Bestimmung erreicht.</p>
+<p>Die Zellenbewohner haben ihre Ruhestunde, dieselbe wird ihnen nicht zur
+Stunde des Verderbnisses, sondern sie lesen, schreiben, rechnen, zeichnen,
+machen freiwillig an ihrer Arbeit fort, wenn dieselbe kein Geräusch
+verursacht, oder gehen acht Schritte vorwärts und acht rückwärts und wer in
+einem der Höfe steht, mag auch manches langgedehnte Gähnen, zuweilen ein
+schweres Aufseufzen, ein lautes Selbstgespräch, vielleicht einen Versuch,
+zu singen oder zu pfeifen, gleich darauf das Aufgehen einer Thüre, das
+anklagende Gebrumme eines zweibeinigen Stückes der fleischgewordenen
+Hausordnung und dazwischen das Hohngelächter des vorüberrauschenden
+Eisenbahnzuges zu Ohren bekommen.</p>
+<p>Der Benedict hat den Magen mit "Hersch", den Verstand mit Zahlen und
+geometrischen Figuren angefüllt, doch sein Gemüth blieb unbefriediget und
+was der Director mit seinem Besuche gut machte, hat der Pfarrer mit seinem
+Vortrage verdorben und besonders Eine Aeußerung desselben ist tief in
+Benedicts Seele gedrungen und fällt ihm stets von Neuem bei, er mag
+anfangen was er will:</p>
+<p>"Wer <i>unwürdig</i> meinen Leib ißt und mein Blut trinkt, der ißt und
+trinkt sich selbst das Gericht!"</p>
+<p>Wie oft nahte er sich aus Gewohnheit, um seines Rufes willen oder um die
+Worte der Mutter zu erfüllen, dem Tische des Herrn!</p>
+<p>In der Kaserne hatte er sich allgemach von diesem Gebrauche emancipirt, er
+wurde ihm lästig, das Aufgeben desselben brachte ihm eher Ansehen als
+Schaden, bei Meister März faßte er vollends einen Ekel gegen die demüthige
+Aufgeblasenheit und den weinerlichen Ingrimm der "Diener am Worte" und
+deren Lämmlein, aber im Zuchthause hatte er sich regelmäßig zum Beichten
+und Communiciren verstanden, um nicht in den obern Regionen in Mißcredit zu
+kommen.</p>
+<p>Den Spruch, welchen der Geistliche heute vorbrachte, hörte er schon früher
+hundertmal, doch niemals schlug er ihm so in die Seele, er greift nach
+seiner Bibel und wundert sich selbst, weßhalb ein einziger Vers ihn so
+unheimlich auf einmal berühren und zu beschäftigen vermöge.</p>
+<p>Er blättert und sinnt, bis die Schritte der Aufseher wiederum im Gange
+wiederhallen und die Gangschelle verkündiget, daß er den zweiten Theil des
+Tages mit dem zweiten Spaziergange beginnen müsse.</p>
+<p>Rasch und mißmuthig läuft er längs den Mauern seines Spazierhofes hin und
+wieder. Er hatte sich schon manchen Tag mit gleichgültiger Ruhe in der
+Zelle befunden, weil es ihm gelang, sich in die Ueberzeugung
+hineinzubannen, er sei ein Todter, besitze keinen Anspruch mehr auf das
+Leben und bleibe ein wandelnder Schatten mit vermodertem Herzen, so lange
+es einer Macht gefalle, die er nicht kannte und von der er nichts forderte.</p>
+<p>Alte Gefangene huldigen gewöhnlich bewußt oder unbewußt solchem Fatalismus,
+ihr Herz und ihr Benehmen strafen denselben oft Lügen, doch im Ganzen
+scheint er ihnen ihr trauriges Loos erträglicher zu machen, wofür die
+Hauptursache freilich darin zu suchen sein möchte, daß das Mitansehen des
+Unglückes Anderer, die Zerstreuungen der Gesellschaft, die Verbindung, in
+welcher sie durch dieselbe bei dem täglichen Wechsel der
+Gefängnißbevölkerung mit der Außenwelt bleiben, ihre eigene Verinnerlichung
+hindert.</p>
+<p>Der Benedict hat dem Himmel den Scheidebrief des Glückes geschrieben, als
+er die Thüre der Strafanstalt zum erstenmal hinter sich schließen hörte; er
+war ein lebenslänglich Verurtheilter, alles Fühlen, Denken, Wollen und
+Streben seiner Person sollte fortan für die Welt verloren sein, blos sein
+Leichnam dereinst noch einmal dieselbe Straße wandern, durch welche er
+gerade gekommen.</p>
+<p>Er hegte nur Einen Wunsch: Ruhe und forderte diese Ruhe vom Tode, glaubte
+auch, derselbe werde sie ihm gewähren.</p>
+<p>Die Jahre hatten ihn gegen die Leiden der Gefangenschaft und gegen das
+Leben überhaupt abgestumpft, er glaubte dem Tode um einen starken Schritt
+näher zu kommen, wenn er in die Zelle versetzt würde und&mdash;hatte sich
+getäuscht.</p>
+<p>Im Gegentheil lebte der Mensch von ehemals in ihm wieder auf, das
+versteinert geglaubte Herz begann von Neuem zu hämmern und zu pochen, das
+Kind und der Jüngling, der verirrte Halbmann und der elende Sträfling
+hielten aufregende Gespräche in ihm, durch die Freuden- und Sturmglocken
+der Erinnerung tönten leise zuweilen andere, fremdgewordene Glockentöne und
+die Möglichkeiten, welche hätten eintreffen können, wenn er diese oder jene
+Handlung vollbracht oder unterlassen hätte, bot allgemach dem Duckmäuser
+Stoff zu langen, schwermüthigen Betrachtungen.</p>
+<p>Er hatte geglaubt, von Gott gänzlich verlassen und verstoßen zu sein und
+vom Tode doch jedenfalls Ruhe fordern zu dürfen, eher als viele minder
+schwer Verurtheilte.</p>
+<p>Weßhalb?</p>
+<p>Ei, er war freilich als Vatermörder verurtheilt und menschliche Richter
+waren nicht im Stande, ihn milder zu verurtheilen, als sie dies gethan
+hatten. Er vermochte die Richter nicht anzuklagen, doch klagte er Gott
+desto herber an und zwar deßhalb, weil Gott seine Gesinnungen kennen mußte
+und Miturheber seines Unglückes zu sein schien. Trug denn Benedict jemals
+den leisesten Vorsatz im Herzen, das gräßliche, todeswürdige Verbrechen des
+Vatermordes zu begehen? Nein, niemals einen Augenblick, nach der That
+schauderte er vor sich selbst zurück und begriff nicht, wie er dazu
+gekommen!&mdash;Tödtete er seinen Vater im Affect? Auch dies war wiederum nicht
+zur Hälfte wahr und Gott mußte wissen, daß er zwar im Schrecken mit einem
+mächtigen Prügel in den dunkeln Hausgang hineinschlug, jedoch nicht, um den
+Vater zu treffen, sondern lediglich, um ihm die Flinte wegzuschlagen und
+ihn vom Kindermord abzuhalten. Wußte er nicht, daß eine Doppelflinte ob dem
+Bette des Vaters hing und mußte er nicht glauben, daß dem ersten Schusse
+ein zweiter folgen werde? Selbst die Richter erfuhren genug von Jacobs
+harter, leidenschaftlicher Gemütsart, von seinem Hasse gegen den Hobisten
+und vergaßen nicht, die Flinte sammt dem Schuß ernstlich in Erwägung zu
+ziehen, sonst wäre Benedict unfehlbar um den Kopf kürzer gemacht worden.</p>
+<p>Viele andere Umstände ließen sich nur dadurch erklären, daß man dieselben
+dem blinden Zufalle oder&mdash;dem allwissenden Gott in die Schuhe schob und
+dieser Gott sollte ein allliebender und allbarmherziger sein? Gegen tausend
+Andere wohl, gegen mich war er ein Tyrann! sagte der Benedict hundertmal,
+wenn der Schmerz ob dem verlornen Lebensglücke zuweilen gewaltig in ihm
+aufzuckte und die Trauergeschichte vom weißen Federbusch bestärkte ihn in
+der Meinung, ein von Gott Verstoßener oder zum Unglücke Erkorner zu sein.</p>
+<p>In der Zelle erwachten mit den Jugenderinnerungen auch die Erinnerungen an
+das vielfache Kreuz und Elend, welches er den Eltern bereitete und er
+gelangte zur Einsicht, ein Kind, welches seinen Eltern großen Kummer
+verursache, dadurch ihre Freude am Leben zerstöre und sie vor der Zeit ins
+Grab stürze, sei eigentlich auch ein Elternmörder und der Tod der Eltern
+eigentlich auch ein gewaltsamer.</p>
+<p>Von diesem Standpunkte aus fühlte er sich des Mordes beider Eltern
+schuldig.</p>
+<p>Allein gibt es nicht Kinder seiner Art genug und keine Seele denkt daran,
+sie deßhalb ins Zuchthaus zu stecken?</p>
+<p>Er begriff sein Schicksal so wenig als die heimlichen Qualen seines
+Herzens, hoffte vom Tode Ruhe, gegen diese Hoffnung erhob sich fortwährend
+die Religion und heute wurden Hoffnung und Ruhe durch die Worte:</p>
+<p>"Wer meinen Leib <i>unwürdig</i> ißt und mein Blut <i>unwürdig</i> trinkt,
+der ißt und trinkt sich selbst das Gericht!" abermals heftig erschüttert.</p>
+<p>Wenn diese Worte keine leere Drohung enthielten, wäre ich nicht schon
+hienieden ein gerecht Gerichteter? Wenn der Tod das, was in mir lebt, nicht
+zerstörte, wie würde es mit mir im Jenseits aussehen? Hienieden
+vieljähriges Kerkerleiden bis zum Tode, dort endlose, ewige Qual,
+schauderhafter Gedanke!</p>
+<p>Diese Fragen beschäftigen den Spaziergänger, in die Zelle zurückgekehrt,
+schneidet er ellenlange Hobelspäne, arbeitet darauf los, daß große Tropfen
+von seiner Stirne rinnen, wird wirklich seiner wunderlichen Grillen Herr
+und ist im Stande, beinahe zu lächeln, wie er die Gangschelle zur Schule
+rufen hört. Eilig schlüpft er in den grauen Kittel, greift nach Mütze und
+Nummer, Schiefertafel und Schreibzeug und kaum öffnet der Aufseher die
+Thüre, so ist er bereits dem Mittelbau nahe und klimmt die Wendeltreppen
+hinan.</p>
+<p>Er darf eilen, denn der Gang ist ziemlich leer, die meisten seiner Nachbarn
+mögen einer andern der 6 Klassen angehören, mit welchen sich zwei Lehrer
+beschäftigen oder auch das 36ste Lebensjahr zurückgelegt haben, in welchem
+Falle sie zur Altersklasse gezählt werden, die einigemal wöchentlich in der
+Kirche versammelt und durch Vorlesen aus einem gewählten Buche für den
+Schulunterricht einigermaßen entschädiget wird.</p>
+<p>Das "Grabhemd" auf dem Kopfe tritt Numero 110 in die Schulstube und in
+seinen besondern Verschlag, hängt die Nummer auf, läßt sich einschließen,
+setzt sich und harrt mit stiller Sehnsucht, bis der Aufseher commandirt:</p>
+<p>"Kappen herunter!"</p>
+<p>In demselben Augenblicke wird der Oberlehrer den hohen Catheder besteigen,
+die Schüler seiner obersten Klasse werden ihn freundlich begrüßen, er wird
+den Gruß freundlich erwiedern, die Nummern herablesen und den Unterricht
+beginnen.</p>
+<p>Wie in der Kirche sieht auch in der Schule kein Gefangener den Andern,
+dagegen Jeder den Lehrer, die Aufseher, Rechentafel, Landkarten u.s.w.
+Freilich hört hier Jeder die Stimme der aufgerufenen Nummern und mag aus
+der Mundart den Seehasen vom Pfälzer, den Schwarzwälder vom Odenwälder, das
+Stadtkind vom Dorflümmel leicht unterscheiden, ja der Benedict hat sogar in
+der vorigen Stunde die Stimme des Exfouriers und des Spaniolen vernommen,
+erkannt und im Gedächtnisse behalten, jener sei Nro. 349 und dieser Nro.
+27, aber was kann solche Entdeckung nützen oder schaden? Nro. 110 weiß
+nicht genau, wo Nro. 349 in der Schulstube oder in welcher Zelle er sitzt,
+was er treibt und wenn er es auch wüßte, ja wenn beide Nachbarn wären und
+es ihnen gelänge sich Zeichen gegenseitigen Erkennens zu geben&mdash;Gefühle und
+Gedanken tauschen sie innerhalb dieser Anstalt nicht aus, der erste Versuch
+dazu würde auch zum letzten und müßte von großem Glücke begleitet sein, um
+erst nach dem Gelingen entdeckt zu werden, in jenem Austausche aber liegt
+die Hauptgefahr der Sträflingsgesellschaft.</p>
+<p>Mag Einer sich dem Nachbarn auch durch Trommeln an die dicke Wand bemerkbar
+machen, lange dauert solches Trommeln gewiß nicht, auch ist noch niemals
+gehört worden, daß dadurch die Abschreckung oder Besserung eines Gefangenen
+beeinträchtiget wurde und die Versuche, mit einander zu reden, haben völlig
+ein Ende, seitdem die Oeffnungen der Luftkanäle vergittert wurden.</p>
+<p>Der Wachtstubenwitze reißende und halbgelehrte Spöttereien über alles Hohe
+und Heilige zu Markt tragende Exfourier, der sozialdemocratische,
+selbstsüchtige Spaniol vermöchten dem Benedict nur noch zu schaden, weil er
+mit Beiden einst zusammenlebte und ein treues Gedächtniß besitzt&mdash;
+jedenfalls ist die Schule des Zellengefängisses der letzte Ort, wo die
+Hausordnung oder gar Religion und Sittlichkeit irgendwie Gefahr zu laufen
+vermöchten.</p>
+<p>Der achteckige, thurmartige Mittelbau, von welchem die vier Flügel
+ausstrahlen, erscheint uns überhaupt als ein Sinnbild der Ordnung, welche
+nicht nur im Zellengefängnisse zu Bruchsal, sondern im großen Zuchthause
+der Welt herrschend sein sollte.</p>
+<p>Im untersten Raume findet sich die Küche, ob derselben Stuben der
+Werkmeister, Oberaufseher, noch höher die Zimmer der Beamten, welche
+allgemach zu den Schullokalen emporsteigen, zu oberst aber steht die
+Kirche, während die bewaffnete Macht draußen an den Ringmauern, den
+äußersten Gränzen des Reiches verweilt und die Gehüteten nicht beständig an
+das Mißtrauen der Regierenden mahnt.&mdash;</p>
+<p>Bereits steht der Oberlehrer auf dem Catheder, kritisirt die eingelieferten
+Aufsätze und läßt zwei derselben laut vorlesen.</p>
+<p>Beide sind ziemlich lang gerathen, man erkennt bald, daß die Verfasser
+ihren Kopf beisammen hatten und beide zeigen einen Reichthum der Gedanken,
+einen dichterischen Schwung der Sprache, die wir bei Zellengefangenen
+ebenso häufig als auffallend finden.</p>
+<p>Der erste Aufsatz ist von Nro. 62 und behandelt die Frage, weßhalb der
+Reichthum nicht nothwendig zum Glücke gehöre, den zweiten hat Nro. 205
+geliefert, dieser sucht den Begriff vom Glück und Unglück festzustellen und
+findet, daß es für einen Menschen, der Religion nicht nur <i>besitze</i>,
+sondern <i>religiös sei</i>, kein eigentliches Unglück gebe, somit in der
+religiösen Durchdrungenheit das Geheimniß des wahren Glückes zu suchen sei.
+Nro. 62 ist ein blutarmer und, wie sich dies bei seinem Gewerbe fast von
+selbst verstehen soll, fast immer betrunkener Postillon gewesen, der so
+wenig daran dachte, durch seinen Jähzorn jemals in ein Zuchthaus zu
+gerathen, als daran, in diesem bitterbösen Hause ein meisterhafter Schuster
+und ein Mensch zu werden, der Geschriebenes und Gedrucktes geläufig lesen
+und noch viel Schönes und Nützliches dazu lerne. Nro. 205 ist ein
+ehemaliger Soldat, der mit seinen Schulmeistern ein besonderes Schicksal
+hatte. Der erste derselben war ein alter, braver Mann, der die
+weitschichtige Gelehrsamkeit der neuen Schulmeister nicht mehr faßte und
+alle Neuerungen, gute und schlimme, haßte. Dafür wurde auch er gehaßt,
+verfolgt und verspottet. Wie die Alten sangen, so zwitscherten die Jungen
+und als der Mann starb, kam ein junger Lehrer, der sich ganz nach dem
+Willen der Mehrheit seiner Schüler richtete und deßhalb die halbe Zeit
+keinen Unterricht gab oder die Stunden mit Geschichtlein tödtete. Nro. 205
+war als einer der stärksten und größten Buben im Anfeinden des alten mit im
+Verherrlichen des neuen Lehrers ein Anführer gewesen und wurde aus der
+Schule entlassen, ohne daß ihn ein schwerer Schulsack drückte. Erst im
+Zuchthause hat er den Schaden erkannt und verbessert.</p>
+<p>Nro. 62 wie 205 saß früher in gemeinsamer Haft, beide preisen sich
+glücklich, von ihrer alten Kameradschaft erlöst zu sein und wenn ihnen
+irgend ein Gelehrter vom Glücke der Sträflingsgesellschaft vorpredigte,
+würden sie es in ihrer Einfalt für Scherz oder Spott halten; beide gehören
+zu den fleißigsten und besten Schülern, während sie gleichzeitig zu den
+fleißigsten und besten Arbeitern gehören, von den Werkmeistern noch niemals
+wegen Saumseligkeit oder gar wegen Nichtfertigung des ganzen Tagwerkes
+verklagt wurden. Nachdem das Vorlesen der Aufsätze beendiget, kommen die
+Rechnungsaufgaben an die Reihe.</p>
+<p>Der Duckmäuser hat den Cubikinhalt eines cylindrischen Gefäßes berechnet,
+welches doppelt so hoch als weit ist und ganz gefüllt 2 Pfund Wasser
+aufnimmt.</p>
+<p>Nro. 70 löste die Frage richtig, wie groß eine Seite eines Würfels von Gold
+sei, welcher 24 Loth wiege.</p>
+<p>Dagegen brachte 401 die folgende Rechnung nicht ganz ins Reine, nämlich:
+"Ein Brunnentrog aus Sandstein hat die Form einer Halbkugel, deren ganzer
+Durchmesser 4'3" beträgt, wahrend die Steinmasse selbst 4" dick ist.
+Wieviel (badische) Maaß Wasser faßt dieser Trog und welchen Cubikinhalt hat
+die Steinmasse?"</p>
+<p>Nro. 401 beging bei der Lösung der zweiten Frage einen Fehler, die meisten
+Mitschüler stimmen in ihrer Lösung überein und diese ist auch die richtige.
+Jener entdeckt und entschuldigt seinen Irrthum, seine Stimme und Rede
+zeigt, er sei dem Weinen nahe, um diesen alten Weiner zu trösten, darf er
+die Lösung der letzten der heutigen Aufgaben nennen und liest mit ruhigere
+Stimme:</p>
+<p>"Nach der Angabe v. Humboldt's soll eine der ägyptischen Pyramiden 800'
+Höhe und an der Grundfläche, welche ein Quadrat ist, ebensoviel Breite
+haben. Wieviel Cubikfuß beträgt der Inhalt und wieviel Zentner etwa das
+Gewicht dieser Pyramide, wenn man obiges Maaß als badisches betrachtet und
+das spezifische Gewicht des Marmors, aus welchem sie bestehen soll, zu
+2,736 annimmt?"</p>
+<p>Die Lösung, welche Nro. 401 gibt, ist richtig, fünf Hauptrechner bezeugen
+es, der Oberlehrer thut dasselbe und beginnt dann eine kleine Prüfung über
+die Lehre der drei Arten von Hebeln, gewöhnlichen und festen Rollen und
+Flaschenzügen.</p>
+<p>Nro. 349 hat diesen Mittag für sich in der Zelle berechnet, ein Rammklotz
+von 60 Zentnern, der etwa bei Wasserbauten angewendet würde, und 15' hoch
+herabfalle, wirke mit der Kraft von 18,000 Zentnern, welche nur Einen Schuh
+fallen. Der etwas hartköpfige Nro. 334 erbittet und erhält eine Erklärung
+des "Rades an der Welle" und der Benedict erläutert schließlich den
+Potenzflaschenzug.</p>
+<p>Dann geht der vortreffliche Oberlehrer, welcher mit Pestalozzi Bibel und
+Kalender für die wichtigsten Urkunden des Menschengeschlechtes hält, daran,
+den Sonntagsbuchstaben zu erklären, durch den sich der Wochentag eines
+geschichtlichen Ereignisses sicher bestimmen läßt und ist noch nicht
+fertig, wie die Glocke ertönt und anzeigt die Lieblingsstunde vieler
+Zellenbewohner sei wiederum vorüber. Der Lehrer verschwindet, die Schüler
+setzen das "Grabhemd" wiederum auf, die Aufseher öffnen einen Verschlag
+nach dem Andern in der Ordnung, daß kein Gefangener dem Andern auf dem Fuße
+folgt oder gar entgegenläuft, Einer nach dem Andern steuert der Thüre zu,
+welche in seinen Flügel führt und nach wenigen Minuten steht Nro. 110
+wiederum vor der Hobelbank.</p>
+<p>Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Schule.</p>
+<p>Die Sträflingsschule des Zellengefängnisses zu Bruchsal erregt besonders
+die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Besucher, weil die Sträflinge einen
+Grad von intellectueller Bildung und Bildungsfähigkeit entwickeln, den man
+in den besteingerichteten Gefängnissen anderer Art vergeblich suchen würde.</p>
+<p>Die Regierung verdient sich den Dank der Menschheit, indem dieselbe Vieles
+für die Anstalt überhaupt und deren Schule insbesondere thut, tüchtige
+Lehrer, indem dieselben unermüdlich und im engen Vereine mit den
+Geistlichen beider Confessionen dahin arbeiten, aus unwissenden und rohen
+oder halbgebildeten und eingebildeten Gefangenen Menschen und Christen zu
+machen und vor geistiger Verdumpfung zu bewahren.</p>
+<p>Die Schüler dagegen empfinden auch das ganze Gewicht der Wohlthaten, welche
+ihnen durch Unterricht gespendet werden und beweisen es durch ihre
+Anhänglichkeit für die Geistlichen und Lehrer, durch ihren Eifer für die
+Schule und vor Allem durch die Fortschritte.</p>
+<p>Wer nur immer anerkennt, daß in der Bildung an und für sich eine Macht
+liege, welche die schwer zerstörbare Selbstsucht des Menschen mindestens
+verfeinern, ihm soviel Klugheit, Ehrgefühl und Selbstbeherrschung gewähre,
+um nicht leicht ein Verbrechen zu begehen, der wird sich entschieden für
+eine Sträflingsschule der Art aussprechen, wie dieselbe hier besteht und
+blüht.</p>
+<p>Wir kennen auch keinen Fall, daß ein Gefangener, welcher diese Schule
+längere Zeit besuchte, wiederum rückfällig geworden wäre und wenn in dieser
+Anstalt vorherrschend jugendliche Verbrecher untergebracht und ihres
+Unterrichtes theilhaftig gemacht würden, so würde die Erfahrung lehren, daß
+die Zahl der Rückfälle sich ansehnlich verminderte.</p>
+<p><i>Aber leidet der Gewerbsbetrieb nicht durch die Schule Noth?</i></p>
+<p>Die beste Antwort liegt in der Thatsache, daß der Gewerbsbetrieb des
+Zellengefängnisses trotz mißlicher Zeitverhältnisse und eigenthümlicher
+Hindereisse [Hindernisse] mehr blüht, als der jeder andern Strafanstalt des
+Landes und daß die Blüthe des Gewerbsbetriebes zunächst vom Fleiße und der
+Geschicklichkeit der Sträflinge abhänge, wird wohl kein Gegner der einsamen
+Haft läugnen.</p>
+<p>Der Zellenbewohner besucht nicht mehr Unterrichtsstunden als andere
+Sträflinge, dagegen ist es richtig, daß er Besuche vom Lehrer in der Zelle
+und bei dieser Gelegenheit besondern Unterricht erhält. Doch Besuche muß er
+überhaupt eine bestimmte Anzahl empfangen, wenn er nicht zu Grunde gehen
+soll und daß kein Besuchender, folglich auch kein Lehrer zu lange bei Einem
+verweile, dafür ist schon durch die Vorschrift gesorgt, daß jeder Beamte
+täglich eine verhältnißmäßig große Anzahl von Besuchen abzustatten hat.</p>
+<p>Das Geheimniß der überraschenden Fortschritte, welche viele Zellenbewohner
+in Schulkenntnissen machen, liegt hauptsächlich in ihrer eigenthümlichen
+Lage. Die Einsamkeit verinnerlicht den Menschen, der Mangel an Gesellschaft
+treibt ihn, sich in arbeitsfreien Stunden selbst zu unterhalten und weil
+ihm Gelegenheit für schlechte Unterhaltung abgeschnitten, dagegen
+Gelegenheit zur guten reichlich geboten ist, so greift er eben nach
+letzterer.</p>
+<p>Die Ruhestunden, die arbeitsfreien Tage, manche schlaflose Stunde der
+Nacht, in welcher das Denken eine Zerstreuung und Wohlthat zugleich wird,
+werden zumeist der Schule gewidmet und gerade der verhältnißmäßige Mangel
+an Eindrücken, welche er von der Außenwelt empfängt, stärkt sein Gedächtniß
+wunderbar für Alles, was in der Schule vorkommt, welche er besucht oder in
+den Büchern, welche er gelesen.</p>
+<p>Sind wir überzeugt, der Gewerbsbetrieb würde wenig oder nichts gewinnen,
+wenn man die Schulen gesellschaftlich lebender Gefangenen wiederum aufhöbe,
+so sind wir noch weit mehr davon überzeugt, daß er in Zellengefängnissen
+bedeutend Noth litte. Gar viele Handwerker bedürfen einiger Kenntnisse im
+Zeichnen, in Mathematik und Geometrie, Chemie und andern Wissenschaften und
+je mehr sie davon erringen, desto besser ist es für ihr Gewerbe. Ferner
+ließe sich möglicherweise das vollständige Fertigen eines Tagwerkes durch
+Hungerkuren erzwingen, lange jedoch ginge dies nicht an und zum Fertigen
+guter und vortrefflicher Arbeit gehört eben auch im Zuchthause ein
+Arbeiter, der gut oder vortrefflich arbeiten kann und&mdash;will. Die Schule
+wird von Sträflingen als eine Wohlthat und Belohnung allgemein anerkannt,
+ihre Beeinträchtigung oder gar ihre Beseitigung würde gerade bei den
+Talentvollen den guten Willen zur Arbeit beeinträchtigen oder beseitigen
+oder derselbe müßte auf eine Weise angeregt werden, welche mehr kostete als
+die Schule.</p>
+<p><i>Aber werden die Spitzbuben durch die Bildung, welche sie empfangen,
+nicht gerade raffinirter und führt die Schule nicht zur Halbwisserei?</i></p>
+<p>Den ersten Theil dieses Einwurfes würden wir gar nicht beantworten, wenn er
+nicht schon von mehr als einer Seite gemacht worden wäre.</p>
+<p>Wir haben einen Tag in einem gemeinsamen Zuchthause zugebracht und
+vermieden, pikante Spitzbubenhistörchen aufzuzeichnen, wenn man nicht etwa
+die maaßlose und keineswegs seltene Unverschämtheit des Patrik vom
+Hotzenwalde pikant finden will.</p>
+<p>In gemeinsamer Haft geben die Meister der Greiferkunde Privatcollegien aus
+ungewaschenen Mäulern, die Blüthe des Gaunerthums erfreut sich dort einigen
+Ansehens und fruchtbarer Wirksamkeit, allein keine Sträflingsschule irgend
+einer Art befaßt sich mittelbar oder gar unmittelbar mit Ausbildung der
+Spitzbüberei. Freilich lehrt die Physik und noch mehr die Chemie Manches,
+was sich ein Langfingeriger für die Zukunft hinter die Ohren schreiben
+könnte, aber jedem Lehrer wird man soviel Verstand und Besonnenheit
+zutrauen, daß er seinen Stoff zu wählen versteht.</p>
+<p>Erheblicher ist die Halbwisserei.</p>
+<p>Unter Halbwisserei verstehen wir das <i>religionslose</i> Wissen, somit
+ziemlich dasselbe, was schon Plato darunter verstanden und worüber er als
+einer unheilbringenden Erbärmlichkeit geklagt hat. Vom Vorwurfe der
+Halbwisserei sind bei uns jedenfalls die Sträflingsschulen freizusprechen,
+denn Geistliche und Lehrer gehen einträchtig zusammen, Einer arbeitet dem
+Andern in die Hände, die Schule ist nicht nur ein Mittel allgemeiner
+Bildung, sondern auch allgemeiner religiöser Erhebung.</p>
+<p>Eine bereits auf einige tausend Bände angewachsene Bibliothek, deren Bücher
+vor Allem mit Rücksicht auf löbliche Tendenzen gewählt und mit Rücksicht
+auf die verschiedenen Confessionen unter die Gefangenen vertheilt werden,
+unterstützt mächtig die Bemühungen der geistlichen und weltlichen Beamten.</p>
+<p>Die sichtbaren Wunder der Natur, die weltbeherrschenden Gesetze der Physik,
+die einfachen, erhabenen und allbeherrschenden Gesetze der Bewegung der
+Weltkörper, lauter Dinge, welche jedem Schulknaben, geschweige einem
+Erwachsenen klar und deutlich gemacht werden können, wie sehr sind diese
+geeignet, den Menschen zum Herrn und Vater dieser Gesetze zu erheben? Und
+Abrisse aus der Geschichte, in welcher Gott den lohnenden Vater oder
+rächenden Amtmann spielt, eine Unthat unter dem Gewichte ihrer Folgen den
+Schuldigen und die Mitschuldigen begräbt, ohne vorher nach Stammbaum oder
+Taufschein zu fragen, wie sehr sind diese geeignet, den Verbrecher zum
+Nachdenken über das eigene Schicksal zu bringen? Jedenfalls mehr als die
+eigens für Gefangene und Verbrecher geschriebenen Bücher, unter denen wir
+und viele Andere außer dem von Suringar wenig Erträgliches und
+Ersprießliches entdeckten. Sträflinge sind schwer vom Glauben abzubringen,
+daß man die kleinen Spitzbuben fange, die großen dagegen laufen lasse,
+wissen recht gut, wie es mit dem Werthe Vieler steht, welche frank und frei
+herumlaufen und ebenso, daß sie keine unartigen Kindlein sind, denen man
+Religion und Jesusliebe als Brei einreichen könnte, deßhalb geben sie auch
+nichts auf Bücher, die aus gutmeinenden, aber unklugen oder unerfahrenen
+Federn zur angeblichen Erbauung von Gefangenen geflossen sind. Im
+Gegentheil werden Schriften dieser Art Religionslosigkeit und
+Verstockung eher vermehren als vermindern und besonders in gemeinsamer Haft
+nicht lange ungerupft bleiben.</p>
+<p>Sie [Die] Schule vor Allem erweitert den geistigen Gesichtshorizont und je
+mehr sich dieser erweitert, desto kleiner fühlt sich der Mensch überhaupt,
+der Verbrecher insbesondere und wiederum desto größer, weil der Herr und
+Meister der Welt sich mit ihm abgibt.</p>
+<p><i>Weßhalb eine ungewöhnliche Ausdehnung des Unterrichtes bei
+Zellenbewohnern?</i></p>
+<p>Vom Buchstabenmalen und Zahlen zusammenzählen steigert sich Alles bis zum
+Auflösen von Gleichungen, Berechnungen des Kreises und Lösungen von
+Aufgaben, welche einige physikalische, chemische und sogar astronomische
+Einsichten voraussetzen. Weil Zellenbewohner aus innerm Antriebe gerne
+lernen und im Lernen so ziemlich ihre einzige Erholung finden, deshalb
+schreiten Viele auch rasch und sicher fort und sollen sie dafür mit
+Stillstand bestraft werden, für den sich nirgends ein Grund auftreiben
+ließe?</p>
+<p>Weßhalb sollen Schwerverurtheilte, deren jugendliches Alter vielmaligen
+Schulbesuch gesetzlich sanctionirt, ohne ihre Schuld und noch mehr wider
+ihren Willen in den Mitteln des Fortschreitens zur Bildung und Besserung
+verkürzt werden? Die in der That ganz vortreffliche Hausordnung von
+Bruchsal ermuntert und belohnt sogar den Schulfleiß, erkennt in der Schule
+überhaupt ein mächtiges Mittel gegen geistige Verknüpfung und Versumpfung
+und daß es in ihr nicht gar zu hochgelehrt hergehe, dafür ist schon
+gesorgt, weil die meisten Sträflinge einen ziemlich armseligen und manche
+gar keinen Schulsack in die Zelle bringen.</p>
+<p>Die Lehrer haben mit dem ABCschützen und Dummen überflüssig genug zu thun
+und sollen sie nun auch mit den weiter Fortgeschrittenen und Talentvollen
+dazu verurtheilt werden, Papageienrollen zu spielen und in diesem Jahre
+durchaus dasselbe zu schreien, was sie im vorigen Jahre geschrieen?</p>
+<p>Wenn ein entlassener Zellenbewohner ungefähr weiß, was jeder ordentliche
+Realschüler zu wissen vermag, so weiß er noch lange nicht zuviel und wird
+durch das Gewicht seines Wissens schwerlich in den Pfuhl des Lasters und
+der Verbrechen hinabgedrückt!&mdash;</p>
+<p>Während wir diesen etwas langgerathenen Gedankenspaziergang machten,
+arbeitete Nro. 110 in seiner Zelle rüstig fort und zuweilen tritt ein
+Werkmeister oder Aufseher herein, nicht sowohl um die Arbeit zu
+besichtigen, denn der Benedict arbeitet zu vortrefflich, als daß viele
+Besichtigung nöthig wäre, sondern um Etwas zu fragen oder die Leimpfanne zu
+bringen.</p>
+<p>Der Fleiß der Gefangenen wird in der Zelle leichter und besser controllirt,
+als in jedem Sträflingssaale und zwar auf eine Weise, daß der
+Zellenbewohner nichts davon weiß. Der Controllirende tritt zur Thüre, hebt
+einen kleinen Schieber in die Höhe und überschaut mit Einem Blicke die
+ganze Zelle, wahrend Nro. 110 vergeblich sich abmühen würde, durch dasselbe
+Fensterchen auf den Gang hinauszusehen. Nicht Eine Minute des Tages oder
+der Nacht ist er sicher, unbeobachtet zu sein und das Peinliche dieser Lage
+wird gerade dadurch gemildert für den Bessern und geschärft für den
+Schlechtern, weil er niemals Gewißheit davon hat.</p>
+<p>Ein gefangener Taglöhner hat sein Zellenleben in ergötzlichen Reimen
+beschrieben, von denen einige charactristische hier ein Plätzlein finden
+mögen:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;&mdash;Einmal ist der Obermeister kommen:
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;"Du willst nicht sputen hab' ich vernommen?
