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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:19:48 -0700
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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***
+Mein Leben und Streben
+
+Selbstbiographie von Karl May
+
+Band I
+
+Freiburg i. Br.
+Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld
+
+
+Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.
+
+
+
+Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,
+ So gehe ruhig fort, und laß das Klagen.
+Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst
+ Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen.
+
+ (Karl May "Im Reiche des silbernen Löwen")
+
+
+
+ Inhalt.
+
+ _____
+
+
+ I. Das Märchen von Sitara
+ II. Meine Kindheit
+ III. Keine Jugend
+ IV. Seminar- und Lehrerzeit
+ V. Im Abgrunde
+ VI. Bei der Kolportage
+ VII. Meine Werke
+VIII. Meine Prozesse
+ IX. Schluß
+
+ _________
+
+
+ I.
+ Das Märchen von Sitara.
+
+ _____
+
+Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden
+Weges nach der Sonne geht und dann in derselben
+Richtung noch drei Monate lang über die Sonne
+hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara
+heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet
+eben "Stern".
+
+ Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel
+gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein
+Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst
+und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um
+sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um
+die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr
+oder weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile
+aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber während
+man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile
+zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel
+einfacherer Weise gegliedert. Es hängt zusammen. Es
+bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen,
+der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland
+und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland
+zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil
+aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden
+sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen
+und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu
+Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man
+nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger
+Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im
+geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten
+nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen
+Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht
+gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat
+der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich
+auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der
+_Gewalt-_und_Egoismusmenschen._ Das Hochland
+hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im
+Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur
+und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden,
+ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni
+heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches
+Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb
+nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und
+seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem,
+was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die
+Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller
+derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan
+ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden
+Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene
+Land der _Edelmenschen._
+
+ Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von
+finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes
+Gesetz in strenger Kürze lautet: "D u s o l l st d e r T e u f e l
+d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t
+z u m E n g e l w e r d e st!" Und hoch oben regierte schon
+seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie
+großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes
+Gesetz in beglückender Kürze lautet: "D u s o l l st d e r
+E n g e l d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u n i ch t d i r
+s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!"
+
+ Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der
+Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Bürger und eine jede
+Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und
+ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer
+Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein,
+dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische
+Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer
+nach Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es
+da ein Wunder, daß da unten im Tieflande eine immer
+größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand?
+Daß die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen
+sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlösen
+suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den
+Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen
+gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie
+würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht
+existieren können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten
+und Geringsten, sondern grad auch die Mächtigsten, die
+Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer,
+die Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können,
+die Vielbesitzenden, denen arme Leute nötig sind, um
+ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter
+haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen
+Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die
+Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von
+ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen
+diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht
+mehr gäbe? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste
+verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem
+Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten
+Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande
+der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan
+zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht
+durch. Er wird ergriffen und nach der "Geisterschmiede"
+geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden,
+bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend
+in das verhaßte Joch zurückzukehren.
+
+ Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan,
+jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch
+dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle
+und beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist
+ein persisches Wort; es bedeutet "Mann". Märdistan
+ist das Zwischenland, in welches sich nur "Männer"
+wagen dürfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde.
+Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten
+Gebietes ist der "Wald von Kulub". Kulub ist ein
+arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen
+Wortes "Herz". Also in den Tiefen des Herzens lauern
+die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen
+hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen
+will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist
+jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in "Babel und
+Bibel," Seite 78 heißt:
+
+ "Zu Märdistan, im Walde von Kulub,
+ Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.
+ Da schmieden Geister?"
+
+ "Nein, man schmiedet sie!
+ Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
+ Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
+ Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.
+ Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
+ Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
+ Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
+ Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.
+ Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
+ Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.
+ Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
+ Und Alles, was du hast und was du bist,
+ Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
+ Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
+ Gedanken und Gefühle, Alles, Alles
+ Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
+ Bis in die weiße Glut -- -- --"
+
+ "Allah, Allah!"
+ "Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!
+ Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
+ Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
+ Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.
+ Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,
+ Die in der Faust der Parakleten funkelt.
+ Sei also still!
+
+ Man reißt dich aus dem Feuer -- --
+ Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest.
+ Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.
+ Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
+ Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.
+ Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- --
+ Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,
+ Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
+ Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.
+ Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
+ Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- --
+ Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied
+ Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
+ Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
+ Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
+ Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
+ Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg
+ Was noch -- -- --"
+
+ "Halt ein! Es ist genug!"
+ "Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
+ Der schraubt sich tief -- -- --"
+ "Sei still! Um Gottes willen!"
+ u. s. w. u. s. w.
+
+ So also sieht es in Märdistan aus, und so also
+geht es im Innern der "Geisterschmiede von Kulub" zu!
+Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage,
+daß die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren
+werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel
+und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glück
+hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan
+geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme
+Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird
+von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes
+Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die
+ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie
+soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei
+Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten
+einen möglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu
+machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts;
+der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn
+es ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde
+er doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede
+geschleppt, um so lange gefoltert und gequält
+zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu
+widerstreben.
+
+ Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen
+nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so
+groß und so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste Pein
+der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen
+Gesellen "aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
+ruhig dankbar froh entgegenlächelt". Einer solchen
+Himmelstochter kann selbst dieser größte Schmerz nichts
+anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht
+vom Feuer vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und
+sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der
+Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an
+ihr, was nach Ardistan gehört. Darum kann weder
+Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei
+des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen,
+wo jeder Mensch der Engel seines Nächsten
+ist. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ II.
+ Meine Kindheit.
+
+ _____
+
+Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein
+Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein
+Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren
+beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter
+daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war
+zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot
+zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen
+Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals
+steile Schlucht des "Krähenholzes", aus der er sich nicht
+herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht.
+Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als
+der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und
+auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und
+die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine
+verhängnisvolle Zeit gewesen.
+
+ Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem
+damals sehr ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen
+Weberstädtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren
+Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen:
+mein Vater, meine Mutter, die beiden Großmütter, vier
+Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter
+meiner Mutter scheuerte für die Leute und spann Watte.
+Es kam vor, daß sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag
+verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei
+Dreierbrötchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie
+äußerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren,
+unter uns fünf Kinder. Sie war eine gute, fleißige,
+schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie
+man sagte, aus Altersschwäche. Die eigentliche Ursache
+ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwärtig
+diskret als "Unterernährung" zu bezeichnen pflegt. Ueber
+meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters,
+habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser
+Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin, eine Heilige,
+immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut
+stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute.
+Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem
+Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem
+sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre
+Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch
+erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln
+emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen
+saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß
+ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als
+sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange
+lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die
+Leidesspur sofort verwischt.
+
+ Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die
+eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll
+Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er
+besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt
+geblieben waren, der großen Armut wegen. Er hatte
+nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend
+lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem,
+was nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine
+Augen sahen, das machten seine Hände nach. Obgleich
+nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose
+selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen.
+Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig
+brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel.
+Als ich eine Geige haben mußte und er kein Geld auch
+zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem
+fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und
+Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung zu
+erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich sein
+Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn
+Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen
+vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren.
+Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht
+mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand
+durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu
+erzürnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein
+dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen
+hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte
+"birkene Hans", vor dem wir Kinder uns besonders
+scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung
+im großen "Ofentopfe" einzuweichen, um ihn elastischer
+und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die
+zehn Stunden vorüber waren, so hatten wir nichts mehr
+zu befürchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere
+Seele lächelte uns an. Er konnte dann geradezu
+herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten
+und friedlichsten Augenblicken das Gefühl, daß wir auf
+vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment
+einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man
+den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht
+mehr konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes,
+liebes, heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als
+Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem
+Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach Hause
+kam, als ihr erlaubt worden war.
+
+ Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine
+ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe
+dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa
+um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu
+verteidigen, sondern ich bin der Meinung, daß durch die
+Art und Weise, in der man mich umstürmt, jede Antwort
+und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich
+schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn
+die kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht
+erst nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben.
+Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n,
+um über mich klar zu werden und mir über das, was
+ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft
+abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber
+ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch
+gar nicht einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern
+ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was
+diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich
+maßgebend sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche,
+sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden
+Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur für
+dieses, sondern auch für jenes Leben, an das ich glaube
+und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte,
+verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich
+einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir
+wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem
+oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich
+lege es in ganz andere, in die richtigen Hände, nämlich
+in die Hände des Geschickes, der Alles wissenden
+Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern
+nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da läßt sich
+nichts verschweigen und nichts beschönigen. Da muß man
+Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und
+wie es ist, erscheine es auch noch so pietätlos und tue
+es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck "Karl
+May-Problem" erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an
+und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner
+von allen denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen
+oder nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen.
+Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem,
+aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular,
+in die einzelne Individualität transponiert. Und
+genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist
+auch das Karl May-Problem zu lösen, anders nicht!
+Wer sich unfähig zeigt, das Karl May-Rätsel in
+befriedigender, humaner Weise zu lösen, der mag um Gottes
+Willen die schwachen Hände und die unzureichenden Gedanken
+davon lassen, über sich selbst hinaus zu greifen und
+sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der
+Schlüssel zu all diesen Rätseln ist längst vorhanden. Die
+christliche Kirche nennt ihn "Erbsünde". Die Vorväter
+und Vormütter kennen, heißt, die Kinder und Enkel
+begreifen, und nur der Humanität, der wahren
+edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der
+Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die
+Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können. Den
+Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das
+Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links
+eine Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die
+meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit
+waren, mag man dies für unkindlich halten oder nicht.
+Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen
+meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher
+aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige
+zu tun. -- --
+
+ Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten
+Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene
+Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter
+Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein
+dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein
+ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und
+letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn
+Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Taler vor. Das
+war ja ein Vermögen! Das erschien der Armut fast
+wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei
+schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür
+aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben
+unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern
+Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt.
+Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das
+Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und
+die Haustür gab. Dahinter lag ein Raum mit einer
+alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an
+andere Leute vermietet wurde. Es gab glückliche Sonnabende,
+an denen diese Rolle zehn, zwölf, ja sogar vierzehn
+Pfennige einbrachte. Das förderte die Wohlhabenheit
+ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern
+mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad.
+Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von
+Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich
+im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen,
+uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war
+er immer leer. Einmal standen einige Säcke Kartoffeln
+darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem
+Nachbar, der keinen Keller hatte. Großmutter meinte, daß
+es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln
+uns gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir fünf
+Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen.
+Hieran grenzte der Garten, in dem es einen
+Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen
+Wassertümpel gab, den wir als "Teich" bezeichneten. Der
+Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir
+uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn
+wenn das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern
+an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der
+Apfelbaum blühte immer sehr schön und sehr reichlich; da wir
+aber nur zu wohl wußten, daß die Aepfel gleich nach
+der Blüte am besten schmecken, so war er meist schon
+Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren
+uns heilig. Großmutter aß sie gar zu gern. Sie wurden
+täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu
+vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr
+davon, als uns eigentlich zustand. Was den "Teich"
+betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht
+mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir alle
+einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so
+zwischen zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit
+Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten
+Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen
+Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren uns
+auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie
+kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten.
+Einige ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der
+eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir
+am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr
+über ihre Zither freuen als wir über unsere Frösche.
+Wir wußten ganz genau, welcher es war, der sich hören
+leß [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie
+gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so
+sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster,
+um mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und
+uns dahin zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider
+aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen,
+um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen.
+Der hatte überall etwas auszusetzen. Dieser
+ebenso sonderbare wie gefühllose Mann schlug, als er
+unsern Garten und unsern schönen Tümpel sah, die Hände
+über dem Kopf zusammen und erklärte, daß dieser Pest-
+und Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten
+Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn
+Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und
+drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie
+zu töten sei, bei fünfzehn "Guten Groschen" Strafe.
+Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen!
+Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen
+wäre, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und
+was wir beschlossen, wurde ausgeführt. Der Tümpel
+wurde so weit ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen
+konnten. Sie wurden in den großen Deckelkorb getan
+und dann hinaus hinter das Schießhaus nach dem großen
+Zechenteich getragen, Großmutter voran, wir hinterher.
+Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost,
+gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer
+dabei laut geworden, wieviel Tränen dabei geflossen und
+wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten
+Bezirksarzt gefällt worden sind, das ist jetzt, nach über
+sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch weiß
+ich noch ganz bestimmt, daß Großmutter, um dem ungeheuern
+Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung
+gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn
+Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem fünfmal
+größeren Garten erben, in dem es einen zehnmal größeren
+Teich mit zwanzigmal größeren Fröschen gebe. Das
+brachte in unserer Stimmung eine ebenso plötzliche wie
+angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der
+Großmutter und dem leeren Deckelkorb vergnügt nach
+Hause.
+
+ Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind
+war und schon laufen konnte. Ich war weder blind
+geboren noch mit irgendeinem vererbten körperlichen Fehler
+behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kräftige,
+gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals
+krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu
+zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt
+verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer
+erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre
+siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der
+rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes
+und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer
+fiel. Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam,
+kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein
+höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der stark
+genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch
+ehe ich über mich selbst berichte, habe ich noch für einige
+Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste
+Kindheit verlebte.
+
+ Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm
+stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen.
+Hieraus ergab sich, daß wir eben nur mietfrei wohnten,
+und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam,
+Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem maßlos
+war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleiße,
+seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung
+der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein
+konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden
+frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu
+glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch
+an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu
+dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben
+lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun
+ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu
+etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und
+mehr lohnte als die Weberei. Während er, nicht schlafen
+könnend, im Bette lag und darüber nachdachte, was zu
+ergreifen sei, hörte er die Ratten über sich im leeren
+Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte
+sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem
+Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß,
+die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er
+wollte Taubenhändler werden, obgleich er von diesem
+Fache nicht das geringste verstand. Er hatte gehört,
+daß da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der
+Meinung, daß er auch ohne die nötigen Sonderkenntnisse
+genug Intelligenz besitze, jeden Händler zu überlisten.
+Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft.
+
+ Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten
+zu bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel
+opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben.
+Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen,
+welches wir Kinder an ihnen fanden. Am
+meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir beobachteten,
+wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider veränderten.
+Vater hatte zwei Paar sehr teure "Blaustriche" gekauft.
+Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte,
+wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige
+Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie
+waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die
+kostbaren "Blaustriche" entpuppten sich als ganz wertlose
+Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, jungen,
+grauen Trommeltäuberich für einen Taler fünfzehn gute
+Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß der
+Täuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem
+Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und
+ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, daß
+Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um den
+Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich
+gab sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er
+besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften,
+um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er
+Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er "halb geschenkt"
+erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem
+Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er
+brachte immerfort Käse, Eier und Butter heim, die wir
+gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich
+die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde
+sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses
+unstäte [sic], unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß das
+Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen
+Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie
+härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen wäre,
+weiter zu tragen. Da faßte sie einen Entschluß und ging
+zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle
+viel, viel vernünftiger als damals gegen unsere Frösche
+zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm,
+daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor
+allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten
+müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher
+erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne
+noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr
+Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu
+sagen, wie sie dieses Geld anlegen könne, um sich und
+ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor.
+Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte,
+blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen!
+Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte
+er: "Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind
+eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. Unsere
+Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen
+nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme.
+Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten
+Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich
+Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren
+Zensur, so können wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber
+gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort
+einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden!"
+
+ Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie
+kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr
+Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt.
+Während ihrer Abwesenheit führte Vater mit Großmutter
+das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit
+für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir
+Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über
+Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der
+Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen
+unförmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen,
+Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden.
+Der Arzt mußte durch Messerschnitte nach den Lippen
+suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen
+zu können. Sie lebt heute noch, ist die heiterste
+von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man
+sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten
+hat, als er nach dem Mund suchte.
+
+ Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam,
+noch nicht ganz vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt
+in Dresden großes Glück. Sie hatte sich durch
+ihren Fleiß und ihr stilles, tiefernstes Wesen das
+Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase
+erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten
+und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt. Sie war
+aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um
+von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah
+nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge.
+Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen
+gesundend, heim. Aber das Alles hatte große, große
+Opfer gefordert, freilich nur für unsere armen
+Verhältnisse groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben
+willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von
+dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Nötigste
+zu decken. Wir zogen zur Miete. -- --
+
+ Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung
+den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung
+ausgeübt hat. Während die Mutter unserer Mutter in
+Hohenstein geboren war und darum von uns die "Hohensteiner
+Großmutter" genannt wurde, stammte die Mutter
+meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als
+"Ernsttaler Großmutter" bezeichnen lassen. Diese Letztere
+war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast
+möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir
+von Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel,
+aus dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals
+ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles?
+Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die
+heutige Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie
+war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide
+aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich
+nach Erlösung sehnenden Augen an. Und wer in der
+richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der
+hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich
+nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie
+war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter
+früh verloren und einen Vater zu ernähren, der weder
+stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele
+Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt
+und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu
+Tränen rührender Aufopferung. Die Armut erlaubte
+ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube
+zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte
+alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater
+nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer
+im Sarge nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen
+Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber
+sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater
+gehören, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte
+nichts, aber er wartete und blieb ihr treu.
+
+ Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste
+mit noch älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene
+Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich
+als auch weltlich. Es ging die Sage, daß es in der
+Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte
+und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese
+Bücher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten
+lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends,
+nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen *)
+_______
+ *) Kleines Oellämpchen.
+
+angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den
+Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die
+Bücher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer
+wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken
+fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein
+schienen als die früheren. Am meisten gelesen wurde
+ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band,
+dessen Titel lautete:
+
+ Der Hakawati
+
+ d.i.
+
+der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,
+Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,
+explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung
+und Figürlich seyn
+
+ von
+ Christianus Kretzschmann
+ der aus Germania war.
+ Gedruckt von Wilhelmus Candidus
+ A. D: M. D. C. V.
+
+ *
+ * *
+
+ Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller
+orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern
+Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese
+Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich
+gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für
+nötig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen,
+aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist dessen, was
+sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ.
+Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara;
+es wurde später auch das meinige, weil es die Geographie
+und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein
+ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.
+
+ Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen.
+Die Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter
+dem Tode nahe kam, doch überstand sie es. Nach
+verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und
+führte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glücklich!
+Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder
+wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester,
+welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen
+desselben verkrüppelte. Man sieht, daß es an
+Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns nicht
+fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts verschweige.
+Es darf nicht meine Absicht sein, das Häßliche schön zu
+malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes
+trat jenes unglückliche Weihnachtsereignis ein, welches
+ich bereits erzählte. Der brave junge Mann stürzte des
+Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und
+erfror. Großmutter hatte mit ihren beiden Kindern an
+den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach
+langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher
+Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf
+kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der
+napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles
+verwüstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs;
+der Hunger wütete. Ein armer Handwerksbursche kam,
+um zu betteln. Großmutter konnte ihm nichts geben.
+Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen
+Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte
+ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde
+wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen
+hatte, Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe,
+einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte [sic] Mehl,
+eine Düte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges
+Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich
+ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen;
+Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht
+vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere
+Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberförster, den man
+als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die
+Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl
+Kinder hinterlassen. Er wünschte Großmutter zur Führung
+seiner Wirtschaft zu haben. Sie hätte in dieser
+Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklärte aber, sich
+von ihren eigenen Kindern unmöglich trennen zu können,
+selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, hätte. Der
+brave Mann besann sich nicht lange. Er erklärte ihr,
+es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm äßen;
+sie würden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht
+ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der
+höchsten Not!
+
+ Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause
+tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten
+und erstarkten in der besseren Ernährung. Der Oberförster
+sah, wie Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein
+und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast
+über ihre Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er
+beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, daß
+er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewährte,
+was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und
+eigentlich stolz. Er aß mit seiner Schwiegermutter allein.
+Großmutter war nur Dienstbote, doch aß sie nicht in der
+Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber
+nach längerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges
+Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer
+Beziehung an. Er erleichterte ihr die große Arbeitslast,
+erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends
+aus ihren Büchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann
+auch in seine eigenen Bücher zu schauen. Wie gern sie
+das tat! Und er hatte so gute, so nützliche Bücher!
+
+ Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit
+gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich
+kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May
+war der jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker
+mit. Und er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte
+Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er
+noch nicht kannte. Bald wußte er die Namen aller Pflanzen,
+aller Raupen und Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge,
+die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren
+Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen
+zu lernen. Diese Wißbegierde erwarb ihm die besondere
+Zuneigung des Oberförsters, der sich sogar herbeiließ,
+den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich muß das
+erwähnen, um Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige
+Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen
+Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte
+auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.
+
+ In dieser Zeit war es, daß Großmutter während
+des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu
+Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der
+Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag;
+Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber
+sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal
+die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider.
+Sie sah und hörte alles, das Weinen, das Jammern
+um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen
+wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher kam,
+um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde
+sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am
+Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die
+Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit
+der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der
+Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual!
+Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie sich alle mögliche
+Mühe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen,
+daß sie noch lebe -- -- vergeblich! Jetzt kam der letzte
+Augenblick, an dem noch Rettung möglich war. Hatte
+man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung
+mehr. Sie erzählte später, daß sie sich in ihrer
+fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe
+gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln,
+als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten
+Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste Mädchen
+des Oberförsters, welches besonders sehr an Großmutter
+gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus:
+"Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!"
+Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene
+ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd
+öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte nun
+selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden
+andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber
+von da an war ihre Lebensführung noch ernster und
+erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was
+sie in jenen unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle
+zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte.
+Es muß schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist
+ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen
+zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot
+gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten
+wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang
+nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und
+zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich
+es zu verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben
+glaube, nicht aber an den Tod.
+
+ Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz
+überwunden, als Großmutter infolge der Versetzung und
+Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden
+Kindern in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen wurde.
+Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder
+jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein
+braver Mann, der Vogel hieß und auch Weber war,
+hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie
+müsse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie
+ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen;
+war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe.
+Er starb und hinterließ ihr alles, was er besessen hatte,
+die Armut und den Ruf eines braven, fleißigen Mannes.
+Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr
+Mädchen zu einer Nähterin und ihren Knaben zu einem
+Weber, der ihn von früh bis abends am Spulrad
+beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter nichts als
+nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz
+von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während
+seines Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen;
+er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist
+gewiß erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses
+ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die
+Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus
+zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als
+Jüngling seine Pflicht. Er war fleißig und wurde ein
+tüchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und
+Akkuratesse zeigte, daß jeder Unternehmer ihn gern für
+sich arbeiten ließ. In seinen Freistunden aber strich er
+durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die
+Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberförster
+erworben hatte Darum machte es ihm große Freude,
+daß sich unter der oben erwähnten Erbschaft unserer
+Mutter auch einige alte, hochinteressante Bücher befanden,
+deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschäftigungen
+von großem Nutzen war. Ich denke da besonders an
+einen großen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten
+zählte und folgenden Titel hatte:
+
+ Kräutterbuch
+
+Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn Dr. Petri
+Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen schönen
+newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen / vnnd andern
+guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern Fleiß
+gemehret vnnd verferdigt /
+
+ Durch
+ Joachimum Camerarium,
+ der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct.
+
+Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der
+Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann
+die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt.
+Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund
+Brennöfen.
+
+ Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio,
+ in keinerley Format nachzudrucken.
+ Gedruckt zu Franckfurt am Mayn
+ M. D. C.
+
+ *
+ * *
+
+ Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses
+Buch sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es
+enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die
+Namen der Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch,
+böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was
+später besonders mir ganz außerordentlich vorwärts half.
+Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses köstlichen
+Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel
+mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die
+Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer
+ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer
+Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen
+geprüft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen
+versehen, welche sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen
+waren. Dieses Buch wurde mir später eine Quelle der
+reinsten, nützlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen,
+daß Vater mich dabei vortrefflich unterstützte.
+
+ Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung
+biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit
+der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso
+wie das Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele
+und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das
+erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem
+elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt
+ist nicht mehr vorhanden. Darum weiß ich nicht,
+wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk
+stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn sie uns
+die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser
+Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit komme
+ich auf den größten Vorzug, den Großmutter für uns
+Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu
+erzählen.
+
+ Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie
+schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch
+der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit
+auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so
+hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß
+sie das, was sie erzählte, ganz nur für ihn allein
+erzählte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der
+Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets
+ergab sich am Schluß der innige Zusammenhang zwischen
+Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse
+und die Mahnung, daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis
+sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im
+niedrigen sondern nur im höheren Leben liege. Ich bin
+überzeugt, daß sie das nicht bewußt und in klarer
+Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern
+es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht
+bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man
+ihn weder kennt noch beobachtet. Großmutter war eine
+arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von
+Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die
+aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf,
+die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit
+lebten.
+
+ In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen
+von Sitara, sondern das Märchen "von der verloren
+gegangenen und vergessenen Menschenseele" auf. Sie tat
+mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen
+blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Für mich
+enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst
+nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich
+mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt
+hatte, erkannte ich, daß die Kenntnis der Menschenseele
+in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und daß
+alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns
+diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner
+Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und
+in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um
+nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene
+gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm
+Großmutter mich auf ihren Schoß, küßte mich auf die
+Stirn und sagte: "Sei still, mein Junge! Gräme dich
+nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!"
+"Wo?" fragte ich. "Hier, bei mir", antwortete sie.
+"Du bist diese Seele, du!" "Aber ich bin doch nicht
+verloren," warf ich ein. "Natürlich bist du verloren. Man
+hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan.
+Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich
+vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen." -- Ich
+begriff das damals nicht; ich verstand es erst später,
+viel, viel später. Eigentlich war in dieser meiner frühen
+Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als
+Seele. Ich sah nichts. Es gab für mich weder
+Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch
+Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstände
+wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte
+nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte
+sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein
+Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur
+innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war
+seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen
+Körper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres,
+sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich
+nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben,
+auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf
+den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir
+und anderen. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern.
+Das ist die Erklärung zu allem, was man an mir lobt,
+und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind
+gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine
+so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß
+sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine
+ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles
+hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich
+schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu
+kritisieren, _sonst_keiner!_
+
+ Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den
+Eltern, sondern bei Großmutter. Sie war mein alles.
+Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin,
+mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte.
+Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das
+kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverständlich
+ähnlich. Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder
+und fügte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet
+und teils erschaute. Ich erzählte es den Geschwistern
+und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu
+ihnen konnte. Ich erzählte in Großmutters Tone, mit
+ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang
+altklug und überzeugte. Es verlieh mir den Nimbus
+eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So
+kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich wäre
+vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben
+worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr
+und klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand,
+einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit
+gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als
+andere Kinder. Da kann es leicht klüger erscheinen, als
+es ist. Leider besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit
+der Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit
+der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb,
+wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und
+was er sagte. So kam es, daß ich dem Schicksal, dem
+ich hier entging, später doch noch verfiel, dem entsetzlichen
+Schicksal, totgelobt zu werden.
+
+ Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon
+derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen
+festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor
+meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt,
+der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen.
+Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so größeres
+Kind, je größer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem
+die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute
+besitzt, daß keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf
+das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas
+zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe.
+Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung
+gemacht, daß es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir.
+Es handelt am liebsten nicht aus äußerlichen Gründen,
+sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus.
+Die größten und schönsten Taten der Nation wurden
+aus ihrem Innern heraus geboren. Und wäre der Geist
+eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch,
+so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines
+Volkes den Stoff zu einem großen, nationalen Drama
+aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war.
+Und gründen wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von
+Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-,
+Schüler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil
+von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir
+Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in unserm Pedantismus
+und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den
+Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese
+Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit.
+Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch
+heut. Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend
+keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es
+eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der
+Leser will Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen
+Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie
+stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur
+das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität
+angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers
+besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen,
+die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln,
+daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine
+größte Kunst besteht darin, daß er von seinen Figuren
+getrost die Fehler und Dummheiten machen läßt, vor
+denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist
+tausendmal besser, er läßt seine Romanfiguren zugrunde
+gehen, als daß der ergrimmte Knabe hingeht, um das
+Böse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach
+geschehen mußte, nun seinerseits aus dem Buche in das
+Leben zu übertragen. Hier liegt die Achse, um die sich
+unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat.
+Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie
+stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und
+packend, so wird man Positives erreichen.
+
+ Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten
+wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand.
+Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder.
+Gegen Abend versammelten sich die älteren Schulknaben
+unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzählen.
+Das war eine höchst exklusive Gesellschaft. Es durfte
+nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so
+machte man keinen "Summs"; der wurde fortgeprügelt und
+kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich
+bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst
+fünf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und
+vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch
+niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und
+ihren Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich
+mich still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen
+kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir
+das nicht übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen
+gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde
+von Allen geschont. Dann aber, als das vorüber war,
+wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Märchen,
+eine andere Geschichte, eine andere Erzählung. Das war
+viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar
+mit Vergnügen. Großmutter arbeitete mit. Was ich
+in der Dämmerstunde zu erzählen hatte, das arbeiteten
+wir am frühen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe
+aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor
+kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch "Der Hakawati"
+gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß dieser Stoff
+sich mit der Zeit ganz außerordentlich vermehrte, doch
+freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die
+sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß ich
+nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch
+den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare
+Welt der Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen
+hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen
+und Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie
+erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte.
+
+ Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die
+Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten
+Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme
+sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch
+als Lokalschulinspektor sehr gern erfüllte, und mit dem
+Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wöchentlich
+zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen,
+und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von
+dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen
+und schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei,
+und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit
+gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen.
+Es sollte sich nämlich an mir erfüllen, was sich an ihm
+nicht erfüllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick
+in bessere und menschlichere Verhältnisse tun dürfen. Und
+er mußte immer daran denken, daß es unter unsern
+Vorfahren bedeutende Männer gegeben hatte, von denen wir,
+ihre Nachkommen, sagen mußten, daß wir ihrer nicht
+würdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber
+von den Verhältnissen gewaltsam niedergehalten worden.
+Das kränkte und das ärgerte ihn. Für sich hatte er mit
+diesen Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben,
+was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber
+er übertrug seine Wünsche und Hoffnungen und alles
+Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles
+Mögliche zu tun und nichts zu versäumen, aus mir den
+Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt
+gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich von ihm
+nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche
+Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für
+mich gut und glücklich war. Das konnte er nur mit
+guten und glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß
+ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine
+"Kindheit" jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war.
+Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum
+Sehen öffnete. Was diese armen Augen von da an bis
+heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit,
+Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual
+am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende
+peinigt. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ III.
+ Keine Jugend.
+
+ _____
+
+Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe
+ich dich gesehen, wie oft mich über dich gefreut! Bei
+Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht.
+Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen.
+Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum
+Neid habe ich überhaupt keinen Platz in mir; aber wehe
+hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem
+Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten,
+kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz,
+und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wärme.
+Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und
+wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der
+Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen.
+Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und
+kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts
+bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm
+und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der
+immer nur Empfangende!
+
+ Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem
+man sich über mich befindet, gleich von vornherein
+aufzuklären. Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar
+für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte
+bisher nur mein "gutes Auskommen," weiter nichts.
+Selbst hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein,
+denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen
+endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will.
+Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, daß ich
+genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nämlich
+als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut
+aber nichts. Das ist rein äußerlich. Das kann an
+meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts
+ändern.
+
+ Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß mein Einkommen
+180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten,
+sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer
+Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt,
+diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des
+Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte
+sehr wohl, was er tat, als er seine Lüge in die Zeitungen
+lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und
+allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die früheren
+Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber
+seit man mich im Besitz von Millionen wähnt, geht man
+geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor.
+Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner
+Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. Es
+berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen
+Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem
+ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein
+schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines
+Kapital als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter
+nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig.
+Das reicht grad aus für meinen bescheidenen Haushalt
+und für die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen
+Prozessen zu bringen habe. Früher konnte ich meinem
+Herzen Genüge tun und gegen arme Menschen, besonders
+gegen arme Leser meiner Bücher, mildtätig sein. Das
+hat nun aufgehört. Zwar werde ich infolge jener
+raffinierten Millionenlüge jetzt mehr als je mit Zuschriften
+gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich
+kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich
+abweisen muß, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feinde.
+Ich konstatiere, daß jene Gewissenlosigkeit, mich als einen
+steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr
+geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen
+Feindseligkeiten zusammengenommen.
+
+ Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt,
+nun wieder zurück zur "Jugend" dieses angeblichen
+"Millionärs", der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle
+die, welche ihn auszubeuten trachten.
+
+ Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die
+armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat
+liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich,
+sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange
+der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte.
+Arbeitslosigkeit, Mißwuchs, Teuerung und Revolution,
+diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an
+fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft
+gehört. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt
+"Zur Stadt Glauchau", des Mittags die Kartoffelschalen
+aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch
+daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir
+gingen nach der "roten Mühle" und ließen uns einige
+Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um
+irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen.
+Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den
+Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich,
+um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen.
+Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab
+beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die
+auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie
+delikat uns das erschien! Glücklicherweise gab es unter
+den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch
+einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz
+zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so
+außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den Leichen
+anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter,
+solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da
+saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh
+bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte
+die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen
+mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die
+Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten
+wir alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar
+auch zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital!
+Dafür gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf
+fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft
+zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung
+für die verflossene und Anregung für die kommende
+Woche.
+
+ Während wir in dieser Weise fleißig daheim arbeiteten,
+hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu tun; leider
+aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. Es
+galt nämlich, den König Friedrich August und die ganze
+sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten.
+Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der
+König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande
+gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen;
+aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon
+zurück, und zwar aus den vortrefflichsten Gründen;
+es war nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten
+sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da
+kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie
+fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer
+und Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen wollten
+von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten sich
+mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie
+gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen
+die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten;
+sie drohten; sie baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten
+sich zu ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt
+hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch.
+Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und
+warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung; der
+Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am großen
+Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung
+nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden
+und ganz besonders vom Schafott, welches derart
+beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte, sich
+mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es,
+daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von
+der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im
+Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als
+ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht
+mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man
+hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise
+dies am besten geschehe, und da allüberall vom Kampf
+und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es
+sich ganz von selbst, daß auch wir Jungens uns nicht nur
+in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische
+Gewänder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten.
+Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu
+und hatte keine Zeit; ich mußte Handschuhe nähen. Aber
+die anderen Buben und Mädels standen überall an den
+Ecken und Winkeln herum, erzählten einander, was sie
+daheim bei den Eltern gehört hatten, und hielten höchst
+wichtige Beratungen über die beste Art und Weise, die
+Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben.
+Besonders über eine alte, böse Frau war man empört.
+Die war an Allem schuld. Sie hieß die Anarchie und
+wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in
+die Städte, um die Häuser niederzureißen und die Scheunen
+anzubrennen; so eine Bestie! Glücklicherweise waren
+unsere Väter lauter Helden, von denen keiner sich vor
+irgend Jemand fürchtete, auch nicht vor dieser ruppigen
+Anarchie. Man beschloß die allgemeine Bewaffnung für
+König und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit
+alten Zeiten eine Schützen- und eine Gardekompagnie.
+Die erstere schoß nach einem hölzernen Vogel, die letzere [sic]
+nach einer hölzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen
+sollten noch zwei oder drei andere gegründet werden,
+besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum
+Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus,
+daß es in unserem Städtchen eine ganz ungewöhnliche
+Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt
+waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man
+wollte keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es
+waren dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete
+sich glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie
+je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen
+Leutnant; wenn man zu den Schützen und der Garde noch
+neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa
+elf, und alle dreiunddreißig Offiziere waren unter Dach
+und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, wobei
+die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverständlich
+nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor,
+Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim Militär
+gestanden und darum alle dreiunddreißig Offiziere
+einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn
+je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute könnten
+im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es
+bei dem, was beschlossen worden war.
+
+ Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie.
+Er bekam einen Säbel und eine Signalpfeife.
+Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete
+nach höherem. Darum beschloß er, sobald er ausexerziert
+war, sich ganz heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas
+davon bemerkte, im "höheren Kommando" einzuüben. Und
+da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde
+ich einstweilen vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte
+mit ihm tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer
+rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere
+geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war
+bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General;
+ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als
+"Zug", dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf
+wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division.
+Ich mußte bald reiten, bald laufen, bald vor und bald
+zurück, bald nach rechts und bald nach links, bald
+angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den
+Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber
+ich war noch so jung und klein, und so kann man sich
+bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl
+denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer
+Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur
+vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die
+Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu
+haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu
+stolz dazu. Eine sächsische Armee, welche weint, die gibt
+es nicht! Auch ließ der Lohn nicht auf sich warten.
+Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu
+mir: "Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir
+eine Trommel. Du sollst Tambour werden!" Wie das
+mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich
+der Ueberzeugung war, alle diese Püffe, Stöße, Hiebe und
+Katzenköpfe nur zum Wohle und zur Rettung des Königs
+von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben!
+Wenn er das wüßte!
+
+ Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort.
+Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein
+war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut
+gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin
+später, als ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe,
+Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde
+diese Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf
+Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast
+täglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil
+es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten
+und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute
+nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor.