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Hättest große machen sollen
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dich soll gleich der Kukuk holen!"&mdash;
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;"Ich will lieber machen kleine
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Das ist die Rede, die ich meine!"&mdash;
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;"Du hast hier kein Recht,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Seist du Meister oder Knecht,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Mußt jetzt thun, was ich Dir sag'
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Oder hast gehabt zu Mittag,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und zu Nacht wirst auch nichts kriegen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Kannst noch in den Turm hinabfliegen!
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dort kannst Du sitzen oder stehen
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und wie es Dir noch sonst wird gehen.
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dann thut man Dich in den Zwangstuhl schnallen
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Das wird Dir auch nicht gut gefallen!"
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ich sah auf mein Spulrad hin
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und dachte: "wenn nur dieser Mann wieder ging!"
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Aber er ließ sich nicht vertreiben
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und ließ auch das Dräuen nicht bleiben.
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;"Wenn ich noch eine einzige Klage hör',
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dann komme ich wieder zu Dir hieher!"
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Das ist sein letztes Wort,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dann ist er fort.
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ich dacht: Nun ist er doch einmal gangen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Das war ja mein einzig Verlangen!
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Hab mich wieder zum Rad gesetzt
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und gespult, daß ich hab' geschwitzt.
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Hörte ich nur laufen im Gang,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;So glaubte ich: jetzt kommt der saure Mann!&mdash;
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Einmal hab' ich gesungen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Da kam er gleich gesprungen:
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;"Hör' ich dies noch einmal hier,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dann gibt man nicht zu essen Dir!"
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Darauf sah ich ihn im Hof in seinem grauen Rock
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und eilte was ich konnte in den zweiten Stock,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Mache die Thüre eilends zu,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Daß ich hab' vor diesem Manne Ruh.
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Er hat mir schon zu schwer gedräut,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ihn zu sehen, ist mir keine Freud'!
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Allein ich hab' vor ihm recht Respekt,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Doch bin ich gern von ihm weit weg;
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Doch hat er mir noch nichts zu leid gethan
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Er kann doch sein ein guter Mann!</p>
+<p>In diesem Augenblicke öffnet sich die Thüre von Nro. 110 und einer der
+beiden Obermeister steht vor Benedict. Er ist nicht mehr der alte Dräuer,
+über welchen der Taglöhner klagte, sondern ein ganz freundlicher
+ordentlicher Mann, der mit Blicken mehr ausrichtet als Andere mit vielem
+Lärm. Die Arme über die Brust gekreuzt, den rechten Fuß vorgestellt steht
+er ganz ruhig da und redet mit unserm Schreiner vom Wetter und den
+Rheinschnaken, diesen Moskitos der Rheinebene, deren Stich eben keine
+angenehme Empfindungen, wohl aber kleine Beulen erzeugt und die den Weg
+durch alle Kleider und die dicksten Teppiche hindurch zu finden wissen,
+während ihr Gesumme in Schlaf lullt.</p>
+<p>Tabaksqualm verscheucht diese kleinen, blutgierigen Ungeheuer, aber der
+Gefangene darf nicht rauchen und muß sich begnügen, die Schnaken
+todzuschlagen [todtzuschlagen], wenn sie angefüllt von Blut träge an den
+Wänden sitzen und nicht weit zu fliegen vermögen. Wahrend der Obermeister
+den Ankläger der Schnaken anhört, überschaut er mit einigen Seitenblicken
+Alles und wenn Etwas am unrechten Nagel hängt, nicht vorschriftsmäßig
+aufgestellt oder hingelegt ist, darf der Zellenbewohner einer Ermahnung
+gewiß sein, wenn aber gar irgend ein <i>Verstoß gegen die Reinlichkeit</i>
+aufzutreiben ist, dann bleibt eine Zurechtweisung nicht aus.</p>
+<p>Wieviel Schweiß und Aerger haben die kleinen Ziegelplatten des Zellenbodens
+den Benedict schon gekostet, den feinen, ungesunden Staub abgerechnet, der
+sich von denselben ablößt!</p>
+<p>Jetzt versteht er sein Geschäft besser, der Obermeister vermag nichts zu
+entdecken, was der Reinlichkeit widerspräche, denn es fehlt zwar nicht an
+Sägspänen, Hobelspänen, Gerüchen des Holzes und der Politur, zumal das
+obere Fenster geschlossen ist, aber in welcher Schreinerwerkstätte der Welt
+fehlt es an diesen Dingen? Oder wo gibt es irgend eine Schusterboutique,
+aus welcher der Geruch von Leder und Pech verbannt ist oder einen Webstuhl,
+in dessen Nähe es nicht von Zeit zu Zeit nach Schlichte riecht?</p>
+<p>Arme und reiche Handwerker sind an solche Dinge gewöhnt, die sich nicht
+vermeiden lassen, Gewohnheit stumpft gegen den schlimmen Einfluß derselben
+ab, weßhalb soll und wie soll der Zellenbewohner dagegen geschützt werden?</p>
+<p>Tadeln ist in allen Dingen leicht, Verbessern häufig schwer.</p>
+<p>Frische Luft und Reinlichkeit sind für die Gesundheit des Gefangenen
+wichtige Artikel, in Bruchsal ist in dieser Hinsicht das Möglichste
+geleistet, die Ziegelplatten der Zellenböden möchten freilich nicht viel
+taugen, aber sie sind nun einmal da, lassen sich nicht über Nacht
+wegbringen und leicht ohne große Kosten durch etwas Besseres ersetzen,
+dagegen läßt sich die Reinlichkeit jedes Einzelnen leicht controlliren.</p>
+<p>Der Oberaufseher wünscht freundlich guten Abend und eilt zu Nro. 109
+hinüber. Ein Herbsttag geht rasch vorüber, ehe man sichs versieht, ist die
+Dämmerung da. Die verschiedenen Zeiten des Jahres und Tages, die Wechsel
+der Witterung üben auf den Menschen Einfluß aus und wenn dieser Einfluß bei
+vielen Zellenbewohnern noch bemerkbarer wird als bei andern Gefangenen, so
+rührt dies wohl daher, weil ihr äußeres Leben ein ziemlich armes und
+einförmiges ist. Ein kurzer, trüber Herbsttag stimmte den Benedikt trübe
+und melancholisch, der Abend brachte ihm gar schwermüthige Gedanken. Er
+dachte an das Abendläuten, Lichteranzünden und an die Heimgärten im fernen
+Dörflein und war froh, als der Aufseher den Schalter öffnete, um den
+Wasserkrug zum letztenmal für heute in Empfang zu nehmen und das Licht
+anzuzünden.</p>
+<p>Er griff wiederum zum Hobel, um die Grillen durch Arbeit zu verscheuchen,
+doch wollte es ihm nicht recht gelingen und zuweilen tief aufseufzend
+blickte er durch die Gitter zum dunkeln, sternenleeren Nachthimmel empor.</p>
+<p>Abermals öffnet sich die Thüre und der Arzt tritt herein.</p>
+<p>Dieser muß nicht nur seine Kranken, sondern auch alle Gesunden fleißig
+besuchen und fast noch mehr Seelenarzt als Leibesarzt sein.</p>
+<p>Weil die Einzelhaft eine neue und aus fernen Landen zu uns gekommenne
+[gekommene] Einrichtung ist, welche je nach Clima, Lebensweise und
+Charakter eines Volkes Verschiedenheiten der Durchführung erheischt, über
+deren Art und Zweckmäßigkeit lediglich die Erfahrung allmählige Belehrung
+zu geben vermag, muß besonders auch der Gefängnißvorstand ein denkender und
+mit vielseitiger Bildung ausgerüsteter Mann und nicht etwa ein alter
+ausgedienter Soldat sein, wie dies manchmal in England stattfindet.
+Gediente Soldaten geben gute Oberaufseher und Aufseher; wo die Ordre
+anfängt, hört gemeiniglich ihr Denken auf, je nach der Ordre hauen sie den
+Gefangenen ebenso bereitwillig in Krautstücke als sie denselben noch als
+menschenähnliches Wesen passiren lassen und so vortrefflich solche
+Eigenschaft untergeordneten Werkzeugen ansteht, so mißliche Folgen würde
+sie nach sich ziehen, wenn der Vorstand einer <i>Besserungsanstalt</i> ein
+abdecretirter Schnurrbart wäre, der Menschen jeder Art als Maschinen
+betrachtete und bald im Vollgefühle seiner Unwissenheit und Ohnmacht Fünfe
+gerad sein ließe oder blind und brutal in Alles hineinblitzte und
+hineindonnerte, was nicht ganz nach seinem Kopfe ginge.</p>
+<p>Weil Menschen und die allseitigen Wirkungen von Einrichtungen bis ins
+Kleinste studirt, Alles auf bestimmte Zwecke gerichtet und alle Zwecke
+Einem großen Zwecke untergeordnet werden müssen, deßhalb muß der Vorstand
+ein organisirender Kopf und weil ein Arzt jedenfalls am meisten Gelegenheit
+besitzt, sich theoretische und praktische Kenntnisse über den Menschen und
+das Volk, Krankheiten des Leibes und der Seele und unserer
+gesellschaftlichen Zustände zu erwerben, endlich weil Zellenbewohner in
+mancher Beziehung Ausnahmsmenschen werden und Einem Arzte sehr viel zu
+schaffen machen, wenn auch der Krankenstand ganz unbedeutend bleibt,
+deßhalb möchte es gut und zweckmäßig sein, wenn auch der Gefängnißvorstand
+ein Arzt ist.</p>
+<p>Die Verhältnisse eines Zellengefängnisses drängen von selbst darauf hin,
+daß entweder der Doctor vielfach zum thatsächlichen Vorstande und der
+Vorstand zu seinem Figuranten würde oder daß Beide sich in die Haare
+gerieten, wobei der Staat und die Gefangenen am Schlechtesten bestünden,
+wenn der Vorstand ein alter Soldat oder ein einseitiger Fachmensch
+überhaupt wäre.</p>
+<p>Ein ehemaliger Offizier, der ein bischen vom Rechnungsfache verstünde,
+möchte sich zum Vorstande einer Anstalt mit gemeinsamer Haft vortrefflich
+eignen, schwerlich dagegen zum Leiter eines Zellengefängnisses.</p>
+<p>Nro. 110 gehört zu jenen vielen Zellenbewohnern, welche ihren leiblichen
+Zuständen große, oft arg übertriebene Aufmerksamkeit zuwenden und denen ein
+bischen Mattigkeit in den Gliedern oder Reißen im Kopfe leicht Gedanken an
+schwere Krankheiten und das gefürchtete Brett der Anatomie erregte. Sie
+plagen und quälen den armen Doctor mit ihren Einfällen und Fragen und wenn
+er nicht darauf einzugehen Grund findet oder gar darob lächelt, dann halten
+sie ihn für einen halben Unmenschen, geht er darauf ein, für einen ganzen
+Dummkopf und macht er die Sache mit einem Thee oder einer Arznei statt mit
+Krankenkost ab, für einen vollendeten Tyrannen.</p>
+<p>Heute weiß der gute Benedict sehr viel von Magenknurren zu erzählen und
+weil der Doctor ihn mit den violetten Knödeln tröstet, welche morgen
+aufgetischt werden, wird er melancholisch und redet von Todesahnungen,
+welche ihm jener wiederum auszureden sucht.</p>
+<p>Kaum ist der Arzt fort, so tritt der Aufseher herein und lößt das Bett von
+der Wand ab. Unser Gefangener arbeitet noch einige Zeit und bringt es über
+das Tagwerk hinaus, dann läutet es wiederum in allen Flügeln auf einmal,
+wiederum klirren die Eßkessel, wiederum eilen die Aufseher der Küche zu,
+Benedict hört, wie sein Aufseher von Zelle zu Zelle geht, die Schalter
+zuschlägt und gute Nacht wünscht, bald fliegt auch sein Schalter auf, sein
+Schüsselchen wird gefüllt, der Schalter fährt zu und Benedict betrachtet
+wehmüthigen Blickes die Königin der Zuchthaussuppen, eine braune, ihm gar
+fad vorkommende "Wasserschnalle."</p>
+<p>Doch&mdash;in der Kaserne bekam er Abends gewöhnlich Nichts, jetzt ist er
+hungrig, dort drinnen im braunen Schränklein findet er Salz, er salzt und
+ißt die Suppe. Nicht lange darnach tritt der Werkmeister zum letztenmal für
+heute herein, er nimmt die schneidenden Instrumente aus der Zelle weg, der
+Korb mit Hobelspänen wird in den Gang hinausgestellt, man sagt sich gute
+Nacht. Bald verhallen die Schritte der forteilenden Werkmeister und
+Aufseher draußen im Gange, alsdann herrscht Todtenstille, höchstens die
+fallenden Tropfen einer Brunnenröhre, die Schritte eines Nachbars, das
+starke Husten oder Aufseufzen desselben unterbricht diese Stille.</p>
+<p>Leise und unhörbar schleichen die Aufseher in Filzschuhen oder in Socken
+durch die Gänge, kein Mensch sondern die Einsamkeit will mit dem Benedict
+eine ernste, schwermüthige Unterhaltung beginnen, eilig greift er nach dem
+reichhaltigen Lesebuch von Döll, dann nach der belehrenden "Menagerie" von
+Drugulin und ließt, dort über die Gasarten, was übermorgen in der Schule
+verhandelt werden soll, hier über die Wildschweinjagd mit Wurfspießen im
+fernen Indien.</p>
+<p>Plötzlich lärmt die Hausschelle durch die Todtenstille und befiehlt, daß
+alle Lichter gelöscht werden, alle Gefangenen sich zu Bette legen müssen.
+Eilig legt Benedict sein Buch weg, klappt Tisch und Bank wiederum an die
+Wand und löscht die Lampe aus.</p>
+<p>Sinnend steht er noch einige Augenblicke in der Zelle und blickt zum
+vergitterten Fensterlein empor, die sechs dicken Eisenstäbe gränzen sich
+scharf gegen den Nachthimmel mit seinen dunkeln, fliegenden Wolken ab,
+durch welche zuweilen das weiße oder röthliche Licht eines Sternes scheint
+oder flimmert und dieses traurige Haus wie die dunkeln Höhen des
+Schwarzwaldes, das Heimathdörflein, die Städte und Kasernen des Rheinthales
+überschaut und vielleicht in die Scheiben einer Hinterstube leuchtet, in
+welcher Meister März mit seinen Gottseligen conventikelt. Benedikt soll
+halblaut beten, die Hausordnung will es, doch er will nicht und murmelt
+sehnsüchtige Wünsche vor sich hin.</p>
+<p>Dann legt er den Strohteppich zum Schutze gegen den kalten Boden vor das
+Bett und legt sich nieder, um zu schlafen.</p>
+<p>Er hat den Tag über streng gearbeitet und befindet sich bald auf der Brücke
+zwischen Wachen und Schlafen, doch das langgedehnte Gebrülle einer
+gedankenlosen oder auch boshaften Schildwache laßt ihn einstweilen die
+Gedanken ans Einschlafen vergessen.</p>
+<p>Man mag ein Zurufen der nicht weit von einander stehenden Schildwachen für
+zweckmäßig erklären, doch welchen Zweck soll ein mehr als viehisches
+Brüllen und absichtliches Wiehern haben, welches manche Soldaten
+allnächtlich auf den Ringmauern zum Besten geben?</p>
+<p>Weit entfernt vom Militär kleiner Länder den Geist und die Haltung der
+Soldaten einer großen Armee und damit viel zu viel zu verlangen, möchte
+doch nicht zuviel verlangt sein mit der Forderung, daß die Wachkommandanten
+des Zellengefängnisses häufiger zur Einsicht kämen, gewaltsame Störung des
+Schlafes vieler Kranken und Gefangenen sei nicht nur etwas Unnöthiges,
+sondern auch etwas Unzweckmäßiges und Unwürdiges.&mdash;</p>
+<p>Seufzend wickelt sich der Duckmäuser fester in seinen Teppich, kehrt sich
+gegen die Wand und der Bibelvers, welcher ihn heute so sehr beschäftigte,
+kommt abermals und immer wieder ihm in den Sinn. Er schließt die Augen
+gewaltsam und zählt so lange von Eins bis Hundert rückwärts, bis endlich
+der Schlaf dem Zählen ein Ende macht, ein Schlaf ohne Erquickung und Ruhe,
+denn was sich in seinem Gemüthe regt, lebt auch im Schlafe fort und die
+Gedanken, welche er heute gehabt, spinnen sich in die Traumwelt weiter.
+Wovon soll ein Zellenbewohner träumen? Von den kleinen Ereignissen der
+Gegenwart? Sie biethen ihm zu wenig Interesse dar, als daß sie sich häufig
+in seine Träume verweben sollten. Höchstens die Schule beschäftigt den
+Träumenden, er setzt manchmal Rechnungen fort oder sieht in lebendigen
+wunderlichen Gestalten vor seinen Augen vorgehen, was er dort gehört.
+Meistens träumt er von der Vergangenheit, von den Hauptereignissen seines
+Lebens, vom Prozesse, der ihn vernichtet oder auch von der Zukunft, einer
+bessern, freudevollern Zukunft, von einer Welt voll süßer Täuschungen,
+welche der Klang der Hausschelle am frühen Morgen wegzaubert.</p>
+<p>Selten im Sträflingssaale, häufig bereits in der Zelle hat der Benedict
+geträumt vom Heimathdörflein, von den beiden Schwitten, von den Herzkäfern,
+dem Saumathis und Straßenbasche und vom Kasernenleben und manchmal ist er
+entsetzt aufgefahren, wenn die todte Mutter oder der Vater mit dem
+zerschmetterten Haupte oder dem ledernen Beutel, aus welchem er 50 Gulden
+herauszählte, vor ihm stand.</p>
+<p>Sechs Jahre muß ein Zellenbewohner in der Zelle bleiben, wenn die Strafzeit
+9 oder mehr Jahre beträgt. Sechs Jahre sind über 2190 Tage und ebensoviel
+Nächte eines eintönigen Lebens und eine solche Zahl sollte nicht
+ausreichen, um den alten Adam abzulegen?&mdash;</p>
+<p>
+ * * * * *</p>
+<p>
+Mehrere Jahre sind verflossen, seitdem der Benedict das Inwendige eines
+Sträflingssaales zum letztenmale gesehen. Er sitzt noch immer in der Zelle,
+ist noch immer hineingebannt in den unerbittlichen Gang des Lebens, welches
+Jahr für Jahr und Tag für Tag so ziemlich in derselben Weise eintönig
+vorüberschleicht, wie wir es beschrieben. Aber der leichtsinnige Hobist ist
+indessen ein stiller, nachdenklicher, ein besserer und im Ganzen
+glücklicher Mensch geworden, der nicht mehr seine Freilassung für das
+Höchste hält, weil er aufhörte, die Erde als das Höchste zu betrachten.</p>
+<p>Rasch und leicht ging solche Umwandlung keineswegs von Statten. Sie kostete
+bittere Thränen, schwere Kämpfe, verzweiflungsvolle Nächte, schonungslose
+Selbstanklagen, tausend vergebliche Vorsätze und mußte Schritt für Schritt
+mit dem stärksten, unermüdlichsten und grimmigsten Feinde, welchen der
+Mensch hat, nämlich mit der Selbstsucht im Kampfe liegen.</p>
+<p>Als nakte Selbstsucht besiegt, kleidete sie sich in das Gewand der Tugend
+und Religion, mit Hülfe des Geistlichen entlarvt, mußte der Kampf von Neuem
+aufgenommen werden. Jetzt ist sie gebunden, gedemüthiget, aber noch nicht
+getödtet, erst der Tod wird sie vollkommen tödten.</p>
+<p>Geht nicht eine alte Sage unter dem Volke, die zertretene Schlange vermöge
+nicht zu sterben, bevor die Sonne untergegangen?&mdash;</p>
+<p>Der Duckmäuser ist noch jung und stark, er gehört zu den Gebesserten,
+insofern man Mienen, Gebärden, Reden, Benehmen, Eifer in Schule und Kirche,
+das gleichmüthige und heitere Ertragen aller Entbehrungen und Leiden eines
+einsamen Zellenbewohners, das unbedingte Anheimstellen des eigenen
+Schicksals in den Willen Gottes, die lebendigen Aeußerungen eines tiefen
+Bewußtseins der ehemaligen Unwürdigkeit, der gegenwärtigen Schwäche und
+einer dankbaren Anerkennung der erbarmenden Liebe des Erlösers gegen ihn
+als Zeichen von Besserung ansehen darf.</p>
+<p>Er lebt so, als ob er nicht mehr allein in der Zelle sei, sondern als ob
+die friedlichen, beseligenden Gestalten des Himmels bei ihm ein und
+answandelten und als ob der Allmächtige den Fluch der bösen Thaten, die der
+Benedict verübt, von dessen Haupte hinweggenommen habe.</p>
+<p>Aber so wenig wir auf eine Besserung halten, welche erst auf dem Todbette
+erfolgt oder deren Verdienst dem zunehmenden Alter, der wachsenden Einsicht
+in das Eitle und Nichtige alles Irdischen, der erkaltenden Begierde,
+günstiger gewordenen Lebensverhältnissen und andern Umständen hauptsächlich
+zugeschrieben werden können, so zweifelhaft und jedenfalls für die
+menschliche Gesellschaft fast unfruchtbar bleibt auch die geistige
+Wiedergeburt eines Zellenbewohners, so lange derselbe in der Zelle lebt.</p>
+<p>Weßhalb?</p>
+<p>Er kann in der That gebessert sein, mag in der sittlichen Erstarkung auch
+große Fortschritte gemacht haben und aufrichtig beschwören, ja auch den
+Schwur nach der Entlassung treulich erfüllen, daß er niemals wieder in eine
+Strafanstalt zurückkehre&mdash;aber seine Besserung kann immerhin vorherrschend
+als eine Besserung für das Zuchthaus und nicht als eine für die Welt
+betrachtet werden.</p>
+<p>Zeit und Gewohnheit sind für jeden Leidenden ein Balsam, der Zellenbewohner
+entbehrt desselben nicht, aber er entbehrt vieler Gelegenheiten und
+Versuchungen zu Sünden, Lastern und Verbrechen, welche die Welt darbietet.</p>
+<p>Man hat die Zellenbewohner schon mit Klosterbewohnern verglichen und
+dadurch einen hinkenden Vergleich mehr zu Papier gebracht.</p>
+<p>Ein Zellenbewohner kann zwar so weit gelangen, daß er seine Strafe
+gleichsam aus freiem Entschlusse auf sich nimmt, doch kein freier
+Entschluß, den Versuchungen der Welt zu entfliehen, sondern ein Verbrechen
+hat ihn in die Einsamkeit getrieben, der Spielraum seiner Freiheit ist
+geringer, als der jedes Bruders eines jeglichen Ordens, seine Lage ist
+vielfach schwieriger als die des Trappisten und der Austritt aus der Zelle
+steht in keiner Weise in seiner Macht.</p>
+<p>
+So wenig wir denen beistimmen, welche wähnen, ein Zellengefangener besitze
+keine Gelegenheit Beweise seiner Besserung abzulegen, so geben wir doch zu,
+daß die <i>vollständige Besserung</i> eines Zellenbewohners sich <i>erst
+nach der Entlassung</i> zu bewähren vermöge.</p>
+<p>Ein gebesserter Sträfling soll aber nicht blos kein neues, von wandelbaren
+Gesetzen verpöntes Vergehen sich mehr zu Schulden kommen lassen, sondern
+überhaupt ein guter Mensch, treuer Familienvater und rechtschaffener Bürger
+sein.</p>
+<p>Saufen, Spielen, Verschwenden, Betrügen, Ehebrechen, Faulenzen, Weib und
+Kinder und Mitmenschen mißhandeln soll er als trauriges Privilegium jenen
+Vielen überlassen, welche mit und ohne Glacéhandschuhe erhobenen Hauptes an
+Strafanstalten vorüberwandeln und gleich jenem Pharisäer jubeln: "Herrgott,
+was bin ich für ein prächtiger, vortrefflicher Kerl!&mdash;Noch niemals habe ich
+ein gemeines Verbrechen begangen, welches mich in eine Strafanstalt
+führte!"</p>
+<p>Will eine Regierung sich vollkommen überzeugen, ob Zellenbewohner auf eine
+Weise gebessert werden, daß die menschliche Gesellschaft wirklichen Nutzen
+davon hat, so muß sie nach unseren Ansichten genaue Nachrichten über das
+Leben und Treiben aller Entlassenen von Zeit zu Zeit einziehen. Freilich,
+wo Leute erst dann in die Zelle gelangen, wenn sie im Laster bereits alt
+wurden, auch in diesem Falle oft nur kurze Zeit zu bleiben haben oder durch
+Hungerkost und Dunkelarrest für die nächste Zeit von Verbrechen
+abgeschreckt, dagegen der Besserung weit schwerer zugänglich gemacht
+werden, da läßt sich nicht allzuviel hoffen, doch jedenfalls würde sich
+herausstellen, daß jugendliche Verbrecher, welche 2 bis 3 Jahre in einer
+Zelle zubrachten, nicht wieder in eine Strafanstalt zurückkehrten und durch
+ihr Leben keinen Grund zur Befürchtung baldiger Rückkehr darbieten.</p>
+<p>Damit wäre aber die Einzelhaft als eine für den Staat und die Gefangenen
+gleich wohlthätige Einrichtung gerettet, insofern von Besserung im
+strengsten Sinne des Wortes die Rede ist.</p>
+<p>Ruhig und friedlich lebt der Benedict nunmehr in seiner Zelle und schaut
+wohlgemuth auf Alles zurück, was er in ihr durchgemacht hat.</p>
+<p>In der ersten Zeit überraschte ihn die Neuheit seiner Lage, er hatte sich
+Alles viel fürchterlicher vorgestellt, als er es fand und dem leiblichen
+Tode würde er gleichmüthig ins Auge geschaut haben.</p>
+<p>Es ist ein gewaltiger Irrthum, zu glauben, der Tod komme Verbrecher schwer
+an. Viele sterben ganz ruhig, weil auch der nahende Tod ihnen die tiefe
+Ueberzeugung nicht nimmt, daß sie weit eher Märtyrer als Verbrecher seien
+und zehnmal eher den Himmel als die Hölle oder auch Keines von Beiden zu
+erwarten hatten. Eine Hauptkrankheit aller Gefangenen ist die Schwindsucht,
+Schwindsüchtige sind bekanntlich die Letzten, welche an die Nähe ihres
+Todes glauben und haben auch keinen schmerzhaften Tod.</p>
+<p>Ganz schön und leicht und ohne alle Gewissensscrupeln war der Zuckerhannes
+gestorben, einen ähnlichen Tod wünschte sich auch der Benedict.</p>
+<p>Doch nicht der Tod, sondern ein neues Leben sollte ihm in der Zelle werden.