+Es gab auch an andern Orten "Königsretter". Die standen
+miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald
+der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen
+und für den König alles zu wagen, unter Umständen sogar
+das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser Befehl.
+Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten.
+Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf
+dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister
+Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd
+geborgt und saß da mitten drauf. Es war keine leichte
+Sache für ihn, zwischen dem Kommandanten, dem
+Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn
+der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau
+Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre
+Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt.
+Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch
+gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man
+war überhaupt nur begeistert. Keine Spur von
+Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und
+Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel,
+dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr
+Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch
+der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe
+der einzelnen Hauptleute: "Achtung -- -- Augen
+rechts, rrrricht't euch -- -- Augen grrrade aus -- --
+G'wehr bei Fuß -- -- G'wehr auf -- -- G'wehr präsentiert
+-- -- G'wehr über -- -- Rrrrechts um -- --
+Vorwärts marsch!" Voran der Herr Adjutant auf dem
+geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem
+türkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der
+Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schützen,
+die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so
+marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts
+zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche
+vorüber, dem wir damals unsere Frösche anvertrauten,
+nach Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach
+der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger
+marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das
+Weichbild des Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber
+stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn
+Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustür,
+dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester
+des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine
+Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen
+Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glühend;
+sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle
+meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten
+Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem
+Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu
+rauchen, das Stück zu zwei Pfennige. Die mußte ich
+ihm vom Krämer holen, weil er sich schämte, so billige
+selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die
+Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch
+er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig
+begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er:
+
+ "Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche
+Begeisterung für Gott, für König und Vaterland!"
+
+ "Aber was bringt sie ein?" fragte die Frau
+Kantorin.
+
+ "Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre
+Glück!"
+
+ Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte
+es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da
+stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder
+und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt
+hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten
+liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir
+merken! Später hat dann das Leben an diesen drei
+Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen
+sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist
+geblieben.
+
+ Von allen, die heut ausgezogen waren, um große
+Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul
+zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten
+übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als
+Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe,
+das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder
+gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der
+Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit
+seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein
+Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel
+geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche
+aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die
+die Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter
+Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic]
+geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften.
+Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar
+nicht traurige Kunde, daß man aus Freiburg [sic] die Weisung
+erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar
+nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden
+eingerückt und so stehe für den König und die Regierung
+nicht das Geringste mehr zu befürchten. Man kann sich
+wohl denken, daß es heut nun keine Schule und keinerlei
+Arbeit gab. Auch ich empörte mich gegen das Handschuhflicken.
+Ich riß einfach aus und gesellte mich den wackeren
+Buben und Mädels zu, welche elf Kompagnieen bilden
+und ihren heimkehrenden Vätern entgegen ziehen sollten.
+Dieser Plan wurde ausgeführt. Wir kampierten bei den
+Wüstenbränder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten
+kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag
+den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten
+Frauen und Mütter standen, um uns alle, Groß und Klein,
+teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen.
+
+ Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des
+tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich
+habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen
+meines Schicksals zusammengeflossen sind. Daß ich trotz
+allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen
+Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann,
+wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze
+schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen
+verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber
+auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die
+alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten.
+Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors
+vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern
+zu Geist und Seele geworden sind.
+
+ Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine
+ruhigen, früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder
+Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule
+genügte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als
+das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine
+Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden,
+umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr
+Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell
+treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So
+kam es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli
+übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte
+für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr
+Kantor mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo
+das nicht angängig war, da komponierte er selbst. Und
+er war Komponist! Und zwar was für einer! Aber er
+stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach,
+von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch
+das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er
+Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und
+blaue Leinenhosen kleiden können und sah einen Taler für
+ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte.
+Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht.
+Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war
+mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier-
+und Violinspieler, konnte er auch die komponistische
+Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und hätte
+es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn
+ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen
+wäre. Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den
+angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde,
+da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal,
+um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können.
+Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn
+mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu
+fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die
+Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein
+wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der
+Ehe als zweiunddreißigfüßiger "Prinzipal" ertönte, während
+dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften
+"Vox humana" zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem
+Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse
+mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und
+daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und
+Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wußte
+das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich
+verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes,
+sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht
+das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und
+er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges
+Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich
+nicht. Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen
+Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren,
+tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen.
+Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur
+an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies
+verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein
+tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für
+das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu
+sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den
+begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen
+kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor
+konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine
+ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit,
+die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel,
+die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem
+die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.
+
+ Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht.
+Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen
+zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz
+selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm,
+ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike
+gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde
+in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube
+gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe
+finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und
+wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr
+Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus:
+"Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine
+Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne".
+Manchmal hieß es auch "sie hat Vapeurs". Was das
+war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung
+von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der
+Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte,
+wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht
+gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus,
+daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit
+es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die
+Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das
+in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt
+noch nicht.
+
+ Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte,
+so auch in dem, was er meine "Erziehung" nannte.
+Notabene mich "erzog" er; um die Schwestern bekümmerte
+er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf
+gesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von
+ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine
+glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung.
+Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der
+Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten
+stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige
+Entwickelung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte
+das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten
+auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter,
+womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das
+allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies
+war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad
+in diesen, sondern in andern Worten äußerte. Man sieht,
+er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit
+von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er
+wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu
+können. Leider aber war er sich über die Wege, auf
+denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu
+erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen
+Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war
+zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte
+nicht, daß selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels
+dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein Gramm,
+kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte
+keine Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er
+dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen
+zuzusteuern. Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen
+so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe,
+und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.
+
+ Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen,
+aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das
+Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei
+Jahre ältere Schwester ein. Dann wurden die Schulbücher
+älterer Knaben gekauft. Ich mußte daheim die
+Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren.
+So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines,
+weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Uebel,
+von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich
+glaube, daß sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was
+für ein großer Fehler da begangen wurde. Sie gingen
+von der anspruchslosen Erwägung aus, daß ein Knabe,
+den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz
+einfach und trotz seiner Jugend in die nächst höhere Klasse
+zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder
+weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte
+sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu,
+daß ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den
+elf- und zwölfjährigen saß. In Beziehung auf meine
+geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule
+freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig;
+seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen
+Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, daß
+ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig
+und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in
+die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen
+kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern
+Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter
+Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und
+schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen
+Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war
+gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde
+von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche
+hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen
+ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht über
+dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal
+zu lächeln. Der Erzieher, der sich im Reiche der
+Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen
+Augenblick zögern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder
+erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will
+festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht
+verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen.
+Das, was man als "Jugend" bezeichnet, habe ich nie gehabt.
+Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund
+ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste
+Folge davon ist, daß ich selbst noch heut, im hohen Alter,
+in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd.
+Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie
+verstanden, und so ist es gekommen, daß um meine Person
+sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich
+ganz unmöglich zu unterschreiben vermag.
+
+ Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte,
+beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und
+auf die Schularbeiten. Er holte allen möglichen
+sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl
+befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen
+zu können. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich
+mußte es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, daß
+ich es dadurch besser behalten könne. Was hatte ich da
+alles durchzumachen! Alte Gebetbücher, Rechenbücher,
+Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich
+kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus
+dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, mußte ich ganz
+abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die
+stimmten natürlich längst nicht mehr! Ich saß ganze
+Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige
+Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verfütterung
+und Ueberfütterung sondergleichen. Ich wäre
+hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich
+mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so
+überaus kräftig entwickelt hätte, daß er selbst solche
+Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab
+auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte
+nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land
+zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran
+nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich die, daß kein
+Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde. Die
+Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen seiner
+reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber
+es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und
+bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer
+Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr
+Kämmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann
+Lippold und andere, um Kegel zu schieben
+oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und
+ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich gehöre zu ihm.
+Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen,
+weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm, in der
+Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch nicht besser
+aufgehoben war, dafür hatte er kein Verständnis. Ich
+konnte da Dinge hören, und Beobachtungen machen, welche
+der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens
+war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft
+außerordentlich mäßig. Ich habe ihn niemals betrunken
+gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmäßiges
+Quantum ein Glas einfaches Bier für sieben Pfennige
+und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder für sechs
+Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei
+besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen
+für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals
+gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen
+mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der
+sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens
+mußten doch wissen, daß ich da selbst auf erlaubten und
+vollständig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber
+sehr aufmerksamer Zuhörer in Dinge und Verhältnisse
+eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen
+hatten. Ich wurde nicht frühreif, denn dieses
+Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen,
+und davon bekam ich nichts zu hören, sondern etwas noch
+viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit
+herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt,
+auf dem meine Füße das Gefühl haben mußten, als ob
+sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann
+fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei ihr mich
+in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten konnte! Freilich
+war ich viel zu jung, um einzusehen, daß dieses Reich
+sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Für
+mich hatte es keine Füße; es schwebte; es konnte mir
+erst später, wenn ich mich zum Verständnis emporgearbeitet
+hatte, die Stütze bieten, die mir so nötig war.
+
+ Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte,
+die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es
+gab Theater. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges
+Puppentheater, aber doch Theater. Das war im
+Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz
+zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die
+Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter
+hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige für uns beide.
+Es wurde gegeben: "Das Müllerröschen oder die Schlacht
+bei Jena." Meine Augen brannten; ich glühte innerlich.
+Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich.
+Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie
+faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf
+König und für Vaterland. Das war es ja, was der
+Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein
+Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren,
+mußte Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen
+bewegt werden.
+
+ "An einem Holzkreuze," erklärte sie mir. "Von diesem
+Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder
+der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man
+oben das Kreuz bewegt."
+
+ "Aber sie sprechen doch!" sagte ich.
+
+ "Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den
+Händen hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen
+Leben."
+
+ "Wie meinst du das?"
+
+ "Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber
+verstehen lernen."
+
+ Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten,
+nochmals zu gehen. Es wurde gespielt "Doktor Faust
+oder Gott, Mensch und Teufel." Es wäre ein resultatloses
+Beginnen, den Eindruck, den dieses Stück auf mich
+machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der
+Göthesche Faust, sondern der Faust des uralten
+Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie
+eines großen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch
+etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten
+Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei
+um Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens.
+Ich hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit,
+obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war,
+damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust
+hätte mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt
+mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er
+der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen;
+aber diese Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was
+sie sagten, das war groß, unendlich groß, weil es so
+einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann
+zu Gott zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit
+sich bringt! Und die Fäden, diese Fäden; die alle nach
+oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles,
+alles, was sich da unten bewegt, das hängt am Kreuz,
+am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht
+an diesem Kreuze hängt, ist überflüssig, ist bewegungslos,
+ist für den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren
+Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber
+Großmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht
+so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah,
+das begann ich doch zu ahnen. Ich mußte als Kurrendaner
+Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und
+ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals
+einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber ich
+bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller
+Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich
+tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen
+habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem
+Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als
+eine Stätte erschienen, durch deren Tor nichts dringen
+soll, was unsauber, häßlich oder unheilig ist. Als ich
+den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstück
+ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das
+sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen
+Menschheit gewesen, und ein großer, berühmter deutscher
+Dichter, Wolfgang Goethe geheißen, habe daraus ein herrliches
+Kunstwerk gemacht, welches nicht für Puppen, sondern
+für lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich
+schnell ein: "Herr Kantor, ich will auch so ein großer
+Dichter werden, der nicht für Puppen, sondern nur für
+lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?"
+Da sah er mich sehr lange und unter einem fast
+mitleidigen Lächeln an und antwortete: "Fange es an, wie
+du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen
+sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst."
+Diesen Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen;
+aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr
+bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch
+und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und
+geblieben, und der Gedanke, daß die meisten Menschen nur
+Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern
+bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen
+Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein
+Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der Waffen,
+das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in den
+Händen hält, um das Volk der Menschen zu beeinflussen,
+das ist niemals sofort, sondern immer nur erst später an
+den Folgen zu ersehen.
+
+ Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die
+nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das
+Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt,
+an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe.
+Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in
+Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein
+Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise
+waren mehr als mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter
+Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter
+Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser
+Billigkeit blieb täglich über die Hälfte der Sitze leer.
+Die "Künstler" fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor
+wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht
+mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser
+Retter war -- -- -- ich. Er hatte beim Spazierengehen
+meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide
+berieten. Das Resultat war, daß Vater schleunigst nach
+Hause kam und zu mir sagte: "Karl, hole deine Trommel
+herunter; wir müssen sie putzen!" "Wozu?" fragte ich.
+"Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal
+über die ganze Bühne herumzutrommeln". "Wer ist
+die Preziosa?" "Eine junge, schöne Zigeunerin, die
+eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den
+Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurück und findet
+ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke
+Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht
+Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das
+"Haus" voll, so gibt der Herr Direktor dir fünf
+Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts.
+Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe."
+
+ Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne
+schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke
+Knöpfe! Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne
+herum! Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden
+Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel
+sehr pünktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich
+gefiel sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau
+Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor
+lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein
+schnelles Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr
+leicht. Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit
+dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen.
+Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig
+herunter, denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt
+und ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die fünfzig
+Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen Zigeunerumzug
+voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse,
+die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der
+jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten
+Schloßvogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand
+emporhob, so war dies das Zeichen für mich, meinen Marsch
+sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen
+Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden.
+Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren.
+Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe mit.
+Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über dreißig
+Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste.
+Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut
+mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum
+Fenster hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich
+hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung
+einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin
+strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum
+war schon jetzt derart gefüllt, daß schnell ganz vorn
+noch einige "Logen" eingerichtet wurden mit dem Preise
+von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch
+verkauft. Vater, Mutter und Großmutter hatten
+Freiplätze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein
+höchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte
+sich so allgemein verbreitet, daß die Frau Direktorin sich
+bewogen fühlte, mir meine fünf Neugroschen schon ehe
+der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche
+zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit und meine
+künstlerische Begeisterung bedeutend.
+
+ Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke
+meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte
+in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in
+der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der
+Bühne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich
+schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging
+nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara
+und noch irgend wer standen auf der Bühne. In der
+gegenüberliegenden Kulisse lehnte der Schloßvogt Pedro,
+der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit
+einem so energischen Schritte kommen, daß er glaubte,
+ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium.
+Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren.
+Ich aber nahm das ganz selbstverständlich für das
+verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter
+mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und
+marschierte hinaus, rund um die Bühne herum. Don
+Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz
+starr. "Lausbub!" schrie mir der Schloßvogt zu, als ich
+an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus,
+um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon
+war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte
+man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber
+bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nämlich
+dreimal rund um die Bühne herum. "Lausbub!" brüllte
+der Schloßvogt, als ich zum zweiten Mal an ihm
+vorüberkam, und zwar tat er das so laut, daß es trotz des
+Trommelwirbels auch hinaus- und über den ganzen Zuschauerraum
+schallte. Lautes Gelächter antwortete von dorther;
+ich aber begann meine dritte Runde. "Bravo, bravo!"
+erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich
+Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der
+den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, faßte
+meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und die
+Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich an:
+
+ "Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte
+doch auf!
+
+ "Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!"
+rief man im Zuschauerraum lachend.
+
+ "Ja, weiter, immer weiter!" antwortete auch ich, indem
+ich mich von ihm losriß. "Die Zigeuner haben zu kommen!
+Raus mit der Bande, raus mit der Bande!"
+
+ "Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!"
+schrie, brüllte und johlte das Publikum.
+
+ Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel
+von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch
+nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter,
+und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst
+der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu
+meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das
+Publikum nicht zufrieden. Es rief: "Heraus mit der
+Bande, heraus!" und wir mußten den Umzug von neuem
+beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schluß
+des Aktes mußte ich noch zweimal heraus. War das
+ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr
+zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor ließ
+mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf,
+die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der
+Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine Sache
+gut machen würde, versprach er mir noch weitere fünfzig
+Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf mein
+Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der Beifall
+zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal
+trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe
+die "hohen Herrschaften" zu bitten, sich noch nicht gleich
+zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und
+von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts
+zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, übermorgen und
+auch fernerhin unmöglich abgegeben werden könnten. Als
+Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles
+hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache
+folgende Fassung gegeben: "Also rrrrein mit der Hand
+in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!"
+
+ Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem
+Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten
+Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der
+hohen Direktion als auch diejenigen aller übrigen
+Künstlerinnen und Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen,
+denn ich bekam nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen,
+sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches für den
+ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt.
+Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar für Stücke,
+in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab
+es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche
+Gefahr für die Zuhörerschaft, denn als der Herr Direktor
+sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei
+dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zärtlichen
+Liebesszenen so ängstlich aus seinen Stücken streiche,
+antwortete er: "Teils aus moralischem Pflichtgefühl und teils
+aus kluger Erwägung. Unsere erste und einzige Liebhaberin
+ist zu alt und auch zu häßlich für solche Rollen."
+
+ In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach
+dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen
+hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb
+einer späteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht
+gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen
+herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr häufig,
+obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten,
+sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken
+sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich
+jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand
+ich nichts davon und ließ mir von der leeren, hohlen
+Oberflächlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere
+größere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche
+Stücke schrieben, die auf die Bühne gegeben wurden,
+kamen mir wie Götter vor. Wäre ich ein so bevorzugter
+Mensch, so würde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen
+erzählen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Märchen,
+von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede
+von Kulub, von der Erlösung aus der Erdenqual und
+allen anderen, ähnlichen Dingen! Man sieht, ich befand
+mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich
+aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch
+mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in
+die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten
+Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch
+Anderes kam hinzu.
+
+ Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß
+war ich evangelisch-lutherisch getauft worden,
+genoß evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und
+wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war,
+evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer
+Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs.
+Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als
+sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher
+Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche
+seines Kirchenamtes religiösen Haß zu säen. Unsere
+Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am
+meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter,
+die waren alle drei ursprünglich tief religiös aber von
+jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich
+in keinen Streit einläßt und einem jeden vor allen Dingen
+die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das,
+so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ
+erweisen. Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem
+Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen. Da
+sagte der erstere: "Ein Eiferer ist niemals ein guter
+Diplomat." Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits
+gesagt, daß ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal
+in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies
+gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe täglich gebetet,
+in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut.
+Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang
+beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit,
+Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut
+noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.
+
+ Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus
+gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede
+Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles,
+Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige
+religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu
+beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck.
+Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden,
+welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren,
+beteiligten sich am darauf folgenden grünen Donnerstag
+zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen
+Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung,
+sonst während des ganzen Jahres nicht,
+standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu
+beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun.
+Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock,
+Bäffchen [sic] und weißes Halstuch. Sie standen zwischen
+dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten
+und hielten schwarze, goldgeränderte Schutztücher
+empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen
+Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende
+gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere
+Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese
+frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare
+wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.
+
+ Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am
+ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des
+Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die
+Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias
+Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies
+ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehörte
+Mut dazu, und es kam nicht selten vor, daß der Organist
+dem kleinen Sänger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn
+vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe
+diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde
+sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir
+fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise
+meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen
+den Zeilen meiner Bücher. Wer als kleiner Schulknabe
+auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener
+Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat,
+daß ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens
+kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich
+nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem
+durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn
+alle andern Sterne verlöschen.
+
+ Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird
+jetzt wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf
+einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester
+Halt nach dem andern unter den Füßen hinweggenommen
+wurde, so daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft
+zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der
+Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr
+viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der
+Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark
+und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter
+mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie
+Fatalisten behaupten würden, von allem Anfang verfallen
+war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen
+beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten
+Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut noch
+liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen,
+durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen,
+endlosen Qual geworden ist.
+
+ Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim
+richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht
+etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet,
+sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt,
+langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand
+meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie
+ich, wohin dieser Weg uns führte. Meine erste Lektüre
+bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel
+mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf
+folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit
+und Gegenwart, die es im Städtchen gab. Dann alle
+möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte.
+Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer
+Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als
+Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum
+letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt
+das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm
+da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich,
+wenn auch nur scheinbar, müßig stand. Und er war
+gegen alle Beteiligung an den "Unarten" anderer Knaben.
+Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie
+andern anzupreisen. Ich mußte stets zu Hause sein, um
+zu schreiben, zu lesen und zu "lernen"! Von dem
+Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn
+er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er
+nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf
+dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah,
+wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun
+zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte,
+war dies höchst gefährlich. Saß ich dann betrübt oder
+gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buche, so kam
+es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und
+erbarmend sagte: "So geh schnell ein bißchen hinaus;
+aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er
+dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!" O, diese
+Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da
+wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der
+schlage in meinen "Himmelsgedanken" das Gedicht auf Seite
+105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine
+Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh
+herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die
+für mich und meine Leser als "Menschheitsseele" gilt.
+
+ Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal
+von Büchern jeden Genres in Privathänden befand,
+zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon
+abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen
+Quellen um. Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken
+des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des
+Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier
+als der Vernünftigste von allen. Er sagte, Bücher zur
+Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum
+Lernen, und für diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu
+jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er
+meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den
+lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche
+Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine
+lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte,
+doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:
+
+ "Ein buer [sic] lernen muß,
+ Wenn er will werden dominus,
+ Lernt er aber mit Verdruß,
+ So wird er ein asinus!"
+
+ Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und
+meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein asinus,
+sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleißig
+lateinisch lernen!
+
+ Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den
+Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika auszuwandern.
+Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist so viel
+wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich ganz
+von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet
+auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein
+Buch in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder
+mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre
+1782 in Berlin gedruckt und "Seiner Königlichen Hoheit,
+Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen" gewidmet.
+Darum mußte es gut und von sehr hohem Werte sein!
+Der Titel lautete: "Chansons maçonniques", und zu der
+Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige
+Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:
+
+ "Nons vénérous de l'Arabie
+ La sage et noble antiquité,
+ Et la célèbre Confrairie [sic]
+ Transmise à la postérité".
+
+ Das Wort "Freimaurerlieder" reizte ganz besonders.
+Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei
+eindringen zu können! Glücklicherweise erteilte der Herr
+Rektor für Privatschüler auch französischen Unterricht.
+Er gestattete mir, in diesem "Zirkle" einzutreten, und so
+kam es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen
+und Französischen zugleich zu befassen hatte.
+
+ Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen
+weniger zurückhaltend als der Herr Kantor.
+Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte
+von geographischen und ethnographischen Werken, die er
+meinem Vater alle für mich zur Verfügung stellte. Ich
+fiel über diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und
+der gute Herr freute sich darüber, ohne irgendein doch
+so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf
+eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern
+mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung
+zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten,
+als vielmehr in den Büchern aus, die er besaß. Zu derselben
+Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek.
+Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern
+nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine
+mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich
+schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir
+zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu
+dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften
+von Redenbacher und andern guten Menschen fügte. So
+kam es, daß ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung
+der islamitischen Wohltätigkeit vor mir liegen hatte
+und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht,
+in welchem über das offensichtliche Nachlassen der
+christlichen Barmherzigkeit bittere Klage geführt wurde. In
+der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland
+und alle jene "Großen" kennen, welche der Wissenschaft
+mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek
+des zweiten alle jene andern "Großen", denen die religiöse
+Offenbarung himmelhoch über jedem wissenschaftlichen
+Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein
+Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge;
+aber noch viel törichter als ich waren die, welche mich
+in diese Konflikte fallen und sinken ließen, ohne zu wissen,
+was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen
+Büchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein;
+mir aber mußte es zum Gifte werden.
+
+ Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche
+Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt werden,
+und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise
+zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner
+Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder
+Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine
+Uebung besaß, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich
+Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche
+Qualen! Und was habe ich noch außerdem dafür geopfert!
+Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und
+heizbarer, so daß er zur Sommer- und zur Winterszeit und
+bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde
+täglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie
+Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag.
+Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis
+zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war der
+Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes,
+an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre
+Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkäufe zu machen und --
+last not least -- eine Partie Kegel zu schieben. Aus
+dieser einen aber wurden fünf, wurden zehn, wurden
+zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, daß ich
+mich von Mittags zwölf Uhr an bis nach Mitternacht
+zu schinden hatte, ohne auch nur fünf Minuten ausruhen
+zu können. Zur Stärkung bekam ich des Nachmittags
+und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes,
+zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein
+mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte,
+mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister
+anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen
+Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie
+notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der
+Betrag, den ich da wöchentlich zusammenbrachte, war gar
+nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum
+und außerdem für jedes Honneur, welches geschoben wurde,
+einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern
+frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz
+eine doppelte oder dreifache Höhe. Es hat Montage
+gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach Hause
+brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu unserer
+Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.
+
+ Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung?
+Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde
+zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel
+Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen,
+daß es sich hier nicht um Leute handelte, welche
+das kannten, was man unter Rücksicht oder gar Zartgefühl
+versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge
+kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was
+ich da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute
+Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches
+da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich
+heraus zu mir. Alles, was Großmutter und Mutter
+in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr
+Rektor auch, das empörte sich gegen das, was ich hier
+zu hören bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift
+dabei. Es gab da nicht jene kräftige, kerngesunde
+Fröhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben,
+sondern es handelte sich um Leute, welche aus der
+brusttötenden Atmosphäre ihres Webstuhles direkt in die
+Schnapswirtschaft kamen, um sich für einige Stunden
+ein Vergnügen vorzutäuschen, welches aber nichts weniger
+als ein Vergnügen war, für mich jedenfalls eine Qual,
+körperlich sowohl als auch seelisch.
+
+ Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch
+viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche
+böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar
+was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich
+und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche
+Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte
+sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in
+den beiden Städtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts.
+Die einzige Veränderung, die sie erlitt, war die, daß die
+Einbände immer schmutziger und die Blätter immer schmieriger
+und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde
+von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen,
+und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner
+Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich einmal
+gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte,
+gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, mögen
+einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der
+Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo
+Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini,
+der wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle auf
+dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige [sic] Bandit.
+Die schöne Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten
+Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der
+Gesetze. Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans
+von Hunsrück oder der Raubritter als Beschützer der
+Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von
+Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am
+Hochgericht. Der König als Mörder. Die Sünden des
+Erzbischofs u. s. w. u. s. w.
+
+ Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine
+Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher,
+einstweilen darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne
+sie alle lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las
+sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch!
+Ich nahm sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte
+lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte
+nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht,
+die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen.
+Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl
+daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte
+nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir
+zusammenbrach. Daß die wenigen Stützen, die ich, der
+seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun
+auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein
+Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.
+
+ Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung
+begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und
+Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide
+auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede
+nachzuweisen. Man behauptet, daß der Mensch nicht
+Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem
+anschließen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst
+im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine
+kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln.
+Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen
+war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur
+das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon
+gehabt, aber was für eine Wirkung! Es war zu einem
+kleinen, monströs dicken, wasserköpfigen Ungeheuer
+aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja
+vielleicht außergewöhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu
+einer unartikulierten geistigen Mißgestalt verwandelt, die
+nichts Wirkliches besaß als nur ihre Hilflosigkeit. Und
+seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach
+oben nur an dem erwähnten starken, unzerreißbaren Tau
+und wurde nach unten nur dadurch an der Erde
+festgehalten, daß ich für König und Vaterland, Gesetz und
+Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle
+Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an
+denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet
+hatten, den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und
+seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun
+aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar
+durch die Lektüre dieser schändlichen Leihbibliothek. Alle
+die Räuberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen
+ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren,
+das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch
+ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden.
+Sie besaßen wahre Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe,
+eine grenzenlose Wohltätigkeit und warfen sich
+zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrückten und
+Bedrängten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung
+und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Männer
+aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der
+Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor
+allen Dingen die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der
+Bewegung, die in diesen Büchern herrschte! Auf jeder Seite
+geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend
+eine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern
+hatte. Was dagegen war in all den Büchern geschehen,
+die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Traktätchen
+des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden
+Jugendschriften? Und was geschah in den sonst
+ganz guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors?
+Da waren große, weite und ferne Länder beschrieben,
+aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde
+Menschen und Völker geschildert; aber sie bewegten sich
+nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie,
+nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte.
+Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen
+standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch
+kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden in die Hand
+zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es
+gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt
+verlangt, nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles
+an, weil er allein es ist, für den die Bücher geschrieben
+werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder
+Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet für sie den Tod.
+Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser
+Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten
+und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hände nimmt!
+Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so
+wird dieser auch schon erfüllt. Und welche bewundernswerte,
+unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder
+gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann
+sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder böse
+Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, Feldherr,
+Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft.
+Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche
+Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit
+und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen
+Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht!
+Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den
+Rinaldo Rinaldini geschrieben!
+
+ Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in
+meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner
+Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam
+die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in
+hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da
+las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit.
+Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger,
+desto mehr; sie wurde aber von uns andern überstimmt.
+Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, von "edlen"
+Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten.
+Daß sie diese Reichtümer vorher andern abgestohlen und
+abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das
+nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige Menschen durch
+so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden
+seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein,
+wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich
+hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler
+auf den Tisch zählte und dabei sagte; "Das ist für euren
+Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der
+Theaterstücke schreibt!" Das letztere war mir nämlich,
+seit ich den "Faust" gesehen hatte, zum Ideal geworden.
+
+ Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen Bücher
+nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst
+meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen
+Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist
+gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine
+einzige solche Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive
+geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige
+Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen
+verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die
+Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung
+zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger!
+das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat,
+die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht
+etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern
+es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten
+Verbrechertum.
+
+ Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was
+nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich
+wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf
+die Universität. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle
+Mittel. Ich mußte mit meinen Wünschen weit herunter
+und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu
+waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der
+Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem
+Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm
+verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann.
+Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen
+können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern
+von Humanität und Nächstenliebe und war unser
+Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns
+einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten,
+recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar
+keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines
+Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das
+hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber
+wir glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie
+auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu
+Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum
+Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete
+die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen. Sie
+schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen,
+nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten,
+also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben
+würde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit.
+Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: "Meine
+liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie
+sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott,
+den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen
+hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch
+Kinder wie Sie und muß für sie sorgen. Ich kann Ihnen
+also die fünf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost
+nach Hause, und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz
+gewiß zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat
+und sie Ihnen gibt!"
+
+ Das war abends. Ich saß da und las in einem
+Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was
+Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus
+Empörung über solche Art der Frömmigkeit, als über die
+Abweisung selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand
+er auf und ging. Unter der Tür aber sagte er: "Einen
+solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf
+das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten
+soll!" Als er fort war, saßen wir andern noch
+lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen.
+Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf
+Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch,
+in dem ich gelesen hatte, führte den Titel "Die
+Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller
+Bedrängten." Als Vater nach Hause gekommen und dann
+eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich
+aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich
+einen Zettel: "Ihr sollt euch nicht die Hände blutig
+arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!" Diesen
+Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen
+trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von
+meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die
+Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf,
+aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann
+gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die
+Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über
+Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach
+Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus
+der Not. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ IV.
+ Seminar- und Lehrerzeit.
+
+ _____
+
+Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und
+in ihren Früchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst
+heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist,
+und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in
+dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich
+nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt
+er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese
+in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das,
+was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße
+verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf
+anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung,
+daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke.
+Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphäre
+eines "Gewordenen" genau kennt und richtig zu
+beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen,
+welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen
+Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen
+Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der
+größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen
+Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze
+führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch
+noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit
+aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug
+Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch
+begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn
+es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden
+müßten. Und gewöhnlich sind es nicht etwa die
+Fernstehenden, sondern grad die lieben "Nächsten", welche
+Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die
+Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen
+mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld,
+die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.
+
+ Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus
+denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen,
+so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend
+welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf
+andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut
+sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein
+muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche
+Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau
+zu untersuchen.
+
+ Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe
+bei einander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre
+Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischen
+einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der
+Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen
+Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden,
+dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus
+zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt.
+Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und
+Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände
+zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es
+hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal
+zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken
+pflegt, "das erste Licht der Welt erblickte". Die
+ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind
+diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur
+in materieller, sondern auch in anderer Beziehung.
+Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige
+Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der
+Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen
+Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an
+der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung
+bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft
+überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es
+wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine
+Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und
+Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung
+zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden
+Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen,
+die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und
+zerhackt werden mußten, damit, wenn die Haussuchung
+kam, nichts gefunden werden könne. Es galt für die
+armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren.
+Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein
+"Stück zu Markte". Für jeden Fehler, der sich zeigte,
+gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar
+mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann
+wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der
+Heiterkeit und -- -- -- dem Schnaps gewidmet. Man
+fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum.
+Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen Familien
+sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern
+regierte die Karte. Da wurde "gelumpt", "geschafkopft"
+oder gar "getippt". Das letztere ist ein verbotenes
+Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte.
+Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging
+von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während
+der Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem
+Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen.
+Da saß man im Grünen und trank. Schnaps war
+überall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man
+betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm
+seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz
+von selbst verstände.
+
+ Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über
+die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in
+ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden
+Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien,
+die man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht.
+Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch
+gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt,
+dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen,
+sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war
+die ganze Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige
+und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt,
+die man jetzt kaum mehr für möglich hält. Im persönlichen
+Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als
+die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel,
+welches ich da anführe, diene der Name Wolf. Es gab
+einen Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf,
+einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter
+Wölfe. Die Häuser waren klein, die Gassen
+eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen
+und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast
+zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben. Und
+da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen
+Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg.
+Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man
+ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam
+dadurch zur immerwährenden, aber stillen Hechelei [sic], zur
+niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus,
+welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das
+war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne daß
+man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie Gift. So
+hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein
+lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte,
+verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel
+zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um
+sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen
+Karten zu üben. Sie etablierten sich in einer vor der
+Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer
+aus, um Opfer einzufangen. Da saß man nächtelang
+und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da mit
+vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben
+war im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von
+jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man
+sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich
+darüber, anstatt daß man diese Betrügereien verwarf.
+Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen
+Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete,
+man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das
+geringste von allem, was man von ihnen wußte. Daß
+hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge
+gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und
+daß jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich,
+streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das
+leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt hätte,
+daß dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen
+Tiefstand bedeute, der wäre wohl ausgelacht worden, oder
+gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefühl war
+irregeführt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man
+die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der
+alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände man
+verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden
+Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der
+Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener
+Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um
+ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der
+ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete
+es. Man ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend
+aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte
+den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien
+bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und
+so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde
+einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf
+geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat
+oder nicht?
+
+ Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren
+die beiden Namen "Batzendorf" und die "Lügenschmiede".
+Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche
+und schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück.
+Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder
+Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux,
+aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam. Batzendorf
+hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen
+Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles
+aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das
+allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten
+Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer
+Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf,
+den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert
+und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie
+zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin
+zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter. Sie mußte die
+Stunden ansagen und tuten. Jede Behörde und jede
+Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel-
+und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische
+gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da
+kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten
+Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu
+werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung
+zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne
+Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung
+eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft
+sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz
+war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor
+war noch älter und glaubte von allem das Beste. Er
+sagte immer: "Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!"
+Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben.
+Der Herr Kantor schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden,
+öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber
+unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu
+warnen: "Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen
+Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie und auch nicht
+gut für den Karl. Was man da treibt, ist alles weiter
+nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und
+Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand
+rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu
+sehen noch zu hören bekommen!"
+
+ Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses "Batzendorf",
+in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine
+ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille,
+heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt. Da lockerten
+sich "die Bande frommer Scheu". Da gab es wöchentlich
+etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten
+der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten
+und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt
+zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer
+Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung
+kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber
+einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war
+eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen
+sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein geführt
+und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin
+stecken lassen müssen. Dem Unbegabten schadet das weniger;
+in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem
+Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage
+treten, nicht mehr einzudämmen sind.
+
+ Die "Lügenschmiede" war etwas neueren Datums.
+Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine
+Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache
+selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in
+Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich
+satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswürdige
+Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen
+durch diese Begabung ihr Glück machen können,
+so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen
+hangen und konnten also auch nur Kleinliches und
+Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war
+wirklich schade um sie!
+
+ Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und
+Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die
+Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und
+Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft
+zu errichten, aber natürlich mit Restauration,
+denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese
+Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen;
+aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar
+ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lügenschmiede
+und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied.
+Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgästen
+saß allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer
+konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon
+bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich,
+ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu
+widerstehen war. Er wurde "gemacht", wie man es
+nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen
+stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine
+wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er
+mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er
+sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und
+mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle
+die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen.
+Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende
+von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder,
+dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgästen
+anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog
+beschämt von dannen.
+
+ Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte
+einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte
+er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er
+einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm
+Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner
+weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn
+Jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere
+Gäste hatten keine so gewöhnlichen Witze zu befürchten.
+Die ließ man warten. "Der muß erst noch reif werden,"
+pflegte der Lügenschmied zu sagen. Und Jeder wurde
+reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob
+studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig.
+Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem
+Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast,
+der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier
+sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm.
+Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister.
+Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und
+rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene
+dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann
+vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht. Er
+konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe
+dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei
+gescheiter als alle, ihn könne niemand foppen. Einem
+andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut'
+Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt. Er sei einem
+Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten
+Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen
+das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen.
+Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam
+aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig
+gesunden Bruder zurück. Auch die Herren von der
+Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch
+nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet
+wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen,
+und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse
+zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne
+unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete,
+wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach
+und nach aus. Die Witze wurden gewöhnlicher; sie
+verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein
+Jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen
+machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen. Der
+Geist ging aus. Was früher wirklicher Humor, wirkliche
+Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen
+war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit,
+zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen
+Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede ist jetzt
+verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht.
+Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten
+Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch
+heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und
+zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen
+verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter
+ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten
+Umkreise rund über das Land gegangen, und leider,
+leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer
+darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages
+leiden müssen. Daß meine Gegner es wagen konnten,
+den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit
+bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln
+und mich sogar als Marktweiberbandit und Räuberhauptmann
+durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum
+größten Teil durch die Lügenschmiede ermöglicht, deren
+Stammgäste gar nicht bedachten, was sie an mir
+begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen
+über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten
+traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück
+und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich über
+jene Falschspielergesellschaft, über "Batzendorf" und über
+die "Lügenschmiede" zu berichten hatte, sind nur einige
+kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner
+Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus
+erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich
+und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in
+den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen,
+will dies aber gern und mit Vergnügen unterlassen,
+weil ich kürzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel
+sich dort verändert hat. Ich hatte meine Vaterstadt
+schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner
+meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde,
+sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttäuscht.
+Das meine ich nicht äußerlich, sondern innerlich.
+Ich habe der Städte und Orte genug gesehen; da
+kann mich nichts überraschen und auch nichts enttäuschen.
+Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden
+Menschen zunächst und vor allen Dingen seine Seele
+kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden
+Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals
+war zwar noch die alte; das sah ich sofort;
+aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie
+hatte ein anderes, besseres und würdigeres Aussehen
+bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang
+beobachten zu können, und darf wohl sagen, daß mir
+diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand
+Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich
+begegnete einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie
+früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn,
+mehr Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse
+zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in
+das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich
+gehoben und zeigte die Fähigkeit, sich auch fernerhin und
+zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten,
+aus denen in Wirklichkeit "Etwas geworden" war. Das
+war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte.
+Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter
+mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern
+die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, von
+gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War
+dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her?
+Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet werden
+kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend,
+stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe
+aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen
+Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere
+und von Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare
+Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder
+sein möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten
+vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit
+jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit
+dem Erfolg kommt auch der Segen.
+
+ Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun
+zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in
+der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln
+spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube
+ja nicht, daß dies eine "verrückte" Idee gewesen sei. Ich
+war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch
+kindlich, aber doch schon wohlgeübt. Der Fehler lag
+daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den
+Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun
+einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie,
+mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit
+dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.
+
+ Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag.
+In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von
+uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich
+auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen
+hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen.
+Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt.
+Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und
+machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort
+anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir
+rund um den Tisch, und ich erzählte in aller
+Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum.
+Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute.
+Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie
+waren über mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei
+einem Räuberhauptmann suchen! Sie wußten sich zunächst
+keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten,
+und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen
+Vater hereintreten sahen. Er, der jähzornige, leicht
+überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich.
+Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges
+Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte:
+"Mach so Etwas niemals wieder, niemals!" Dann ging
+er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.
+
+ Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser
+Zeit still nebeneinander hergegangen; er führte mich an
+der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals,
+wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom
+Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich.
+Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches
+Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und
+er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt
+in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach
+Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner
+Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich
+müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde
+nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und
+das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf. Als
+dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe
+ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden
+zu müssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für
+mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau,
+ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung
+von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für
+mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu
+Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand
+ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu
+Waldenburg und wurde dort interniert.
+
+ Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist!
+Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden!
+Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als
+den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich
+derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir
+Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich
+stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde,
+hoch über sie hinausragend, hob sich das über
+alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem
+ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war:
+Stücke für das Theater schreiben! Ueber das Thema
+Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer
+nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz
+gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht
+fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die
+grüne Mütze trug! Wie stolz auch meine Eltern und
+Geschwister! Großmutter drückte mich an sich und bat:
+
+ "Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du
+noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan.
+Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen.
+Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten
+wollen!"
+
+ "Und die Geisterschmiede?" fragte ich. "Muß ich
+da hinein?"
+
+ "Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,"
+antwortete sie. "Bist du es aber nicht wert, so wird
+dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen."
+
+ "Ich will aber hinein; ich will!" rief ich mutig aus.
+
+ Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und
+sagte lächelnd:
+
+ "Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß
+ihn nie in deinem Leben!"
+
+ Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber,
+falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das
+niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen,
+daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben
+zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen
+Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen
+werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste,
+unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen,
+und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst
+anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen
+Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz
+ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht
+abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und
+wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte
+festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz
+besonderen Art, in welcher die Theologie und der
+Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab
+täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder
+Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz
+richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore
+in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab
+außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und
+ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend.
+Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen
+wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in
+Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz
+selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht,
+nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die
+Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde,
+keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war
+kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie.
+Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die
+Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche
+man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte.
+Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf
+erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu
+Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben
+Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen
+Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben
+Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte
+Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und
+das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder
+einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und
+durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen
+lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen;
+das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen
+Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein
+sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts
+gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so
+religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die
+Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und
+bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch
+heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar
+habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner
+Mitschüler fürchtete.
+
+ Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse
+geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe
+habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren
+und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses
+Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar
+vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem,
+die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und
+wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen
+das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig;
+ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit
+fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück.
+Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr
+als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder,
+als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den
+Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.
+
+ Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das
+darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei
+zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts
+weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete
+Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten
+Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich
+mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren
+Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an
+und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß
+ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei.
+Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel
+gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert
+und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses,
+stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte,
+daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte
+mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine
+stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen
+Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das
+ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das,
+was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war
+wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen
+hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und
+dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht
+beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen
+meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der
+Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen
+Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als
+daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam.
+Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war,
+als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen
+hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das
+begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns
+lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit
+des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fügte
+man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen,
+deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. Bei mir
+aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich
+hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt,
+aber keinen einzigen tragenden, stützenden
+Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste
+Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig
+besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich
+einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem
+sie sich daheim zu fühlen vermochte. Und das Schlimmste
+hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war
+nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von
+den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das
+begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich
+umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen
+davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen.
+Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die
+Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche
+mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich
+fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit
+wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir.
+Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich
+aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich,
+wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor
+mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner
+seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu
+reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in
+Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht
+gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer
+anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt,
+so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus,
+keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine
+Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und
+einfach stehen lassen.
+
+ Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang
+nach geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und
+hatte demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im
+Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich
+erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was
+ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern
+etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was
+schrieb ich da? Ganz selbstverständlich eine
+Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverständlich, um gedruckt
+zu werden! Von wem? Ganz selbstverständlich von der
+"Gartenlaube", die vor einigen Jahren gegründet worden
+war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war
+ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein.
+Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete,
+bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb
+ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren
+Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein
+Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu
+senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst
+geschrieben, vier große Quartseiten lang. Ich war fern
+davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war. Er
+kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich
+mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst
+gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne
+es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte. Gegen
+den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am
+Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die
+Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt
+sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder
+eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte.
+Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die
+Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht. Das
+war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen
+habe. Damals freilich hielt ich es für einen absoluten
+Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber.
+Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar
+in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in
+dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal
+überfiel, aus welchem meine Gegner so überklingendes
+Kapital geschlagen haben.
+
+ Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die
+Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von
+jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende
+als "Wochner" bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten
+Klasse einen "Ordnungswochner" und in der zweiten einen
+"Lichtwochner", welch letzterer die Beleuchtung der
+Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah
+damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines
+niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde.
+Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten,
+wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die
+Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten
+zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach
+weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder
+anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren
+allgemein als wertlos anzusehen.
+
+ Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe,
+Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese
+Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem
+Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage
+vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche
+abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die
+Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es
+Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach
+Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch
+jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen
+der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut
+daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst.
+Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das
+Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das
+hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert [sic]
+werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld
+dazu. Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter.
+Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten
+ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine
+Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber
+wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren
+Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu
+fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das
+Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich
+soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt
+hatte. "Könnte man denn nicht daraus einige
+Pfenniglichte machen?" fragte sie. "Ganz leicht,"
+antwortete ich. "Man braucht dazu eine Papierröhre und
+einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht,
+denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu
+gebrauchen." "Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch
+eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört
+dieser Abfall?" "Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn
+zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder
+nicht, ist seine Sache." "Also wäre es wohl nicht
+gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause
+nähmen?" "Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem
+Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige
+wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus
+machen wir drei kleine Weihnachtslichte."
+
+ Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer
+Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse,
+also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen
+Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser
+wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich
+nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging
+fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor
+kam in eigener Person, den "Diebstahl" zu untersuchen.
+Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab
+den "Raub", den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte
+wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen
+"infernalischen Charakter" und rief die Lehrerkonferenz
+zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden.
+Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet.
+Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte
+gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der
+Schwester -- -- -- in die heiligen Christferien -- --
+-- ohne Talg für die Weihnachtsengel -- -- -- es waren
+das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe
+wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für
+mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen
+sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen
+in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich
+lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern
+unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die
+unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken
+und Heiden verfahren würden.
+
+ Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus
+und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete,
+verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich
+erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen
+Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen.
+Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite,
+und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen,
+worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt,
+bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine
+Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich
+erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine
+Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu,
+der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst,
+sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.
+
+ Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück.
+Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere
+Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich
+als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen
+konnte, eine wenn auch noch so bescheidene
+Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen.
+Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es
+auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir,
+um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen.
+Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen,
+ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf das
+Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht
+absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr,
+die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu
+richten hat, fast unentbehrlich ist.
+
+ Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden
+war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er
+machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß
+auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher
+beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert;
+er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er
+seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte
+ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar
+wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen
+war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine
+Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam
+ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm möglichst gefällig
+und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte,
+als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete
+ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand
+sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue
+Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr
+brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand.
+Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er
+bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte
+aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so
+sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch
+in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen
+hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag,
+seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu
+stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich
+ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der
+ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule
+zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb
+das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der
+Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht
+mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich
+vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen
+mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr,
+an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder
+gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er
+duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen
+absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung
+nicht behage.
+
+ Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich
+die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und
+verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule
+gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung
+zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr
+ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar
+nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in
+meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; daß
+sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr
+gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern
+Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein
+so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich
+besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum
+Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir
+begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten.
+Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale,
+die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen.
+Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich.
+Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir
+endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit
+wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine
+innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich
+bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor
+mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer
+und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller
+werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle
+inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten
+Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz
+für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen
+Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war
+der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach
+dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine
+Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen.
+Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich
+der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er
+mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur
+Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich
+ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst
+in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß
+eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich,
+schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner
+Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit
+angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich
+niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine
+Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig
+zu fragen:
+
+ "Sie sind arretiert! Wissen Sie das?"
+
+ "Nein," antwortete ich, tödlich erschrocken.
+"Warum?"
+
+ "Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr
+gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet,
+bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer
+abgesetzt!"
+
+ Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl,
+als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf
+geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine
+Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung
+und Gefängnis!
+
+ "Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur
+geborgt!" stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.
+
+ "Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben
+Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht
+sehen! Schnell, schnell!"
+
+ Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger
+klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb
+aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und
+die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand
+vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber.
+Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern
+im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies
+geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich
+abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so
+kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz
+der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man
+nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die
+Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer;
+ich war ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz
+vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die
+Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und
+Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.
+Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich
+zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel,
+zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine
+Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage
+sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig
+entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen
+Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich
+erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge
+ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich
+im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner
+Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich
+mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann
+in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter
+wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder
+kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz
+gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder
+aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten
+vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik,
+noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle,
+an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich
+stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter.
+Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den
+Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich
+sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz
+anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend.
+Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen.
+So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt.
+Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben
+zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere
+verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt?
+Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will,
+gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden
+als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es
+ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu
+bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das
+auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf der
+Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen
+Vorwurf zu machen.
+
+ Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich
+damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser
+Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor
+mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu
+leisten, vorher aber Großes zu lernen. Das Erstere war
+falsch. Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht
+hinter mir, sondern vor mir. Und das Große, was ich
+zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe
+zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei
+hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen. Dies ist die
+schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und
+ich glaube, ich habe sie gelöst. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ V.
+ Im Abgrunde.
+
+ _____
+
+Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden
+Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen
+aber die interessanteste ist. Es liegt mir in der schreibenden
+Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung
+jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung
+zu geben, welche am besten geeignet wäre, das, was damals
+in mir vorgegangen ist, für den Fachmann begreiflich
+zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen
+Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine
+Bücher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche,
+Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde infolge
+dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen
+bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der
+nicht allgemein verständlich ist.
+
+ Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie
+ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den
+Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht.
+Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder
+auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer
+Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es
+grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung
+verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete,
+ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein
+Rechtsmittel ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß
+nur noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte,
+zwei andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene.
+Man schien mich also für ungefährlich zu
+halten, sonst hätte man mich nicht mit Personen
+zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren. Der Eine
+war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier. Weshalb
+sie in Untersuchung saßen, das kümmerte mich nicht. Sie
+zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mühe, mich aus
+dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich
+befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich verließ die
+Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben
+Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging
+heim, zu den Eltern.
+
+ Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter
+noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe
+zu machen. Und das war geradezu entsetzlich! Als ich
+damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien
+wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen,
+ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrüben, und es
+war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen!
+Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir
+nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun
+da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht
+erst seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für
+immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende
+die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten
+Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen,
+lernen, lernen! Am Großen, Schönen, Edlen mich
+emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt
+als Bühne kennen lernen, und die Menschheit, die sich
+auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren,
+arbeitsreichen Lebens für die andere Bühne schreiben, für das
+Theater, um dort die Rätsel zu lösen, die mich schon seit
+frühester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar
+fühlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff!
+
+ Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang
+war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich
+aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das
+strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab
+nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah,
+als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht
+war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und
+sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch
+auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank.
+Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse,
+zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte
+den schärfsten Einblick in alles, was außer mir lag; aber
+sobald es sich mir näherte, um zu mir in Beziehung zu
+treten, hörte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande,
+mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich
+selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen kam ein
+Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu wissen, was
+ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis
+zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich
+ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem
+Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen
+Zustandes geistig sehr wohl bewußt, besaß aber nicht
+die Macht, ihn zu ändern oder gar zu überwinden. Es
+bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein
+Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit,
+ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen,
+sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab
+es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald
+gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander
+unterschieden.
+
+ Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das
+Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war
+und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es
+besaß große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte
+alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets
+nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel,
+einer jener reinen, beglückenden Gestalten aus Großmutters
+Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte,
+wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam
+war. Die dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern
+seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, häßlich,
+höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe
+ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört.
+Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie
+sprach. Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nächte
+lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute,
+sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war.
+Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst
+jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie
+einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt
+und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut
+und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal
+gesehen hätte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte
+auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf,
+aus dem Kegelschub oder aus der Lügenschmiede. Heut
+sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der
+Raubritter Kuno von der Eulenburg und übermorgen
+wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem
+Talgpapiere stand.
+
+ Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit
+einem Male, sondern nach und nach. Es vergingen viele,
+viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten,
+daß ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das
+Gedächtnis festhalten konnte. Und da begann ich zu
+begreifen, um was es sich eigentlich handelte. Was sich in
+jedem Menschen vollzieht, ohne daß er es bemerkt oder
+auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah
+und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade?
+Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig,
+sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese Beobachtungen
+mit einer Objektivität und Kaltblütigkeit, als ob es sich
+nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir
+vollständig fremden Menschen handle. Und ich lebte das
+gewöhnliche, alltägliche Leben ganz so, wie jede gesunde
+Person es lebt, die von derartigen psychologischen
+Vorgängen nicht angefochten wird. Es kehrte mir die Kraft
+und der Wille zum Leben zurück. Ich arbeitete. Ich
+gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich
+dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine
+Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte,
+einzuüben und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder
+dieser Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins,
+mit dem ich öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend.
+Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst
+Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten". Ich hatte
+nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende
+Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt.
+Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere.
+Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich
+entwickelte. Aber diese Freude wurde in der grausamsten
+Weise durch eine andere Entwicklung vergällt, die sich
+zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern
+vollzog. Die Spaltung dort griff weiter um sich. Jede
+Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen zu
+wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen,
+mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren
+wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie
+hören. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher
+außer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die
+helle und die dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen.
+Und je länger es dauerte, daß sie sich von einander
+unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften
+da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander:
+Großmutters helle, lichte Bibel- und Märchengestalten
+gegen die schmutzigen Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner
+Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die
+übererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren
+wurde, gegen die beglückenden Ideen des Hochlandes,
+nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten
+Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden
+Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft
+schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen
+die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die
+Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat,
+um zum Edelmenschen zu werden.
+
+ Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch,
+der vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es
+Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten.
+Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich
+zu sichtbaren und hörbaren Gestalten verdichtet. Ich sah
+sie bei geschlossenen Augen, und ich hörte sie, bei Tag und
+bei Nacht; sie störten mich aus der Arbeit; sie weckten
+mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mächtiger
+als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen
+Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte Ruhe
+in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu
+arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede
+wollte die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam
+es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen
+eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte
+ich ohne Streit und Störung vollenden. Bei einer ernsten
+Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen für
+und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich
+regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt,
+sondern genauso straft, wie man sündigt. Hiergegen
+empörten sich gewisse Gestalten in mir. Den größten
+Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten
+oder meiner Lektüre noch höhere Linien bestieg. Wenn
+ich mir ein religiös oder ethisch oder ästhetisch hohes
+Thema stellte, empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit
+aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz
+unaussprechlich sind. Um zu zeigen, in welcher Weise
+das vor sich ging und was für Qualen das waren, will
+ich ein erläuterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag
+erhalten, eine Parodie von "des Sängers Fluch"
+von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die Parodie bekam
+den Titel "des Schneiders Fluch". Ein Schneider
+verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen und
+winziges Gärtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbüsche
+standen. Bei der Verfluchung des Häuschens kam es
+zu folgenden Zeilen:
+
+ "Die Hypotheken lauern
+ Schon heut auf euern Sturz.