+In den ersten Monden der Zellenhaft gerieth er, gleich einem frisch
+eingefangenen, erwachsenen Thiere, das in einen engen Käfig gesperrt wird,
+in einen Zustand großer Empfindlichkeit und Reizbarkeit, den er mit
+unsäglicher Mühe beherrschte, um sich nicht bei den Vorgesetzten von
+vornherein das Spiel zu verderben. Er suchte sich beliebt zu machen und es
+gelang ihm, wie es ihm noch überall gelungen. Sein chronisches Seelenübel,
+Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, fand jedoch nicht Pflege und Nahrung
+genug, dem Spiele einer lebhaften Phantasie überlassen, gerieth der
+vielbelesene Kopf zuweilen mit der rauhen Wirklichkeit in Fehde und weil er
+stets den Kürzern zog, machte sich die wachsende Reizbarkeit zuweilen Luft.</p>
+<p>Das kurze Wort, der scharfe Blick eines Aufsehers konnte ihn in solcher
+Gemüthsstimmung beben machen und was Beamte und Geistliche der Anstalt, in
+der er früher gewesen, niemals gehört hatten, hörten die des
+Zellengefängnisses: schwere Anklagen gegen Gott und Welt, Gesetze, Richter,
+Zeugen, alle Menschen, welche ihm jemals etwas Böses zugefügt haben
+sollten.</p>
+<p>Ein so entschuldbarer und schon so lange mißhandelter Mensch seiner Art
+gehörte freigelassen, das verstand sich von selbst&mdash;er machte
+Bittschriften und die Beamten mußten dieselben wohl entgegennehmen, wenn
+sie Schlimmes nicht schlimmer machen wollten. Natürlich lautete die Antwort
+kurz und gut, man fühle sich in keiner Weise veranlaßt, seine Begnadigung
+derzeit zu befürworten.</p>
+<p>"In keiner Weise!"&mdash;["]also haben die Beamten und der Geistliche nicht für
+mich geredet! ... Verderben ihnen!" dachte der enttäuschte Benedict und
+schwor ingrimmig, keines Menschen Wort und Mienen mehr zu vertrauen. Er
+suchte sich in die ehemalige Gleichgültigkeit hineinzulügen, den Besuchern
+mit kalter Höflichkeit und schlauer Berechnung entgegen zu kommen, doch
+seine Jugend- und Lebenserinnerungen leisteten ihm beständig Gesellschaft,
+alle Gestalten derselben lebten und wandelten draußen herum, diesen
+gegenüber mochte er nicht gleichgültig bleiben und wenn er die Eisenbahn
+pfeifen hörte, welche glückliche Menschen seiner Heimath zutrug oder an
+stillen Sonntagen die Parademusik hörte, weinte er oft Thränen stiller
+Verzweiflung.</p>
+<p>Ein unbedachtsamer Hitzkopf war er sonst nie besonders gewesen, aber jetzt
+wurde er es, weil er das Feuer, das in ihm zehrte, nicht zu bemeistern
+vermochte. Er redete, was er fühlte, ohne sich lange zu besinnen und gar
+Manches, was er in ruhigeren Stunden verdammte.</p>
+<p>Endlich versank er in einen Zustand stiller Trauer und hoffnungsloser
+Schwermuth. Er würde sich vielleicht aufgehängt haben, wenn das Hängen
+nicht ein gar zu gemeiner Tod und der Selbstmord überhaupt kein Akt
+tapferer Feigheit wäre. Er hatte angefangen, ernster und gründlicher als je
+in sich selbst hineinzuschauen und der Ich, welcher aus ihm heraus ihm
+selbst entgegengrinste, zeigte eine so schreckliche Gestalt, daß der
+Benedict nahe daran war, an Gott und an sich selbst zu verzweifeln.</p>
+<p>Aus dem Trübsinn riß ihn der würdige Geistliche.</p>
+<p>Er ließ sich das ganze Leben des Gefangenen erzählen, zeigte ihm, was er
+gewollt und gethan, anderseits was Gott gewollt und gethan habe und verwies
+auf die Tröstungen der Religion.</p>
+<p>Ein erklärter Feind der Religion, Geistlichen und rechtschaffener Menschen
+war Nro. 110 niemals gewesen, kannte die Lehren der katholischen Kirche und
+wußte, wie tief die Wurzeln liegen, welche dieselbe mindestens noch beim
+Volke getrieben. Die äußern Gebräuche hatte er als Gefangener niemals
+vernachläßiget, aber religiös gesinnt konnte er nicht werden unter
+Menschen, die Mangel an Religion für die höchste Tugend erklärten. Ohne daß
+er es merkte und wollte, übten die Religionsspötter doch Einfluß auf ihn,
+als Betbruder zu gelten, däuchte ihm eine Unklugheit und halbe Schande.</p>
+<p>Nachdem er in der Zelle genug geflucht, gewüthet und sich den Tod
+gewünscht, begann er zu beten.</p>
+<p>Schule, Kirche, gute religiöse und andere Schriften machten einen
+wohlthätigen Eindruck auf ihn, eine herzhafte Generalbeichte wurde der
+Anfang zur Besserung.</p>
+<p>Langsam und allmählig, wie der Benedict hochmüthig, leichtsinnig, diebisch
+und liederlich geworden, lernte er Demuth kennen und üben, die Sünden
+zuerst als eine unpraktische Dummheit und dann erst recht als eine
+Beleidigung der Majestät Gottes kennen, die Sehnsucht nach irdischen
+Gütern, Genüssen und Ehren minderte sich, je mehr sich ihm die Gestalten
+des Himmels offenbarten und auf dem Pfade zur Versöhnung mit sich selbst,
+der Welt und Gott ward ihm mannigfache Hülfe.</p>
+<p>Hat er nicht einen Briefwechsel mit seinen Geschwistern angefangen, an
+welche er lange Jahre nicht geschrieben? Wurden die Antworten nicht eine
+reiche Quelle des Trostes und der Ermunterung für ihn? Erfuhr er nicht
+unter andern, der Vater habe noch einige Stunden gelebt und Zeichen der
+Verzeihung gegen das Bild an der Wand gemacht, welches den Benedict als
+Hobisten darstellte? Schöpfte der Unglückliche nicht daraus den Trost, der
+Vater habe ihn noch bei Lebzeiten nicht für seinen absichtlichen Mörder
+gehalten?</p>
+<p>Am ersten Montage des Septembers 185... wurde Nro. 110 unvermuthet ins
+Besuchzimmer abgeholt. Er schrak ganz zusammen und die Kniee zitterten ihm,
+als er durch die kühlen Gange geführt wurde und erinnerte sich, auf diesem
+Wege sei er in die Anstalt hereingekommen.</p>
+<p>Richtig liegt auch das Besuchzimmer im Vorderbau beim Eingange und der
+Gefangene, welcher Besuch empfängt, sieht die Thüre, die ins große
+Zuchthaus hinausführt.</p>
+<p>Das Besuchzimmer des Zellengefängnisses ist so eingerichtet, daß der
+Gefangene nicht das Mindeste von den Besuchern in Empfang zu nehmen
+vermöchte, wenn auch gar keine Aussicht vorhanden wäre. Die Leute sehen
+einander mit Mühe, geschweige daß sie sich die Hand zu geben vermöchten und
+die Stimme ist wohl das Hauptsächlichste, woran sie sich gegenseitig
+erkennen. Hausordnungswidrig darf sich auch keine Stimme vernehmen lassen,
+denn zwischen den bis zur Decke eng verpallisadirten Käfigen der
+Besuchenden und des Besuchten steht ein Aufseher, so lange sie zusammen
+reden und diese Aufseher sind ausgewählte, pflichttreue Diener, wie man sie
+wohl selten in einer Strafanstalt beisammen trifft.</p>
+<p>Für die übertrieben scheinende und in der That harte Einrichtung des
+Besuchzimmers finden wir nur Einen haltbaren Grund: man will die
+Angehörigen, Freunde und Bekannten der Zellenbewohner von Besuchen
+<i>abschrecken</i>.</p>
+<p>Dieser Grund ist allerdings haltbar, weil ein Zellenbewohner wahrend seiner
+ganzen Haft mehr oder minder in einem empfindsamen, leicht erregbaren
+Zustande sich befindet und durch nichts leichter als durch Besuche in eine
+gewaltige und manchmal unheilbringende Aufregung versetzt wird.</p>
+<p>Wer weiß, welchen Eindruck der jetzige Besuch auf den Benedict gemacht
+hätte, wenn er nicht bereits zum religiösen Halt in sich gelangt gewesen
+wäre!&mdash;&mdash;</p>
+<p>Er hat am Besuchzimmer später nichts ausgesetzt, denn er fühlte sich
+unwürdig, den beiden Lieben, welche ihn besuchten, näher zu treten und die
+Hand zu reichen und mußte sich im ersten Augenblicke an einer Pallisade
+halten, um nicht zusammenzubrechen. Standen doch ihm gegenüber der älteste
+Bruder, der Johannesle, welcher Zeuge der allerersten Arretirung in der
+Apotheke gewesen und neben ihm&mdash;&mdash;das Rosele!</p>
+<p>Stumm, von seltsamen Gefühlen bewegt, schauten sich diese drei Menschen an,
+so gut es möglich war, dann brachen sie in ein lautes Weinen und Schluchzen
+aus und endlich begannen sie zu reden, anfangs ohne recht zu wissen was und
+wovon. Der Benedict faßte noch zuerst Muth und Besinnung und erzählte ihnen
+sehr Tröstliches von seinem Zellenleben, was die Beiden ruhig machte.</p>
+<p>Wie groß und mannhaft ist der Johannesle geworden und jetzt verheirathet,
+wie sehr hat das Rosele gealtert und wie manche Thräne mag über diese
+braunen, gefurchten Wangen geflossen sein! Das Weib des Straßenbasche ist
+todt, doch der alte Mann lebt noch, sie pflegt ihn und ist ledig geblieben
+bis zur Stunde. Der Mensch liebt nur einmal recht in seinem Leben, alles
+Späterkommende ist mit Lumperei vermischt!&mdash;</p>
+<p>Daheim im Dörflein hat das Jahr 1848 die rothe Schwitt vollständig ans
+Ruder gebracht und der Willibald ist Obmann des Sicherheitsausschusses
+gewesen. Es gab nur Demokraten, welche soffen und schrieen und Einige,
+welche in Winkeln herumkrochen, das Maul hielten und erst nach der Ankunft
+der Preußen auf die frühern "Maulhelden," um deretwillen doch eine Armee
+ins Land rückte und das Pulver nicht sparte, tapfer schimpften. Dafür
+wurden diese Bürgermeister und Gemeinderäthe; nur Einer ging leer aus und
+meinte, er hätte es eher als Alle verdient. Dieser Eine war der Sohn des
+alten, längst vermoderten Fidele, der Max vom Rindhofe, der Taufpathe der
+rothen Schwitt.</p>
+<p>Dieser Taugenichts, an welchem übrigens ein Heli von Vater, eine dem
+positiven Christenthum bereits entfremdete Schule und vor Allem schlechtes
+Beispiel Vieles versündiget, hatte die Zukunft der rothen Schwitt als
+Anführer derselben anticipirt, bevor die Februarrevolution ausbrach und
+alle Rothschwittler und Rothschwittlerinnen des Landes zu Ehren brachte.</p>
+<p>Den gewöhnlichen Weg vom leichtsinnigen Müßigänger zum genußwüthigen
+Lumpen, von diesem zum kleinen und allgemach zum großen Verbrecher und
+entschiedenen Feinde Gottes und der Menschen durchmachend, lernte Max das
+Innere vieler Wirthshäuser, Spitäler und Gefängnisse kennen und benahm sich
+im Heimathdörflein so, daß selbst die ärgsten Rothschwittler nicht gerne
+mehr mit ihm sich abgaben.</p>
+<p>Seit den Märztagen führte der Willibald das große Wort im Dörflein, das
+sich wie an den meisten Orten in drei Parteien theilte, nämlich in eine
+lärmende und herrschende, in eine feigherzig schweigende und unentschlossen
+abwartende und endlich in die Windfahnenpartei, welche sich heute zu dieser
+morgen zu jener neigte, heute das einige Deutschland und den Großherzog,
+morgen die Republik hochleben ließ.</p>
+<p>Mit Max hielten es nur einige Schnapslumpen und Solche, welche auch bereits
+aus Erfahrung wußten, wie Gefängnißsuppen und Zuchthausbrod schmecken. Das
+Dörflein hat während der langen Abwesenheit des Benedict traurige
+Fortschritte in Liederlichkeit und Verarmung gemacht, trotz den
+Anstrengungen derer vom alten Schrot und Korn und der Jungen der schwarzen
+Schwitt seinen guten Ruf jährlich mehr eingebüßt und ist das Haus des
+Brandpeterle nebst einigen andern aus einer Schule der Laster zur
+Verbrecherschule geworden.</p>
+<p>Was man wenig überlegt und selten gelten lassen will, nämlich die Mitschuld
+der Gesellschaft an den Verbrechen der Einzelnen ließe sich gelegentlich
+dieses Dörfleins bis ins Einzelnste nachweisen, mit Namen, Thatsachen und
+sogar mit Zahlen belegen und spielte der Name eines Pfarrverwesers der
+Nachbarschaft dabei leider eine ebenso erhebliche als unläugbare Rolle. Wir
+können uns hier nicht näher darauf einlassen und melden zunächst nur, daß
+die Lumpen und Schlechten begreiflicherweise der Gesellschaft und dem
+Staate nicht einige Mitschuld, sondern übertreibend die Hauptschuld an
+ihren Lumpereien, schlechten Streichen und Verbrechen aufbürdeten und beim
+Ausbruche des Lärmes freudenroth und blutigroth schillerten und redeten,
+weil sie vermeinten, nunmehr sei das goldene Zeitalter der "Bürger" Schurk
+und Compagnie vor der Thüre und bereit waren, Alles zu thun, was ihren
+alten Gegnern zuwider und arg und ihren Wünschen entsprechend war.</p>
+<p>Doch der Willibald trat sogleich an die Spitze der Liberalen, die in einer
+Woche zu vollblütigen "Demokratern" wurden und statt mit dem Max und dessen
+engern Freundeskreis zu fraternisiren, warf man ihm die bittere Wahrheit
+haufenweise ins Gesicht und durfte in Gegenwart der alten Freunde kaum ein
+Gläslein im Hirzen trinken, ohne in Gefahr und wegen seines bösen Maules
+manchmal in den Fall zu gerathen, eine unfreiwillige Reise durch die Luft
+zu machen. Der Max, darob erbost, liebäugelte einige Zeit mit den alten
+Freunden seines Vaters, welche aus ruhigen Bürgern zu heillosen
+"Aristokraten" geworden. Diese machten es ihm gerade wie die Windfahnen;
+sie scheuten sich, ihm und seiner Sippschaft offen entgegenzutreten und
+ließen sich nur durch die Unverschämtheit, mit welcher er Jeden mit "Du"
+und "Bürger" anredete, in die Häuser eindrang und schmarotzte, zuweilen
+bewegen, ihm nicht mit schweigender Verachtung zu begegnen, sondern gleich
+den Demokratern mit Dreschflegeln zu winken.</p>
+<p>Kurz und gut, der redegewandte Max mit den Seinigen gelangte zu keinem
+Einfluß, fand Alle gegen sich und schimpfte heidenmäßig auf Alle. Als im
+Spätjahr 1848 die Nachricht kam, wie Struve im Interesse der Freiheit,
+Bildung und des Wohlstandes <i>Aller</i> im Oberland die <i>Einzelnen</i>
+traktire, Beamte in Ketten schlage, ganzen Dörfern mit Brand und Mord
+drohe, Einzelne fange, Gelder des Staates einsäkle und zahmgewordenen
+Kammerlöwen mit dem Sarras winke, um sie zu patriotischen Liebesgaben an
+die soziale Republik aufzumuntern, da schwoll dem Max das Herz in
+freudigbanger Erwartung, seine Sippe steckte die Köpfe zusammen, die
+Demokrater kratzten hinter den Ohren, die Aristokrater ließen schwere
+Seufzer fahren und gruben Nachts Löcher im Keller, die Windfahnen
+vertilgten mehr Wein, Bier und Schnaps als je, um beim etwaigen Einzuge des
+"Statthalters und der Statthalterin" dauerhafte Gurgeln zum
+Vivathochschreien zu haben.</p>
+<p>Leider machte ein regnischer Sonntag im September den frühlingshaften
+Ahnungen der Rothen, Röthern und Röthesten des Ländleins durch die
+"Schlacht" bei Staufen ein Ende und als der Max gar erfuhr, daß Struve in
+der Nacht mit der Eisenbahn als Gefangener durch die erste Provinz seines
+Reiches gesaust, da rief er in tiefem Schmerz:</p>
+<p>"Mit Deutschlands Einheit ist's Mathäi am Letzten. Das Parlament läßt nicht
+hängen und köpfen, der deutsche Michel läßt seine besten Männer besiegen,
+die Elsässer halten uns mit ihren Pralereien zum Narren, rächen wir uns an
+der schwarzen Schwitt, denn diese trägt an allem Schuld!"&mdash;&mdash;</p>
+<p>Gesagt, gethan. Er stand mit einigen Kameraden dem Willibald als einem
+Abtrünnigen und "Aristokrater" auf den Weg, sie schlugen denselben halbtodt
+und nahmen sich das Trinkgeld dafür aus seiner Tasche. Schon einige Stunden
+später saßen Alle im Amtsthurme, doch der Rädelsführer fröhlich und guter
+Dinge, denn erstens war die Kerkerkost besser als in friedlichen Zeiten,
+zweitens hegte er keinen Zweifel als politischer Verbrecher behandelt,
+beurtheilt und, amnestirt zu werden und drittens dann als politischer
+Märtyrer etwas einträglichere Geschäfte als bisher machen zu können.</p>
+<p>Die Untersuchung währte sehr lange; die Richter empfanden damals große
+Scheu, irgend einem Sohne des souveränen Volkes Unrecht anzuthun und
+beliebäugelten das Individuum im Spiegel der Allgemeinheit. Doch nach der
+Mairevolution erwachte der alte Heldenmuth und eine niegesehene Rührigkeit
+im Verurtheilen und der Max spazirte als Räuber dahin, wohin er gehörte.</p>
+<p>"Er hat's noch nicht abgesessen und lebt unter Einem Dache mit Dir!" schloß
+der Johannesle; siedendheiß fuhr es dem Benedict durch die Glieder, denn
+der alte Schwarzschwittler regte sich in ihm und konnte es nicht lassen,
+mit dem Haupte der rothen Schwitt am gleichen Ziel angekommen zu sein und
+unter Einem Dache zu leben.&mdash;</p>
+<p>Nach vielen Herzkäfern und Schulkameraden, deren Stolz und Freude er
+dereinst gewesen, wagte er gar nicht zu fragen, denn der Johannesle besaß
+keinen Funken jenes Taktes, mit welchem Besucher mit Zellengefangenen reden
+müssen, wenn sie denselben keine schweren Stunden und schlaflose Nächte
+bereiten wollen und das Rosele war etwas schweigsam und kurz.</p>
+<p>"Hab' oft für Dich gebetet, Benedict und will für Dich jetzt täglich in die
+Frühmesse gehen. Was ich nicht über Dich vermochte, vermag am Ende dieses
+wunderliche Haus noch am besten!&mdash;Sei getrost, der alte Herrgott lebt noch
+und weiß, was für Dich gut ist und die großen Herren sind besser als die
+kleinen. Betrübe Dich nicht zu sehr, weil Du da sitzest, denn daheim und im
+Lande sieht es so aus und geht es so zu, daß auch ordentliche Leute
+manchmal fast froh wären, hier oder doch tausend Stunden vom Rhein weg zu
+sein und Maxes alte Kameraden erzählen genug, wie man im Zuchthaus
+ungeschorener und besser lebe als in der Freiheit!"&mdash;</p>
+<p>"Viele, die selbst mitmachten, sind jetzt die ärgsten Anzeiger und
+Leuteschinder; wenn man's sieht, wie das Land ausgefressen und ausgesogen,
+dem Armen das letzte Leintuch unter dem Leibe weggerissen wird, weil der
+"Vollstrecker" oder der Staat Geld braucht und wie nirgends Zutrauen und
+Verdienst zurückkehren wollen, da wunderts Einen nicht, weßhalb Tausende
+jetzt auswandern nach Amerika. Am Ende kommst Du auch noch hinein,
+Benedict, denn seitdem die Gemeinden und der Staat Solche, die im Zuchthaus
+gewesen wegen Stehlen und Rauben, mit den Politischen nach Amerika
+spediren, geht das Gerede, alle Zuchthäuser würden allgemach geleert und
+der Befehlshaber von Amerika habe herausgeschrieben, man solle ihm doch
+alle Arrestanten schicken, weil es an Händen fehle zum&mdash;Arbeiten!"</p>
+<p>Benedict schüttelte etwas ungläubig den Kopf und meinte:</p>
+<p>"Für mich gibts keine irdische Hoffnung mehr!&mdash;Ich habe schon an Dir,
+Rosele, mein Loos verdient, weil ich Deine einst so treue Liebe so
+mißachtete und mißhandelte!&mdash;Ich möchte nicht einmal wieder unter die
+Menschen, denn was habe ich zu erwarten? Gutes wenig, sei es im Badischen
+oder in Amerika. Lebewohl, Liebe, bete für mich und denke, daß ich endlich
+doch hier ein anderer Mensch werde!"</p>
+<p>Rosele fuhr mit der Schürze über die Augen, winkte dem Unglücklichen noch
+einmal mit der Hand und wandte sich nach der Thüre, während Johannes einen
+Besuch im nächsten Jahr nach der Erndte versprach, falls diese gut ausfalle
+und ziemlich kühl Behütegott sagte.</p>
+<p>Der Benedict hat sich eine Minute an den Pallisaden gehalten, als die
+Beiden gingen, hat gezittert und sich schier die Lippen wund gebissen, um
+nicht laut aufzuschreien. Doch ist er seiner selbst Meister geworden und
+still in seine Zelle zurückgekehrt, wo er auf die Kniee fiel und Gott ein
+heiliges Gelübde machte.</p>
+<p>Seitdem ist er allgemach zu einem rechten Christenmenschen geworden, hat
+tief in sich hineingeschaut wie selten Einer und ernsthaft an seiner innern
+Läuterung gearbeitet, so daß er nunmehr alle Leiden um Christi willen
+freudig trägt.</p>
+<p>Und wenn heute der herzensgute Fidele vom Grabe auferstünde und seinen
+Einzigen im grauen Kittel in der Zelle sähe, so würde sein Schmerz durch
+die Freude überwogen, in diesem zwar einen Verbrecher, aber einen
+<i>gebesserten</i> Verbrecher zu finden.</p>
+<p>Der Max vom Rindhofe hat in der Zelle auch Gelegenheit erhalten, über sich
+selbst lange und ernstlich nachzudenken und sich selbst gründlich kennen zu
+lernen. Selbsterkenntniß aber ist und bleibt der Anfang aller Weisheit.
+Könnte man alle Menschen gleich den Zellenbewohnern zum Nachdenken
+<i>zwingen</i>&mdash;die Erde hörte auf, ein großes Zuchthaus zu sein und der
+Streit, ob man Mitmenschen pennsylvanisch, auburnisch oder nach der alten
+Methode drangsaliren müsse, damit die Gesellschaft sicher sei, würde als
+Kennzeichen einer rohen und barbarischen Zeit betrauert werden.</p>
+<h2><a name="Briefe"></a>Aus den Briefen des Spaniolen.</h2>
+<h3><a name="B0"></a>Vorbericht.</h3>
+<p>
+Der Spaniol ist ein alter Bekannter aus dem ersten Theil und hat vielleicht
+mancher Leser schon zu erfahren gewünscht, wer und woher er wohl und wie es
+ihm bisher ergangen sein möge. Einerseits Revolutionär als Grundsatz,
+gehört er anderseits schon vermöge seiner höhern Ausbildung und gewaltig
+hohen Verbildung den höhern Volksklassen an.</p>
+<p>So unrichtig es wäre, denselben als eine erdichtete Person zu betrachten,
+so sehr bitten wir auch, in ihm den Ausdruck einer großen Klasse von
+Menschen zu sehen, welche mehr oder minder bewußt und weitgehend dem
+Spaniolenthum huldigen. Seine Geschichte ist eine lange, lehrreiche und
+traurige. Statt ihrer geben wir nur Auszüge und dazu noch
+<i>umgearbeitete</i> Auszüge aus Briefen des Helden.</p>
+<p>Warum?</p>
+<p><i>Erstens</i> erfordert eine <i>lange</i> Geschichte viel Druckpapier,
+noch mehr Schreibseligkeit und am meisten Geduld beim Leser. Der Herr
+Verleger besitzt zweifelsohne Papier genug, aber die Zuchthausgeschichten
+sind schon ihrem Inhalte nach etwas dick und sollen mindestens der Form
+nach nicht allzudick werden, damit sie sich leichter Platz machen in der
+elenden Zeit. Ferner hat möglicherweise schon Mancher gedacht, der
+Verfasser müsse ein recht schreibseliger Mensch sein, zumal er sich
+zuweilen wiederholt, allein Ein Beweis vom Gegentheil wird durch großartige
+Beschneidung der Geschichte des Spaniolen geliefert und manche Wiederholung
+mit der Furcht entschuldigt, daß der Leser diese Schrift als eine
+vorzugsweise für Unterhaltung berechnete ansehe, mit der Erfahrung, daß
+Kopfzerbrechen und Nachdenken keine Lieblingsleidenschaft des Publikums
+sei, mit der Gewißheit, daß man gewisse Dinge nicht oft genug sagen könne
+und vor Allem mit Vertrauen auf die berühmte deutsche Tugend der Geduld.</p>
+<p><i>Zweitens</i>wäre die Darstellung der innern Entwicklung und äußern
+Schicksale des Spaniolen sehr lehrreich und wohl auch unterhaltend, allein
+der genauem Veröffentlichung stehen größere Bedenken entgegen als bei allen
+übrigen in dieser Schrift vorkommenden Geschichten. Daß wir es dadurch mit
+Rezensenten, Schön-, Schwarm- und Rottengeistern der Gelehrtenrepublik, ja
+mindestens mit drei Viertheilen der Welt verdürben, wäre noch leicht zu
+verdauen. Wir fragen so wenig nach allen Interessen unserer Person als nur
+immer möglich und weil es auf dem unvermeidlichen Totenbette doch Eins ist,
+ob man sein Lebenlang Champagner oder Batzenvierer getrunken,
+Havannahcigarren oder Pfälzerkneller geraucht und auf Eiderdunen oder auf
+einem Spreuersack Nachts schnarchte, so würden wir uns nicht einmal
+sonderlich grämen, wenn man uns eines schönen Tages zum zweitenmal, aber
+dießmal um einer <i>guten heiligen</i> Sache willen an der Cravatte packte;
+wenn diese dadurch gefördert würde, könnte die winzige Person darob ganz
+fröhlich zu Grunde gehen.</p>
+<p>Allein nicht unsere Person, sondern die des Spaniolen müssen wir
+verschleiern und diese auch weniger um ihretwillen, sondern wegen anderer
+Leute. Wir müßten nolens volens Vieles dichten, dürften Namen von Orten und
+Personen, Zahlen und manche Thatsachen nicht laut werden lassen, ohne
+Anstoß und Schaden zu verursachen und müßten dieselben doch laut werden
+lassen, um gehörige Lichtfunken in die dunkle Geburtsstätte des
+Spaniolenthums zu werfen. Solcher Widerspruch ist schwer zu lösen.</p>
+<p>Dagegen bietet die Geschichte unseres Helden Anknüpfungspunkte und
+Thatsachen in Menge, um mindestens nachzuweisen, wie weit die
+Entchristlichung aller öffentlichen und gesellschaftlichen Zustände, die
+Protestantisirung des katholischen Volkes gedieh und wie namentlich das
+katholische Erziehungswesen kaum Spuren von christlichem geschweige
+kirchlichem Geiste an sich trug in einer Zeit&mdash;welche in manchen Gegenden
+noch nicht zur Vergangenheit geworden. Gegenwärtig, wo es Tausenden
+einleuchtet, wohin die Entchristlichung der Völker und die
+Protestantisirung katholischer Christen führe und wo aus den Denkschriften
+der Oberhirten der oberrheinischen Kirchenprovinz ein Wächterruf des
+Himmels an sämmtliche Dusler unter dem Monde erklingt, da wird es Pflicht,
+alle Kraft aufzubieten, um einer bessern Zukunft eine Gasse machen zu
+helfen.</p>
+<p>Die Geschichte des Spaniolen enthält Thatsachen genug dafür, wie es lange
+Jahre namenlich mit dem <i>Erziehungswesen</i> in einem Lande aussah, von
+dessen Bewohnern zwei Drittheile katholisch getauft worden. Wir wählen
+diejenigen heraus, für welche wir im Nothfalle einstehen können, sei es,
+daß wir mit Andern Aehnliches oder ganz Gleiches erlebten oder Beweise
+beizubringen vermögen. Erkenntniß der Fehler ist der Anfang zum
+Besserwerden. Nebenbei soll Anderes, wenn auch nur flüchtig berührt werden,
+was darauf hinzielt, dem Staate und der Kirche mindestens mit gutem Willen
+beizuspringen und wenn dieser oder jener Punkt katholisch getaufte
+Museumslazzaroni, Gänsekielimperatoren, Säbelbedienstete, Volksbildner und
+Kleinbubenprofessoren, Kammerzeuse und andere Giganten der Aufklärung und
+Bildung ärgert oder in gelinde Wuth versetzt, so wissen wir keinen bessern
+Rath, als daß diese Herren das Buch mit fachgemäßer Entrüstung an die Wand
+werfen, den Spaniolen für einen pechschwarzen Demokraten und seinen
+Briefsteller für alles Mögliche halten, was ihnen just einfällt und
+beliebt.</p>
+<p>Heilsamen Verdruß unter Namenchristen zu erregen, halten wir für großes
+Verdienst.</p>
+<p><i>Drittens</i> endlich ist die Geschichte des Spaniolen eine sehr
+<i>traurige</i>. Nun kann man zwar dem Schmerz eine Schellenkappe aufsetzen
+und in Trauermusik recht freundliche und lustige Stellen einflechten, zudem
+hat der Held über seine eigene Geschichte genug gelacht und es dauerte
+gewaltig lange, bis er zur Einsicht kam, seine Geschichte sei Eine zum
+Weinen&mdash;doch es gibt Schmerzen und Musiken, die sich mit Schellenkappen
+nicht vertragen und wo aus dem lustigen Aufjauchzen das tiefe innere Wehe
+nur noch herber heraustönt und der Spaniol ist ein ernster Christenmensch
+geworden, der nur mit einer ernsten Lebensbeschreibung zufrieden sein
+könnte. Damit nun vorliegende Briefe und der Schluß der
+Zuchthausgeschichten nicht gar zu traurig ausfallen, sind dieselben aus der
+Zeit genommen, wo der Held derselben nicht mehr in der Zelle zu B. und
+nicht mehr in dem engen, schwülen Kerker ungläubigen Aberglaubens seufzte,
+sondern wiederum den Wanderstab ergriffen hatte und wenn nicht im Himmel
+des Kinderglaubens, doch im Vorparadiese eines durch Nachdenken und Gebet
+neuerrungenen Glaubens an Christum den Gottessohn und die
+menschheiterlösende Mission der Weltkirche Jesu Christi weilte. Was den
+Inhalt der Briefe betrifft, so verhalten wir uns zu denselben wie ein guter
+Rathsherr zu den Ansichten seines Bürgermeisters. Wir nicken abwechselnd Ja
+und rufen: Einverstanden!</p>
+<h3><a name="B1"></a>I.</h3>
+<p>&mdash;Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn man eine lange Reihe von Monden
+keinen Schritt ohne Ordre und Wächter thun darf, eingezwängt in den
+eintönigen Gang einer unerbittlichen Hausordnung und in den kleinen Raum
+von 8 Schritten Länge und 4 Schritten Breite, welchen eine Zelle einnimmt.
+Freilich gewöhnt sich der Mensch daran, eine Art Maschine zu werden und das
+eigene Wollen mehr oder minder aufzugeben; die anfangs beengende Zelle
+erweitert sich allmählig und wird aus einem öden Behälter zum freundlichen
+Stübchen, in welchem man sehr glückliche Stunden zu leben vermag&mdash;doch wie
+viele düstere und wildbewegte Tage, wie viele bange und verzweiflungsvolle
+Nächte muß man durchleben, bis es so weit kommt, einen Schimmer äußern
+Glückes zu genießen! Wie Alpdruck lastet die Einsamkeit auf dem Gemüthe und
+erdrückt jede frohe Regung in den ersten Monden der Haft. Später kommt das
+Nachsinnen und Nachbrüten, die Zelle bevölkert sich mit alten Gestalten der
+Vergangenheit, sie weisen die Schuld unserer Leiden von sich ab und auf uns
+selbst, der Teufel und der Engel in uns beginnen ihre geheimnißvolle
+Zwiesprache und diese Zwiesprache steigert sich zum folternden,
+herzzerreißenden Streit und verzweiflungsvollen Kampfe. Unentschieden wogte
+in mir der Kampf und Streit, erst am Ende des zweiten Jahres wurden die
+Stunden seltener, in denen der Böse mir gräßliche Gedanken, finstere
+Entschlüsse, blutige Hoffnungen in die Ohren flüsterte und ich tagelang der
+Gesellschaft Jenes mich erfreute, der Allen Alles werden kann und soll und
+im Grunde der einzige wahre Freund bleibt, welchen der Mensch auf dieser
+Welt zu erwerben vermag.</p>
+<p>Wo Er weilt, herrscht Friede und Seligkeit, wo Er fehlt, Unruhe und Qual.
+Dies ist in allen Menschenwohnungen der Fall, doch der Zellengefangene
+empfindet es lebhafter als jeder Andere, weil ihm die zahllosen
+Zerstreuungen fehlen, durch welche die Freien das bange Herz in süße
+Gedankenlosigkeit einwiegen.</p>
+<p>Die Freien, welche Ironie!&mdash;Die äußere Freiheit bleibt für den Herrn des
+größten Thrones und für den Bürger der freiesten Republik leerer Schein,
+hohle Redensart, wo die innere fehlt. Es gab und gibt wohl noch Könige,
+abhängiger und elender als der verlassenste Bettler ihres Reiches, und
+Gefangene, freier und glücklicher als die Gesetzgeber des freiesten
+Staates. Innere Freiheit ist die Quelle der äußern. Ein Volk, unter welchem
+viele innerlich Freie sich befinden, kann keine schlechte Regierung haben
+und von vornherein niemals in die scheinbare oder wirkliche Notwendigkeit
+versetzt werden, sich gegen dieselbe aufzulehnen und zu empören.
+Revolutionen sind Zeugnisse für tiefgehende Krankheiten der Völker und
+Folgen unbehaglicher Zustände, welche durch die Krankheiten ins Leben
+gerufen wurden.</p>
+<p>Und krank, sterbenskrank ist unsere Zeit; sie liegt darnieder am Mangel an
+innerer Freiheit, näher am Mangel an positiver Religion und am Ueberflusse
+an einem Heidenthum, das weit ärger ist als das alte, weil man es kein
+unbewußtes und argloses nennen darf. Es strebt den ganzen Organismus des
+Staatslebens und der Gesellschaft zu vergiften und hätte denselben seit 300
+Jahren schon mehr als dreimal vergiftet und ertödtet, wenn nicht die Kirche
+gegen alle Angriffe und Verfolgungen kirchlicher und politischer
+Revolutionen Stand gehalten hätte.</p>
+<p>Doch&mdash;ich gerathe wieder auf Dinge, von welchen ich mindestens diesmal
+nicht reden wollte. Es ergeht mir wie alten Soldaten und den meisten
+Fachmenschen, welche jahraus jahrein von ihren Feldzügen und Geschäften
+reden und unwillkürlich immer wieder darauf gerathen, ob sie wollen oder
+nicht. Sollte ich mich entschuldigen, so wüßte ich nichts anzuführen, als
+daß ich eben leider ein entschiedener und im Kampfe nicht unerfahrener
+Soldat des Heidenthums gewesen und dadurch zum Verbrecher geworden bin.</p>
+<p>Mein Herz zittert, sobald ich länger bei diesen Erinnerungen verweile. Sie
+liegen hinter mir als ein langer, banger Fiebertraum voll von gräßlichen
+Gestalten, drohenden Gefahren und niederschmetternden Erinnerungen. Ich
+weiß, daß du mir verzeihest und Dank weißt, wenn ich später über die
+Nachtseiten meines Lebens rasch hinwegeile. Es geschieht nicht, weil ich
+mich des Bekenntnisses, sondern weil ich mich meiner Verirrungen und Sünden
+schäme&mdash;mich selbst verachten und Gottes Barmherzigkeit anstaunen muß, der
+einen Unhold meiner Art zu sich rufen und aus einer Art moralischem
+Ungeheuer, dessen größte Tugend im Stolze auf seine Ungeheuerlichkeit
+bestand, wiederum zu einem Menschen, zu einem Christen werden ließ. Er
+würde es wohl nicht gethan und als gerechter Gott mich den Folgen meiner
+Unthaten überlassen haben, wenn nicht Er am besten gewußt hätte, daß
+weniger Selbstsucht als verwundete und verkehrte Liebe für meine
+Mitmenschen und nicht Bosheit, sondern frühgenährte Eitelkeit des Herzens
+mich auf einem Wege forttrieben, auf welchen ich mich nicht selbst brachte,
+sondern als Kind darauf gebracht wurde.</p>
+<p>&mdash;Ja, einen großen Theil meiner Schuld schiebe ich keineswegs mit dem
+höflichen Dichter den Gestirnen zu, sondern muß und darf meine Eltern,
+Lehrer und die Gesellschaft überhaupt dafür verantwortlich machen. Dabei
+vergesse ich nicht, daß Eltern unter allen Umständen Eltern bleiben und daß
+die meinigen hinsichtlich ihrer natürlichen Gaben und thätigen Liebe für
+uns Kinder vortreffliche Menschen waren. Ich muß dieselben mit mir beklagen
+und nicht minder meine Lehrer, welche als Söhne und Träger der Bildung
+einer dem positiven Christenthum abholden und feindseligen Zeit eben auch
+zu dem gemacht worden waren, was sie aus mir und meinen Mitschülern
+machten: <i>Namenkatholiken, Unchristen, Heiden.</i></p>
+<p>Man sollte vermeinen, Eltern und Lehrer in christlichen Staaten erachteten
+es für die erste Pflicht, junge Seelen Christum kennen und lieben zu
+lehren, die Glaubenssätze und Gebräuche der Kirche so gründlich als möglich
+zu erklären und denselben handelnde Christen in ihrer Person zu zeigen.