+ Ihr hörts, verruchte Mauern,
+ Ich mach' es mit euch kurz!"
+
+Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestört zu
+sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste
+Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt verschwand;
+sie trauerte, denn mein Können reichte zu Besserem und
+Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein Lehrgedicht
+zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen
+gegenwärtig sind:
+
+ "Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,
+ Das euer Heiland euch gelehrt
+ Und es in euren eig'nen Landen
+ Befolgt und mit Gehorsam ehrt,
+ Dann einet sich zu einem Strome
+ Die Menschheit all von nah und fern
+ Und kniet anbetend in dem Dome
+ Der Schöpfung vor dem einen Herrn.
+ Dann wird der Glaube triumphieren,
+ Der einen Gott und Vater kennt;
+ Die Namen sinken, und es führen
+ Die Wege all zum Firmament."
+
+ Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu
+diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat
+eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln
+der lichten Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken
+eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden. Ich griff
+zur Feder. Da aber war es plötzlich, als ob ein schwarzer
+Vorhang in mir niederfalle. Die Klarheit war vorüber;
+die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf,
+höhnisch lachend, und überall, durch mein ganzes inneres
+Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen "des
+Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
+Fluch u. s. w.!" So klang es stunden- und stundenlang
+in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die geringste
+Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich,
+wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir,
+sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich
+gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch
+war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und
+zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich
+aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam,
+auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich
+Schweigen ein. Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen,
+halten mußte, so griff ich bald wieder zur Feder.
+Sofort erklang der Stimmenchor von neuem "des
+Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!" und als ich
+trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte,
+kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu "Die Hypotheken
+lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte
+Mauern, ihr hörts, verruchte Mauern!" Das ging den
+ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann
+noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hörte
+es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt.
+Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber
+nicht. Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich. Ich
+setzte es trotz aller Gegenwehr durch, daß mein Gedicht
+zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber derartige Siege
+hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann
+innerlich zusammen.
+
+ Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung
+meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und
+Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch
+auf meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun.
+Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs
+Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge
+unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte,
+die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir
+einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich
+sah sie nicht; ich sah nur die finstere, höhnische
+Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner
+Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie
+beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen sträubte,
+so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und so zu
+ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die
+Hauptsache war, daß ich mich rächen sollte, rächen an
+dem Eigentümer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur
+um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rächen an
+der Polizei, rächen an dem Richter, rächen am Staate,
+an der Menschheit, überhaupt an jedermann! Ich war
+ein Mustermensch, weiß, rein und unschuldig wie ein
+Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft,
+um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß
+ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein
+Verbrecher.
+
+ Das war es, was die Versucher in meinem Innern
+von mir forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte,
+so weit meine Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich
+damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine
+ethische, eine streng gesetzliche, eine königstreue Tendenz.
+Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst
+zur Stütze. Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist
+mir das geworden! Wenn ich nicht tat, was diese lauten
+Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit
+Hohngelächter, mit Flüchen und Verwünschungen überschüttet,
+nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und
+ganze Nächte lang. Ich bin, um diesen Stimmen zu
+entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen
+und das Schneegestöber gelaufen. Es hat mich
+fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat
+fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch
+es zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand
+erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar
+übermenschlich ich kämpfte, weder Vater noch Mutter noch
+Großmutter noch eine der Schwestern. Und noch viel
+weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man hätte mich
+ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach für
+übergeschnappt erklärt. Ob irgend Jemand an meiner Stelle
+das ausgehalten hätte, daß weiß ich nicht, ich glaube es
+aber kaum. Ich war sowohl körperlich als auch geistig
+ein kräftiger, sogar ein sehr kräftiger Mensch, aber ich
+wurde dennoch müder und müder. Es kamen zunächst
+Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig
+dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch
+gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte
+Gestalt in mir vollständig verschwunden. Das dunkle
+Wesen führte mich an der Hand. Es ging immerfort
+am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun,
+was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur
+noch wie im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch
+wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so
+wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich
+unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat,
+sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit
+führte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte,
+Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne
+zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu
+bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es
+wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich
+ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem
+Bewußtsein gehandelt haben kann. Ich weiß von der
+darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr,
+weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich
+auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich
+habe bis jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre
+Gefängnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber
+in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber
+gewesen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß
+der Abgrund nicht vergeblich für mich offengestanden hatte.
+Ich war hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis
+Zwickau eingeliefert.
+
+ Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite,
+habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche
+Anschauungen zu wenden, die sich gegen Alles, was mit dem
+Strafvollzug zusammenhängt, richten und mit denen nun
+doch endlich einmal aufgeräumt werden sollte. Ich habe
+manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber
+unberechtigter Erbitterung drohen hören, daß er nach seiner
+Entlassung ein Buch über seine Gefangenschaft schreiben
+werde, um die ebenso schweren wie unzähligen Mängel
+unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzuges aufzudecken.
+Ein verständiger Mann lächelt über solche Drohungen,
+die zwar ausgesprochen, aber nur höchst selten ausgeführt
+werden. Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefühl
+besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu
+haben. Es fällt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur
+wenige wußten, nun, da es überstanden ist, an die volle
+Oeffentlichkeit zu bringen. Er schweigt also. Und das
+ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewiß
+beweisen würde, daß unter tausend Gefangenen kaum einer
+ist, der über sich und seine Bestrafung unbefangen und
+sachgemäß zu urteilen vermag. Ich aber glaube, mich
+zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet
+zu haben; ich halte mein Urteil für wohlerwogen und
+richtig und fühle mich verpflichtet, hier folgende Punkte
+festzustellen:
+
+ Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als "Verbrecherschulen"
+bezeichnet werden durften, sind längst vorüber.
+In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch
+und nicht weniger human als in der Freiheit zu.
+
+ Das, was man einst als "Verbrecherwelt" brandmarkte,
+gibt es nicht mehr. Die Bewohnerschaft der
+heutigen Strafhäuser rekrutiert sich aus allen Ständen
+des Volkes. Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und
+Intelligenz aus denselben Prozentsätzen zusammen wie die
+der "Unbestraften".
+
+ An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld.
+Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu "ent"-schuldigen.
+
+ Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses
+Satzes wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter
+kennen gelernt, auch unter denen, welche gegen mich
+entschieden, dem ich einen Vorwurf machen könnte. Die
+zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich förmlich
+zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen
+zu machen, und ich muß sagen, daß ich alle diese
+Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur
+hochachten kann. Ich habe sogar den Fall erlebt, daß ein
+Dresdener Richter mir recht gab, obwohl alle seine
+Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in
+diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung
+und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand
+dies erweckt, das weiß nur der, der Gleiches wie
+ich erlebte.
+
+ In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe
+auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft
+nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher
+kennen gelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit
+und Humanität Grund zu irgend einem Tadel gegeben
+hätte. Ich behaupte sogar, daß die Aufseher die Strenge
+des Dienstes viel stärker empfinden als der Gefangene
+selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte, eine
+Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich
+gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und
+kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in
+welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen
+hat. Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies
+zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle
+mögliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war,
+vergessen zu machen. Es gab Beamte, die ich herzlich
+lieb gewann, und ich bin vollständig überzeugt, daß ihre
+Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur
+vorgetäuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war.
+
+ Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres
+Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns
+wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch
+nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die
+Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der
+Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten
+Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu tief
+eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch
+in unserer sogenannten, hochgepriesenen "Kriminalpsychologie",
+an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht
+aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger
+der, um den es sich hier eigentlich handelt, nämlich der
+sogenannte -- -- -- Verbrecher.
+
+ Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue
+Straftaten und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst
+alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser einzudämmen
+und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll ich
+sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der
+letzten, der "Kriminalpsychologie", beginnen, so liegen vor
+mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst
+strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen
+dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der
+Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet
+sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung
+und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu
+lenken. Er hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er
+wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung
+handelt, oft genannt und würde ein Segen auf diesem
+Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das
+wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der Humanität
+aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen Namen,
+denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die
+Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grade
+beachtenswert, kann er als "Seelenforscher" in fast noch
+höherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem
+er seine öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen
+versucht, läßt er sich so weit hinreißen, Personen,
+die vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden
+sind, nun aber sich in mühsam errungener, öffentlicher
+Stellung befinden, mit in seine "psychiatrischen"
+Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart
+kenntlich zu machen, daß jedermann weiß, wen er meint.
+Von einem Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt,
+antwortete er, daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt
+sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube.
+Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen.
+Aber selbst wenn es wahr wäre, daß es einen solchen
+Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt,
+einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene,
+sonstige Humanität zu handeln und Menschen, die ihm
+nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem
+Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem
+Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser
+Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für
+den Reichstag höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu
+unterwerfen. Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag
+er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das
+Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, daß die
+Herren Kriminalpsychologen ihn öffentlich an den
+wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewiß nicht
+darüber wundern, daß die Kriminalistik keine Neigung
+zur Besserung zeigt. Ich werde im Verlaufe meiner
+Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen müssen.
+
+ Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft,
+so brauche ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der
+Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber
+hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen Anwalt
+in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er
+verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der
+arme Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein
+Ehrenmann, aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht,
+den B. zu vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen
+und sich von ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann
+als Beschuldigter, daß die Strafakten des Klägers vorgelegt
+werden. Das geschieht. Sie werden in öffentlicher
+Verhandlung vorgelesen. A. bekommt zehn Mark
+Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die frühere Verachtung
+und in das frühere Elend zurückgeworfen und wird nun
+darauf schwören, daß für den einmal Bestraften alle Vorsätze,
+sich zu "bessern", nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig
+wird, ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider
+nicht wenige Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken
+zu dem höchst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die
+in sachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persönlich
+gehässiger, rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst
+habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer
+gesehen, daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz
+niemals beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade
+diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn
+endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen,
+durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken
+ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst Gesühntes
+wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende Zahl der
+sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in Wegfall
+kommen.
+
+ Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des "lieben
+Nächsten" anführte, geschah mit vollstem Rechte. Sie ist
+und bleibt die Hauptursache der Mißstände, die hier zu
+besprechen sind. Ich will keineswegs behaupten, daß dies
+auf einem ethischen Mangel beruht. Ich meine vielmehr,
+es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen
+haben, daß man sie gar nicht mehr als Vorurteile
+erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an denen niemand
+zu rütteln vermag. Der "Verbrecher" war einst vogelfrei;
+er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf ihn ein;
+ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche
+Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem
+andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und
+aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger
+Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von
+seiner Seite einer ungewöhnlichen Seelenruhe und einer
+seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer
+weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurückwerfen
+zu lassen. Die größte Gefahr für ihn liegt darin,
+daß ihm von dem lieben Nächsten das Ehrgefühl nach
+und nach abgestumpft oder gar getötet wird. Läßt er es
+so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik
+gibt ihr entweder erbittertes oder vollständig gleichgültig
+gewordenes Opfer nie wieder her. Dies wird und kann
+gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso
+unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird,
+daß jeder bestrafte Mensch für die ganze Zeit seines
+Lebens als "Verbrecher" zu betrachten sei. Kürzlich kam
+in Charlottenburg der Fall vor, daß jemand, der vor
+über vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem
+aber gut geführt hatte, von einem übelwollenden Menschen
+als "geborener Verbrecher" bezeichnet wurde. Der
+Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde
+freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen Menschen, der
+sich mit äußerster Willenskraft aus dem Abgrund
+emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt hat, mit
+brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --
+
+ Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter
+berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der
+Weise zu tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne
+Leser es wünschen. Es ist mehr als genug, wenn man
+solche Dinge nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie
+zum zweitenmale zu erleben, indem man sie für andere
+niederschreibt, so besitzt man gewiß die Berechtigung, sich
+so kurz wie möglich zu fassen. Von dieser Berechtigung
+mache ich hiermit Gebrauch.
+
+ Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt
+eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer
+höflich ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer
+Weise immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über
+Härte zu klagen haben. Was die Beschäftigung betrifft,
+die man für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube
+zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich
+die Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion
+berücksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fürsoge in
+meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nämlich ich
+versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als
+unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener
+das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte
+ich nicht fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es
+mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben müsse,
+denn schreiben mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand
+besonderer Beachtung. Man gab mir andere Arbeit,
+und zwar die anständigste Handarbeit, die man hatte.
+Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde
+Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und
+Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese Riege bestand mit mir
+aus vier Personen, nämlich einem Kaufmann aus Prag,
+einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte war, das
+konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. Diese
+drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten
+schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den
+Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle
+mögliche Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere
+Zeit so leicht wie möglich zu machen. Nie ist ein
+unschönes oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen.
+Unser Arbeitssaal faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich
+habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen
+Verhalten an die Behauptung erinnert hätte, daß das
+Gefängnis die hohe Schule der Verbrecher sei. Im
+Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt bemüht, einen
+möglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und
+Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer Pläne
+für die Zukunft habe ich während meiner ganzen
+Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte irgend einer
+gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er, wenn nicht
+angezeigt, so doch auf das energischste zurückgewiesen
+worden.
+
+ Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt
+wurde, dieser Visitation hieß Göhler. Ich nenne
+seinen Namen mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er
+hatte mich zu beobachten und kam, obwohl er von Psychologie
+nicht das geringste verstand, nur infolge seiner
+Humanität und seiner reichen Erfahrung meinem inneren
+Wesen derart auf die Spur, daß seine Berichte über mich,
+wie sich später herausstellte, die Wahrheit fast erreichten.
+Er hatte, wie wohl alle diese Aufseher, früher beim
+Militär gestanden, und zwar bei der Kapelle, als erster
+Pistonbläser. Darum war ihm das Musik- und Bläserkorps
+der Gefangenen anvertraut. Er gab des Sonntags
+in den Visitationen und Gefängnishöfen Konzerte,
+die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei Kirchenmusik
+die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu begleiten.
+Leider aber besaß weder er noch der Katechet,
+dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen
+Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten, für
+die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der
+fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren. Darum hatten
+beide Herren schon längst nach einem Gefangenen gesucht,
+der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war aber keiner
+vorhanden gewesen.
+
+ Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner
+Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich
+in sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das
+vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei
+der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte
+er mich, und ich sagte ganz selbstverständlich auch nicht
+nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur
+das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den
+Händen gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit.
+Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich noch
+mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre getrieben
+habe und Musikstücke arrangieren könne. Er meldete das
+sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die
+Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl
+des Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte
+mich damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und
+neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen
+bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.
+
+ Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen Arbeiten
+nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs
+von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder
+Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden
+will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum
+ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es
+liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen
+Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit für
+meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die ich nicht
+aufgab, auch als ich aus der Visitation der
+Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir nämlich
+mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu werden.
+
+ Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine
+Zelle für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses
+Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun,
+da man über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen
+Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und
+unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors
+desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr
+pflichtbewußter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber
+ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch
+nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch
+bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich zur Zeit
+meiner Einlieferung vollständig unfähig gewesen war,
+Schreiber zu sein, nun aber für fähig gehalten wurde,
+eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche große geistige Um-
+und Einsicht erforderte und die höchste Vertrauensstelle
+war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor
+war nämlich neben seiner Direktion des Isolierhauses
+noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese seine Tätigkeit
+bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und
+auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges
+überhaupt. Er schrieb die hierauf bezüglichen Berichte
+und stand mit allen hervorragenden Männern des
+Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe
+war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre
+Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu
+vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen.
+Das war an und für sich eine sehr schwere, anstrengende
+und scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem
+Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen
+und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen,
+ihnen Sprache zu verleihen, das war im höchsten Grade
+interessant, und ich darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr
+viel gelernt habe und daß mich diese Arbeiten in stiller,
+einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie
+viel weiter vorwärts gebracht haben, als ich ohne
+diese Gefangenschaft jemals gekommen wäre. Daß mir
+hierzu nur die besten und zuverlässigsten Unterlagen zu
+Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir
+da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da
+in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und
+Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie
+keine Augen dafür haben. Ich habe da erkannt, daß
+Großmutters Märchen die Wahrheit sagt, daß es ein
+Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland
+und ein ethisches Tiefland, und daß die Hauptbewegung,
+an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von
+oben nach unten geht, sondern von unten nach oben,
+empor, empor zur Befreiung von der Sünde, hinauf,
+hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir
+von größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst
+befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von
+denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle
+vernommen. Ich habe mit ihnen gekämpft und sie stets zum
+Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurück; sie ließen
+sich wieder hören, doch in immer längern Zwischenräumen,
+bis ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für
+immer stumm geworden seien.
+
+ Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen
+zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand
+mir offen. Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa
+nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren
+alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen,
+inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert
+und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur
+die Werke der Anstaltsbibliotheken, die mir zur
+Verfügung standen, sondern man zeigte sich auch gern
+bereit, mir solche von auswärts zugängig zu machen. Es
+war mir ein unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und
+Ungestörtheit der Zelle so viel wie möglich für mein
+geistiges Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten
+hatten ihre Freude daran, mir hierzu in jeder, den
+Anstaltsgesetzen nicht widersprechenden Weise behilflich zu sein.
+So verwandelte sich für mich die Strafzeit in eine
+Studienzeit, zu der mir größere Sammlung und größere
+Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler
+jemals in der Freiheit findet. Ich werde über diesen großen,
+unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft mir brachte,
+noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz
+besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten war,
+mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch
+den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten
+zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten
+sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes
+Genre bilden sollen. Doch ist es für jetzt nicht
+meine Absicht, mich über diese meine Studien zu verbreiten,
+sondern ich habe mich hier allein und ganz besonders
+mit dem Umstand zu befassen, daß die mir anvertraute
+Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit
+zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen
+gab, unter deren Einfluß meine schriftstellerische
+Tätigkeit sich zu der gestaltete, die sie geworden ist.
+
+ Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen Bedürfnisse,
+oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der Volksseele
+kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst
+zu nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder
+Volksbibliothekar und jeder Leihbibliothekar genau dieselben
+Erfahrungen machen könne, denn das ist nicht wahr.
+Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind
+zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann
+das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedürfnisse
+werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um. Die
+äußere Persönlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre
+Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. Und diese
+ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung
+erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich
+große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll,
+moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen
+der Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die
+sich beide aneinander versündigten. Dieses Hervortreten
+der innern Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme,
+in der Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene
+hat während seiner Detention auf alle seine leiblichen
+Sonderrechte zu verzichten. In leiblicher Beziehung
+ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine
+Nummer, die in den Büchern eingetragen wird und bei
+der man ihn auch nennt. Um so kräftiger, ja ungestümer
+tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich,
+ihre Rechte und Bedürfnisse geltend zu machen. Der
+Leib ist gezwungen, sich in die Gefängniskleidung und
+Gefängniskost zu fügen. Wehe, wenn man den Fehler
+begeht, den gleichen Zwang auch auf die Seele ausüben
+zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem
+Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach einer
+Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um
+sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu
+befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das
+Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im tiefsten
+Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur körperlich
+sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar
+Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, hungrige
+Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich gut im
+ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den
+sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen
+Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten?
+Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man
+beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle
+aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei
+derartig gegebenen Verhältnissen nur die Bibliothek sein.
+Der Gefangene, der sich so führt, daß ihm das Lesen
+nicht verboten werden muß, bekommt pro Woche ein Buch.
+Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang die seelische
+Kost für den nach Nahrung Schmachtenden. Er darf
+sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er
+bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann
+ihm zum Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe
+sein, kann ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen,
+ihn aber auch empören und verhärten. Einer meiner
+Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre
+lang weiter nichts als alte "Frauendorfer Blätter" zu
+lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau,
+die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen
+bringen konnten. Er trug es in steigender Erbitterung,
+bis ich die Bibliothek überkam [sic] und ihm Passenderes gab.
+Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias
+Gotthelfs Erzählungen derart außer sich gebracht,
+daß er nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu
+werden. Das letzte, was er hatte lesen müssen, hatte
+den Titel gehabt "Wie fünf Mädchen im Branntwein
+jämmerlich umkommen." Als ich ihm einen Band von
+Edmund Höfer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen
+geschenkt hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister
+war einer langen Reihe von Erbauungsbüchern
+zum Opfer gefallen. Er schwor mir wütend zu, daß es
+schon um dieser Bücher willen keinen Herrgott geben
+könne. Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht;
+die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien
+aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut bankrott und
+verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe wie er.
+
+ Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich
+zunächst meine Bibliothek und sodann auch die Bedürfnisse
+ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit
+ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen
+verbunden und führte zu dem betrübenden Schlußresultate,
+daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten,
+nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht
+nur in unserer Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch
+überhaupt in der Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit,
+an die Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund,
+der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich
+verglich. Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind
+nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht
+eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht
+Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar
+nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu
+fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die Bewohner der
+Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden muß, damit
+der höhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur
+Geltung kommen möge? Muß nicht überhaupt bei allen
+Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige
+gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit
+gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen Ideale, zur
+Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es nicht die
+Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher
+Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der
+auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene,
+mit angehöre!
+
+ Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich
+zu Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst
+seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren.
+Es wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie
+weiteten sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich
+erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen
+Zusammenhänge zwischen dem Kleinsten und dem Größten,
+dem Körperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und
+dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen.
+Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben,
+alten Märchen meiner Großmutter in ihrer tiefen
+Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach und
+dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten,
+verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht
+und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan
+empor. Ich stellte mir vor, die verloren gegangene
+Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden
+kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. Dieses
+Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur
+hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der
+Menschheitsqual, bei der Träberkost des verlorenen Sohnes
+unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann,
+das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen
+und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir.
+Aber nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in
+jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als
+Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine
+Marah Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele,
+der ich die Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da
+tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir
+auf, jener geheimnisvolle "Bewahrer der großen Medizin",
+den meine Leser im dreiunddreißigsten meiner Bände
+kennen gelernt haben. Und da wurde auch der Gedanke
+"Winnetou" geboren. Wohlverstanden, nur der Gedanke,
+nicht aber er selbst, den ich erst später fand. Damals
+habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek
+und alle andern, die mir zugängig wurden -- fast
+verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber das würde nicht
+wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort für Wort
+zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit
+in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich nicht
+allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit
+einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben,
+meine Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu
+werden. Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen
+Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit
+zurück und holte den alten, kühnen Wunsch hervor, "ein
+Märchenerzähler zu werden, wie du, Großmutter bist."
+Ich befand mich ja an einem der größten und reichsten
+Fundorte alles dessen, was da zu erzählen war, im
+Gefängnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was
+draußen in der Freiheit so leicht und so dünn vorüberfließt,
+daß man es nicht ergreifen und noch viel weniger
+betrachten kann. Und da erheben sich die Gegensätze, die
+draußen sich wie auf ebener Fläche vermischen, so bergeshoch,
+daß in dieser Vergrößerung Alles offenbar wird,
+was anderwärts in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich
+hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen,
+hochgelehrten Werke über Psychologie, besonders über
+Kriminalpsychologie. Fast jede Zeile war mir eingeprägt. Sie
+enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Rätseln und
+Problemen. Die Praxis aber lag rund um mich her, in
+ebenso klarer wie erschütternder Aufrichtigkeit. Welch ein
+Unterschied zwischen beiden? Wo war die Wahrheit zu
+suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in der
+aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft
+ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft
+irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege
+führen über den Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie
+sich treffen. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet,
+das können wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen
+Auge vergönnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge
+des -- -- Märchens. Darum will ich Märchenerzähler
+sein, nichts Anderes als Märchenerzähler, ganz so, wie
+Großmutter es war! Ich brauche nur die Augen zu
+öffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und
+Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach
+Erlösung trachtenden Märchen. In jeder Zelle eins und
+auf jedem Arbeitsschemel eins. Lauter schlafende
+Dornröschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und
+Liebe wachgeküßt zu werden. Lauter in Fesseln schmachtende
+Seelen, in alten Schlössern, die in Gefängnisse
+umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen
+Humanität von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel
+geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens
+und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen
+Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse
+und Märchen erzählen, in denen tief verborgen die
+Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu
+erschauen vermag. Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel
+meines Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich
+getroffen hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich
+will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein
+großes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind,
+verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es
+schließlich kein "Verbrechen" mehr und keine "Verbrecher"
+gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke.
+
+ Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich erzähle,
+nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn wüßte
+man das, so würde ich nie erreichen, was ich zu erreichen
+gedenke. Ich muß selbst zum Märchen werden, ich selbst,
+mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine Kühnheit
+sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was aber
+liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es
+sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen
+Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksälchen eines
+verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so
+und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise,
+in der man über das "Verbrechen" denkt und spricht,
+nicht baldigst ändert!
+
+ Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam,
+sich aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ.
+Er gewann Macht über mich; er wurde groß. Er nahm
+endlich meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb,
+weil er in sich die Erfüllung alles dessen barg, was schon
+von meiner Kindheit an Wunsch und Hoffnung in
+mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen Gedanken; ich
+erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn aus. Er
+hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide identisch.
+Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte eine lange,
+lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch schwerere
+Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich meinen
+Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, daß
+an ihm nichts mehr zu ändern war. Ich nahm mir vor,
+zunächst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen
+Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen
+Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich
+mich absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege.
+Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches
+im allgemeinsten Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit
+besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen Erzählungen
+wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht
+absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse
+und nur Märchen sein, allerdings außerordentlich
+vielsagende Gleichnisse und Märchen. Trotzdem aber waren
+Reisen wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen
+Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten
+sich zu bewegen hatten. Vor allem galt es, sich
+tüchtig vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde
+treiben. Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen
+Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat
+zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß
+behaupten, daß Alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und
+Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus
+in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen
+diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen
+Kleidung nicht besitzen. In die Prärie oder unter Palmen
+versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder
+von den Schneestürmen des Wilden Westens umtobt, in
+Gefahren schwebend, welche das stärkste Mitgefühl der
+Lesenden erwecken, so und nicht anders mußten alle meine
+Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen
+wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu hatte ich in
+allen den Ländern, die zu beschreiben waren, wenigstens
+theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europäer
+es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, schwer
+und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und
+dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem
+ich lebte, grad so die richtige Stelle.
+
+ Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische
+Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch
+die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung
+gegeben. Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu
+beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den
+Gelehrten höchstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen
+betrachtet. So eine himmlische Wahrheit steigt an den
+Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus
+zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden.
+Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein,
+aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation
+besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu
+Stadt, von Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen
+zu werden. Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder
+himmelan und kehrt zu dem zurück, von dem sie ausgegangen
+ist. Sie klagt ihm weinend ihr Leid. Er aber
+lächelt mild und spricht: "Weine nicht! Geh' wieder
+zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, dessen
+Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn,
+dich in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche
+dann dein Heil noch einmal!" Sie gehorcht. Der
+Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie. Sie
+beginnt ihren Gang als Märchen nun von Neuem, und
+wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen. Man öffnet ihr
+die Türen und die Herzen. Man lauscht mit Andacht
+ihren Worten; man glaubt an sie. Man bittet sie, zu
+bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber muß
+weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr aufgetragen
+worden ist. Doch geht sie nur als Märchen; als Wahrheit
+aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht
+sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle
+Folgezeiten.
+
+ So, das ist das Märchen! Aber nicht das Kindermärchen,
+sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Märchen,
+trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die
+höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm
+wohnenden Seele gemäß. Und einer jener Dichter, zu
+denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen,
+wollte ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit
+des war. Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten.
+Die Wahrheit ist so verhaßt und das Märchen so
+verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander.
+Das Märchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen,
+ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe
+dringt. Wie man behauptet, daß das Märchen nur für
+Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller",
+der nur für unerwachsene Buben schreibe. Kurz,
+ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, daß ich so
+verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und
+Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein "Leben
+und Streben" schon an und für sich selbst einem Märchen,
+und sind es doch fast unzählige Fabeln und Märchen, mit
+denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet
+worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so
+glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen
+glaubt. Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich
+einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur
+Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt,
+das wird man morgen glauben lernen.
+
+ Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben
+beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie
+sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag.
+Ich wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser
+mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu
+verwickeln. Und was ich zu sagen hatte, das mußte ich
+suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Türen
+legen, weil man Alles, was man so billig bekommt, liegen
+zu lassen pflegt und nur das zu schätzen weiß, was man
+sich mühsam zu erringen hat. Es wäre ein unverzeihlicher
+Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, daß
+meine Reiseerzählungen bildlich zu nehmen seien. Man
+hätte mich einfach nicht gelesen, und Alles, was ich lösen
+wollte, wäre Fabel und Märchen geblieben. Der Leser
+mußte ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete
+es dann als wohlerrungen und hielt es für das Leben
+fest.
+
+ Aber was war denn eigentlich das, was ich geben
+wollte? Das war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich
+wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel
+lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es
+gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter
+versuchen. Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein
+Anderer wissen. Es mag bei der Ausführung dann wohl
+mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender
+Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen. Ich
+wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur
+Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft
+worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das
+nicht noch lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man
+es dafür halten; ich aber habe an hundert und wieder
+hundert unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum
+in das Unglück geraten waren und nur darum darin
+stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen
+der ganzen irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt
+worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete
+Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde
+und frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind
+alle Schulen da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis
+hinauf zur Universität, für die Seele aber keine einzige.
+Für den Geist werden Millionen Bücher geschrieben,
+wie viele für die Seele? Dem Menschengeiste werden
+tausend und abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen
+die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu
+verherrlichen? Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der
+für die Seele schreibt, ganz nur für sie allein, mag man
+darüber lächeln oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum
+werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch
+verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was
+ich mir vorgenommen habe.
+
+ Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber
+ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr.
+Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen;
+ich war für mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch
+über uns lag die Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit,
+nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war
+aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen
+erteilt; nur daß wir, die wir um so viel tiefer lagerten
+als die Andern, weit mehr und weit mühsamer aufzusteigen
+hatten als sie. Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan
+nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum
+Edelmenschen empor. Wie das geschehen müsse, wollte ich
+an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und
+an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde für
+diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine
+amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt
+die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische.
+An diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine
+Gedanken und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es,
+mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen
+und den Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare
+Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube
+an den "großen, guten Geist" der Andern harmonierte mit
+meinem eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In
+Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche
+Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches
+Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein
+Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen
+soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne
+und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten
+Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten
+hat sie sich das Treiben der Wüste bis nach dem
+hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben.
+Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel "durch
+die Wüste." Die Hauptperson aller dieser Erzählungen
+sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein
+beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen
+Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika
+sollte er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara
+Ben Nemsi heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein
+hatte, verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst
+erzählend, also als "Icherzähler" dargestellt werden.
+Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination.
+Doch, wenn dieses "Ich" auch nicht selbst existiert,
+so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus der
+Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden.
+Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi,
+also dieses "Ich" ist als jene große Menschheitsfrage
+gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er
+durch das Paradies ging um zu fragen: "Adam, d. i.
+Mensch, wo bist Du?" "Edelmensch, wo bist Du?" Ich
+sehe nur gefallene, niedrige Menschen!" Diese Menschheitsfrage
+ist seitdem durch alle Zeiten und alle Länder des
+Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat
+aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat Gewaltmenschen
+gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander
+bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen
+Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich
+und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder
+Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich
+selbst zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und
+wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf
+die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende
+Antwort erfolgt: "hier bin ich. Ich bin der erste
+Edelmensch, und Andere werden mir folgen!" So geht
+auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch
+die Länder, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo
+er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches
+Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginäre
+Old Shatterhand, dieser imaginäre Kara Ben Nemsi,
+dieses imaginäre "Ich" hat nicht imaginär zu bleiben,
+sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in
+meinem Leser, der innerlich Alles miterlebt und darum
+gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. In
+dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung der großen
+Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch, also der niedrige
+Mensch, zum Edelmenschen entwickeln könne.
+
+ Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte
+ich gar wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer
+Gefahr aussetzen würde, die für mich keine geringe war.
+Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand
+und dieses "Ich" also nicht begriff? Wenn man glaubte,
+ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, daß ein
+Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte,
+zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden,
+mich als Lügner und Schwindler bezeichnen würde? Ja,
+das lag allerdings in der Möglichkeit, aber für wahrscheinlich
+hielt ich es nicht. Ich hatte dieses "Ich," also
+diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit
+allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit
+im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat.
+Mein Held mußte die höchste Intelligenz, die tiefste
+Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in allen
+Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der Wirklichkeit
+nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte,
+das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn
+ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis
+vierzig Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen,
+daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde,
+daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne.
+Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler
+sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig
+ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar
+fest überzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht
+selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu
+können, daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst
+erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen
+Leben oder doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich
+hielt es für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht
+und vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen,
+daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar niederschreibt,
+sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus seinem eigenen
+Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginären "Ich",
+also von der großen Menschheitsfrage, diktiert worden
+seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald
+die Folge zeigen.
+
+ Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische
+und teils in orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich
+ganz selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die Schicksale
+der betreffenden Völkerschaften. Der als unaufhaltsam
+bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich
+ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die Undankbarkeit
+des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem es
+doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt,
+machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl
+der Menschheit will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht
+länger Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir
+vor, dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und
+in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die
+Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen
+ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut,
+dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden
+erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt,
+dies zu glauben.
+
+ Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine
+Bücher geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk,
+für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile desselben,
+für einzelne Stände, für einzelne Altersklassen. Vor allen
+Dingen nicht etwa allein für die Jugend! Auf diese
+letztere Versicherung habe ich das größte Gewicht und
+den schärfsten Ton zu legen. Wäre es meine Absicht
+gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen,
+so hätte ich ganz notwendigerweise auf die Ausführung
+aller meiner Pläne und auf die Erreichung aller meiner
+Ideale für immer verzichten müssen. Und dies zu tun,
+ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die
+Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die
+erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich
+das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie ist
+es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten
+und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern
+Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo's zu
+besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet,
+so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur
+ein Teil dessen sein, was ich für das Volk als Ganzes
+schrieb. Wenn ich sage, daß ich für das Volk schreiben
+wollte, so meine ich damit, für den Menschen überhaupt,
+mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht
+jedes meiner Bücher ist für jeden Menschen. Und doch
+auch wieder ist es für jeden Menschen, aber nach und
+nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt, je nachdem
+er älter und erfahrener wird, je nachdem er fähig
+geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen.
+Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten.
+Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, als
+Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer
+Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit
+Ueberlegung und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt,
+und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht
+schade; auf alle Fälle aber ist es noch mehr schade um sie!
+Wer sie mißbraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern
+sich selbst zur Verantwortung ziehen. Ich erinnere da
+an das Rauchen, an das Essen und Trinken. Rauchen
+ist ein Genuß. Essen und Trinken ist unerläßlich. Aber
+jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was
+einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, würde
+nicht nur töricht, sondern sogar schädlich sein. Eine gute,
+interessante Lektüre soll man genießen, aber nicht wie ein
+Haifisch verschlingen! Da meine Bücher nur Gleichnisse
+und Märchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst,
+daß man reiflich über sie nachdenken soll und daß sie
+nur in die Hände von Leuten gehören, die nicht nur
+nachdenken können, sondern auch nachdenken wollen.
+
+ Als ich damals diese Gedanken erwog und meine
+Pläne faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben
+und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch
+nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als
+Künstler zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller
+muß doch zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich
+noch nicht einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern
+nur erst für einen außerhalb der Zunft herumtastenden
+Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht.
+Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende
+Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so hätte mir
+eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehörten jedenfalls
+mehrere arbeitsreiche, ungestörte, glückliche Menschenleben
+dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch,
+also künstlerisch zu bewältigen. Aber es wurde mir doch
+nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei. Ich fragte
+mich: Muß man denn Schriftsteller sein, und muß man
+denn Künstler sein, um solche Sachen schreiben zu dürfen?
+Wer will und kann es Einem verbieten? Machen wir es
+ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir
+es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht,
+was es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler
+mich als "Kollegen" gelten lassen würden, das mußte
+mir damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen
+Stolz besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von
+Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber
+diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer
+Leute, besonders der Fachgenossen. Künstler zu sein,
+dünkte mich das Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief
+in meinem Herzen der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen,
+und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor
+meinem Tode sein. Jener Kindheitsabend, an dem ich
+den "Faust" zu sehen bekam, stand noch unvergessen in
+meiner Seele, und die Vorsätze, die ich an ihn geschlossen
+hatte, besaßen noch ganz denselben Willen und dieselbe
+Macht über mich wie vorher. Für das Theater schreiben!
+Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt wird, wie
+der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem
+Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des
+niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße.