+Solch heilige Pflicht wäre nicht allzuschwer zu erfüllen. Das Kind faßt
+Christum, weil sein Gemüth reine Liebe begreift und die natürliche Liebe,
+welche es für seine Ernährer und Lehrer empfindet, bildet die
+Uebergangsbrücke der übernatürlichen Liebe zum Himmlischen und Göttlichen.
+Ferner wären dogmatische Auseinandersetzungen für Kinder zwar unnütz, denn
+das Kind zweifelt nicht, sondern glaubt und vertraut und der erstarkende
+Verstand entwickelt mit der Zeit aus dem lebendigen Glauben an den
+Gottessohn alle Glaubenssätze als bloße Folgerungen aus jenem Glauben von
+selbst, doch eine oft wiederholte Erklärung aller Gebräuche der Kirche, in
+deren kleinsten eine unendlich tiefe Bedeutung liegt, sollte eben so sehr
+zur Obliegenheit der Eltern als der Lehrer werden. Endlich sind die meisten
+Erzählungen vom Leben der einzigächten Helden der Menschheit, der Helden
+des sittlichen Willens, nämlich der Heiligen für jedes Kinderherz so
+verständlich, anziehend und rührend, daß in keinem Hause eine
+Legendensammlung fehlen und nirgends dieselbe bestäubt in einem Winkel
+liegen sollte. Zuletzt liegt in der Befolgung der Vorschriften unserer
+Religion der ächte Stein der Weisen, das Geheimniß des zeitlichen und
+ewigen Glückes und wenn Eltern und Lehrer nicht einmal an ihre Kinder und
+Schüler, sondern nur an sich selbst und ihren handgreiflichen Nutzen, nicht
+an das Jenseits, sondern nur an den Augenblick und das Irdische dächten,
+würden sie darnach <i>streben</i>, ihren Kindern handelnde Christenmenschen
+zu zeigen, durch eigenes Beispiel zur Nachahmung reizen und an das Gute
+gewöhnen.</p>
+<p>Zu all diesem gehört keine besondere Gelehrsamkeit, es kostet nicht viele
+Zeit und würde eher zu Ersparnissen als zu Ausgaben verhelfen.</p>
+<p>Allein wie sieht es in protestantischen und katholischen Familien und
+Schulen mit der Pflege des Christenthums aus?</p>
+<p>Gibst du nur den einzigen Satz zu, daß ein Christenthum ohne einen
+Gottessohn ein leeres Gerede sei, hinter welchem sich ein mit christlich
+klingenden Redensarten verbrämtes Heidenthum breit macht, so wird den Satz
+Niemand umstoßen können, daß bei weitem in den meisten Häusern und
+Schulstuben das heranwachsende Geschlecht zu Heiden statt zu Christen und
+weit eher für Wirthshäuser, Spitäler, Irrenanstalten und Gefängnisse denn
+für ein glückliches Familienleben, weil für die Kirche und den Himmel
+herangezogen werde.</p>
+<p>Ich bin ein trauriges Beispiel dafür geworden. So wenig meine Erziehung in
+Haus und Schule einigen Antheil am Verdienste meiner Rückkehr zum Glauben
+besitzt, ebensowenig verhindert sie bei vielen Tausenden, daß diese werden,
+was aus mir, dem Liebling der Eltern und Lehrer, geworden.</p>
+<p>Pietät verbietet mir, meine leiblichen Eltern von einer ungünstigen Seite
+zu schildern. Kinder ihrer Zeit und Opfer der Weisheit der Zeit, trug
+Alles, was angeborne Herzensgüte des Vaters und Sanftmuth der Mutter,
+günstige Lebensverhältnisse und erfahrne Weltklugheit bei ihnen vermochten,
+nicht genug zu einem dauerhaften häuslichen Glücke, wenig zum Gedeihen der
+menschlichen Gesellschaft und noch weniger dazu bei, denselben in der
+Todesstunde Trost und in den Augen Gottes besonderes Ansehen zu
+verschaffen. Und meine Eltern gehörten nicht nur zu den angesehensten und
+gebildetsten, sondern in der That zu den edelsten Persönlichkeiten meiner
+Vaterstadt, wie meine Lehrer zu den kenntnißvollsten und besten des Landes.</p>
+<p>Der Vater war Arzt; ein religiös gesinnter Arzt ist wohl heute noch so
+selten denn ein gläubiger Jurist, ein frommer Lieutenant oder ein
+gottbegeisterter Handlungsreisender. Er besuchte die Kirche nur am
+Geburtsfeste des Landesherrn und galt als feiner, aufgeklärter Kopf, der
+wenig redete und mindestens vor uns Kindern niemals gegen die Religion und
+selten genen [gegen] diesen oder jenen Geistlichen zu Felde zog. Er
+überließ das Beten, Kirchengehen und die religiöse Erziehung seiner Kinder
+der Mutter und den Lehrern. Diese glaubte aufrichtig an einen <i>Gott</i>,
+aber weder an den Jehova des alten noch an den dreieinigen des neuen
+Bundes, sondern an den Gott innerhalb der Grenzen der Vernunft, an den des
+Zeitgeistes, der seine Bibel in den "Stunden der Andacht" gefunden. Er
+spielt in der Geschichte unseres Geschlechtes und im Leben des einzelnen
+Menschen genau dieselbe Rolle, wie ein gutherziger Onkel oder schwacher
+Vater irgend eines Theaterstückes, worin ein leichtsinniger Sohn oder Neffe
+einen dummen und schlechten Streich nach dem andern macht, den guten Alten
+auf jede beliebige Weise ärgert und quält und am Ende von allerlei Noth
+getrieben liebend und vertrauend in die stets ausgebreiteten Arme des
+Gerührten sinkt.</p>
+<p>Man könnte diesen Gott den absoluten Heli nennen, der so oft vom Stuhle
+fällt und stirbt als es dem Menschen beliebt gegen den Willen desselben zu
+handeln.</p>
+<p>Meine Mutter glaubte auch an <i>Christum</i> und würde Straußens mythische
+Nebelgestalt oder gar Daumers Menschenfresser mit Abscheu zurückgewiesen
+haben&mdash;aber <i>ihr</i> Christus war nur ein liebenswürdiger, großer
+Wohlthäter des Menschengeschlechts, den die gottlosen Juden peinigten und
+kreuzigten, weil eben Juden nichts von Weisheit, sondern nur das Geldzählen
+und Dukatenbeschneiden verstanden und schon damals Jeden der Ihrigen
+verfolgten, der für die benachbarten Gojims ein zu lautes Wort einlegte.
+Daß das Menschengeschlecht wegen des unschuldigen Apfelbisses in Ungnade
+gefallen, blieb ihr so unbegreiflich als die Nothwendigkeit, daß sich ein
+Schuldloser für das Menschengeschlecht mit Erfolg opferte.</p>
+<p>Der Gedanke, daß Gottes eigener Sohn auf dieses armselige, winzige
+Erdenpünktlein herabgestiegen sei, um sich zum Schlusse eines armseligen
+und verfolgten Lebens als ohnmächtiger Mensch kreuzigen zu lassen, erschien
+ihr bald lächerlich bald empörend, je nachdem sie gerade gestimmt war. Es
+läßt sich begreifen, daß von einem <i>heiligen Geist</i>, der einst als
+einfältige Taube am Jordan herumgeflogen, bei meiner Mutter so wenig die
+Rede sein konnte als von der wahrhaften, wirklichen und wesentlichen
+Gegenwart Christi im heiligen Abendmahl. Sie fand wohl Geist in den
+Gedichten Schillers und Anderer, am wenigsten aber in geistlosen
+Catechismen und das heilige Abendmahl galt ihr als eine Art von Zweckessen,
+als Erinnerungsfeier an einen tüchtigen Volksmann. Natürlich vermochte sie
+in der katholischen Kirche, der sie mit Leib und Seele anzugehören
+vermeinte, weder eine vom heiligen Geist geleitete göttliche Einrichtung
+noch den fortgesetzten Christus zu erblicken. Die Kirche galt ihr einfach
+als menschliche, politisch nützliche und kluge Einrichtung und an die
+Stellvertretung Gottes im Priesterstand glaubte sie um so weniger, je mehr
+Bücher über die Gräuel des Mittelalters sie verschlang und je mehr
+Erzählungen vom starkmenschlichen Wandel vieler Geistlichen im Schwange
+gingen.</p>
+<p>Sie betete und ging zur Kirche sowohl aus Bedürfniß als aus Gewohnheit. Das
+Bedürfniß war genau dasselbe, welches jeden geistig Gesunden ohne
+Unterschied des Glaubens zum Beten und zur Verehrung eines höchsten Wesens
+antreibt und über die Gründe ihrer Gewohnheit reiflich nachzudenken, dazu
+mangelte Anlaß, Lust und Zeit oder Alles zugleich. Aber&mdash;hörte sie am
+Sonntage nicht <i>positives</i> Christenthum von der Kanzel herab
+verkündigen? Wurden nicht katholische Handlungen vor ihren Augen fast
+täglich vorgenommen? Mit dem Predigen des positiven Christenthums war es in
+einer Zeit, wo noch kein Hirscher und Andere den tiefen und innigen
+Zusammenhang zwischen Dogmatik und Moral auseinandergesetzt hatten, bei der
+Bevölkerung mancher Pfarrei übel bestellt. Auch in unserer Stadt gab es
+Geistliche, welche Alles, nur kein <i>positives</i> Christenthum von der
+Kanzel herab verkündigten. Einzelne predigten im Laufe vieler Jahre
+immerhin zuweilen auch Glaubenslehren und meine Mutter wußte den
+Catechismus besser auswendig als ich, denn sie hörte den Kindern manchen
+Morgen nach dem Frühstück noch geschwind die Lektion des
+Religionsunterrichtes ab. Allein es stand vollkommmen [vollkommen] im
+Einklange mit ihren Grundanschauungen, daß sie die Glaubenslehren der
+katholischen Kirche nur als todte Gedächtnißsache inne hatte und den
+Unterschied zwischen Katholiken, Protestanten und wohl auch den Juden als
+Etwas betrachtete, was honetten und <i>gebildeten Leuten</i> unwesentlich,
+zufällig und gleichgültig erscheinen müsse.</p>
+<p>Als ob es eine doppelte Wahrheit geben könne, unterschied sie nämlich eine
+Religion für Gebildete, welche über allen mittelalterlichen Aberglauben
+hinaus sein sollten und eine Religion für das gemeine Volk, dessen
+Leidenschaften durch die zwei größten Beweger des menschlichen Herzens:
+Furcht und Hoffnung, näher durch die Angst vor Hölle und Fegfeuer und die
+Aussicht auf die Freuden des Himmels in Schach gehalten werden müßten. Nach
+ihrer Meinung machten alle Geistlichen insgeheim und in Gegenwart von
+Honoratioren denselben Unterschied, schwiegen jedoch aus Klugheit auf der
+Kanzel davon, weil ja gemeines Volk und Gebildete in Einer Kirche saßen.
+Ersteres mußte gläubig erhalten werden, die Honoratioren wußten schon,
+woran sie mit dem Geistlichen waren und wählten aus dem Vortrage heraus,
+was ihren Ansichten entsprach und ihrer Person gerade mundete.</p>
+<p>Meine Mutter war eine gute, gescheide Frau, hielt sich ganz ehrlich für
+eine vortreffliche Katholikin und wurde in der ganzen Stadt dafür gehalten,
+weil eben in der ganzen Stadt das ewige Evangelium durch das Evangelium der
+Zeit, der Katholizismus durch den Protestantismus thatsächlich verdrängt
+worden war.</p>
+<p>Ob es heutzutage schon um Vieles hierin besser geworden, weiß ich nicht.
+Ich weiß nur, daß die Missionen keine fruchtlose Sache, die Jesuiten
+vortreffliche Prediger sind und daß der Zug der angsterfüllten Zeit bei den
+Bessern ein lebendiges Wechselverhältniß zwischen Gott und Mensch verlangt,
+welches nur durch die positive Religion vermittelt wird.</p>
+<p>Aus dem Vorhergehenden ist dir nun sicher klar, daß meine und meiner
+Geschwister früheste religiöse Erziehung uns mit einer für das Leben
+unfruchtbaren Ehrfurcht vor dem Schöpfer Himmels und der Erde, mit einer
+nur sinnlichen Liebe für das hübsche Jesuskindlein, mit dem Geiste der Zeit
+und mit Gleichgültigkeit und frühzeitig genug mit Mißtrauen gegen unsere
+Kirche erfüllte.</p>
+<p>Es wäre gut, versuchte Einer einmal die Schilderung des Lebens in einer
+honetten und gebildeten Familie, deren Mitglieder gleich uns dem
+Zeitevangelium huldigten und einer nicht minder honetten und gebildeten
+Familie, welche Jesum Christum kennt und liebt und in der katholischen
+Kirche ihn sinnlich schaut. Meine überreiche Erfahrung böte ihm Stoff
+genug, um alle Dichtung entbehren zu können und das Schriftlein würde
+vielleicht Einiges beitragen, die große und gefährliche Lüge der Zeit, als
+ob positive Religion keinen positiven Einfluß auf das Handeln ausübe und
+deßhalb für das Leben gleichgültig sei, todtschlagen zu helfen. Der
+Katholizismus hat auf den Trümmern der Römerwelt eine neue und bessere Welt
+erbaut, aus Barbaren Menschen und aus Bürgern Christen gemacht und wie oder
+warum oder wann sollte diese weltumgestaltende Religion allen Einfluß auf
+das Leben eingebüßt haben? Freilich sind durch zahllose Bücher und
+zeitgemäße Staatsschulden Millionen Katholiken zu inwendigen Protestanten
+geworden und der Glaube der meisten Protestanten ist von dem der gebildeten
+Griechen und Römer oder auch der naturwüchsigen Germanen nicht sonderlich
+verschieden&mdash;aber ist <i>dieser</i> Glaube Christenthum? Klingt es nicht
+wie baarer Unsinn, wenn Heiden uns belehren wollen, das Christenthum übe
+keinen Einfluß auf <i>ihr</i> Handeln und Leben aus?&mdash;</p>
+<p>Doch ich schweife bereits wieder ab.</p>
+<p>Was das Haus übel macht, soll zunächst von der <i>Volksschule</i>
+verbessert werden. Wir Kinder wurden daheim zu Helden gemacht; wenn es
+nicht der Fall gewesen wäre, so würde die von mir besuchte Volksschule ganz
+dasselbe bewirkt haben.</p>
+<p>Ein gescheidter Mann hat einmal geschrieben. "Katholische Jugend in die
+Hände eines Lehrers geben, der nicht aufrichtig katholisch ist, ist fast
+ebenso thöricht als den Katholiken in ihrer Kirche durch einen reformirten
+Geistlichen oder den Juden durch einen Bischof predigen lassen." Keine
+Behauptung ist einleuchtender als diese. Aber wie stand es mit den
+Volksschulen überhaupt? Man sollte vermeinen, daß in christlichen
+Volksschulen alle Lehrgegenstände soviel als nur immer möglich mit dem
+fleischgewordenen Gottessohn und der Kirche in Beziehung gebracht würden.
+Nur dann hatte die Vielwisserei, womit man seit einigen Jahrzehnten die
+Kinder in Stadt und Land vollzustopfen trachtet, auch einigen Sinn und
+Nutzen. Die Schule wäre eine Ergänzung und Vervollständigung der Kirche und
+ein Hülfsmittel mehr, dem Volke eine klare, allseitige christliche Welt-
+und Lebensanschauung beizubringen. Freilich ist das Einmaleins und die
+Rechenkunst weder christlich noch katholisch, eine vortreffliche
+Handschrift bleibt etwas Gutes, wenn der Schreiber auch noch so wenig taugt
+und die Kinderquälerei mit Sprachlehren bliebe eine solche, wenn auch
+gelegentlich der Satzbildungen, Sprachübung und des Aussatzmachens der
+Lehrer alle Beispiele aus dem Gebiete des kirchlichen und religiösen Lebens
+wählte und wählen ließe. Aber wenn einst die Jesuiten es verstanden, jungen
+Chinesen durch die Geometrie christliche Glaubenssätze wie den der
+Dreieinigkeit beizubringen, so ließe sich am Ende auch nachweisen, es sei
+für einen christlichgesinnten Volksschullehrer nichts Schweres, selbst dem
+Unterrichte im Rechnen und in der Meßkunst eine gewisse religiöse Weihe zu
+geben. Auch ist unläugbar, daß die Schreibbücher der Schüler keineswegs
+verunstaltet würden, wenn man neben den Sittensprüchen, Beschreibungen von
+Thieren und Pflanzen und ähnlichen Dingen etwas positiv Christliches und in
+katholischen Schulen spezifisch Katholisches fände. Was die Sprachlehren,
+Naturlehren, Abrisse aus der Geschichte und andere Zweige des Unterrichts
+betrifft, welche in den Lesebüchern der Volksschulen vorkommen, so verweise
+ich einfach auf sämmtliche Lehr- und Lesebücher, welche seit der Entstehung
+unseres Landes in Volksschulen und höhern Bürgerschulen eingeführt waren
+und frage: wie viele dieser Bücher sind durchweht vom Geiste Christi oder
+gar von dem der katholischen Kirche?</p>
+<p>Du wirst vielleicht nicht ein Einziges finden, dessen Inhalt nicht ganz und
+gar durchsäuert wäre vom Geiste jener zeitgemäßen Religion, der meine
+Mutter huldigte und vielleicht mehr als Eines, welches darauf hinarbeitete,
+Gleichgültigkeit, Mißtrauen und Haß gegen die katholische Kirche,
+namentlich durch entstellte Geschichte in die Herzen der Jugend zu säen.</p>
+<p>Lebte die Gesinnung ächter Katholiken in den Herzen der Volksschullehrer
+und wären Bücher wie das Lesebuch von Bumüller und Schuster schon zu meiner
+Zeit in den Händen der Kinder des Volkes gewesen&mdash;Fürsten und Regierungen
+würden sich wohl einen großen Theil jener grausamen Demütigungen, die
+Völker aber viele Leiden erspart haben, womit sie von Gott besonders seit
+1848 heimgesucht wurden.</p>
+<p>Leider dauerte die Entchristlichung der Protestanten und die
+Protestantisirung der Katholiken mehrere Menschenalter bereits in den
+Volksschulen. Wer aber am allerwenigsten dafür verantwortlich gemacht
+werden sollte, das ist der Stand der Volksschullehrer, welchem ich selbst
+längere Zeit angehörte.</p>
+<p>Es ist eine wohlfeile Sache, über die Verkommenheit und Haltlosigkeit der
+"Volksbildner" mancher Gegend zu schimpfen und den "Schulmeisterhochmuth"
+zu geißeln. Alles hat seine hinreichende Ursache und wer der Quelle
+
+nachforscht, aus welchen die Verkommenheit mancher, die Haltlosigkeit
+vieler und der Hochmuth der meisten Volksschullehrer meiner naheliegenden
+Zeit entsprang, wird geneigt sein, dieselben weit mehr zu bedauern als
+anzuklagen. Die Quelle aber ist dieselbe, aus welcher das Unheil der
+Gegenwart überhaupt geflossen. Mangel an positiver Religion oder, was
+zuletzt auf Eins herauskommt, an gründlichem Wissen.</p>
+<p>Ich muß bei dir den Schulmeisterton anstimmen und in jenen Pedantismus des
+Schulmeisterthums gerathen, womit Viele gründlich nachzuweisen suchen, daß
+das Wasser naß und das Feuer heiß sei.</p>
+<p>Du weißt so gut als ich, daß große Schulmeister auch einmal kleine Buben
+gewesen und getaufte Heiden zunächst in Schulbänken für den Zeitgeist
+herandressirt werden. Schon der Umstand, daß Katholiken, Protestanten und
+Juden gar oft in Einer Schulbank sitzen, muß den Lehrer nothwendig
+abhalten, seinem Unterrichte die Färbung eines Glaubensbekenntnisses zu
+geben. "<i>Ueber den confessionellen Gegensätzen zu stehen</i>," ist sein
+Verdienst und ein Ziel seiner Ausbildung. Hand aufs Herz gelegt, gestehst
+du mit mir, das "Stehen über den confessionellen Gegensätzen" sei nichts
+als eine sinnlose Redensart, insofern man dabei noch von Christenthum und
+sogar von kirchlicher Gesinnung redet und nicht minder erlogen wohl das
+Leibsprüchlein der Zeit, daß "die Liebe" keine Unterschiede des Glaubens
+mache und der Mensch über dem Christen stehe.</p>
+<p>Wo ist der Geschichtschreiber oder Staatsmann, von welchem sich sagen
+ließe, daß er wahrhaftig über allen kirchlichen und religiösen Partheien
+gestanden, alle gleichmäßig behandelt und sich nicht mehr oder minder
+entschieden <i>für</i> Eine derselben und <i>gegen</i> alle übrigen
+jedenfalls thatsächlich erklärt habe? Und wieviel Aufgeklärte hat es von
+jeher gegeben und gibt es heute, denen die "christliche Liebe" möglich
+macht, gegen politische und kirchliche Gegner gerecht zu sein und in
+denselben den gleichberechtigten Menschen zu achten, geschweige zu lieben?</p>
+<p>Nein, so wenig es ein Christenthum ohne lebendigen Glauben an Christum den
+Gottessohn und ohne die von Ihm gestiftete Kirche gibt, so wenig hat auch
+die "christliche Liebe" diejenigen, welche <i>über</i> allen religiösen und
+kirchlichen Partheien zu stehen vermeinten, davor bewahrt, gläubige
+Protestanten und absonderlich die katholische Kirche heidnisch zu hassen
+und zu verfolgen.</p>
+<p>Ist's aber hochgelehrten Professoren und erleuchteten Staatsmännern
+unmöglich, <i>über</i> der katholischen Kirche zu stehen, ohne zugleich
+<i>außerhalb</i> und ihr mehr oder minder feindlich <i>gegenüber</i> zu
+stehen, so sollte man es bei uns dem Lehrerstande nicht allzusehr verübeln,
+wenn die meisten Mitglieder desselben das positive Christenthum als etwas
+Geringfügiges betrachten und alles "Pfaffenthum" verabscheuen. Erstens
+nämlich wurden sie von ihren Eltern oder Lehrern oder von Beiden zugleich
+von Kindesbeinen an mehr oder minder für das "reine Menschenthum" erzogen;
+zweitens muß solche Erziehung mit der Zeit oft sehr reichliche Früchte
+eines unreinen Heidenthums tragen, weil ein Lehrer auch Fleisch hat und bei
+uns nur zwei Jahre studirt, später wenig Zeit und Gelegenheit und selten
+Anleitung bekommt, ein Christenmensch zu werden und sich eine gründliche
+Bildung anzueignen. Er bleibt jedenfalls in der Hauptsache bei dem stehen,
+was ihm im Seminar beigebracht wurde und wenn es nun die Religion des
+Zeitgeistes war, womit ihn die Lehrer beglückten, zu deren Füßen er
+treugläubig und bewunderungsvoll saß, wer kann es ihm verargen, wenn er den
+Mangel an positiven Glauben für das sicherste Kennzeichen eines gebildeten
+Mannes hält? Drittens endlich führt ein Volksschullehrer ein an
+Entbehrungen, Mühsalen und Leiden immer reiches Leben und wenn man das
+Treiben manches Pfarramtslazzaroni genauer in Augenschein nimmt und mit dem
+Loose des unter ihm stehenden Lehrers vergleicht, wird man sehr geneigt,
+die Behauptung, daß die Lehrer zu wenig und die Geistlichen zuviel
+Einkommen hätten, nicht sowohl demokratisch und revolutionär als richtig
+und vernünftig zu finden.</p>
+<p>Bedenkt man nun, daß der Lehrer im Seminar und durch Schriften mit einer
+höchst übertriebenen Ansicht von der menschheiterlösenden Bedeutung und der
+weltbeglückenden Würde seines Berufes, mit Gleichgültigkeit gegen das
+positive Christenthum und Mißtrauen gegen alles "Pfaffenthum" erfüllt wird,
+vergißt man nicht, daß manche Pfarrämter und Dekanate sich ihre Langweile
+damit versüßen, den unchristlich und unkirchlich erzogenen und
+vielgeplagten Schulmeister kleinlich und boshaft zu schulmeistern und zu
+quälen, so mag man sich über die Leichtigkeit nicht mehr wundern, womit der
+Staat im Interesse des "religiösen Friedens" d. h. der Knechtung der Kirche
+die Schule seit Langem beherrschte und die Jugend für die Staatsreligion,
+d. h. zunächst für Gleichgültigkeit gegen das positive Christenthum erzog&mdash;
+ohne in ihr die Säugame [Säugamme] des Heidenthums zu ahnen. Ich weiß ein
+einsames Grab, das an Allerseelen von keiner liebenden Hand geschmückt
+wird. Darunter liegt ein Schulmeister, der sich eine Kugel durch den Kopf
+gejagt und einen Zettel zurückgelassen hat, worin er erklärte, er schieße
+sich todt, weil die "Pfaffen" ihm das Leben unerträglich machten und
+schieße sich im Himmel abermals todt, sobald er dort seine Quälgeister
+wiederum treffe. Solche Erklärung charakterisirt den tiefeingewurzelten
+Haß, welchen Volksschullehrer häufig gegen Geistliche empfinden und ich
+meine, Schüler dieses Lehrers, welche ihn liebten, seien schwerlich große
+Freunde der Geistlichkeit geworden.&mdash;</p>
+<p>&mdash;Das Kind denkt mehr mit dem Herzen, als mit dem Kopfe, der Grundton
+seines Wesens ist Liebe und deßhalb bleibt es auch ein Leichtes, Kindern
+die Religion der Liebe beizubringen. Doch so wenig ich daheim zum Christen
+erzogen wurde, so wenig thaten meine Lehrer dafür und am wenigsten der
+<i>Religionslehrer</i>.</p>
+<p>Damals gab es nicht viele Jünglinge, welche innerer Beruf zum geistlichen
+Stande trieb. Unter den Studirenden widmeten zumeist Solche sich dem
+Dienste der Kirche, welche zu arm, zu talentlos oder auch zu faul und
+liederlich waren, um etwas Anderes zu werden. Die geistlichen Professoren
+der Hochschulen gingen häufig damit um, eine zeitgemäße Theologie zu
+erfinden, Gottes Wort und Werk nicht sowohl gegen den Witz und Aberwitz der
+Zeit zu vertheidigen als demselben zu unterwerfen. Die Stellung, in welche
+die Kirche zum Staate gerathen, zahlreiche Schriften aus den ersten
+Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, das langdauernde Geschrei um Aufhebung der
+Ehelosigkeit katholischer Geistlicher, skandalöse Vorfälle verschiedener
+Art, vor Allem die gräuliche Unwissenheit in kirchlichen, die weitgediehene
+Verkommenheit in sittlichen Angelegenheiten, über deren Vorhandensein bei
+den untern und mittlern Ständen kein Zweifel mehr herrscht&mdash;dies Alles legt
+Zeugniß ab, welche Eroberungen der glaubensfeindliche Geist der Zeit auch
+unter dem Klerus gemacht.</p>
+<p>Ich mit den meisten meiner Mitschüler darf mich ein Opfer solcher Zustände
+nennen, insofern wir kaum Einen Religionslehrer kannten, der mit
+Begeisterung, Liebe und Eifer unsere jungen Seelen für Christum zu gewinnen
+und uns einiges Verständniß der Lehren, Gebräuche und Einrichtungen der
+katholischen Kirche beizubringen trachtete. Die einzige Errungenschaft,
+welche ich aus dem Religionsunterrichte der Volksschule gerettet,
+beschränkt sich auf die Erinnerung, wie sauer es mir wurde, die
+unverstandenen Lehren des Catechismus auswendig zu lernen, welch
+schreckliche Langeweile wir oft in der Kirche und während der
+Religionsstunde empfanden und mit welcher Angst und Unwissenheit ich zum
+erstenmal in den Beichtstuhl trat. Mit Angst&mdash;weil die Mutter mich
+überredet hatte, der Beichtvater sehe es Jedem an, der eine Sünde
+verschweige oder gar lüge und trage ein scharfes Federmesser bei sich, mit
+welchem er Einem die Zunge stutze. Ich schämte mich meiner Sünden nicht,
+doch fürchtete ich Eine zu vergessen und ein Stück meiner Zunge im
+Beichtstuhle zurückzulassen. Mit Unwissenheit&mdash;insofern ich der Gnade des
+Glaubens eigentlich niemals theilhaftig geworden und durch viele Reden der
+Erwachsenen sowie durch die Wahrnehmung, daß bei meinen ältern Kameraden
+die Besserung darauf beschränkt blieb, sich einige Tage nach der Beicht vor
+den Lieblingssünden zu hüten, bereits zum Mißtrauen und Unglauben an diesem
+heiligen Sakramente gekommen war, bevor ich über das Leben und Treiben der
+Erwachsenen reiflicher nachdachte. Frühzeitig wurde ich an religiösen und
+kirchlichen Dingen irre und einer meiner Lehrer hat Namhaftes dazu
+beigetragen. Mein älterer Bruder nämlich wollte geistlich werden, ein
+stiller, gemüthlicher Mensch, den die Eltern und wir nur "das Pfäfflein"
+nannten. Er ging längere Zeit zu einem Vikar, um Latein zu lernen und ich
+bald mit ihm, denn der Vater hielt große Stücke auf mich, behauptete, ich
+werde meinem Alter vorauseilen, den Bruder und Alle überflügeln und müsse
+frühzeitig mit Allem anfangen, was zum Brodkorb führe. Das Versprechen,
+mich aus der Volksschule wegzunehmen, wenn ich meine lateinischen Regeln
+und Unregelmäßigkeiten fleißig erlerne, bewirkte Wunder bei mir und bald
+war ich der ausgemachte Liebling des Vikars. Manchmal unterbrachen
+Gespräche den Unterricht und einige derselben sind mir unvergeßlich
+geblieben. Die Behauptungen: es sei besser ein Schuster als ein
+katholischer Geistlicher zu werden, Rom wolle keine Menschen, sondern
+Sklaven, Christus sei ein großer Weiser gewesen, aber die Finsterlinge
+hätten Seine Lehren verunstaltet&mdash;tönen mir noch jetzt in den Ohren. Sie
+fielen mir auf, weil ein Geistlicher sie aussprach. Ich liebte diesen
+Seelenmörder, der heute noch lebt und zur Rongezeit ein Weib genommen
+hat.&mdash;</p>
+<p>Ziemlich einförmig und glücklich verlebte ich meine Kinderjahre, während
+deren eine im mildesten Ausdrucke höchst mangelhafte religiöse Erziehung
+den Grund zu Dem legte, was später aus mir geworden ist und wogegen mich
+ein stürmisches Temperament, ein brennender Ehrgeiz, herbe Erfahrungen und
+alle Bitterkeiten des Lebens nicht zu bewahren vermochten.</p>
+<p>Es ist wahr, meine Geschwister sind so wenig Verbrecher geworden als die
+meisten meiner Schulkameraden. Doch an meiner Stelle würden sehr Viele ein
+ganz anderes Schicksal gehabt haben, als dessen sie sich erfreuen. Und ist
+Einer schon ein brauchbares und nützliches Mitglied der menschlichen
+Gesellschaft, wenn er kein von den Gesetzen verpöntes Verbrechen begeht?
+Und erfüllt Einer dann schon seine <i>ewige</i> Bestimmung, wenn er seine
+irdische erfüllt?</p>
+<p>Ich will von meinen Geschwistern nichts sagen. Die Art und Weise, wie
+dieselben gegen mich handelten, hat mir schon lange vor der Freilassung
+jeden Zweifel benommen, wie es mit ihrer Ehrenhaftigkeit und ihrer
+christlichen Liebe aussieht. Freilich habe ich wenig gethan, um mir ihre
+Achtung und Liebe zu erhalten, doch Verfolgung läßt sich kein Christ gegen
+einen ohnehin gebeugten, armen und wehrlosen Mitmenschen zu Schulden
+kommen. Schweigen wir darüber, mir wirds, als ob tausend glühende Dolche
+mein Herz durchbohrten und ohne Halt in Gott müßte ich aufs Neue an den
+Menschen verzweifeln. Doch Eines noch. Ich stelle an keinen Menschen das
+Ansinnen, als <i>vollendeter</i> Christ zu handeln, ein <i>Heiliger</i> zu
+sein, weil ich weiß, wie weit ich noch im Befolgen aller Lehren unseres
+Herrn und Meisters zurück und wie sehr ich noch im Kampfe mit dem alten,
+sündhaften Menschen in mir befangen bin. Allein ich glaube in christlichen
+Landen vom Staate wie von den Einzelnen <i>aufrichtiges Streben</i>, die
+Grundsätze des Christenthums ins Leben einzuführen, verlangen zu dürfen.
+Wie es mit diesem Streben im Staate bestellt sei, darüber belehrt schon
+seine Stellung zur Kirche. Was aber die Christen betrifft, welche ihrem
+Glauben gemäß zu leben und zu handeln streben, so habe ich in kurzer Zeit
+genug erfahren, um befürchten zu müssen, ihre Anzahl sei trotz des
+religiösen Aufschwunges der jüngsten Jahre noch viel zu gering, um
+großartigen Einfluß auf Umgestaltung öffentlicher Zustände auszuüben und
+damit jene Gefahr einer furchtbaren sozialen Revolution zu beseitigen,
+welche wie ein Damoklesschwerdt über unserm Welttheil hängt.</p>
+<h3><a name="B2"></a>II.</h3>
+<p>
+&mdash;Du meinst, weil ich selbst ein Schulmeister gewesen, so sei es
+verzeihlich und begreiflich, daß ich diesen Stand in Schutz nehme,
+zweifelst jedoch daran, daß in katholischen Lehrerseminaren das
+<i>Heidenthum</i> gepflegt und gehegt worden sei. Freilich bin ich mit dem
+Ausdrucke: Heidenthum freigebig, allein wo ich kein <i>positives</i>
+Christenthum zu entdecken vermag, da kann ich nur Heidenthum erblicken,
+zumal jener Mischmasch von Religion, als dessen Repräsentantin ich meine
+Mutter nannte, bei genauer Untersuchung eben doch nur verlarvtes und gerade
+deßbalb [deßhalb] sehr verführerisches und gefährliches Heidenthum bleibt.
+Willst du einen schönern Namen dafür, so magst du derartigen Mischmasch
+etwas sinnlos, doch höflich "Zeitchristenthum" taufen.</p>
+<p>Zunächst will ich aber meine Behauptung rechtfertigen, denn einerseits mag
+ich keine Entschuldigungen für meine Verirrungen beibringen, welche nicht
+vollkommen gegründet sind und anderseits öffentlichen Anstalten und
+Männern, denen das Land des Guten viel verdankt, keine Beschuldigung
+zuschleudern, welche ich nicht verantworten könnte:</p>
+<p>Du weißt, daß ich mein Schulmeisterhandwerk unter der Leitung eines
+katholischen Geistlichen erlernte, gegen dessen wissenschaftliche
+Tüchtigkeit und ehrenhaften Charakter niemals der leiseste Zweifel
+obwaltete. Er ist todt und schon die Vorschrift, über Todte nur Gutes zu
+reden, würde mich bewahren, seine <i>Person</i> unter dem Boden anklagen
+und verunehren zu wollen, wenn ich ihm auch nicht sehr viel Gutes zu danken
+hätte.</p>
+<p>Sein Andenken ist noch heute Jedem seiner zahlreichen Schüler theuer und
+ich bin der Letzte, der seine Person verunglimpft. Aber gefährlich und
+folgenschwer waren die Ansichten und Grundsätze des gefeierten Mannes und
+nicht mit seiner Person, sondern mit Ansichten und Grundsätzen, von denen
+er sich beherrschen ließ, habe ich es zu thun.</p>
+<p>Wir liebten und verehrten ihn Alle; weil dies der Fall war, so galt uns
+auch jedes seiner Worte als Evangelium, wir sogen seine Lehren begierig
+ein, trugen sie nach zwei Jahren in alle Gegenden des Landes und strebten
+mit Feuereifer darnach, die Herzen des Volkes damit zu erfüllen.</p>
+<p>Viele hingeworfene Reden und Winke haften noch jetzt in meinem
+Gedächtnisse, doch nur einen einzigen Wink will ich hier erwähnen, weil er
+meines Bedünkens die Ansichten und Grundsätze meines Meisters vortrefflich
+characterisirt.</p>
+<p>Einer von uns stellte einmal die verfängliche Frage, ob denn Christus im
+heiligen Abendmahl wahrhaft, wesentlich und wirklich gegenwärtig sei und
+nach einigem Räuspern erfolgte die Antwort:</p>
+<p>"Hm, hm! ... <i>Wers glaubt, für den ist Er gegenwärtig, wers nicht glaubt,
+für den wird Er wohl auch <b>nicht</b> gegenwärtig sein!</i>&mdash;"</p>
+<p>Was sagst du zu dieser Einen Aeußerung unseres dem <i>katholischen</i>
+Klerus angehörigen Seminardirectors?&mdash;</p>
+<p>Er war unser Religionslehrer und die meisten seiner ehemaligen Zuhörer
+werden noch im Besitze des Heftes sein, welches er als <i>"Einleitung in
+die Religionslehre"</i> zu dictiren pflegte. Du hast Gelegenheit, ein
+solches Heft dir jeden Tag zu verschaffen und es ist mir sehr lieb, wenn du
+dir ein solches bald verschaffst, um dich zu überzeugen, daß Einiges, was
+ich hierhersetze, keineswegs entstellt, verfälscht oder dem Zusammenhange
+entrissen wurde, sondern daß die mit sonnenklaren, dürren Worten
+ausgesprochenen Ansichten meines Meisters darin enthalten seien.</p>
+<p>Er läugnet einen persönlichen Gott; Gott ist ihm ein "allen Geschöpfen
+innewohnendes, gestaltloses, raumfreies, zeitloses, somit unendliches,
+allgegenwärtiges ewiges Wesen, dessen Wirksamkeit keine Grenzen kennt." Der
+Sündenfall wird auf eine Weise erklärt, welche sich nicht mit dem
+christlichen, geschweige mit dem katholischen Bewußtsein vereinbaren läßt
+und vom Teufel wissen und lehren die Menschen Nichts, bis sie der Gegensatz
+nützlicher und schädlicher Geschöpfe auf den Gedanken einer bösen, <i>durch
+Opfer zu versöhnenden</i> Gottheit bringt, Erlösung ist Rückkehr zu Gott
+und "vollkommen zurückgekehrt zu Gott war <i>Christus</i>, in welchem Gott
+dem Geiste nach wiedergeboren und welcher der Urheber des neuen Lebens der
+Menschen in Gott wurde." Christi Reich ist das der Liebe und "das volle
+Gegentheil dessen, was Menschenrecht und Menschensatzungen gegründet
+haben." In ihm ist gar <i>keine äußere Macht</i>, kein Zwang, keine Furcht
+und Knechtschaft.</p>
+<p>Die Bibel hat den hohen Werth, "daß wir unser Leben mit dem der ersten
+Christen vergleichen können; zudem erfüllen uns die Schriften der Bibel wie
+andere gute Bücher mit ihrem Leben."</p>
+<p>Hinsichtlich der <i>Dreieinigkeit</i> Gottes wird ausdrücklich
+hervorgehoben, "daß wir die Offenbarungen Gottes in den Geschöpfen auf
+dreifache Weise wahrnehmen und dadurch angeleitet werden, Gott bald den
+Vater, bald den Sohn, bald den Geist zu nennen. Das gemeinsame Wesen aller
+Geschöpfe ist das Wesen Gottes. Insofern wir Gott als Wesen in uns und in
+allen anderen Geschöpfen betrachten, so nennen wir ihn Gott den
+<i>Sohn</i>. Insofern Er uns durch die Stimme des Gewissens und durch
+andere Geschöpfe die rechte Erkenntniß wiederum einflößt, so nennen wir ihn
+Gott <i>den Geist</i>.["]&mdash;Je mehr der Mensch auf die angenehmen Gefühle
+verzichtet, welche der Genuß des Irdischen gewährt, desto mehr bestimmt
+Gott die Dinge durch ihn und desto vollkommener und herrlicher entfaltet
+sich sein innerstes Wesen; der Tod führt die Lebendigen zur
+Selbstständigkeit, indem Kinder nach dem Tode der Eltern und Lehrer sich
+selbst überlassen sind und schon vorher wissen, daß Eltern und Lehrer
+sterben müssen, somit auf ihre künftige Lage sich vorbereiten können; das
+Wesen der Eltern und Lehrer aber lebt und wirkt in den Ueberlebenden fort,
+der Tod bringt in den Menschen die Erkenntniß hervor, daß der Mensch aus
+einem irdischen und vergänglichen und aus einem geistigen und fortwirkenden
+Wesen bestehe und endlich, daß der Geist viel stärker auf Andere einwirke,
+wenn die Einwirkung nicht mehr durch den Leib, sondern unmittelbar
+geschieht. Dies Alles gibt Hoffnung auf Unsterblichkeit.&mdash;Von Jesu Gottheit
+wurden die Jünger überzeugt, weil er erstens durch den Ausdruck seines
+Willens aus Nichts Etwas, aus dem Tode Leben erschuf, zweitens durch sein
+Thun und Lassen den sündigen Menschen ein ganz neues Leben offenbarte, vor
+Allem durch sittliches, reinmenschliches Leben das Reich Gottes begründete
+und die ewigen Gesetze dieses Reiches öffentlich lehrte, drittens endlich,
+weil er Geist und Leben in die Erstorbenheit der äußern, besonders der
+religiösen Gebräuche zu bringen suchte und unverbesserliche Gebräuche
+unterließ, um anzuzeigen, das Reich Gottes gehe nicht von Werken des
+Gesetzes, sondern vom Geist der Wahrheit und Liebe aus.&mdash;
+Todtenerscheinungen sind das Ergebniß lebhafter Erinnerungen an
+Verstorbene, besonders an Solche, denen wir Unrecht gethan haben.
+Erinnerung und Besinnung können so lebhaft werden, daß wir die Bilder in
+uns in die wirklichen Gegenstände hineindenken. Weil Erinnerung und
+Besinnung nur theilweise von unserm Willen abhängen, sind
+Todtenerscheinungen "auch dann ein Werk Gottes, wenn sie von einer
+krankhaften Phantasie herkommen, denn Krankheiten sind ja auch Gottes Werk.
+Allein welche Einwirkungen Todtenerscheinungen auch in unserm Geiste
+hervorbringen, so haben sie doch keine zwingende Macht über unsern
+Willen!"&mdash;</p>
+<p>Nachdem statt über Christi Auferstehung über Todtenerscheinungen belehrt
+worden, wird gezweifelt, ob die Erde zu einer bestimmten Zeit erschaffen
+wurde und gezeigt, daß die Welt kein Ende haben könne, weil Gott in ihr
+lebt. "Wie das Bild der Sonne in Millionen Tropfen glänzt und wir das
+Gemeinsame einer Gattung in allen Arten und Individuen wahrnehmen, so
+schauen wir Gott in allen Dingen."&mdash;Gottes Wesen offenbart sich in allen
+Wesen, alle haben Antheil daran und deßhalb ist auch jedes Einzelwesen
+unvergänglich, d. h. ["]Gottes Wesen offenbart sich in jedem einzelnen
+Geschöpfe durch unendliche Entwicklung desselben, wenngleich auf
+eigenthümliche Weise, doch ganz und ungetrübt."&mdash;Wir haben eine Entfaltung
+ins Unendliche, wobei unser Wesen fortbesteht, während die Gestalt sich
+fortwährend verwandelt. Der Mensch scheint vor der Geburt ein ganz anderer
+zu sein als nach derselben, auffallend ist der Unterschied in der
+Entwicklung des Menschen, ehe und wann er sprechen kann und "ähnlich wird
+der Mensch durch den Tod zu einem dem irdischen Dasein vollkommen
+entgegengesetzten Leben geboren."&mdash;Alle Geschöpfe nehmen an der Ewigkeit
+Gottes Antheil, insofern sie unsterblich sind d. h. ins Unendliche sich
+fortentwickeln.</p>
+<p>&mdash;Das Christenthum will alles nicht von Gott Stammende zerstören und ist
+nicht gekommen den Frieden, sondern Entzweiung und Kampf mit der
+Selbstsucht zu bringen. "Es baut keine Altäre und Tempel aus Stein, kennt
+nur Einen Altar. Des Menschen Herz und sein Tempel ist dort, wo Menschen
+sind und einander Liebe erweisen."&mdash;Ich will es abermals Dir überlassen zu
+beurtheilen, ob durch eine solche Einleitung in die Religionslehre die
+künftigen Lehrer des katholischen Volkes für ihren Glauben und ihre Kirche
+begeistert wurden oder ob mein Vorwurf ein gerechter gewesen.</p>
+<p>Daß der mündliche Unterricht minder abgemessen und vorsichtig mit
+Redensarten und Winken gewesen, versteht sich wohl selbst. Die
+Religionsstunde überzeugte uns davon, daß wir recht eigentlich kleine
+Götter, Bruchtheile des göttlichen Wesens seien und welchen Eindruck solche
+Erleuchtung auf Jünglinge machte, bei denen Ehrgeiz und Weltschmerz schon
+in Folge äußerer Lebensverhältnisse zum Grundton des Gemüthes werden
+mußten, ist keineswegs schwer abzusehen.</p>
+<p>Wir bekamen Ideale, es ist wahr, doch wir bekamen sie auf Kosten unserer
+Zufriedenheit mit Gott, Welt und Menschen, weil keine christliche
+Weltanschauung uns mit der tiefen Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit
+versöhnte, kein lebendiger Glaube uns mit jener Ruhe und Geduld ausrüstete,
+mit welcher die unideellen Verhältnisse des Lebens der Völker und die des
+Lehrerstandes insbesondere hingenommen werden müssen.</p>
+<p>Man machte uns zu Königen und Bettlern, Titanen und Zwergen zugleich und
+wenn beschränkte Köpfe und manche altkluge Jungen unter uns zu nüchternen
+Ehrenmännern, d.h. zu Philistern wurden, welche außer ihrem persönlichen
+Vortheil nichts Höheres kannten, so blieben gerade die fähigern Köpfe und
+feurigen Charaktere vielerlei Verirrungen am meisten ausgesetzt.</p>
+<p>Soll ich Namen und Thatsachen bringen?</p>
+<p>Du hast seit vielen Jahren Gelegenheit, viele Städte und Dörfer zu besuchen
+und der Einwohner Sinn zu erkunden, hast ferner zur Rongezeit und während
+der Revolution eine ziemlich unpartheiische Brille aufgehabt und kennst
+sehr viele Volksschullehrer persönlich, deßhalb brauche ich keine Namen und
+Thatsachen, zumal Namen wenig zur Sache thun und sprechende Thatsachen
+genug bekannt sind.</p>
+<p>In der Regel wird der Jüngling das, was man aus ihm macht und lange Zeit
+hat man Alles gethan, um statt bescheidenen und glücklichen Lehrern der
+Kinderwelt innerlich zerrissene und unglückliche Hochmuthsnarren in die
+Schulstuben des Landes zu entsenden.</p>
+<p>Beweise!&mdash;</p>
+<p>Dieselben liegen schon in der Einleitung zur Religionslehre, Du sollst
+jedoch noch bessere haben, nämlich die Ansichten unseres Seminardirectors
+über die unnahbare Würde und welterleuchtende Bestimmung des
+Schulmeisterthums. Damit Du abermals siehst, daß ich gewissenhaft handele,
+sende ich Dir beiliegenden Aufsatz meines Meisters, welcher "der Schule
+Wesen und Gliederung" erklärt und seiner Zeit durch Guttenbergs Kunst der
+Vergessenheit entrissen wurde.</p>
+<p>[Der] "Der Zweck der Erziehung ist Entfaltung derjenigen Kräfte, welche den
+Menschen in Stand setzen, in allen Richtungen des Lebens sich selbst zu
+beherrschen und zum Handeln zu bestimmen. Sie soll den Menschen zum
+Ebenbild Gottes machen. Die Ebenbildlichkeit mit Gott besteht aber darin,
+1) daß er ein einfaches, untheilbares, unveränderliches, aus und für sich
+begehendes Wesen ist, "<i>das sich aus sich selbst hervorbringt wie Gott
+die Welt aus Nichts, d.h. aus sich selbst erschaffen hat.</i>" 2) Daß
+insbesondere das aus ihm Hervorgebrachte in demselben Verhältnisse zu ihm
+stehe, in dem er sich zu Gott befindet. 3) Endlich daß der Mensch Alles,
+was er Wahres, Schönes und Gutes hat, nur als eine göttliche Geschichte und
+als etwas Geschichtliches habe.&mdash;Von Pestalozzi wird gesagt. "Das Erlösende
+und Heiligende seiner Methode stammt nicht von seinem Fleische, es ist eine
+Offenbarung Gottes, die ihm geworden und sein Verdienst, daß er uns
+dieselbe nicht als sein sondern als Gottes Werk gab. Die Schulmeister vor
+Pestalozzi sündigten zumeist dadurch, daß sie in ihren Systemen und
+Lehrmeinungen nur sich seldst [selbst] gaben und uns nicht zu Gott, sondern
+zu sich selbst zu erheben trachteten, Pestalozzi dagegen zeigte uns nicht
+seine Person, sondern die Wahrheit.&mdash;Wie die Göttlichkeit der Lehre Jesu
+nur von deren Befolgern laut Joh. 7,17 erkannt wird, so Pestalozzis Methode
+nur von dem, dessen Geist durch sie gebildet wurde.&mdash;Wie die Pharisäer auf
+dem Stuhle Mosis streng nach dem Gesetze lehrten und das Gesetz nicht
+selbst erfüllten sondern übertünchten, so lehrt der
+<i>Sinnlichgesinnte</i>, daß wir aus Liebe zum Vater unsern Brüdern auch
+nicht im Innern zürnen und schon den unreinen Begierden widerstehen sollen,
+während er im eigenen Busen voll Zorn die Verkünder der Offenbarung des
+Geistes, der Alles durchschaut (I. Kor. 2,10) zum Ingrimm und zur
+Verfolgung gegen die aufreizt, welche Gott als lebendige Werkzeuge erkiesen
+hat, Zeugniß von seinem eigenen Sohne zu geben."&mdash;Den Sinnlichgesinnten,
+welche sich vermessen, Feindesliebe und Widerstand gegen böse Begierden zu
+predigen, werden noch mehrere Bibelstellen entgegengeschleudert, dann die
+Entstehung der Sprache u.s.w. erklärt und das fünffache Leben des Einzelnen
+und der Gesammtheit zusammengestellt. Um der Kürze willen soll diese
+Zusammenstellung hier stehen:</p>
+<center><i>Einzelleben = Gesammtleben</i></center>
+<center>Individuum = Familie&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;</center>
+<center>&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Leib&mdash;Person&mdash;Seele = Gewerbstand&mdash;Staat&mdash;Kirche</center>
+<center>Geist = Schule&nbsp;&nbsp;</center>
+<p>Erläuternd heißt es: "Wir bezeichnen mit den Worten Seele und Geist zwei
+durchaus verschiedene Wesen, Geist bedeutet uns nicht bloß ein höheres
+Seelenleben, sondern Seele und Geist sind zwei einander entgegengesetzte
+Offenbarungen des einen Lebens. Unter Seele verstehen wir diejenigen
+Lebensfunctionen, durch welche das Individuum nach seiner Schöpfung mit
+Gott verbunden ist und ewig verbunden d. h. von ihm abhängig bleibt. Ueber
+die Art und Weise der Verbindung gibt der Begriff von Idee Aufschluß,
+welche vor unsern Augen Factum wird und der von Gattung, der den Millionen
+Individuen ungetrübt innewohnt und zwischen ihnen Wechselwirkung und
+Verbindung möglich macht. Die Seele ist Gott im Menschen, jedoch so, daß
+Gott vollkommen und ohne Veränderung seines Wesens außer dem Menschen und
+für sich besteht." Folgt nun eine Abweisung jener kalten und finstern
+Religionslehre, welche Gottes selbstständiges Dasein nicht erkennt und, da
+ihr Alles Eins ist, jeden höhern Aufschwung unmöglich macht und als
+wissenschaftliches System die Jugend zu der Vermessenheit verleitet, Alles,
+was Andere auf andern Wegen wissen und glauben nur als Irrthum, Täuschung,
+Verstandesschwäche, sowie alles Leben und alle Veränderung als leeren
+Schein und diesen selbst als eiserne Nothwendigkeit zu erklären.</p>
+<p>Welche kalte und finstere Religion unter diesem "Pantheismus" gemeint sei,
+darüber blieb uns jungen Leuten, die wir Nichts von Philosophie verstanden
+und manches dicke Buch über die Gräuel des Mittelalters gelesen, um so
+weniger ein Zweifel, weil unser Direktor die vorgeblichen Verderber der
+Religion der Liebe nicht&mdash;liebte.</p>
+<p>Weil die Kirche die Seele, die Schule aber den Geist repräsentirt, mag
+Folgendes Dir im Gedächtnisse bleiben: "Auch das Wesen von Geist und Person
+ist nicht scharf bestimmt und gesondert. Wir halten die Person nicht für
+etwas Vergängliches, sondern für den Höhepunkt des Lebens der Einzelnen.
+Person ist der sich selbst erkennende und bestimmende Geist, der in sich
+gekehrte Geist, wodurch der Mensch erst Mittelpunkt und Bestand aus und
+durch sich selbst erlangt. Der Person ist unmittelbar der Geist und
+<i>durch diesen</i> Leib, <i>Seele</i> und Individuum untergeordnet. In der
+Person vollendet sich die Offenbarung Gottes im Menschen. Daher lernt der
+Mensch Gott nur von Innen kennen und nur durch diese Kenntniß entsteht das
+Bestreben, durch ins Unendliche fortlaufende Vervollkommnung Gott immer
+ähnlicher zu werden."</p>
+<p>Die Schule soll dem Vermögen des Menschen, das Vervollkommnende in sich
+aufzunehmen, die Erkenntniß geben und den fünferlei Gegenständen der
+Erkenntniß&mdash;individuelles Leben, Leib, Seele, Geist, persönliches Leben
+entsprechen fünferlei Schulen, nämlich Volksschule, Industrieschule,
+Gelehrtenschule, Akademie mit gelehrten Gesellschaften, endlich der
+Erziehungs- oder Schulrath oder das <i>Kulturministerium</i>, welches, das
+persönliche Leben des Einzelnen und der Gesammtheit erkennend, das
+<i>Dominium</i> über die andern Schulen ausübt. Die <i>Volksschule</i> soll
+die Individualität des Geistes entfalten und hat 3 Stufen, nämlich die
+Kleinkinderschule, Elementar- und Realschule.</p>
+<p>Die Elementarschule "soll wie alle Schulen vorzüglich den Geist in Anspruch
+nehmen und die übrigen Richtungen des Lebens ihren Zwecken unterordnen."
+Ihre Lehrgegenstände sind Sprachlehre und Gesang, Formen-, Größen-,
+Zeichnungs-, Schreib- und Leselehre und Kenntniß der Zahlenlehre.</p>
+<p>Die Realschule bringt dem Geiste sein Selbst zum Bewußtsein und die
+Industrieschule sammt den 3 Stufen der Gelehrtenschule (Gymnasium, Lyzeum,
+Hoch- oder Berufsschule) soll vor Allem das <i>Nützliche</i> ins Auge
+fassen, wozu die Religion nicht gezählt wird, die erst in der theologischen
+Fakultät ein eben nicht behagliches Plätzlein findet.</p>
+<p>Die Hoch- oder Berufsschule nämlich zählt fünf Fakultäten, deren jede ihre
+eigene Literatur und Geschichte derselben hat.</p>
+<p>Die erste Fakultät ist die allen Gelehrtenständen gemeinsame, etwa der
+philosophischen unserer Universitäten entsprechend und die zweite die
+medizinische, welcher nachgerühmt wird, daß "sie sich am meisten ihrer Idee
+gemäß gestaltet habe."</p>
+<p>Die <i>theologische Fakultät</i> hat das <i>Seelenleben</i> zu ihrem
+Gegenstande und folgende Disciplinen: a) Lehre vom Wesen und der
+natürlichen Entwicklung der Seele, b) von der Pflege und Bildung der Seele,
+c) Lehre von der Entstehung und den Arten der Seelenkrankheiten nebst d)
+der Heilung derselben, theoretisch und praktisch. e) Lehre vom Einfluß der
+4 andern Lebenserscheinungen auf das Seelenleben und vom Verhältniß der
+theologischen zu den übrigen Wissenschaften, endlich f) Lehre von der
+Bestimmung des Theologen und vom Verhältniß des geistlichen Standes zu den
+übrigen Ständen. Findet man dieses von einem katholischen Geistlichen
+gehegte und den künftigen Lehrern des Volkes eingeimpfte Idol einer
+theologischen Fakultät merkwürdig, sobald man nicht etwa auf dem
+Standpunkte Feuerbachs steht, so fanden wir herzstärkend und begeisternd
+Alles, was über die vierte und wohl auch über die fünfte Fakultät gesagt
+wurde. Die <i>vierte</i> nämlich ist keine andere als die Kulturfakultät
+und hat nichts Anderes denn das <i>Leben des Geistes</i> zum Vorwurfe.</p>
+<p>Wesen, Entwicklung, Pflege, Bildung, Erforschung und Heilung der
+Krankheiten des Geistes, die Einwirkung des Geistes auf die 4 andern
+Offenbarungen des Lebens und der Einfluß dieser auf den Geist, die
+Culturwissenschaft und ihr Verhältniß zu den übrigen Wissenschaften,
+endlich die Lehre vom Berufe des Lehrers und von seinem Verhältnisse zu den
+übrigen Ständen&mdash;dies sind die der Culturfakultät eigenthümlichen
+Disciplinen.</p>
+<p>Dann wird bemerkt: "Auch die Seminarien der Volksschullehrer sind ein
+Bestandtheil der Kulturfakultät und inwiefern die Trennung dieser Anstalten
+von der Fakultät vortheilhaft oder nachtheilig sei, können wir hier nicht
+auseinandersetzen. Jedenfalls muß der Direktor eines solchen Seminars ein
+wissenschaftlich gebildeter Mann sein, der die Gelehrtenschulen
+zurücklegte, zumal es ja Ein und derselbe Geist ist, welcher von der
+Kleinkinderschule an bis zur Hochschule inbegriffen entfaltet werden soll."</p>
+<p>Daß die Einwohner der Stadt die Zöglinge des Seminars, welche nur für zwei
+Jahre kamen und häufig gar magere Geldbeutelein mitbrachten, nicht als
+Mitglieder der Kulturfakultät genugsam beräucherten, daß die Schüler der
+Gelehrtenschule den Umgang mit uns hochmüthig vermieden und uns als
+"Elephanten" bei jeder Gelegenheit höhnten und verfolgen, während wir doch
+der Idee nach Hochschüler waren, solches schmerzte uns fast tiefer als die
+Aussicht in eine jedenfalls entbehrungsreiche und vielgeplagte Zukunft und
+gab Anlaß zu mancherlei Partheiungen, Zwistigkeiten und Händeln. Daß aber
+gar geistliche Herren, deren "Handwerk" schon der Idee nach tief unter dem
+unserigen stand, deren Fakultät laut allen Berichten ganz ideenwidrig
+eingerichtet, deren Treiben laut den hinreißenden Erzählungen berühmter
+Geschichten- und Romanenschreiber der Menschheit, dem armen Volke, von
+jeher zum Fluche gereicht, daß diese "schwarzen Vögel" wie wir sie hießen,
+uns, Träger der Kultur des Volkes und selbstbewußte Funken der Gottheit
+dereinst zu Dienern herabwürdigen und ungestraft kuranzen sollten&mdash;dieser
+Gedanke machte die Heißblütigen unter uns manchmal rasend und nur die
+Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der mannhafte Entschluß, für diese aus
+allen Kräften zu arbeiten, gewährte uns einige Erleichterung und Trost. Die
+Edeln des Menschengeschlechts träumten von jeher von bessern Tagen, unser
+Direktor that dasselbe, wovon schon seine Idee von der fünften Fakultät der
+Hochschule, der <i>staatswissenschaftlichen</i> männiglich überzeugen muß.</p>
+<p>Diese hat das <i>Leben des Volkes</i> zum Gegenstande und beschäftigt sich
+näher mit der Lehre vom Wesen des Volkes und seiner Entwicklung zum Staate,
+mit der Bildung und Pflege des Volkslebens, ferner mit der Lehre von der
+krankhaften Entwicklung desselben, so wie mit dem Verderbnisse der Staaten,
+den Arten dieses Verderbnisses und mit der Heilung dieser Mißstände,
+zuletzt auch mit der Lehre vom Berufe des Staatsmannes und dessen
+Verhältniß zu den übrigen Ständen.&mdash;</p>
+<p>Sehr naiv wird bemerkt: "Sind die Disciplinen nicht mit den gewöhnlichen
+Namen benannt, so ist dies nicht Folge der Unkenntniß oder Mißachtung,
+sondern des Strebens, die Idee zum Bewußtsein zu bringen, aus der die
+Schulen überhaupt und insbesondere die Fakultäten der Gelehrtenschule
+hervorgegangen sind.["]</p>
+<p>Das Kulturministerium muß auf den Zinnen moderner Bildung stehen und
+täglich Ströme von Geist, Licht und Geld in die untern Regionen entsenden.
+Es soll "für das Leben des Geistes sein, was die Person für den einzelnen
+Menschen oder der Staat für das Gesammtleben, soll das Leben der
+Wissenschaft und Kunst von der Volksschule an bis zur Akademie beleben,
+fördern und regeln. Insbesondere hat es für den Zusammenhang der Schule,
+Bildung der Lehrer, für Lehrmittel und Aufsichtsbehörden Sorge zu tragen
+und darf deßhalb nur solche Männer enthalten, welche außer
+wissenschaftlicher Bildung Beweise von Regierungstüchtigkeit gegeben
+haben."</p>
+<p>Doch genug!</p>
+<p>Suche Dir die Einleitung in die Religionslehre und andere Hefte zu
+verschaffen, lies den gedruckten Aufsatz über "der Schule Wesen und
+Gliederung" und dann habe die Güte, mir auf folgende Fragen zu antworten:</p>
+<p>Habe ich Falschmünzerei mit den Aufsätzen und Schriften eines Mannes
+getrieben, den ich als Mensch, Lehrer und Wohlthäter verehre? Sind die
+Ansichten, Grundsätze und Ideen meines Seminardirektors positiv christliche
+und katholische gewesen? Ist Dir der "Schulmeisterhochmuth" noch ein
+Räthsel sammt der Abneigung gegen den geistlichen Stand und den meist so
+ideenwidrigen Bestand des Bestehenden? War ich im Unrecht als ich meinen
+Lehrern Mitschuld meiner Verirrungen und Verbrechen aufbürdete?&mdash;Ich glaube
+deine Antwort zu hören!&mdash;</p>
+<h3><a name="B3"></a>III.</h3>
+<p>
+Je mehr ich mich durch das Wohlwollen und die Theilnahme beglückt fühle,
+welche meine Briefe an Herrn N. mir erwarben, desto mehr will ich eilen
+Ihren Wunsch zu erfüllen und Ihnen die hauptsächlichsten Gründe des
+Unglaubens und der Unzufriedenheit des Lehrerstandes meiner nahe liegenden
+Zeit sowie meine Ansicht über <i>Gelehrtenschulen</i> mittheilen.</p>
+<p>Die Auszüge aus den ungedruckten und gedruckten Heften meines alten
+Seminardirektors haben Ihnen überraschend gezeigt, wie Vieles geschah, um
+die Lehrer des Volkes zu eigentlichen Trägern und Aposteln der
+Hauptkrankheit unserer Zeit, nämlich des Mangels an lebendigem
+Christusglauben und des Ueberflusses an Unkenntniß und Verkennung der
+katholischen Kirche zu machen.</p>
+<p>Der oft gehörten Behauptung, unser Lehrerstand sei im Ganzen noch weit
+besser und erträglicher als die Erziehung erwarten ließe, stimme ich gerne
+bei. Es gibt tüchtige, brave Männer unter unsern Lehrern mit einem Herzen
+voll Liebe für die Menschheit und ihren Beruf. Edle Anlagen und günstige
+äußere Verhältnisse Einzelner, ganz besonders die abkühlende Wirkung,
+welche mehr oder minder das Berufsleben auf jeden ausübt, mögen jedoch das
+Meiste dafür thun, wenn nicht die Mehrzahl unserer Lehrer aus ganz und gar
+blinden Fanatikern des Unglaubens und offenen oder heimlichen
+Revolutionären besteht.</p>
+<p>Abgesehen von meiner einst so unseligen Person waren nicht die Schlechtern
+oder Unfähigeren meiner Kameraden der Gefahr am meisten ausgesetzt,
+Fanatiker des Unglaubens und arge Revolutionärs zu werden, sondern gerade
+begabte, strebsame Köpfe und feurige thatkräftige Charaktere.</p>
+<p>Diese sendeten Ideale, welche sie aus den Schulbänken getragen, keineswegs
+leicht in die Himmel oder in das Druck- und Löschpapier zurück, von wannen
+sie gekommen, sondern suchten dieselben mit mehr oder minder Beharrlichkeit
+im Leben zu verwirklichen. Damit waren Gefahren verknüpft, von denen ich
+Ihnen zwei nennen will, welche ich für die größten halte, vielleicht weil
+ich denselben erlag. Zum Ersten mußte Ausbildung ein Loosungswort für Alle
+sein, welche würdige Mitglieder der welterobernden <i>Culturfakultät</i>
+werden wollten und die argen Lücken ihres Wissens fühlten. Das Bemühen,
+diese Lücken durch Selbstbildung auszufüllen, bleibt aber stets gefährlich,
+wenn die Erziehung uns zu wenig Vorkenntnisse, unserm Denken keinen Halt in
+der christlichen Weltanschauung und damit kein festes Urtheil über die
+Bücher gegeben, aus denen wir Weisheit zu schöpfen vermeinen.</p>
+<p>Viele von uns kamen bereits unfähig, katholische Schriften zu lesen,
+geschweige zu lieben und am weitesten verirrten sich nach den Seminarjahren
+diejenigen, welche Schöngeister, Historiker oder gar Philosophen und
+Vielwisser werden wollten.</p>
+<p>Wir griffen fleißig nach Conversationslexika, Realencyclopädieen und
+ähnlichen <i>Bibeln des Zeitgeistes</i>, verloren und vertieften uns immer
+mehr in die moderne Bücherwelt, worin bekanntlich wenig Christliches und
+noch weniger Katholisches, dagegen desto mehr Vernunftbetäubendes,
+Heidnisches und Diabolisches zu finden ist.</p>
+<p>Die Meisten lasen wohl weit mehr mit dem Herzen als mit dem Kopfe und je
+mehr Einer las, desto mehr wuchsen Einbildung und Unfähigkeit, Christliches
+für etwas Zeitgemäßes, Vernünftiges und Heilbringendes zu halten. Zum
+Andern traten wir mit den Riesenansprüchen begeisterter Jünglinge in das
+Leben hinaus und dieses kam den Meisten nicht nur mit Zwergleistungen,
+sondern mit ungeahnten Schwierigkeiten und Leiden aller Art entgegen,
+welche uns entmuthigten, gegen Gott, Welt, Volk und Schicksal erbitterten.
+Ich könnte Ihnen Vieles von arg gequälten Schullehrern und vielerlei Arten
+von Quälgeistern derselben, namentlich auch von partheiischen und
+ungerechten Behörden, unchristlichen Geistlichen und der Dummheit des
+Volkes erzählen, aber ich will kurz sein und mit der Bitte, nicht zu
+vergessen, daß der Beste unter uns seine schlimmen Neigungen und
+Gewohnheitssünden hat, nur auf Eines aufmerksam machen. Das Erdenloos eines
+Schulmeisters heißt: Leiste und trage Vieles, nimm wenig Dank und noch
+weniger Geld dafür ein!&mdash;In Staaten, wo <i>der bewaffnete Friede</i>
+Tausende von Arbeitskräften und den größern Theil des Staatseinkommens
+verschlingt, weil wir vom Christenthum ab und in das Heidenthum, aus dem
+Reiche der Liebe in das der Gewalt hinein gerathen, da mußte wohl das
+Kirchengut so weit als nur immer thunlich in den Dienst des Heidenthums
+gezogen und dann das Schulmeisterthum so karg als nur immer thunlich für
+die saure Mühe abgefunden werden, womit es im Interesse der Staatsallmacht
+das Volk "aufklärt."</p>
+<p>Ich möchte beinahe sagen, unsere Schulmänner seien für ihr Wirken, wie
+dasselbe seit dem Beginne des Jahrhunderts sich gestaltet, noch weniger
+Lohnes werth als sie bekommen&mdash;allein ich schweige, weil ich an gewisse
+Klassen privilegirter Faullenzer und geschäftiger Müssiggänger denke und
+bleibe dabei, die Bezahlung der Schullehrer sei in den meisten christlichen
+Staaten heidnisch klein, so daß sie sich kaum mit den Bedürfnissen des
+genügsamsten, geschweige mit den Ansprüchen des selbstbewußten Mitgliedes
+der Kulturfakultät vertrage.</p>
+<p>Freilich sind die Armen im Geiste glücklich; Christus lehrt Entbehrungen
+und Leiden der Armuth geduldig, muthig und freudig ertragen; Er ist
+zugleich der größte aller Finanzmänner und Nationalökonomen und in der
+Befolgung seiner Lehre liegt das Geheimniß verborgen, nach welchem das
+Jahrhundert immer ängstlicher seufzt und immer durstiger lechzt: die
+<i>Kunst wohlfeil zu leben und wohlhabend zu sterben</i>. Leider hat die
+Erziehung seit Jahrzehnten Vieles gethan, um beizuhelfen, daß das Volk arm
+an Geld und Gut und arm <i>am</i> Geiste, nicht aber, daß es arm <i>im</i>
+Geiste werde. Wenn in den untersten Ständen der Bettelsack der
+eindringlichste und gefährlichste Prophet des Kommunismus bleibt, so darf
+man sich nicht wundern, wenn aus dem bellenden Magen oder der durstigen
+Gurgel manches Schulmeisterleins ein unzufriedener Mensch und arger Demagog
+herauswächst!</p>
+<p>Der Bauch ist ja im Laufe einiger Jahrhunderte zu einem Weltregenten und
+heutzutage zum unerbittlichen Gesetzgeber und dämonischen Tirannen der
+"christlichen Staaten" geworden.</p>
+<p>Ein Urtheil über <i>Gelehrtenschulen</i> ist meines Erachtens schier
+überflüssig, seitdem die Revolution mit ihren Blättern, Kammern und
+Parlamenten das Babel aller religiösen, sittlichen, politischen und
+sozialen Begriffe offenbarte, welches in den Köpfen und Herzen der
+gelehrtesten und gefeiertesten Männer spukt, vom besitzenden Bürger,
+verarmenden Handwerker, dem geistigen Proletarier, Sklaven der Fabrikanten
+und Auswurf der Gesellschaft zu schweigen. "An den Früchten sollt ihr sie
+erkennen!"&mdash;sagt die Schrift und die Revolution gab Gelegenheit, die
+geistigen Errungenschaften sammt der sittlichen Tüchtigkeit von Tausenden
+und aber Tausenden zu beweinen, welche in gelehrten Anstalten großgezogen
+worden.</p>
+<p>Bei Vertretern <i>aller</i> politischen Partheien und <i>aller</i> Stände
+hat es sich gezeigt, daß Wissen ohne Glauben leeres Scheinwissen, alles
+Gerede von Charakter ohne positive Religion eine Lüge des Hochmuthes sei.
+Wissen ohne Glauben und Sittlichkeit ohne Christenthum waren aber seit
+langer Zeit die Idole, welchen unsere Erziehungskünstler nachjagten!&mdash;</p>
+<p>Doch ich will nicht in den Schulmeisterton verfallen, sondern Ihnen nur
+sagen, daß ich mehrere Jahre, bis mein Vater starb und äußere Verhältnisse
+mich in das Lehrerseminar trieben, an Gelehrtenschulen lebte.</p>
+<p>Dieselben waren geeignet, gelehrte Handwerker, genußwüthige
+Nützlichkeitsmenschen oder Leute meiner Art heranzudressiren, nimmermehr
+jedoch ächte Leuchten und rechte Führer des Volkes zu erziehen. Keine
+ächten Leuchten, weil die wissenschaftliche und keine rechten Führer, weil
+die religiöse Erziehung mangelte.</p>
+<p>Zunächst ein kurzes Wort vom gelehrten Handwerkerthum, alsdann ein längeres
+vom getauften Heidenthum der Pädagogien, Gymnasien und Lyzeen meiner
+naheliegenden Zeit.</p>
+<p>Es haben Viele laut und längst sich verwundert, weßhalb aus unsern Schulen
+selten ein tüchtiger Mann hervorgeht, während es in einem Nachbarstaate von
+Dichtern, Philosophen, Historikern, Staatsmännern, Theologen und Andern
+wimmelte, welche hochberühmte Namen erwarben und doch lediglich die
+gelehrten Anstalten ihrer Heimath besuchten. Man hat den Grund darin
+gefunden, daß die ganze Erziehung bei uns darauf hinausläuft, Einen im
+Laufe von 12 bis 15 und mehr Jahren soweit zu bringen, daß er im Siebe des
+Staatsexamens hängen bleibt und gleichzeitig mit so unnöthigen und
+vielerlei Forderungen zu überladen, daß er alle Kraft nothwendig
+zersplittert und fast ebenso nothwendig im Examen durchfällt, wenn ihm
+nicht das Glück besonders lächelt.</p>
+<p>Wer das Programm einer Gelehrtenschule zur Hand nimmt, staunt ob der Fülle
+von Kenntnissen, womit die Zöglinge vollgestopft und zur Hochschule
+entlassen werden und wer öffentlichen Prüfungen beiwohnt, ohne die
+Prüfungsdressur zu kennen, muß Länder selig preisen vor allen Ländern, für
+welche Diener des Staates und der Kirche von so umfassender Gelehrsamkeit
+und edler Begeisterung für alles Große und Schöne herangezogen werden, wie
+dies in manchen Gegenden der Fall zu sein scheint. In Wirklichkeit verhielt
+sich die Sache zu meiner Zeit ganz anders. Man hätte ruhig seinen Kopf
+darauf verwetten dürfen, daß von 100 angehenden Hochschülern keine 10 im
+Stande seien, nach 8-9jährigem Studiren ohne Beihülfe aller Art einen
+leichten lateinischen oder griechischen Schriftsteller ordentlich zu
+übersetzen, geschweige zu verstehen oder gar aus dem Zusammenhange mit
+seiner Zeit und seinem Volke zu erklären.</p>
+<p>Sicher waren von 100 keine 5 aufzutreiben gewesen, welche Geschmack und
+Freude an ihren Quälgeistern, den Alten, gefunden und doch galten alte
+Sprachen von der ersten bis zur letzten Klasse als Hauptgegenstände des
+Unterrichts, auf welche am meisten Zeit und Mühe verwendet wurden.</p>
+<p>Von mathematischen, geographischen, geschichtlichen oder
+naturwissenschaftlichen Kenntnissen war bei Einzelnen Manches hängen
+geblieben, doch die Mehrzahl hatte Grund genug, den Sokrates als Heiligen
+zu ehren, weil dieser die Weisheit in das <i>Nichtswissen</i>, somit in die
+starke Seite unserer geplagten Gelehrtenschüler, setzte.</p>
+<p>Von philosophischer Vorbildung will ich schweigen. Ich meine nur, daß davon
+bei Leuten keine Rede sein konnte, welche von der Weltanschauung des
+Alterthums keine genügende Kenntniß und von der des Christenthums im besten
+Falle nicht mehr als eine ganz dunkle Ahnung besaßen.</p>
+<p>Von der Unwissenheit vieler "Gebildeten" über Alles, was sich über und
+unter dem Monde befindet und nicht genau mit ihrem Handwerke zusammenhängt,
+sind Sie überzeugt oder haben doch Gelegenheit, sich jeden Abend das Licht
+hierüber in Museen, Kaffeehäusern, Weinschenken, Bierkneipen und andern
+Orten zu verschaffen.&mdash;</p>
+<p>Die weitgehende Unwissenheit hängt enge mit dem hochmüthigen Heidenthum der
+Schulen meiner Zeit zusammen.</p>
+<p>Wissen Sie, auf welche Weise ich zum erstenmal zum Tische des Herrn kam?
+Nicht an Ostern, sondern im hohen Sommer, nicht im feierlichen
+Gottesdienste, sondern in einer stillen, wenig besuchten Frühmesse und
+beinahe ohne allen Vorunterricht, so daß wir kaum eine Ahnung von der
+Bedeutung der uns abentheuerlich dünkenden Feier besaßen. Wir beichteten,
+aber unser liebster Beichtvater war ein Professor, der allgemeine Beichten
+nicht nur annahm sondern forderte. Drängten sich zu Viele um den
+Beichtstuhl dieses Kirchenlichtes, so pflegte ich einen Zettel zu
+entlehnen, worauf ein Anderer passende Sünden aufgezeichnet, las denselben
+ab und übergab ihn nach der Lossprechung meinem Nachbar.&mdash;Einer der besten
+unserer Religionslehrer schlief jahraus jahrein und überließ es uns,
+Lectionen aus dem Katechismus gemächlich herauszulesen. Wieviele von uns
+nicht einmal das Vaterunser, geschweige das katholische Glaubensbekenntniß
+oder gar die Gebote der Kirche ordentlich herzusagen wußten, dafür ließen
+sich Namen nennen, worunter der meinige nicht fehlte [Fußnote: Der meinige
+leider auch nicht. D.V.]</p>
+<p>Wer wollte sich wundern, daß gerade der Religionsunterricht als der
+langweiligste und widerlichste Lehrgegenstand, das Kirchengehen besonders
+zur Winterszeit als das leidigste und unnützeste Geschäft erschien?</p>
+<p>Die Klage, daß von Oben herab die Pflege des positiven Christenthums im
+mildesten Sinne nicht gefördert wurde, soll weniger durch die Unfähigkeit
+aller meiner Religionslehrer als durch den Umstand unterstützt werden, daß
+es an hochbelobten Lehrern wie an Schulbüchern nicht mangelte, welche uns
+die eigene Kirche verächtlich und lächerlich machten und unser Gemüth mit
+aufrichtigem Hasse gegen alles "Pfaffenthum" erfüllten.</p>
+<p>Von Gewissen will ich aus gewissen Gründen schweigen, aber durchgehen Sie
+die gedruckten Programme unserer gelehrten Anstalten, um sich zu
+überzeugen, aus wievielen <i>Schulbüchern</i> wir alle Irrthümer und den
+Kirchenhaß des Protestantismus in uns aufnahmen. Daß nebenbei Bibliotheken
+der Anstalten und Professoren uns reichlich mit Hilfsmitteln der Aufklärung
+versorgten, versteht sich von selbst und daß Viele von uns Alles, nur
+nichts Gutes aus dem Kram der Leihbibliotheken schöpften, ist eben so
+begreiflich als verzeihlich.</p>
+<p>Geistliche und weltliche Lehrer hatten genug zu schaffen gehabt, uns gegen
+den Einfluß einer durchaus unkatholischen Literatur und gegen die Gefahren
+der Jugend durch das Einpflanzen christlicher Gesinnungen zu schützen. Doch
+geschah von Allem das Gegentheil. Obwohl von Gott, Christus und Kirche
+manchmal die Rede war, so lernte man doch nur das zeit- und staatsmäßig
+zugeschnittene Christenthum meiner Mutter kennen und wurde mit einem nicht
+minder zeit- und staatsmäßigen Hasse und Mißtrauen gegen das positive und
+kirchliche Christenthum erfüllt.</p>
+<p>Nicht Christenthum, sondern "<i>Humanität</i>" hieß bei uns die Loosung,
+reden wir also auch von ihr!&mdash;</p>
+<p>Die Zeit, in welcher dem Jüngling sein natürlicher Zusammenhang mit dem
+Geschlechte offenbar wird, fällt mit derjenigen zusammen, in welcher er
+seinen geistigen und sittlichen Zusammenhang mit demselben mindestens ahnt,
+wenn auch seine Schulmeister sich als noch so elende Hebammen seines Wesens
+bewähren.</p>
+<p>Der Mensch wird zum Herkules am Scheidewege. Ideale von Freundschaft,
+Vaterlandsliebe, Seelengröße und Tugend gehen ihm auf, und enger, inniger
+als bisher schließt er sich an Seinesgleichen an, um höhere Lebenszwecke
+als die bisherigen zu verfolgen. Jetzt bedarf er vor Allem der Führung der
+Religion oder doch der Leitung erfahrener Männer, die er achtet und liebt,
+denn diese Zeit ist nicht nur die schönste, sondern auch die gefährlichste
+des Lebens. Wie waren wir daran?</p>
+<p>Die alltäglichen Redensarten eines gefeierten Humanisten klingen mir noch
+in den Ohren und ich gebe einige als Proben, mit welchem Takte dieser Mann
+16 bis 20-jährige Vaterlandshoffnungen behandelte.</p>
+<p>"Er steht da, als ob er die chinesische Mauer vor der Nase hätte, er
+verzwickter Schafskopf, <u>non plus ultra</u> der Rindviehdummheit, elender
+Böotier!&mdash;Er kann sich als Preisträger des landwirthschaftlichen Vereines
+melden&mdash;Fahr Er Mist, dazu ist Er dumm genug, so rindviehmäßig dumm, daß Er
+nicht einmal zum Schustersjungen taugt&mdash;Er Urkalb, Generalassekuranzesel,
+halte Er sein Maul zum H&mdash;!&mdash;Geborenes und erzogenes Rindvieh, Er steht
+unter dem Niveau eines Hundes!&mdash;Ein gescheidter Pudel ist intelligenter als
+ihr Bestien!&mdash;Erlöst mich bald in Gottes oder des Teufels Namen!&mdash;Hat er
+Pech am H&mdash;? Was will Er denn werden? Theologe! Daß sich Gott erbarme!&mdash;Da
+möchte ich doch lieber in der tollsten Kneipe unter Proletariern sitzen und
+ihren physischen Dunst einathmen, als euern geistigen Gestank riechen&mdash;Setz
+dich, dein Name ist Rindvieh, man könnte dich zum Präsidenten einer
+Eselsrepublik machen&mdash;Werd' Er Schuster, Barbier oder Leinweber, Er
+hyperbestialisches Rindvieh&mdash;Der Ochse wird nur einmal vors Hirn gehauen,
+er hats demnach besser als Ihr, denen man täglich vor den Kopf schlägt,
+ohne daß Ihr Etwas spürt&mdash;Ist noch keine Artillerie- oder Bierbrauerstelle
+für Ihn frei geworden? Er ist verballhornter als ein Esel in der zweiten
+Potenz&mdash;Setz' Er sich auf seine Klauen, Mondkalb! Nicht einmal ein Hund
+hebt sein Bein auf vor so verthierten Geschöpfen wie Ihr seid!&mdash;"</p>
+<p>Ich will Sie mit noch derbern und ekelhaftern Redensarten dieses
+gepriesenen Directors verschonen. Wir haben Sammlungen davon veranstaltet
+und viele Freude daran gehabt, wenn er uns Gelegenheit gab, dieselbe durch
+neue zu bereichern.</p>
+<p>Die Schulgesetze zu verhöhnen und zu übertreten, galt als Heldenthat.</p>
+<p>Vieles ließe sich hier über frappante Aehnlichkeiten zwischen Zuchthäusern
+und Schulhäusern anknüpfen.</p>
+<p>Von pedantischen Schulgesetzen und heimlichen Gesellschaften, von
+erfolglosen Ermahnungsphilippiken und schlechten Streichen, von
+öffentlichen Beräucherungen und heimlichen oder auch offen getriebenen
+Lastern ließe sich Langes und Breites erzählen und hieraus mancher Beleg
+für die alte und doch niemals genug beherzigte Wahrheit schmieden: <i>daß
+Sünden, Laster und Verbrechen von kleinen Anfängen ausgehen und gleich
+schleichenden Krankheiten erst recht offenbar und auffallend werden, wenn
+sie schwer oder gar nicht mehr heilbar sind.</i></p>
+<p>Blicke ich zurück auf meine Jugendgefährten, was ist aus so Vielen
+derselben geworden? Ach, mehr als Einer ist gleich mir gemeiner, geschweige
+"politischer" Verbrecher, gar Mancher hat sich durch Ausschweifungen in ein
+frühes Grab gestürzt, Viele beweinen ein verfehltes Leben und die Meisten
+haben es nicht ihrer Erziehung, sondern glücklichen Naturanlagen und einem
+freundlichen Geschicke zu verdanken, daß ihre Geschichte keine
+Zuchthausgeschichte geworden&mdash;denn Religion haben die Meisten noch heute
+keine!&mdash;Man sage dagegen was man will: alle Wissenschaft und Bildung gibt
+keine Sittlichkeit, verfeinert höchstens die selbstsüchtigen Triebe des
+Menschen oder lehrt ihn die innere Roheit und Gemeinheit mit einem
+äußerlich glänzenden Firniß übertünchen, durch den der wahre wüste Mensch
+doch täglich hervorbricht. Sittlich sein heißt in Gott leben und in Gott
+vermag nur der zu leben, welchem in Christo die Kraft geworden, den
+geistigen Menschen über den natürlichen zur Herrschaft zu bringen.</p>
+<p>Was soll man nun von einem Schulwesen halten, welches katholische Kinder
+von der Volksschule an bis hinauf zur Hochschule mit Geringschätzung gegen
+positive Religion und noch mehr mit Haß und Mißtrauen gegen die eigene
+Kirche erfüllt?&mdash;</p>
+<p>Freilich, wo Katholiken, Protestanten und Juden in Einer Schulbank sitzen,
+darf außer der Religionsstunde von positiver Religion keine Rede sein und
+wenn die Religionslehrer meiner Zeit wahre Apostel gewesen wären, so würde
+der <i>Geschichtsunterricht</i> nicht ermangelt haben, uns für die
+Reformation und deren Helden ebenso blind zu begeistern als gegen die
+katholische Kirche einzunehmen und in unheilbarer Unwissenheit über
+Geschichte, Einrichtungen und Gebräuche derselben zu erhalten.&mdash;</p>
+<p>Ein Beweis für die Geringschätzung und Verachtung gegen unsere Kirche liegt
+vielleicht darin, daß ich mich auch nicht Eines Beispiels entsinne, wo
+Einer von uns auf den Gedanken gerathen wäre, irgend einen Heiligen zu
+seinem Vorbilde zu wählen und diesen Entschluß auszusprechen.</p>
+<p>Und sind die Heiligen als Helden des sittlichen Willens kleiner denn jene
+Helden, welchen eine befangene Geschichtschreibung Weihrauch streut, weil
+es großartige Räuberhauptleute, siegreiche Menschenschlächter, glückliche
+Erfinder oder ohne ihr Zuthun mit hohen Geistesgaben ausgerüstete Männer
+gewesen?&mdash;Wenn einmal jene Zeit da sein wird, wo Christus als lebendiger
+Mittelpunkt der Geschichte der Christenheit und Menschheit erfaßt wird,
+dann wird auch der geringste Heilige mehr gelten denn ein lasterhafter
+Alexander, selbstsüchtiger Napoleon, liederlicher Maler, Geiger oder
+Komödiant.&mdash;</p>
+<p>Ein weiterer Beweis, wie weit die Protestantisirung der Katholiken in
+paritätischen Ländern gediehen, liegt in der Thatsache, daß zu meiner Zeit
+nicht sowohl die Kenntnißvollsten oder Besten, sondern weit eher
+mittelmäßige Köpfe, Feiglinge, welche nicht den Muth besaßen, Entbehrungen
+und Leiden der Armuth zu ertragen, niedrig denkende Bursche, welche von
+vornherein an die Nichterfüllung gewisser beschworener Pflichten ihres
+künftigen Standes dachten, sich dem Dienste der Weltkirche Jesu Christi
+widmeten.</p>
+<p>Begreiflich!&mdash;erinnere ich mich doch mehr als eines aufgeklärten
+Professors, der sehr verächtlich in Gegenwart der Schüler vom Stande
+katholischer Geistlichen redete und offen aussprach, der Dümmste sei
+immerhin noch gescheidt genug, um für die Kirche gesalbt zu werden!&mdash;</p>
+<p>Soll ich länger noch bei dem heimtückischen, verkappten Kriege mich
+aufhalten, der mit schlauer Berechnung gegen Katholizismus und Kirche
+geführt wurde, während man von Oben herab und Unten herauf von Erhaltung
+religiösen Friedens, Gleichberechtigung der Confessionen und andern schönen
+Sächelchen laut genug log und durch Lügen das Gewissen der Hirten der
+Kirche in süßen Halbschlummer und verderbenbringende Betäubung lullte?&mdash;</p>
+<p>So lange katholische Lehrer inwendige Protestanten sind, die Schulen nicht
+zu Confessionsschulen und alle mit der christkatholischen Weltanschauung in
+näherer Berührung stehenden Unterrichtszweige nicht aus katholischen
+Büchern erlernt werden, so lange wird auch ein neuer und besserer Geist das
+Volk nicht erneuern und beleben, sondern das schleichende Gift des
+Heidenthums wird weiter fressen und zuletzt den Organismus der alten,
+kranken Gesellschaft zerstören!&mdash;</p>
+<p>Einige Jahre verlor ich an Gelehrtenschulen, an denen keine gründliche
+Bildung zu holen und das bischen Christenthum, welches manche Kameraden aus
+der Heimath mitgebracht, bald verloren war. Der schnell erfolgte Tod meines
+Vaters fiel als Hagelschlag in meine reichlich blühenden Hoffnungen auf
+eine ehrenvolle, glänzende Zukunft. Es stellte sich heraus, das Vermögen
+sei bei weitem nicht so groß als man sich allgemein vorgestellt und eine
+ziemlich sorglose Haushaltung hatte Vieles beigetragen, dasselbe zu
+zerrütten. Außer dem ältern Bruder Anton und mir waren noch mehrere
+Schwestern vorhanden. Anton war älter als ich, noch immer derselbe ruhige,
+stille Mensch, welcher er von jeher gewesen und noch immer entschlossen,
+ein Geistlicher zu werden. Er wollte dies nicht, weil er etwa mehr Glauben
+oder Kenntnisse in religiösen und kirchlichen Dingen besaß als ich, sondern
+weil ihm die Aussicht auf das friedliche Leben eines Landpfarrers behagte.
+Es war der Seelenwunsch der Mutter, daß er seinem Plane getreu bleibe, doch
+stellte der Tod des Vaters der Ausführung desselben Hindernisse entgegen.
+Die Unterstützung irgend einer Art anzunehmen, das armselige Leben eines
+Bettelstudentleins zu führen, dies waren Gedanken, welche die etwas stolze
+Mutter so wenig als Anton zu ertragen vermochten. Der Stand des Vermögens
+war jedoch so, daß Einer von uns Brüdern dem Studiren entsagen mußte, wenn
+soviel übrig bleiben sollte, um den vier Schwestern eine angemessene
+Erziehung und einige Aussicht auf zeitliche Versorgung zu geben. Anton war
+um zwei Jahre vor mir, ich liebte die Mutter und wußte bereits, daß Geld
+die Welt regiere, folglich meine Schwestern ohne einiges Geld schwerlich
+jemals zur Regierung eines Hauswesens gelangten. Nicht ohne Kampf, doch
+voll Freude über den Sieg verzichtete ich auf das Leben eines Studirten.
+Meine Neigung Soldat zu werden, ward von der Mutter aus allen Kräften
+bekämpft. Ich begann Musik zu treiben und trat kaum ein Jahr nach dem Tode
+des Vaters ins Lehrerseminar.</p>
+<p>Sie begreifen, daß ich ohne religiösen Glauben, folglich auch ohne
+sittlichen Halt in dasselbe trat und beim Eifer meines Studirens sowie bei
+der Lebhaftigkeit meines Temperaments als vollendeter Feind des
+Pfaffenthums und voll Begeisterung für ein aufgeklärtes, freies,
+glückliches Volk aus demselben herauskam, während mich gewisse Vorfälle und
+Erfahrungen, die ich seit dem Tode des Vaters gemacht, gegen "honette und
+gebildete" Leute stark eingenommen hatten.</p>
+<p>Ich war einige Jahre Schulmeister und habe während dieser Zeit Vieles
+durchgemacht, zumal die häuslichen Verhältnisse der Meinigen sich
+verschlimmerten. Mein Ehrgeiz drohte unter der Wucht drückender
+Lebensverhältnisse zu erliegen und leider mit ihm löblichere Eigenschaften.
+&mdash;Jetzt begreife ich, weßhalb die Behörden mich zurücksetzten und meine
+Vorgesetzten mir keine Ruhe ließen, doch damals sah ich nur
+Ungerechtigkeit, Partheilichkeit, Pfaffenhaß, Weiberintriguen und machte
+mich selbst zum Unseligsten aller Menschen.&mdash;Nicht die Religion, sondern
+die Liebe für eine Sonntagsschülerin war es, welche meinem schwankenden,
+ruhelosen, unseligen Wesen wiederum Halt, Friede, jenen Schimmer der
+Seligkeit gewährt, welcher Jedem die Erinnerung an die erste Liebe
+unvergeßlich macht.</p>
+<p>Ich erfuhr nicht, daß Liebe der Lange Irrthum Eines Betrogenen Esels sei,
+wie Saphir herb genug witzelt, aber ich war ein Schwärmer, ein Romanenheld,
+die Geliebte dagegen ein verständiges, treuherziges, einfaches Landmädchen.
+... Es verstand mich nicht, Eltern und Verwandte erklärten sich gegen mich
+&mdash;Doch, ich will Sie mit meiner Liebesgeschichte nicht langweilen.</p>
+<p>Sie modert längst im Grabe und in demselben Grabe mein besserer Mensch. Ich
+verlor sie keineswegs durch den Tod, denn sie starb erst, während ich in
+Frankreich lebte. Sie ließ sich halb und halb zu einer Heirath zwingen und
+war zu edel, um ein Verhältniß fortzusetzen, welches ihren Pflichten hätte
+gefährlich werden müssen. Ihr Verlust war für mich der Anfang einer
+Sittenverwilderung, deren Schilderung Sie mir gewiß gerne erlassen. Ich
+sank von Stufe zu Stufe und stürzte mich in Schulden, aus denen mich die
+Meinigen weder herauszureißen vermochten, noch den Willen dazu hatten. Die
+Meinigen verfluchten, die Behörden bedrohten, die Gläubiger verfolgten,
+alle Bessern verachteten mich und ich, ich glaubte&mdash;ein noch immer
+vortrefflicher Mensch und verdienter Lehrer zu sein und ein Recht zu
+besitzen, der ganzen Welt zu trotzen.</p>
+<p>Nur mit Schauder denke ich an jenen Sonntag zurück, an welchem ich im
+Hochamte während der Wandlung auf der Orgel das Bänkelsängerlied:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;<i>Schnapps, Schnapps, Schnapps, du edeles Getränke</i></p>
+<p>anstimmte. Ich mußte fast augenblicklich fliehen und floh ohne Geld, ohne
+Schriften, ohne Gepäck, ohne Ziel und Plan und ließ hinter mir die Heimath,
+die Ehre, den Frieden meiner Seele.</p>
+<p>Ich floh nach Frankreich und zwar nicht als fortgejagter Schulmeister,
+sondern auch als Deserteur, da ich ein Jahr Kasernenleben mitgemacht und
+auf meinen Abschied noch lange zu warten hatte. In Straßburg ließ ich mich
+anwerben. Wenn ich meine Erlebnisse in Algier, Spanien, in Frankreich,
+besonders in Paris und Lyon erzählen und mich näher mit dem politischen und
+sozialistischen Theile meiner Geschichte befassen wollte, so würde dieser
+ohnehin wohl zu lang gerathene Brief vor einem bis zwei Jahren schwerlich
+ein Ende finden.</p>
+<h3><a name="B4"></a>IV.</h3>
+<p>
+&mdash;&mdash;Du, theuerster Anton, hast Deinem Bruder das Reisegeld gegeben und in
+zwei Wochen segle ich Amerika zu, um dort nach Kräften gut zu machen, was
+ich an der alten Welt, an dem Vaterlande, an meiner Familie und mir selbst
+gesündiget. Hätte ich nicht das Kleid eines gemeinen Verbrechers getragen,
+so würde ich in ein Kloster gehen, nicht sowohl um meine Schande zu
+verbergen, sondern um die Gnaden zu offenbaren, welche Gott auch dem
+Unwürdigsten noch zukommen läßt, wenn derselbe sich an Ihn wendet.</p>
+<p>Es scheint mir nützlich und nothwendig zu sein, daß in den Tagen wachsender
+Armuth, unersättlicher Genußsucht und maßlosen Hochmuthes Menschen durch
+Thaten den Mitmenschen beweisen, wie wenig Einer braucht, um zu leben, wie
+wenig sinnliche Genüsse zum Glücke gehören und wie wenig Demuth und
+Selbstverläugnung uns erniedrigen. Klöster sind eine Forderung der Zeit.</p>
+<p>Ach, ich möchte die Zahl Derer so gerne um Einen vermehren, welche laut und
+offen verkündigen, daß der moderne Staat wiederum ein christlicher werden
+müsse und daß Kaiser, Könige, Fürsten und Grafen bis herab zum Bettler
+hinter dem Zaune Eine Pflicht und Eine Bestimmung haben, weil Christus für
+Alle gestorben, Tod und Gericht Allen gemeinsam sind.</p>
+<p>Leider sind jene Tage vorüber, wo auch große Verbrecher in stillen
+Klostermauern Aufnahme fanden, um Buße zu thun und durch Wort und Beispiel
+die Vergangenheit zu sühnen.</p>
+<p>In zwei Welttheilen lebte ich als Seelenverderber, im dritten will ich als
+Seelenretter ausharren bis zum Ende und als ein in Christo Freigewordener,
+noch weit weniger als früher ein Gewicht auf die Warnung legen, welche
+Faust dem Wagner gibt:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Wer darf das Kind beim wahren Namen nennen?
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die wenigen, die was davon erkannt,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die thöricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;hat man von je gekreuzigt und verbrannt!</p>
+<p>Ich suche in Amerika kein Eldorado und weiß, welche Entbehrungen und
+Schwierigkeiten meiner harren, nachdem ich mich entschlossen, die Wilden
+der Urwälder aufzusuchen, unter denselben als Vorarbeiter und Gehülfe der
+Missionäre zu wirken und an ihnen gut zu machen, was ich an Andern
+gesündiget.</p>
+<p>Doch ich will Deinen Wunsch erfüllen, theuerster Bruder und Dir Näheres von
+meinem Zuchthausleben erzählen, namentlich insofern dasselbe zu meiner
+sittlich-religiösen Wiedergeburt beitrug.</p>
+<p>Es war im Spätjahr 1847. Ich wußte genauer als mancher Andere, daß
+Frankreich am Vorabend einer Revolution stehe. Daß dieselbe jedoch schon im
+Februar 1848 losbrechen und nicht nur die Julimonarchie stürzen, sondern
+die Monarchie überhaupt zertrümmern und Sozialisten zu Führern Frankreichs
+machen würde, das ahnte ich nicht, weil es meine kühnsten Hoffnungen
+überflügelte.</p>
+<p>Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, so würde ich die geheime Mission nach
+Deutschland nicht übernommen, eine verhängnißvolle Brieftasche mit
+Banknoten nicht&mdash;gefunden und das Inwendige des Zuchthauses wohl nimmermehr
+gesehen haben.</p>
+<p>Ich lag im Gefängniß, als die Februartage kamen. Sie machten mich rasend;
+ich konnte Tag und Nacht keine Ruhe finden und wundere mich nur, daß ich
+nicht geisteskrank wurde. An Fluchtversuche dachte ich nicht, weil ich
+stündlich Befreiung auf andere Weise hoffte und erwartete und als diese
+ausblieb, hatte ich es durch meine Reden und mein Benehmen dahin gebracht,
+daß man ein scharfes Auge auf mich bekam und mich in ein besser verwahrtes
+Gemach brachte, wo ich einsame Stunden fieberhafter Spannung verlebte.</p>
+<p>Es war zu erwarten, daß Berlin ein bischen Prosit rufe, wenn Paris nieße,
+aber daß Berlin Prosit schreie und die gute alte Stadt Wien zum "Paris in
+Knabenschuhen" würde, hattte [hatte] ich auch nicht geahnt und als es
+dennoch so kam, verwünschte ich bereits im Sträflingskittel das
+Mißgeschick, welches langjährige Hoffnungen verhöhnte, indem es mich, den
+Sohn der Freiheit und Soldaten der Revolution zu einem Staatssklaven und
+Opfer tödlich verachteter und gehaßter Gesetze machte. Das Ärgste war, daß
+ich keineswegs umstrahlt von der Glorie eines politischen Märtyrers,
+sondern in der Eigenschaft eines gemeinen Spitzbuben in die Strafanstalt
+trat und hier zum Ueberfluß noch Leute fand, welche mich früher und leider
+nicht auf vorteilhafte Weise kennen gelernt.</p>
+<p>Beamte und Aufseher behandelten mich gleich jedem Andern; ich fühlte, daß
+gleiche Behandlung Aller große Ungleichheiten zur Folge habe, sogar das
+Beisammensein mit Dieben empörte meinen Stolz und ich that Alles, um mich
+bei den Bessern der Sträflingsbevölkerung in Ansehen zu setzen. Doch ein
+alter, einäugiger durchtriebener Gauner, mit welchem ich früher einmal im
+Amtsgefängnisse zu N. gesessen, redete zu meinen Gunsten in einer Weise,
+welche mir die Achtung der Bessern verscherzen mußte und eine Mißgestalt
+von Bauernknecht, welchen ich in demselben Amtsgefängniß gewissenlos um
+seine Ersparnisse gebracht und der nunmehr wieder unter Einem Dache mit mir
+lebte, erzählte Alles, was er Schlimmes von mir wußte.</p>
+<p>Draußen Revolution, der Kanonendonner und Freudenjubel der großen Zukunft,
+in der Strafanstalt elende Handarbeit, schmale Kost und schlechter Trunk,
+dabei noch Verachtung von Seite vieler Mitgefangenen, welche mich gerade
+deßhalb um so herber drückte, weil sie von Sträflingen kam&mdash;wie zermalmte
+mich solche Verschärfung meiner Strafe!</p>
+<p>Der Gedanke, daß ich von meinen Freunden außerhalb der Gefängnißmauern
+verlassen und vergessen sei, beunruhigte mich so sehr als die Ungewißheit
+über die Lage der Dinge und ich glaube ich hätte damals einen Finger für
+eine Nummer der Augsburger Allgemeinen Zeitung gegeben.</p>
+<p>Die verworrenen und sich widersprechenden Gerüchte, welche durch
+Plaudereien der Zuchtmeister, Schildwachen, Besuche und neu eintretenden
+Sträflinge verbreitet wurden, dienten im Ganzen nur dazu, meine Neugierde
+zu erhöhen, die Qual der Ungewißheit bis zur Verzweiflung zu steigern und
+meine Ansichten über die Ereignisse vollständig zu verwirren.</p>
+<p>Du erfassest das Elend solcher Qualen, im Vergleich zu welchen die Qual der
+Gefangenschaft an sich geringfügig erscheint, nicht. Wer einen Gott hat und
+einen Himmel kennt, der trägt unzerstörbaren Frieden in sich und betrachtet
+das wechselnde irdische Leben ruhig.</p>
+<p>Der Mai hatte einige Soldaten zu uns gebracht, die für eine zahme Republik
+gekämpft haben sollten und doch nicht wußten, was eine Republik sei. Es
+waren gutmüthige, brave Bursche und ich suchte mich denselben zu nähern,
+allein sie blieben gegen mich wie gegen die "Spitzbuben" zurückhaltend und
+spröde.</p>
+<p>Sie sahen ein, daß es für Soldaten eine unverzeihliche Dummheit sei, zur
+Zeit einer Emeute eine Ausnahme vom Verhalten der Mehrzahl der Kameraden zu
+machen und nicht ihre harte Strafe, sondern ihr Zusammengeworfenwerden mit
+gemeinen Verbrechern war's, was sie nicht zu verschmerzen vermochten und
+ihren Rachedurst entflammte. Ich gewann sie leicht für meine Ansichten,
+nachdem sie einmal an ihre neue Gesellschaft besser gewöhnt waren und
+einiges Vertrauen zu mir gefaßt hatten. Unvergeßlich bleibt mir die
+Demüthigung, welche mir einer derselben bereitete. Ich erzählte nämlich von
+Robespierre und lobte vor Allem die Uneigennützigkeit dieses Helden der
+Revolution, den ich als eines meiner Vorbilder erklärte. Da meinte Jener
+trocken, wenn Uneigennützigkeit für einen rechten Volksführer unentbehrlich
+sei, so werde ich niemals einen solchen abgeben!&mdash;Aus dieser Rede wie aus
+den Blicken und dem Gelächter der Umsitzenden erkannte ich, daß alle genau
+wußten, weßhalb ich verurtheilt worden. Glaubst du, daß ich Nächte hindurch
+mich ruhelos auf meinem Strohsacke herumwälzte voll Aufregung über solche
+Gewißheit?&mdash;</p>
+<p>Mit der Zeit bekam ich Gewißheit, daß man in der Welt auch ohne mich fertig
+werde und mich "den Spitzbuben" völlig vergessen habe&mdash;eine schmerzliche
+Gewißheit für einen mit der Großmannssucht behafteten Menschen meiner Art!
+Der Juniaufstand wurde durch einen Zufall bereits am folgenden Morgen nach
+dem Ausbruche unter uns Gefangenen bekannt.</p>
+<p>Wiederum war für längere Zeit meine Gemüthsverfassung die einer
+Tigermutter, welche von Todfeinden ihre Jungen quälen und zerfleischen
+sieht, ohne mehr zu vermögen als den grimmigen Zorn und Schmerz durch
+Gebrülle zu mildern. Kaum fing ich an, mich an meine Lage zu gewöhnen und
+in ihren Zerstreuungen einen Schein von Ruhe zu gewinnen, als ich in eine
+Zelle versetzt wurde. Es war im Spätherbst 1848.</p>
+<p>Nach einigen Tagen stiller Ergebung berauschte mich allgemach die
+Einsamkeit. Zuweilen verlebte ich ruhige, sogar heitere Stunden, doch in
+andern, besonders in der Todesstille der Nacht und bei schlechtem Wetter
+empfand ich alle die unbeschreiblichen Qualen meiner Lage.</p>
+<p>Ich möchte dieselben mit denen des angeschmiedeten Prometheus vergleichen,
+doch hinkt solcher Vergleich vielfach, namentlich hatte ich dem Himmel mein
+Feuer nicht gestohlen, sondern von der Hölle entlehnt.</p>
+<p>Arbeiten und Bücher gewährten mir einige Unterhaltung und Trost. Ich
+arbeitete, um mich selbst zu vergessen und einige Stunden des Schlafes,
+dieses köstlichsten aller Güter eines Gefangenen, zu genießen. Meine Liebe
+zum Lesen wäre leicht in Lesesucht ausgeartet, wenn ich mich der
+Hausordnung hätte entziehen können. Doch welcher Sterbliche vermag sich in
+einem Zellenbau der strengsten Beobachtung bei Tag und Nacht zu entziehen?
+Geistliche, Beamte und Aufseher besuchten mich nach ihrer Vorschrift, doch
+gewährten mir ihre Besuche wenig Unterhaltung und ihnen kein Vergnügen.</p>
+<p>Mein Bestreben war darauf gerichtet, dieselben auf eine Weise zu kränken
+und zu beleidigen, für welche sie mich nicht zu bestrafen vermochten.</p>
+<p>Uebrigens ist ihre Strafgewalt so beschränkt, daß man wenig mehr nach
+Strafen fragt, wenn man die üblichen einmal gekostet und nachdem mir eine
+Uebertretung der Hausordnung einigemal kleine Strafen zugezogen, ertrug ich
+Strafen gerne, wenn ich mir nur einbilden durfte, die Beamten recht
+geärgert zu haben. Nur Einer kam mit mir aus. Es war ein Hauslehrer, der
+von Zeit zu Zeit mit Heckerhut, Hahnenfeder und Schleppsäbel in meine Zelle
+trat, um sich nach dem Befinden des "Bürger Gefangenen" zu erkundigen.
+Nachdem er wußte, wie lange und wo ich in Frankreich und andern Ländern
+gelebt und welcher Parthei ich lange Zeit angehörte, führten wir viele
+wunderliche Gespräche mit einander. Bei ihm konnte ich meinem Grimme gegen
+Gott, Welt und Menschen freien Lauf lassen, denn auch er gehörte zu Jenen,
+welche von ergriffenen Prinzipien zu den äußersten Folgerungen derselben
+muthig fortschreiten.</p>
+<p>Von ihm erfuhr ich, was draußen in der Welt gespielt wurde und meine
+Hoffnung auf Befreiung ward so lebhaft, daß ich mich am Morgen jedes Tages
+fragte: Wirst du die Hausschelle heute Abend noch hören?&mdash;Noch vor Mai 1849
+verlor ich den Edlen, im Mai erfuhr ich die Befreiung der politischen
+Gefangenen und erwartete die meinige&mdash;vergeblich. Jetzt brütete ich
+wiederum düstere Plane unersättlicher Rache, schwelgte in entmenschten
+Träumen blutigen Hasses und fand darin die einzige Unterhaltung, weil ich
+in der Kirche nicht zum Hören zwischen den kahlen Zellenwänden nicht zum
+Lesen und Nachts nicht zum Schlafen gelangte.</p>
+<p>Ich hatte Schreibzeug, noch einiges Papier und begann zu dichten. Eine
+Sammlung. <i>"Rothe Lieder"</i> sollte mir meine Lage erträglicher und nach
+meiner Befreiung meinen Namen der Welt bekannt machen.</p>
+<p>Während der Arbeit schmiedete ich Verse und schrieb einen nach dem andern
+geschwind auf eine neben mir liegende Schiefertafel. Kam Jemand, so löschte
+ich das Geschriebene schleunig aus, andernfalls schrieb ich es am frühen
+Morgen oder während der Mittagsstunde auf Papierstreifen, die ich in den
+Schuhen bei mir trug.</p>
+<p>Eines mag als Probe meiner damaligen Seelenstimmung hier stehen und Dir
+zeigen, wie weit ich noch nach etwa 10monatlicher Einzelhaft von Besserung
+entfernt war:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ein Sklavenvolk mag vor Molochen kriechen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Vor schlauen Bonzen wahnerfüllt sich beugen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Sein Glück mit Füßen treten im Unsinnsreigen
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Und Seligkeit aus Triererröcken riechen!</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Doch ewig soll das Volk an Dummheit siechen?&mdash;
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;O nein! die Wahrheit wird und muß sich zeigen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Muß glühendroth aus Tempelasche steigen
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Sobald der Wahn des Christenthums gewichen!</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Drum frisch, ihr Freien, laßt nie träg euch finden,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Wetzt gegen Bonzentrug die schärfsten Klingen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Es gilt, der freien Menschheit Reich zu gründen!</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Der Weltgeist leiht euch riesenstarke Schwingen,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Kein Adler kann im Sonnenlicht erblinden,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Der Menschheitsgott lohnt euer kühnes Ringen!&mdash;</p>
+<p>Im Juni setzten mich Kanonendonner und Kriegslärm aller Art in fieberhafte
+Bewegung. Jeden Schritt, der auf den Steinplatten des Ganges dröhnte, hielt
+ich für den meines Befreiers.</p>
+<p>Ich hoffte, daß alle Gefängnisse ihre bleichen Bewohner ausspeien würden
+und war gesonnen, aus denselben ein in die graue Tracht des Sträflings
+gekleidetes Corps zu bilden, um dasselbe als Vorkämpfer beim Kampfe gegen
+die alte Gesellschaft zum Siege zu führen.</p>
+<p>Freiheit und Kampf, Sieg und blutige Rache, Tod und Ruhe war meine Loosung
+und ich vergaß dieselbe sogar in meinen nächtlichen Träumen nicht.</p>
+<p>Eines Abends marschirten preußische Füseliere über die Ringmauern der
+Anstalt, bald nachher stand auf der Mauer meines Spatzierhöfchens
+geschrieben; "Die Freischaaren sind aus dem Schwarzwalde in die Schweiz,
+Alles ist aus.&mdash;Die Franzosen wollen wieder Einen haben und der Sträfling
+von Ham soll auf der Liste zu oberst stehen. Lauter Lumperei!&mdash;"</p>
+<p>Dies war zuviel.</p>
+<p>Seit vielen Jahren eines ins Aeußerliche versenkten Lebens hatte mich Gott
+das Rächeramt an mir selbst verwalten lassen. Eine beständige qualvolle
+Unruhe, eine tiefe geheime Unzufriedenheit mit mir selbst jagte mich aus
+einer Stunde in die andere wie den ewigen Juden und ließ mir nicht Einen
+vollkommen sorgenlosen Genuß. Aus jedem Freudenbecher stiegen Dämonen und
+setzten sich als unerträglich schwere Alpe auf mich, während Springfedern
+in mir zu sein schienen, die beim leisesten Drucke von Außen mich fernen,
+unbekannten Zielen zutrieben.</p>
+<p>Während meiner Gefangenschaft war ich bereits so weit gekommen, die Ochsen
+und Kühe zu beneiden, welche den Brodwagen in den Hof der Anstalt
+schleppten. Ich würde gerne geglaubt haben, das elendeste Thier sei ein
+glücklicheres Wesen als der Mensch, wenn nicht ruhige, freundliche,
+glückliche Menschen, hinter denen mein scharfgewordenes Auge keinen Schein
+entdeckte, täglich in meine Zelle getreten wären.</p>
+<p>Ich mußte mir in ruhigeren Stunden gestehen, eine Regierung, welche Diener
+von der Art meiner Besucher habe und ihre schlechtesten Unterthanen noch
+menschenfreundlich behandle, müsse nicht ganz fluchwürdig sein. Nicht
+minder fiel es mir bei, eine Religion, welche ihre treuen Anhänger so
+ruhig, freundlich und glücklich mache wie die christliche, bleibe eine
+preiswürdige Religion, selbst wenn ihre höchsten Vorstellungen keiner
+Wirklichkeit entsprächen. Ich begann die Gläubigen um ihres Glaubens oder
+vielmehr um des Glückes willen zu beneiden, welches der Glaube denselben
+gewährt.</p>
+<p>Beim Durchmustern meines vielbewegten Lebens kam ich allmälig immer mehr
+auf meine Jugenderinnerungen zurück, weil sie die süßesten für mich waren.
+Unsere Kinderzeit, theuerster Bruder, wurde für mich zunächst der Born, aus
+welchem ich mich erfrischte, um zum Quell des wahren Lebens zu gelangen.</p>
+<p>Die Macht dieser Erinnerungen trug Vieles bei, mein Felsenherz zu erweichen
+und die wehmüthigen Betrachtungen und Vergleiche zwischen dem seligen Kinde
+und dem unseligen Zuchthäusler versenkten mich in ernstes Nachdenken.</p>
+<p>Mehr als einmal, wenn die Glocken von fern und nahe in meine Zelle
+hineinläuteten und das Abendroth zwischen den Kerkerfensterlein
+hindurchzuckte und golden über die kahlen Wände zog, da sah ich längst
+entschwundenes Abendroth und unter ihm die Thürme, von welchen die Religion
+ihren Abendgruß über unser Städtlein mit seinen dunkeln Dächermassen
+hinrief und sah ein Haus, worin ein aufblitzendes Licht die liebsten,
+freundlichsten Gestalten beleuchtete, die mir in meinen Erdenwallen
+vorgekommen. O Anton, Anton, ich wünschte dann wiederum ein Kind zu sein
+und mein Leben in ganz anderer Weise von vorn anfangen zu können!&mdash;&mdash;</p>
+<p>Ich begann allmählig auch religiöse Schriften zu lesen und über den Inhalt
+reiflich nachzudenken. Schon die Vorträge und Predigten hatten mich
+überzeugt, daß ich in vielen Punkten der christlichen Religion in Irrthum
+und Unwissenheit geschwebt und alle Punkte nur von der Seite aus zu
+betrachten gewöhnt war, von welcher sie mir verwerflich erschienen.</p>
+<p>Je besser ich erkannte, daß ich trotz allen Erinnerungen aus dem
+Katechismus und an Predigten von meiner Religion bereits so wenig als ein
+Heide verstünde, desto mehr stiegen Interesse und Eifer mich zu
+unterrichten. Bald machte ich Auszüge aus guten Schriften und zuletzt
+eigene Aufsätze, um mich im Denken zu üben.</p>
+<p>Gleichzeitig las ich geschichtliche Werke und begann an dem Ikarien, in
+welches ich mich ganz und gar festgerannt hatte, irre zu werden.</p>
+<p>Je mehr ich las und dachte, desto mehr wich der Fanatismus des Unglaubens.
+Ich lernte die Ruhe des Denkers kennen und wenn dieselbe auch noch lange
+nicht die Ruhe des Christen ist, so bleibt sie doch ein Durchgangspunkt, um
+zu derselben zu gelangen.&mdash;</p>
+<p>Jetzt ist es mir klar, daß Gott mich ins Zuchthaus führte und daß die
+Zuchthausstrafe der Rettungsversuch war, welchen Er mit mir anstellte,
+damit meine Seele nicht ewig verloren gehe.</p>
+<p>Er handelte an mir wie ein geschickter Arzt, welcher kein Sengen, Brennen
+und Schneiden scheut, wenn es dem Kranken nützt, ich dagegen lange genug
+wie ein in Fieberwahn Daliegender, der von keinem rettenden Arzte wissen
+will und um so heftiger nach demselben schlägt, je näher er ihm tritt.</p>
+<p>Er züchtigte mich mit der einen und hielt mich mit der andern Hand.</p>
+<p>Du weißt bereits auf welche Weise Er meine Zuchthausstrafe verschärfte.
+Unter Sträflingen wäre ich niemals so weit gekommen, Geschmack an
+religiösen Schriften zu finden. Seitdem ich einsam lebte und gar nichts
+mehr vom Leben und Treiben der Welt erfuhr, war ich allmälig im Stande
+Schriften zu lesen, deren Inhalt meinen Ansichten schnurstracks widersprach
+und der Mangel an Zerstreuung zwang mich, die Gründe der Verfasser zu
+prüfen.</p>
+<p>Gleichzeitig gewann die Einsicht, daß ich durch unverständiges Benehmen
+meine Lage nur verschlimmere, Uebermacht über die Leidenschaftlichkeit
+meines Herzens und meinem anständigern, würdigerem Benehmen gegen Besucher
+entsprach eine freundlichere, gütigere Behandlung von ihrer Seite.</p>
+<p>In B. dauert das Jahr nur 8 Monate. Die Hälfte meiner Strafe war
+überstanden, laut der Hausordnung konnte ich um Begnadigung bitten. Lange
+schwankte und zauderte ich. Der Gedanke auszuharren, um mich nicht der
+Gefahr einer demüthigenden Zurückweisung auszusetzen, wich nur, wenn ich an
+die bisher ausgestandenen Leiden dachte. Ein Traum war's, der mich bewog,
+ein Gnadengesuch einzugeben und an einen günstigen Erfolg desselben zu
+glauben.</p>
+<p>Einen tiefern Schmerz habe ich selten in meinem quallenreichen
+[qualenreichen] Leben empfunden als den, welchen ich empfand, nachdem mir
+ein Schreiber die Nachricht brachte, meine Bitte sei eine vergebliche
+gewesen. Weniger die Vernichtung süßer Hoffnungen und die Fortdauer der
+Gefangenschaft, als die Täuschung des Vertrauens, das ich der regierenden
+"Bourgeoisie" geschenkt und der Gedanke, daß Beamte und Aufseher, die meine
+frühern Prahlereien angehört und deren Glauben an meine Standhaftigkeit ich
+durch die Bittschrift vernichtet hatte, wars, was mich schmerzte.</p>
+<p>Ich that furchtbare Schwüre, daß meine Hand verdorren und mein Auge
+erblinden möge, wenn ich jemals wiederum eine Feder anrühre, um ein
+Gnadengeheul zu componiren. Der Schwur ward gehalten, nicht weil mein
+Hochmuth stark, sondern weil der Schwur Schwur blieb.</p>
+<p>Alle Ruhe und Mannhaftigkeit, alle Versöhnlichkeit und Unpartheilichkeit
+waren aufs neue verloren. Selbst gegen meine Besucher konnte ich mehr als
+mürrisch und grob sein, denn ich hatte die Vornehmsten in Verdacht, daß sie
+meine Befreiung nicht bevorwortet, sondern hintertrieben hätten, während
+sie mir ins Gesicht Güte und Menschenfreundlichkeit logen und es gab
+Stunden, wo die innere Aufgeregtheit mich alle Klugheit und Mäßigung
+vergessen ließen.</p>
+<p>Meine religiösen und geschichtlichen Betrachtungen, die Vergleiche der
+verschiedenen Systeme sozialistischer Träumer hörten auf, ich war zu
+unruhig, um lesen zu können und nur die "Rothen Lieder" gediehen.</p>
+<p>Sie lullten mich in die Ruhe stiller Verzweiflung und stumpfer
+Gleichgültigkeit, indem ich durch sie meinen Schmerz und Ingrimm gegen
+Gott, Welt und mein Geschick aus mir herausarbeitete; aber wenn ich
+bedachte, weßhalb ich bestraft worden und wer mich in Gewalt hatte oder auf
+die lange trostlose Reihe der Kerkernächte zurück oder vorwärts blickte,
+dann hatte die trügerische Ruhe des Fatalisten, in welche ich mich
+hineinzuzwingen versuchte, ein Ende.</p>
+<p>Nur ein gemeiner Verbrecher in der Zelle erfährt, was es heißt, die Hölle
+im Busen tragen und die Sehnsucht nach Glück sterben lassen. Es gab
+Augenblicke, wo ich auf die Knie stürzte und die unbekannten Mächte, welche
+ihr grausames Spiel mit mir trieben, um Erbarmen anflehte. Im nächsten
+Augenblicke stand ich auf, lachte voll ingrimmigen Hohns und rief den
+Teufel an, mir die Freiheit, Ruhe, Untergang im Genuß oder auch die Hölle
+zu verschaffen. In der Hölle ein ganzer Teufel zu sein, ewig Gott zu
+lästern und zu höhnen, in diesem entsetzlichen Gedanken lag für mich in
+meinen ärgsten Stunden eine Art Wollust. Ich wünschte, daß es einen Gott,
+einen persönlichen Gott geben möge, damit ich ein rechter Teufel sein
+könne. Wer gab ihm das Recht, mich auf diese Welt zu setzen? Aus einem
+glücklichen Nichts ein unglückliches Etwas zu machen? Weßhalb verfolgte Er
+mich seit vielen Jahren? Warum ließ er mich leben, da ich doch sterben
+wollte?&mdash;</p>
+<p>Ja, wollte, theuerster Bruder! Schaudere nicht vor mir zurück, ich kannte
+und besaß mich selbst damals nicht mehr, ein Dämon lebte und regierte in
+mir, denn lange hatte ich der Hölle willenlos gedient und war in der Zelle
+bereits in Gefahr gerathen, ihr ungetreu zu werden!&mdash;</p>
+<p>Ich wollte mich erstechen und schliff mein stumpfes Messer mit unsäglicher
+Mühe scharf und spitz. Aber ich besaß den Muth nicht dazu. Sage Keiner ein
+Selbstmörder sei ein Feigling, es ist nicht wahr, zum Selbstmorde gehört
+ein Muth, welcher den Selbsterhaltungstrieb und die Ewigkeit verhöhnt. Ein
+Aufseher entdeckte das Messer, nahm es weg und mehr als je fand ich mich
+beargwohnt und beobachtet. Ich betrachtete stundenlang meinen Kleiderrechen
+und dachte daran, mich zu hängen.</p>
+<p>Allein das Hängen hat namentlich für einen alten Soldaten etwas Widerliches
+an sich, vielleicht weil es die leichteste oder doch angenehmste Todesart
+sein soll. Zudem konnte ich zu früh entdeckt, abgeschnitten und gerettet
+werden. Noch meine Todesgedanken waren von der Eitelkeit beherrscht; ich
+glaubte die herabsetzenden Redensarten derer, die meinen Leichnam auszogen,
+zu hören und der Gedanke, von gleichgültig lachenden Studenten zerschnitten
+zu werden, erregte mir ein widerliches, grauenhaftes Gefühl.</p>
+<p>Die Hölle ließ mich auf eine Todesart verfallen, deren Namen ich nicht
+nennen mag; sie beseitigt den Schein des Selbstmordes und führt
+Annehmlichkeiten mit sich, welche die des Hängens durch Dauer weit
+überbieten. Um die Scheu vor der Anatomie zu beseitigen, wollte ich zuerst
+von meinem Gutmachgeld das Doppelte des Werthes meines Leichnams&mdash;ein
+menschlicher Leichnam gilt in B. 10 Gulden&mdash;an Jemanden außerhalb des
+Gefängnisses senden und es dahin bringen, daß dieser Jemand nach meinem
+Tode das Geld in die Anstalt brachte und die Beamten dadurch veranlaßte,
+meinen Leichnam nicht den Studenten zu schicken, sondern in B. begraben zu
+lassen.</p>
+<p>Diesen Jemand hatte ich noch nicht gefunden, als ich in eine schwere
+Krankheit verfiel.</p>
+<p>Ich kam in eine Krankenzelle, welche sich von den gewöhnlichen Zellen fast
+nur durch die größere Bequemlichkeit und vor Allem durch eine wahrhaft
+christliche Behandlung unterscheidet, deren man darin genießt. Nur dunkel
+entsinne ich mich, wie ich später in den Krankenstock hinabgetragen wurde,
+wo sich die Schwerkranken befinden.</p>
+<p>Bienen, Rosenkäfer und buntfarbige Schmetterlinge gaukelten lustig um
+duftende Rosenhecken und prächtige Blumenketten des Citysus im heimelig
+stillen Zuchthausgarten und die Schwalben äzten ihre Brut, als meine
+Krankheit sich mit unerträglichem Kopfschmerz und galoppirendem Pulsschlage
+einstellte. Der Wind trieb aber die letzten falben Blätter von den Bäumen,
+der Sängerlärm im nahen Schloßgarten war verstummt und die unvermeidlichen
+Spatzen zankten sich um verlassene warme Rester [Nester] unter den Dächern
+des vierten Flügels, als ich zu neuem Dasein erwachte und mich täglich
+etwas länger in der Kunst des Stehens und Gehens einüben durfte.</p>
+<p>Ich vermeinte kein Gefangener mehr zu sein, denn ich wohnte in einem hohen,
+anständig eingerichteten Gemache mit großem Fenster ohne Eisengitter und
+nur der verbleichte Uniformsrock der Krankenwärter und noch mehr das
+unmenschliche und unnöthige Gebrülle der meisten Wachen auf der Ringmauer
+mahnte mich daran, daß ich noch Gefangener sei.</p>
+<p>Der Krankenwärter besaß mehr Einsicht und Bildung als Leute seiner Art
+gemeiniglich zu haben pflegen. Er nährte meinen aufwachenden Verstand,
+während sein Gehülfe, ein etwas kurz und uneben gerathener Bursche mit
+koketten Löcklein und zahmen Blauaugen den Magen versorgte.</p>
+<p>Ein dicker, stattlicher, herzensguter Mann, der dröhnenden Schrittes durch
+die Gänge und täglich lieber in mein Gemach stieg, zeigte sich bereit, mir
+Alles zu enthüllen, was von Adams Zeit bis zu meiner Genesung über und
+unter dem Monde vorgefallen war, insofern es sich nur mit der Hausordnung
+vertrug. Der Arzt selbst besuchte mich täglich zwei bis dreimal, der
+Widerwille, den ich früher gegen ihn als den "Knecht einer verrotteten
+Regierung" so gut als gegen andere Besucher empfunden, war wie weggeblasen.
+Er hatte mein Leben retten helfen und ich fühlte, daß ich das Leben
+wiederum liebte, denn als der Mann mit dem dröhnenden Schritte mir
+scherzend einen amerikanischen Strick in Aussicht stellte, schauderte ich
+unwillkürlich zusammen.</p>
+<p>Täglich kam der vortreffliche Hausgeistliche zu mir und jeder Besuch machte
+mir denselben theurer. Durch maßlosen Hochmuth, ungeschickte Heuchelei und
+arge Verstocktheit hatte ich ihn oft betrübt. Seine Freude, mich gelassen
+und ruhig zu finden, war jetzt um so größer, denn er hatte alle Hoffnung
+aufgegeben, mich gründlich zu bekehren und gehörte zu jenen Wenigen, denen
+die Aufrichtung Eines Gefallenen in der That mehr gilt, als die Erhaltung
+von zehn Nichtgefallenen, bei denen die Gefahr des Fallens vorüber ist.</p>
+<p>Der alte wüste Ichmensch schien wirklich absterben, ich neugeboren werden
+zu wollen. Die Krankheit hatte meine leibliche Kraft gebrochen, sie
+erstarkte allmählig, doch den alten Menschen konnte und Sollte ich nicht
+wieder erstarken lassen. Schon vor der Krankheit hatte ich so oft
+gewünscht, wiederum ein Kind zu sein und mein Leben von vorn anfangen zu
+können. Nunmehr war ich ein Kind und beschloß ein anderes Leben anzufangen,
+obwohl meine Seelenstimmung jetzt noch mehr Folge der allgemeinen Schwäche
+und mein Glaube an Christum, den Sohn Gottes und dessen Weltkirche noch
+kein felsenfester war.</p>
+<p>Mit der Kraftlosigkeit eines Kindes verband sich bei mir auch die Weisheit
+und Leichtbestimmbarkeit eines Kindes. Liebe zieht den Menschen groß; die
+Liebe von Solchen, denen ich niemals Gutes erwiesen und oft genug Arges
+gesagt und gewünscht hatte, verhalf mir zu meiner leiblichen und geistigen
+Genesung.</p>
+<p>Lange, einsame Spätjahrnächte gaben mir Muße zum reifen Nachdenken. Wenn
+der Sturm um das Haus heult und der Regen an die Fensterscheiben schlägt,
+dann fühlt sich der Mensch, dem nicht das Glück geworden, Gatte und Vater
+zu sein, einsam und keine trauliche Umgebung hält ihn von Betrachtungen ab,
+welche mit den Stürmen oder der Eintönigkeit der Außenwelt harmoniren. Und
+ich, ein gemeiner, kranker Verbrecher, ein Gefangener, der nach einem an
+verfehlten Bestrebungen und Thaten reichen Leben anfängt, ernsthaft in sich
+zu blicken, dem der Tod nahe gestanden und Gott neues Leben geschenkt, er
+sollte sich keinen ernsten und schwermüthigen Betrachtungen hingeben?&mdash;</p>
+<p>Lange, einsame Spätjahrnächte hindurch überlegte ich namentlich auch, was
+ich denn wisse und verstehe und der Menschheit bisher nützte. Arm, krank,
+ohne Zweck und ohne Mittel lag ich als unwissender Mensch und Feind der
+Menschheit im Krankenzimmer eines Zuchthauses, ein Mann reif an Jahren,
+leer an ersprießlichen Thaten und&mdash;doch Bruder, theuerster Bruder, erlasse
+mir meine damaligen Stunden zu schildern. Nach langer, langer Zeit zum
+erstenmal weinte ich keine Thränen der Wuth, sondern lindernde
+schmerzstillende Thränen, weinte nicht über Andere, sondern über mich,
+versuchte zu beten, stammelte zuweilen ein Vaterunser, dasselbe Vaterunser,
+welches mich und Dich unsere theure, von mir so tiefgekränkte Mutter
+gelehrt hatte.</p>
+<p>Ich dachte nach über mich und mein Schicksal. Es däuchte mir, als ob ich
+mich selbst bisher arg gehaßt und Alles gethan habe, um mir mein erlebtes
+Schicksal zu bereiten. Je mehr ich an mich selbst und meine Fehler dachte,
+desto mehr wurde ich geneigt, die Fehler Anderer in milderm Lichte zu
+sehen.&mdash;</p>
+<p>Eine Unvorsichtigkeit rief einen Rückfall meiner Krankheit hervor und der
+Tod trat mir wiederum nahe. Ich zitterte nicht vor ihm, doch wünschte ich
+meine Erhaltung, weil ich so Vieles noch auf Erden gut zu machen und eine
+Ahnung künftigen Glückes mein ganzes Wesen durchklungen hatte. Zum
+zweitenmal wurde ich gerettet, doch wohl nur deßhalb, weil ich vor dem
+Rückfall in meiner Genesung ziemlich weit vorgeschritten war.</p>
+<p>Wiederum dachte ich über mich und mein Schicksal nach, wiederum war mir das
+Zeitliche gleichgültig und ich beschäftigte mich gerne mit den Zuständen
+des Jenseits, dem ich näher als Andere gestanden, wiederum wirkten Besuche
+und das Vorlesen meines Wärters vorteilhaft auf mich ein.</p>
+<p>Ich wünschte lebhaft ein anderer Mensch zu werden und zum lebendigen
+Glauben an Christum den Gottessohn, diesen süßen, beseligenden Glauben, zu
+gelangen. Es dauerte lange, bis ich mich dazu entschloß, Gott nicht nur um
+den Glauben zu bitten, sondern mich Ihm in in [in] einer Generalbeichte
+einmal ganz und unbedingt zu Füßen zu werfen.</p>
+<p>Ein Sonntagnachmittag besiegte meine letzten Bedenklichkeiten; ich werde
+diesen und die darauf folgende Nacht nicht vergessen haben, wenn unsere
+Gebeine längst vermodert sind und wir zusammen dort leben, wo der Mensch
+den ganzen Plan und Gang seines Geschickes von der ersten Minute seines
+Daseins bis zur letzten erschaut.</p>
+<p>Der Himmel schaute trüb zum Fenster herein, die nahen Hügel im Schmucke des
+Winters mahnten an Tod und kalte Nächte. Alle, die mich besucht hatten,
+waren ernst und einsilbig geblieben, ein Gedanke von Verlassenheit, wie ihn
+ein Sterbender in meiner Lage haben kann, durchklang meine Seele. Die
+Gefangenen sangen die Vesper. Die halb verlornen Töne der Orgel, die
+Stimmen der Singenden hatten etwas Tiefergreifendes, Wehmüthiges,
+Trauriges. Ich vermeinte meinen Leichengesang bei lebendigem Leibe zu
+vernehmen, ein herzzerreißendes wehmüthiges Klagelied über mein verfehltes
+Leben. Ich betete und glaubte zu fühlen, wie der Tod näher zu meinem Herzen
+heransteige, faltete unwillkürlich die Hände und betete.</p>
+<p>Jetzt wurde ein anderer Psalm angestimmt, deutlich vernahm ich aus allen
+Stimmen heraus einen durchdringenden Tenor, der die Worte sang:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Dunkelheit der Leidensnächte
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Verwandelt Er in Wonnetage!&mdash;</p>
+<p>Dieser Vers bohrte sich mit unwiderstehlicher Macht in mein Gedächtniß; ich
+mußte ihn stets wiederholen und so oft ich beschloß, denselben zu
+vergessen, hatte ich ihn wieder gedacht oder sogar gemurmelt. Es lag etwas
+Wunderbares in den einfachen, von mir schon so oft gehörten und niemals
+besonders beachteten Worten.</p>
+<p>Finsterniß&mdash;Leidensnächte&mdash;Er&mdash;Wonnetage!&mdash;an diese vier Worte knüpfte sich
+eine lange Kette von Gedanken, es schien mir, als ob Gott selbst zum Troste
+sie mir zugerufen.</p>
+<p>Ich wollte beten, aber ich betete nur diese vier Worte, schlief endlich ein
+und als ich spät in der Nacht aufwachte, mahnte mich die Dunkelheit im
+Gemache an die Dunkelheit meines Lebens und meiner Lage.</p>
+<p>Drüben in der Stube des Krankenwärters schlug die Wanduhr langsam und
+schwermüthig die zehnte Stunde. Dies war die Zeit, in welcher unsere Eltern
+auch von mir allabendlich den Gutenachtkuß erhielten und gaben.</p>
+<p>Ich gedachte der Wonnetage unserer Kindheit, der Leidensnächte, welche ich
+mir und Euch bereitet, der zahllosen Beleidigungen und Frevel, welche ich
+gegen Ihn verübt, der mich verlassen und der Finsterniß, welche in mir
+viele Jahre geherrscht.</p>
+<p>Das tiefe Schweigen der Nacht redete furchtbarer als je zu meinem Herzen,
+der Nachbar im Nebenzimmer war heute verschieden, ich glaubte ihn jeden
+Augenblick zur Thüre hereintreten, mich mit glanzlosen Augen und dem
+haarsträubenden Gesichtsausdrucke dessen, der die Ewigkeit mit ihren
+Schrecken erblickt, betrachten zu sehen und zu hören, wie er vom Jenseits
+redete. Diese Vorstellungen wurden immer lebhafter, kalter Schweiß
+überrieselte mich; ich wollte rufen, aber die Stimme versagte, vergeblich
+schloß ich die Augen und steckte den Kopf unter die Decke&mdash;immer sah ich
+den gräßlichen Boten der Ewigkeit vor mir, sah trotz der Decke und
+Dunkelheit, wie das Gemach sich mit Verstorbenen anfüllte, ich glaubte zu
+ersticken und war nicht im Stande ein Glied zu rühren. Ich sah den Vater,
+die Mutter, sie betrachteten mich mit Augen, in denen mein
+Verdammungsurtheil stand, verstorbene Freunde, die mich anstierten,
+Kameraden, welche den arabischen Sand mit ihrem Blute getränkt und mit
+denen ich so Vieles gesündiget und hinter ihnen eine gräßliche Gestalt, die
+mir zuwinkte und verschwand. An ihrer Stelle stand eine Lichtgestalt, der
+Glanz, der von ihr ausströmte, verklärte Alles ringsum. Leise, dann lauter,
+bald feierlich und majestätisch, bald weich und milde ertönten die Worte
+vielstimmig in Einem fort:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Dunkelheit der Leidensnächte
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Verwandelt Er in Wonnetage!</p>
+<p>Das Geschrei der Schildwachen weckte mich aus einem Zustande, der mir den
+Zustand der Verdammten und der Seligen geoffenbart. Hatte ich geträumt? War
+Alles Alpdrücken? Spiel der erhitzten Einbildungskraft? Ich weiß es nicht,
+doch das weiß ich, daß ich ganz anders als früher betete und
+augenblickliche Buße, den Beginn eines neuen Lebens gelobte und meine Seele
+ihrem lange genug verkannten Erlöser empfahl. Gebet und Gelübde verliehen
+mir wunderbaren Trost und eine Freudigkeit des Geistes, wie ich dieselbe
+noch niemals empfunden.</p>
+<p>Der Krankenwärter trat herein, um nach mir zu schauen. Er versicherte, daß
+ich lange und laut geredet. Auf meine Bitte zündete er ein Licht an und
+holte ein Gebetbuch, um Etwas vorzulesen. War es Fügung oder Zufall, daß er
+gerade das Gedicht des heiligen Bernhard:</p>
+<p>&nbsp;&nbsp;&nbsp;Jesu, dein süß Gedächtnis macht,
+&nbsp;&nbsp;&nbsp;Daß mir das Herz vor Freuden lacht!</p>
+<p>ein Gedicht, dessen unbeschreibliche Innigkeit und göttliche Liebe nur ein
+gläubiger Christ vollkommen erfaßt, aufschlug? Er mußte es mehrmals
+wiederholen und ich schämte mich der heißen, ebenso schmerzlichen als süßen
+Thränen nicht, welche es mir auspreßte.</p>
+<p>Der Krankenwärter ging. Doch blieb ich nicht allein&mdash;mein Schutzgeist, mein
+Erlöser befanden sich bei mir und vernahmen von meiner Reue und Liebe
+Alles, was die Verwandlung der Leidensnächte in Wonnetage mir gegeben. Nach
+einem erquickenden Schlummer wachte ich auf, als die milden Sonnenstrahlen
+eines schönen Herbsttages bereits in mein Gemach spielten. Den ganzen Tag
+verwendete ich zur ernsten Gewissenserforschung, gegen Abend legte ich
+meine Generalbeichte ab und empfing wohl zum erstenmale würdig den Leib
+Jesu Christi. Wer gegen die Ohrenbeichte der Kirche auftritt, zeigt damit
+nur, daß er noch nie recht beichtete und wer im heiligen Abendmahl etwas
+Anderes als den verwandelten Christus findet, beweist, daß das innerste
+Wesen des Christenthums, das Liebesverhältniß der Menschenseele zu Gott,
+ihm noch nicht recht aufgegangen ist.</p>
+<p>Gott war fortan mit mir und ich bei Ihm und wenn auch Schwachheit und
+Sündhaftigkeit mich Ihm zuweilen zu entfremden drohten, kehrte ich
+inbrünstiger zu Seinen Füßen zurück.</p>
+<p>Ich betete viel und meist ohne Gebetbuch. Außer der Nachfolge Christi und
+der Philothea genügte mir kein Gebetbuch.&mdash;</p>
+<p>Verbrechen, welche vom Gesetze geahndet werden und an sich entehrend sind,
+habe ich außer dem, welches mich in den Kerker führte, glücklicherweise
+keine begangen, aber will dies Vieles bedeuten?</p>
+<p>Wie mangelhaft, wandelbar, verschieden sind Gesetzgebungen!</p>
+<p>Unter Vielem, was mir schwer auf der Seele liegt, ist es besonders das
+Geld, welches ich im Amtsgefängnisse einem Bauernknechte herauslockte. Noth
+trieb mich dazu, meine Ansichten vom Eigenthum ließen mir den Schritt um so
+erlaubter erscheinen, weil ich ernstlich an Zurückgabe dachte.</p>
+<p>Du weißt, daß Ersatz unmöglich geworden, weil der Betrogene im Gefängnisse
+an der Schwindsucht starb und keine Seele besaß, die er sein eigen nannte
+außer der eines unserer Mitgefangenen, des Duckmäusers. Doch werde ich
+Alles thun, um den Schaden auf andere Weise gut zu machen.&mdash;&mdash;Ich weiß, daß
+meine frühern Freunde mich als einen schwachköpfigen oder schlauen
+Renegaten verachten und verfolgen werden und beklage mich nicht darüber.
+Der Stolz, ein consequenter und entschiedener Communist gewesen zu sein,
+hat sich in das Gegentheil verkehrt und ich bin wohl am besten dabei
+gefahren. Es ist nicht die Aufgabe des Menschen, auf einem Standpunkte zu
+beharren, namentlich wenn er denselben als einen einseitigen und falschen
+erkennt, sondern sich immer mehr zu vervollkommnen.&mdash;Gegen die furchtbaren
+Gefahren, welche aus der täglich zunehmenden Verarmung, Verdienstlosigkeit
+und Verzweiflung der Massen erwachsen, hat nur die Weltkirche Jesu Christi
+Beschwörungsformeln, denn sie lehrt Leiden ertragen und in Freuden
+verwandeln und zeigt nicht nur den Weg zur ewigen, sondern auch zur
+zeitlichen Wohlfahrt. Im Christenthum als der absolut wahren Religion liegt
+auch die einzig ächte Nützlichkeitsphilosophie, die Lösung der sozialen
+Fragen verborgen. Von der Stellung, welche die verschiedenen Staaten und
+Stäätlein zur Kirche einnehmen, wird der Fortbestand oder Sturz dieser
+Staaten und Stäätlein abhängen. Staaten müssen sich aufrichtig bessern
+gerade wie einzelne Menschen und wenn große Staaten wie Oesterreich und
+Preußen mit gutem Beispiele vorangehen, wenn man das Aufleben kirchlicher
+Gesinnung beim Volke beachtet, darf man ruhiger in die Zukunft blicken.
+Stürme werden nicht ausbleiben, aber die Pforten der Hölle werden Christi
+Kirche nicht besiegen und das revolutionäre Heidenthum wird den Bestand
+<i>christlicher</i> Staaten und das Fortleben <i>christlicher</i> Völker
+nur stören, doch nicht zerstören.</p>
+<p>Aber Religion, positive Religion muß in Palästen und Kabineten, in
+Deputirtenkammern und Amtsstuben so gut als in Hütten wohnen; bei den
+Reichen und Besitzenden muß die Charitas des Mittelalters neu aufleben; das
+positive Christenthum muß Obermacht über das herrschend gewordene
+Heidenthum erlangen, wenn die moderne Gesellschaft nicht ein ähnliches
+Geschick erleben will wie einst die versinkende Römerwelt!&mdash;</p>
+<h3><a name="B5"></a>V.</h3>
+<p>
+&mdash;Sie haben vollkommen recht: die nationalen Eigenthümlichkeiten müssen bei
+Zellengefangenen berücksichtiget werden, ja ich glaube, daß
+Zellengefängnisse für südliche Völker nichts taugen. Der schweigsame,
+kaltblütige Engländer mag sich begnügen mit flüchtigen Besuchen, welche den
+Charakter polizeilicher Controlle tragen, pietistische Tractätlein und die
+Offenbarung Johannis mögen sein Herz nicht mit dem Kopfe davon rennen
+lassen und er mag nichts vermissen, wenn sein Verhältniß zu Beamten und
+Aufsehern nichts Herzliches und Freundschaftliches an sich trägt, nicht
+aber so der Deutsche. Der Hang zum Grübeln und Schwärmen, die Innerlichkeit
+und Gemüthlichkeit des Deutschen ist auch beim Verbrecher zu
+berücksichtigen und darin liegen Anknöpfungspunkte für seine Besserung wie
+für Geistesstörung und Selbstmord. Senden sie schweigsame, spröde
+Korporalstockpedanten in deutsche Zellengefängnisse, geben Sie dem
+Gefangenen nur religiöse Bücher, bestellen Sie für ihn Geistliche, welche
+in religiösen Angelegenheiten das Gefühl zum Dictator machen, und
+verdoppeln Sie die, besonders in den ersten zwei Jahren namhaften, Leiden
+der Einzelhaft durch Strafverschärfungen&mdash;so werden je nach der Dauer der
+Strafzeit unbrauchbare Menschen oder Krüppel aus den Zellen heraustreten,
+manche Zelle der schauerliche Schauplatz eines Selbstmordes und die
+Irrenanstalten mit Rekruten versehen werden.</p>
+<p>Was die <i>Strafverschärfungen</i> angeht, so hat bei uns wie anderswo die
+Liebhaberei dafür so sehr Platz gegriffen, daß man Bruchsal mit mehr Recht
+bald eine <i>neu aufgelegte und vermehrte Abschreckungsanstalt</i> denn
+eine <i>Besserungsanstalt</i> nennen dürfte. Selten wird Einer von den
+Schwurgerichten verurtheilt, ohne eine Anzahl von Hungerkost- und
+Dunkelarresttagen auf den Weg zu bekommen.</p>
+<p>Unstreitig sind Strafverschärfungen und unter diesen vor Allem Hungerkuren
+das wirksamste Mittel, den Stammgästen der Zuchthäuser das Zuchthaus zu
+verleiden oder sie bequem ins Jenseits zu spediren. Gewohnheitsdiebe sind
+ebenso Kinder des Unglücks als der Unverbesserlichkeit, das Zuchthaus ist
+ihre Versorgungsanstalt&mdash;sie gehören zu Jenen, welche leben wollen, ohne
+Geld zu besitzen, und dies ist in unsern "christlichen" Staaten ein so
+unverschämtes Verbrechen, daß Einer von Rechtswegen gleich nach der Geburt
+einen Laufpaß in die Ewigkeit erhalten sollte und zwar aus purer
+"Humanität", denn das Leben der Armen wird mehr oder minder zum langsamen,
+qualvollen Sterben.</p>
+<p>Weil das Heidenthum in den Köpfen unserer Gesetzgeber und Besitzenden
+spukt, deßhalb will ich nichts gegen Strafverfolgungen sagen, die bei
+Gewohnheitsdieben angewendet werden.</p>
+<p>Allein nicht nur alte Zuchthausbrüder, sondern Solche, die zum erstenmal in
+eine Strafanstalt kommen; ferner nicht nur die Sträflinge, welche
+gemeinschaftlich zusammenleben, sondern auch Zellenbewohner werden mit
+Strafverschärfungen bedacht und zudem müssen die Tage der Hungerkost und
+des Dunkelarrestes gemeiniglich in der ersten Zeit der Haft durchgemacht
+werden, weil die Dauer der Strafe häufig eine ziemlich kurze ist.</p>
+<p>Dies erscheint meinem beschränkten Unterthanenverstande nicht klug, nicht
+recht, nicht zweckmäßig. Nicht klug&mdash;denn der Staat muß die Hungerkuren der
+Sträflinge theuer genug bezahlen. Abgesehen von der großen Mühe der
+Beamten, deren Geschäfte vermehrt werden, leidet der Gewerbsbetrieb dadurch
+Noth und wird die Gesellschaft mit arbeitsunfähigen Menschen bereichert.
+Nicht gerecht&mdash;denn anerkannt gilt Einzelhaft schon an sich als eine
+Strafverschärfung und weßhalb sollen Zellenbewohner ärger bestraft werden
+als andere? Zufall, Laune, die Erklärung des Verurtheilten entscheiden
+darüber, ob derselbe in die Zelle komme oder nicht, folglich auch über den
+höhern oder niedern Grad der Strafverschärfung Nicht zweckmäßig&mdash;denn der
+Hunger entkräftet, foltert und tödtet wohl den Leib, doch bessert er den
+Betroffenen schwerlich. Raubvögel werden durch Hunger zahm; diesen muthet
+man keine Arbeit, keinen Besuch der Schule und Kirche, kein gesetzmäßiges
+Verhalten und keine lieb reichen Gesinnungen gegen Mitraubvögel zu, alles
+dieses dagegen hungerigen Menschen; und solche Behandlung soll fühlende,
+bewußte Menschen mit Liebe gegen Mitmenschen entflammen? Den Glauben an
+einen gerechten Gott erwecken? Klingt es nicht wie herber Hohn, Gefangenen
+die Religion der Liebe verkündigen, während man den ganzen Haß der
+Gesellschaft gegen sie fühlbar macht?</p>
+<p>Was den Dunkelarrest betrifft, so ist dieser auch nicht geeignet, das
+Innere des darin Sitzenden zu erleuchten. Einige Tage Dunkelarrest mögen in
+Kasernen und Amtsgefängnissen gut wirken, doch Sträflinge, welche ohnehin
+gefangen sind und bleiben, werden im Allgemeinen dadurch zur Onanie und zum
+Faullenzen angeleitet. Für Sträflinge in gemeinsamer Haft bleibt der
+Dunkelarrest eine oft gar nicht unangenehme kleine Abwechslung, bei
+Zellenbewohnern kann er leicht Anlaß zu Seelenstörungen und Selbstmord
+geben, da ihre ohnehin aufgeregte und reizbare Gemüthsverfassung dadurch
+gesteigert wird.</p>
+<p>Will man doch einmal Sünder gegen das Eigenthum oder gegen Leib und Leben
+Anderer den Thieren gleich stellen, so stelle man sie eher in die Reihe der
+Hausthiere anstatt in die der Raubthiere und führe die <i>Prügelstrafe</i>
+wiederum ein.</p>
+<p>Die Prügelstrafe ist unstreitig die wohlfeilste, wirksamste und für gewisse
+Klassen von Menschen wohl auch die angemessenste und gerechteste aller
+Strafen. Von dem Grundsatze ausgehend, daß nicht sowohl der Mensch im
+Menschen als das Thier in demselben gezüchtiget werde, sollte man für drei
+Fälle von Vergehen Stockprügel auch außerhalb der Gefängnisse bereit haben.
+Erstens für händelsüchtige, rohe Bursche, weiche besonders in weinreichen
+Gegenden, bei Tanzgelegenheiten und anderswo Händel und Schlägereien
+stiften. Zweitens verdienen sittenlose Mannsleute und freche Weibspersonen,
+die am lichten Tage oder im Zwielicht hündische Schaamlosigkeit beweisen,
+den Hunden gleich gezüchtiget zu werden ohne Rücksichtnahme auf Stand oder
+Rang. Drittens endlich verdient Schläge, wer ein Weib schlägt. Uebrigens
+möge uns Gott vor jener guten alten Zeit bewahren, in welcher der Stock das
+A und das O der Beamtenweisheit ausmachte. Einzig und allein in obigen drei
+Fällen möchte ich Prügel für Nichtgefangene empfehlen. Begreiflicherweise
+gibt es in Strafanstalten Leute, für welche Prügel eine große Wohlthat sein
+möchten und ich bleibe überzeugt, daß ein aus lauter Sträflingen
+bestehendes Gericht gar oft auf Prügelstrafe für einen ihrer Kameraden
+erkennen würde.</p>
+<p>Allein nicht einmal im Zuchthause möchte ich die Anwendung von Prügelstrafe
+dem Ermessen des einzelnen Beamten anheimstellen, geschweige Aufsehern und
+Werkmeistern den Stock in die Hand geben. Vorstand, Verwalter, Buchhalter
+und Oberaufseher sollten in geeigneten Fällen durch Stimmenmehrheit für
+oder gegen Anwendung des Stockes und Zwangstuhles entscheiden, jedoch
+niemals, ohne ein Mitglied des s.g. Aufsichtsrathes beizuziehen. Die letzte
+Bestimmung der durchdachten und vortrefflichen Bruchsaler Hausordnung
+heißt: "Gegen solche Straferkenntnisse, wofür theils der Vorstand, theils
+der Aufsichtsrath zuständig ist, steht dem Sträfling der Rekurs, in der
+Regel jedoch ohne aufschiebende Wirkung, an den Aufsichtsrath,
+beziehungsweise an das Justizministerium zu."&mdash;Diese Bestimmung sollte
+überall Aufnahme finden, namentlich wo Prügel einheimisch geworden, denn
+nichts ist so sehr geeignet, das Rechtsgefühl des Verbrechers vollends
+abzustumpfen und zu tödten als ungerechte, willkürliche Behandlung und
+nichts so tauglich, alles Ehrgefühl gründlich zu vernichten, denn
+ungeeignete Prügelstrafe.</p>
+<p>Das Ehrgefühl sollte man im Verbrecher fast mehr schonen und pflegen als
+bei andern Leuten, denn wie ein Mensch ohne Ehrgefühl ein ordentlicher
+Bürger oder erträglicher Christ werden mag, sehe mindestens ich nicht ein.
+Selbst falsches Ehrgefühl ist zehnmal besser als gar keines und großartige
+Selbsterhebung zehnmal besser als gemeine Selbstwegwerfung.</p>
+<p>Bei uns entehrt Zuchthausstrafe an sich und ich halte derartige Ausdehnung
+der Entehrung für die Mutter vieles Schlimmen. Sie stellt Jeden, der eine
+von der dermaligen Gesetzgebung als ehrlos verpönte Handlung begangen, mit
+Sträflingen in Eine Reihe, welche längst jeden Begriff von Ehre verloren
+haben und setzt dadurch seiner Besserung in der Strafanstalt wie seinem
+ehrlichen Fortkommen nach erstandener Strafe mächtige Hindernisse entgegen.</p>
+<p>Entehrung durch Zuchthausstrafe bleibt aber auch ungerecht, so lange die
+Gesetzgebungen nicht alle an sich entehrenden Handlungen mit
+Zuchthausstrafen bedenken. Diese Gesetzgebungen sind sehr mangelhaft schon
+dadurch, daß sie Ein Gebot Gottes mit aller Macht in Schutz nehmen, andere
+dagegen fast ganz außer Acht lassen.</p>
+<p>Namentlich ist unsere Eigenthumsgesetzgebung eines der auffallendsten
+Zeugnisse für die Siege, welche das Heidenthum in unsern christlichen
+Staaten davon getragen. In meinen Augen ist ein Straßenräuber bei weitem
+kein so verächtlicher und ehrloser Mensch denn ein Jungfrauenschänder und
+ein ehrloser, feiger Spitzbube mehr werth als ein Ehebrecher.</p>
+<p>Straßenraub wird furchtbar bestraft, selbst wenn verzweifelte Noth dazu
+trieb&mdash;Jungfrauenschänder mit und ohne Von vor ihrem Namen, mit und ohne
+Epauletten stolziren vornehm an Strafanstalten vorüber und es fällt ihnen
+nicht im Traume bei, daß sie von Gott und Rechtswegen härter als
+Straßenräuber und Spitzbuben bestraft gehören.</p>
+<p>Schändliche Wucherer, gewandte Betrüger ruiniren ihre Mitmenschen innerhalb
+der gesetzlichen Schranken und freuen sich, sobald sie in Zeitungen oder
+anderswo die Entdeckung einer neuen Tortur gegen arme Teufel, die eine
+Kleinigkeit stahlen, zu lesen bekommen.</p>
+<p>Will man gar vom ersten der 10 Gebote anfangen&mdash;doch ich will nicht, denn
+mein Blut fängt an zu sieden und die Hand zittert vor gerechtem Zorn! Man
+geräth in Gefahr, in der That zu glauben, die <i>Armuth</i> sei die einzige
+Todsünde, welche bei der Welt keine Vergebung finde und das
+<i>Erwischtwerden</i> das einzige Verbrechen, insofern man aus dem kleinen
+Zuchthaus in das große hineinschaut und Betrachtungen über Leben, Treiben
+und das Loos der Armen und Reichen sammt Vergleichen zwischen Räubern,
+Dieben, Mördern, Nothzüchtern einerseits und anständigen, honetten,
+besitzenden und oft sogar fromm thuenden&mdash;Schurken anderseits anstellt.</p>
+<p>Ihrem Wunsche gemäß nur noch <i>Ein Wort über Besserung der
+Zellengefangenen.</i></p>
+<p>Ein solcher kann in der Zelle allerdings Beweise von Besserung geben und
+zwar bessere als ein Freier. Sein hartes Loos um Jesu Christi willen still
+und geduldig ertragen, sich der Erfüllung aller Pflichten fröhlich und
+freudig unterziehen, dies vermag er und Sie dürfen fest annehmen, daß ein
+gebesserter Zellenbewohner durch Mienen, Gebärden, Reden und Handlungen
+sich vom ungebesserten unterscheidet.</p>
+<p>Weil alte Verbrecher bei uns in die Zelle kommen, alte und junge häufig nur
+kurze Strafzeit haben und mit Strafverschärfungen bedacht werden, daher mag
+es rühren, daß die Früchte der Einzelhaft bei uns nicht recht sichtbar
+werden wollen.</p>
+<p>Aber noch Etwas, worauf gewöhnlich wenig Gewicht gelegt wird.</p>
+<p>Ein Gefangener mag gebessert sein, d.h. er mag mit lebendigem religiösen
+Glauben das aufrichtige Streben verbinden, nicht nur gesetzmäßig, sondern
+allen göttlichen Geboten gemäß zu leben und nach der Freilassung dennoch
+wieder in alte Ansichten, Fehler, Laster und Verbrechen zurückfallen.
+Warum? Die Gesellschaft trug mehr oder minder Mitschuld an seinem ersten
+Verbrechen, sie gab ihm in der Zelle Gelegenheit und Mittel zur Bildung und
+Besserung, er ergriff dieselben und tritt versöhnt mit Gott und Welt in die
+Freiheit hinaus. Doch was findet er da? Hat die Strafe mit der Entlassung
+ein Ende?</p>
+<p>Gott bewahre, <i>die Strafe wird in anderer Weise fortgesetzt und oft in
+einem Grade, daß ein Heiliger dazu gehörte, um sich nicht in den
+verlassenen Kerker zurückzusehnen.</i></p>
+<p>Zunächst weist ein unpassendes Gesetz den Entlassenen nach Hause und was
+findet er dort? Lieblose Verachtung, ungerechte Vorwürfe, keine Arbeit und
+keine Unterstützung, dagegen böses Beispiel, schlechte Kameraden, Anlaß und
+Gelegenheit zu Lastern und Verbrechen. Der alte Mensch in ihm stirbt nicht
+so leicht und rasch, wie dies zu wünschen wäre, er geräth in Versuchung,
+abermals an Gottes Güte und Gerechtigkeit zu verzweifeln, weil die Menschen
+ihm täglich Ursache geben, an ihnen zu verzweifeln. Er bereut seine
+Besserung, weil dieselbe doch keine Anerkennung und weil er findet, daß
+Andere sich nicht besserten und begeht aus Rachsucht oder Verzweiflung
+manchmal eine That in der Absicht, wiederum ins Zuchthaus zu kommen, wo er
+Nahrung, Kleidung, Wohnung und wenn ein auch noch so kümmerliches doch
+ungeschornes Leben findet.</p>
+<p>Nicht weil nothwendig ein Rückfälliger ehrlos ist, sondern weil die
+Mitmenschen ihn als Ehrlosen behandeln, <i>wird</i> er es wirklich.</p>
+<p>Schließlich noch eine Ansicht über Todesstrafe.</p>
+<p>Ich bin derselben im Ganzen nicht gewogen und sehe in ihr eine Frucht der
+Fortdauer heidnischer und barbarischer Zustände. Doch gibt es Leute, deren
+Gemüth mehr oder minder durchteufelt ist und Verbrechen, welche unter so
+schauderhaften Umständen verübt werden, daß man für den Tod des Thäters
+fast unwillkürlich stimmt, indem man die Opfer der That bedenkt.</p>
+<p>Aber man sollte erstens nach der Verurtheilung Keinen wochen- und
+mondenlang zwischen Tod und Leben hängen lassen, indem man ihm die
+Möglichkeit der Begnadigung übrig läßt; ferner sollte man zweitens dem
+Verurtheilten volle Gewißheit seines Todes geben, ihm den Tag und die
+Stunde desselben verkündigen und mindestens einige Wochen Zeit lassen, sich
+auf seinen Tod vorzubereiten; drittens endlich sollte man Keinen vom
+Schafot zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigen, dessen Verbrechen
+voraussichtlich keine späteren Milderungen der Strafe erwarten läßt.
+Lebenslänglich im Zuchthause sein, heißt langsam und qualvoll hingerichtet
+werden; gebessert aber wird selbst kein zum Tode Verurtheilter, wenn er
+unter Sträflingen lebt.</p>
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Zuchthausgeschichten von einem
+ehemaligen Züchtling, by Joseph M. Hägele
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUCHTHAUSGESCHICHTEN ***
+
+***** This file should be named 16279-h.htm or 16279-h.zip *****
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+Produced by Robert Kropf and the Online Distributed
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+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
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+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
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+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
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+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
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+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
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+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
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+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
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+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
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