+Um so Etwas schreiben zu können, muß man Künstler
+sein, und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich
+nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes
+als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und
+so blieb mir weiter nichts übrig, als alle meine Wünsche,
+die sich darauf bezogen, als Literat ein Künstler, und
+zwar ein wahrer, wertvoller Künstler sein zu dürfen, für
+lange, lange Jahre zurückzustellen und bis dahin zu bleiben,
+was ich eben war, nämlich ein unzünftiger Anfänger, der
+nicht die geringste Prätentien [sic] besaß, ein Zunftgenosse zu
+werden. Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und
+einsam gestanden hatte, so war ich schon damals überzeugt,
+daß auch mein Weg als Literat ein einsamer sein
+und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. Was ich
+suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was ich
+wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen vollständig
+Fernliegendes. Und was ich für richtig hielt, das war
+höchst wahrscheinlich für andere Leute das Falsche.
+Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es mir
+nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren
+Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf
+Kunst war ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die
+andern recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt
+mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach
+vollendeter Reife, ein großes, schönes Dichterwerk zu
+schaffen, eine Symphonie erlösender Gedanken, in der
+ich mich erkühne, Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen,
+Glück aus meinem Unglück, Freude aus meiner Qual.
+Dies für später, wenn mir der Tod einst seinen ersten
+Wink erteilt. Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu
+lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es
+nicht mißlinge. Jetzt Märchen und Gleichnisse geben,
+um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit
+und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Bühne
+zu bringen!
+
+ Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke
+wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern
+lange Erzählungen, in denen viele Personen handelnd
+auftreten. Und ihre Zahl ist groß; sie sollen eine
+ganze Reihe von Bänden füllen und das Material für
+jene spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine
+Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine
+sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur
+Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an
+welche nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur
+für ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will
+und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern
+meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und
+Alabasterbrüchen die Blöcke für spätere Kunstwerke zu brechen,
+deren Form ich höchstens andeuten kann, weil mir die
+Zeit zur Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese
+Andeutung gebe ich eben in Märchen, die meinen
+erzählenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte
+bilden, um welche sich das Interesse des Lesers
+konzentriert. Die künstlerische Kritik braucht sich also mit
+meinen Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar
+nicht meine Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder
+gar Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen,
+schlichten Arm- oder Fußringen der Araberinnen zu
+gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne
+Ringe. Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit.
+Der Maler, welcher flüchtige Skizzen zeichnet, um ein
+großes Gemälde vorzubereiten, würde sich gewiß über
+den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben
+Maßstab legen wollte, den er dann später an das
+Gemälde zu legen hat.
+
+ Soviel über die Pläne, welche damals in mir entstanden
+und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf
+den heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie
+kamen nicht in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam,
+einer nach dem andern. Und sie reiften nicht eilig aus,
+sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir
+von dem einen Punkt bis zum nächsten klar geworden
+war. Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu. Ich
+legte mir eine Art von Buchhaltung über diese Pläne
+und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben
+und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde
+in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert.
+Ich stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den
+Inhalt aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte.
+Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen
+gegangen, aber es hat mir doch viel genützt, und ich
+zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir
+entstanden. Auch schriftstellerte ich fleißig; ich schrieb
+Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung möglichst
+viel Stoff zur Veröffentlichung zu haben. Kurz, ich war
+begeistert für mein Vorhaben und fühlte mich, obgleich
+ich Gefangener war, unendlich glücklich in der Aussicht
+auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine
+ganz gewöhnliche zu werden versprach.
+
+ Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden
+zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für
+alles Leid entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene
+Gabe: Ich wurde begnadigt. Die Direktion hatte für
+mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein
+volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam. Ich stand
+in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein
+Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rückweg in das
+Leben glättete und mich aller polizeilichen Scherereien
+überhob. Der Kenner weiß, was das bedeutet!
+
+ Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die
+Anstalt verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand
+mit meinen Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach
+Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr
+zu benachrichtigen. Wie freute ich mich auf das
+Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich nicht zu
+haben; dies war ja schon längst durch Briefe geordnet.
+Ich wußte, daß ich willkommen sei und daß man mir
+mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten freute
+ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich gegrämt
+und gehärmt haben! Und wie gern würde sie mir ihre
+alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie entzückt
+würde sie über meine Pläne sein! Wie sehr würde sie
+mir helfen, sie auszudenken und so tief wie möglich
+auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also
+genau denselben Weg, den ich damals als Knabe
+gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es
+läßt sich denken, was für Gedanken mich auf diesem Weg
+begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem
+Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges
+zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten!
+Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für deren
+Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr zu
+leisten vermag? Das "Märchen von Sitara" tauchte
+vor mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren
+Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um
+sie in das Elend zu schleudern, so daß sie verloren gehen?
+Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem
+Untergange geweiht. Gilt das auch mir?
+
+ Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr
+ich mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von
+dort aus böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe
+Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mußte mir
+Mühe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe
+aus schaute ich über das Städtchen hin. Da schlängelten
+sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft
+gegangen war, in heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen
+inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch
+in einem fort die Worte "des Schneiders Fluch,
+des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch" zuriefen.
+Und was war das? Indem ich hieran dachte, hörte ich
+ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie
+erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu nähern, "des
+Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
+Fluch!" Sollte und wollte sich das etwa wiederholen?
+Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte
+von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die
+Höhe hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause,
+nach Hause, nach Hause!
+
+ Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern
+wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg
+die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf
+nach dem Bodenraume, wo Großmutter sich immer am
+liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunächst zu ihr und
+dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich
+die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber
+war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben
+Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schlüssel
+abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich
+eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die Eltern. Die
+Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie hatten
+gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar nicht und
+fragte, wo Großmutter sei. "Tot -- -- -- gestorben!"
+lautete die Antwort. "Wann?" "Schon voriges Jahr."
+Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme
+auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir
+verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft
+nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut
+gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war
+nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so
+hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!
+
+ Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob,
+um die Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie
+sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen
+als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu.
+Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich
+so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als
+der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar
+die größte Mühe, aber ich konnte den Schlag, der mich
+soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich
+wollte nur von Großmutter wissen, jetzt weiter nichts, und
+man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen,
+aber niemals ein Wort, welches mich hätte kränken müssen,
+wenn ich dabeigewesen wäre. Und sie hatte nie geklagt
+oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, daß
+ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen
+Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden.
+Nun sei sie überzeugt, daß ich durch die Geisterschmiede
+müsse, um alle irdischen Qualen über mich ergehen zu lassen.
+Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen,
+was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic]
+erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto
+ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt und
+desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An
+einem der letzten Tage erzählte sie, daß der längst
+verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei.
+Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser
+stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel
+die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden,
+aber nicht in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem,
+welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet,
+sei der Herr Kantor erschienen. Er haben genauso
+ausgesehn wie damals, als er noch lebte. Er sei langsam
+bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lächelnd
+gegrüßt, wie es immer seine Art und Weise war, und
+dann gesagt, daß sie sich ja nicht um mich sorgen solle;
+ich könne wohl stürzen wie jeder Andere, nicht aber liegen
+bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche
+ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten nickte er ihr
+wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er
+gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie schloß
+sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder
+dunkel.
+
+ Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob
+ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes
+auf ihrem Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch
+noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte
+und nicht mehr atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein
+friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht
+friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von
+ihm erzählte. Es tauchten Vorwürfe in mir auf, aber
+keine Vorwürfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern
+Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich,
+sondern Vorwürfe viel wesentlicherer, viel kompakterer
+Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hörte, was
+sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das
+waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen,
+die nicht die geringste Identität mit mir zu besitzen schienen
+und doch identisch waren. Welch ein Rätsel! Aber welch
+ein ungewöhnliches, furchtbar beängstigendes Rätsel! Sie
+glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten
+von früher her, mit denen ich -- -- -- mein Gott, kaum
+hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so,
+wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem
+Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre Stimmen
+so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an Stelle
+der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie
+blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir
+schlafen. Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht
+schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere
+Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten,
+die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht entdecken
+konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie
+schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner
+Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam.
+Und doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören,
+weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von
+meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit
+abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines
+Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter
+mir lag. Diese Stimmen aber waren bemüht, mich mit
+aller Gewalt in die Vergangenheit zurückzuzerren. Sie
+verlangten wie früher, daß ich mich rächen solle. Nun
+erst recht mich rächen, für die im Gefängnis verlorene,
+köstliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich
+aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts,
+gar nichts höre. Das war aber selbst bei der größten
+Kraftaufwendung nicht länger als höchstens nur einige
+Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige
+Verleger, um mit ihnen über die Herausgabe der im Gefängnisse
+geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei
+stellte es sich heraus, daß während dieser meiner
+Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten,
+je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder
+um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder
+näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort
+seßhaft seien und nur dann über mich herfallen könnten,
+wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden.
+Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich kassierte
+meine Honorare ein und machte eine längere Auslandsreise.
+Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses
+Werkes zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren
+Ergebnissen ein größerer Raum gewidmet werden soll,
+als ich ihnen hier gewähren könnte. Während dieser
+Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde
+vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein
+ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat
+zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker
+Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark,
+daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte.
+Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich
+Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die
+Anfechtungen begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt
+den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft
+Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß
+ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich fühlte, daß ich,
+falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein höchst
+gefährlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene
+Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal
+anzukämpfen.
+
+ Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, daß ich
+meinen Zustand keineswegs für pathologisch hielt. Alle
+meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl
+körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen.
+Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser
+Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewiß nicht
+von innen heraus erzeugt, sondern von außen her an
+mich herangetreten. Ich arbeitete fleißig, fast Tag und
+Nacht, wie ich überhaupt an der Arbeit stets meine größte
+Freude gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern.
+Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern
+wohnte, die sich jetzt auch besser standen als früher. Ich
+hätte vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts
+verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was
+ich schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas Gewöhnliches
+schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung
+ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema stellte,
+eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere Aufgabe,
+wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen empörten
+und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu
+bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten,
+blödesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen.
+Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. Hierzu
+gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem
+Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt;
+ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist
+mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei.
+Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt,
+und auch für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung,
+welche man empfinden muß, um ein Trinker zu werden.
+Jetzt aber fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst,
+wenn ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause
+vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht
+mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder
+hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat
+es aber nicht. Vater tat es. Er konnte sein Glas einfaches
+Bier und sein Schnäppschen [sic] nicht gut entbehren.
+Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das
+war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa
+schwer, o nein. Ich erzähle es nur des psychologischen
+Interesses wegen, weil es mir höchst sonderbar erscheint,
+daß dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir
+sonst vollständig fremde Durst nach Spirituosen immer
+nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in
+mir hatten, sonst aber nie!
+
+ Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter
+meine Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich
+sprach hierüber also mit den Eltern und Geschwistern.
+Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer
+Art sozialer Mauserung begriffen und darum für mich
+nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb.
+Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein
+ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir
+nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem Strickstrumpf
+still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte
+ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder
+beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte
+einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein liebes,
+tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch
+sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und
+sie wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden
+möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie
+fest und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte,
+da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter
+sein kann, deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott,
+auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen.
+Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn
+auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen,
+der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können.
+Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich
+so schwer Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich.
+Nichts war mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit.
+Aber ich stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich
+stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen
+wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben.
+Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich
+nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie
+keine inneren, sondern äußerliche waren, doch ebenso wenig
+mit den Händen gefaßt werden konnten.
+
+ Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt
+in andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson.
+Man hatte sie gern. Man teilte ihr Alles
+mit, ohne daß man sie um Verschwiegenheit zu bitten
+brauchte. Sie erfuhr Alles, was im Städtchen und in
+der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo einen Einbruch
+gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter war
+entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise
+ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich
+von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene
+gesetzt. Ich hörte gar nicht hin, als man es erzählte,
+bemerkte aber nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster
+als gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet
+zu sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich
+blieb anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem
+Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten;
+ich bat aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein
+Gerücht, ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher
+sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen
+Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber war
+ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es brüllte
+vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die
+Stimmen schrien mir zu: "Wehre dich, wie du willst,
+wir geben dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir
+zwingen dich, dich zu rächen! Du bist vor der Welt ein
+Schurke und mußt ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe
+haben willst!" So klang es bei Nacht. Wenn ich am
+Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte
+nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater gesagt.
+Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu
+nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten
+ja genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus
+dem Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles
+im Vertrauen gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum
+gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich
+zu wehren. Aber es kam schlimmer. Die heimatliche
+Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit Vertrauenszeugnis
+entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen.
+Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich
+mit mir zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche
+vor, deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen
+Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies
+auf mich deuten zu müssen. Das war zu derselben Zeit,
+in der sich die schon erwähnte "Lügenschmiede" zu bilden
+begann. Neue Gerüchte kursierten, romantisch
+ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter
+der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der
+Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich
+sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute
+man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein
+guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt
+hatte und auch jetzt noch an mir hing. Der war sprichwörtlich
+unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig. Er hielt
+grob sein für Menschenpflicht. Der konnte es nicht
+länger aushalten. Er kam zu mir und erzählte mir auf
+Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich
+im Schwange ging. Das war so dumm und doch so empörend,
+so leichtsinnig und gewissenlos, so -- -- so -- --
+so -- -- so -- -- -- ich fand keine Worte, dem armen,
+wohlmeinenden Menschen für seine schmerzhafte Aufrichtigkeit
+zu danken. Aber als er mein Gesicht sah, machte er
+sich so schnell wie möglich von dannen.
+
+ Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es
+trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und
+kam spät abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne
+gegessen zu haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen
+Schlaf. Zehn, fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten
+mich in meinem Innern mit unaufhörlichem Gelächter.
+Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in
+die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar
+nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus
+mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran
+der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der
+mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von
+Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf
+die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und
+Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das
+verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab.
+Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren
+gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern
+eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte
+mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie
+mich fest, und da ließen sie mich nicht wieder hinab. Da
+klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter
+kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten.
+Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen
+Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen
+und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf
+einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden
+Roggenfeldern. Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht,
+und der Gewitterregen floß in Strömen herab. Ich eilte
+fort und kam an ein Rübenfeld. Ich hatte Hunger und
+zog eine Rübe heraus. Mit der kam ich in den Wald,
+kroch unter die dicht bewachsenen Bäume und aß. Hierauf
+schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; ich wachte
+immer wieder auf. Die Stimmen weckten mich. Sie höhnten
+unaufhörlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest
+Rüben, Rüben, Rüben!" Als der Morgen anbrach, holte
+ich mir eine zweite Rübe, kehrte in den Wald zurück und
+aß. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und ließ
+mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden.
+Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe. Ich
+fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen Schlaf,
+während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite
+auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern
+gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald
+ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus
+Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser
+Schlaf ermüdete mich nur noch mehr, statt daß er mich
+stärkte. Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach,
+und verließ den Wald. Indem ich unter den Bäumen
+hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm
+stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das
+war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich
+wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer
+zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt
+vorkam. Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte
+in die Glut. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war
+in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch!
+Der war nicht da drüben beim Feuer, sondern hier bei
+mir. Der hüllte mich ein, und der drang mir in die Seele.
+Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und
+Augen und Gesichtszüge bekamen und sich in mir bewegten.
+Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst später, viel
+später klar über die Entstehung solcher innerer Schreckgebilde
+geworden. Damals war ich es noch nicht, und so
+konnten sie die entsetzliche Wirkung äußern, gegen welche
+meine auf das Aeußerste angespannten Nerven keine
+Widerstandskraft mehr besaßen. Ich fiel in mir zusammen, wie
+das brennende Haus da drüben zusammenfiel, als die
+Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich
+erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war
+auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm.
+Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm
+und Häcksel umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich
+suchte auch gar nicht danach. Ich wankte beim Gehen.
+Ich lief irr. Ich torkelte weiter, bis ich endlich
+einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die Straße,
+auf der ich mich befand, vorüberführte. Ich lehnte mich
+an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war
+wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu
+verhindern. Diese Tränen waren keine erlösenden. Sie
+brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine
+Augen zu reinigen und zu stärken. Ich sah plötzlich, daß
+es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er
+war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag;
+heut aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.
+
+ Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab,
+über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unseres
+Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der
+Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne
+Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am
+Faden zieht. Nach einiger Zeit öffnete sich die
+Schlafkammertür. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig
+aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah,
+erschrak sie. Sie zog die Kammertür schnell hinter sich
+zu und sagte aufgeregt, aber leise:
+
+ "Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen
+sehen?"
+
+ "Nein," antwortete ich.
+
+ "Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort!
+Nach Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt!
+Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!"
+
+ "Fort? Warum?" fragte ich.
+
+ "Was hast du getan; was hast du getan! Dieses
+Feuer, dieses Feuer!"
+
+ "Was ist es mit dem Feuer?"
+
+ "Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im
+Walde -- -- auf dem Felde -- -- und gestern auch bei
+dem Haus, bevor es niederbrannte!"
+
+ Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!
+
+ "Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!" stotterte ich. "Glaubst
+du etwa, daß -- -- --"
+
+ "Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater
+auch," unterbrach sie mich. "Alle Leute sagen es!"
+
+ Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und
+sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer
+Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:
+
+ "Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor
+allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh!
+Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht
+sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du
+bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh!
+Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!"
+
+ Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich
+berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von
+mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden
+Händen nach dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich
+die dicke Lehm- und Häckselschicht. Dieser Mensch, der
+da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene
+Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in
+seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein
+Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!
+
+ Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den
+Kleiderschrank zu öffnen und einen andern, saubern Anzug
+anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die
+Erinnerung läßt mich im Stich. Ich war wieder krank
+wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die
+inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich
+vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene Zeit
+zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig
+Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach
+dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu
+Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten.
+Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich,
+daß ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und
+was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten
+gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten.
+Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen
+unglaublich. Man beschuldigte mich, einen
+Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres
+Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt! Anderes
+ist schon glaublicher und Einiges direkt erwiesen. Man
+hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen war,
+da transportierte man mich als "hoffentlichen Täter" hin.
+Das war eine hochinteressante Zeit für die Habitués der
+Ernsttaler Lügenschmiede. Da wurde fast täglich Neues
+erzählt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte.
+Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Märchen
+kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung
+hin zu sündigen. Das war selbst für einen äußerlich
+und innerlich Gefangenen zuviel. Ich zerbrach
+während eines Transportes meine Fesseln und verschwand.
+Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in dem
+ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu berichten.
+Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu erwähnen, nämlich,
+daß ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich
+von der Heimat entfernte, daß mich draußen in der Ferne
+ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und daß
+ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich
+der Gegend meines Geburtsortes näherte. Gibt es
+Jemand, der das zu ergründen vermag? Ich folgte teils
+jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig
+zurück, und zwar um meiner guten Pläne und um meiner
+Zukunft willen. Hatte ich gesündigt; so hatte ich zu büßen;
+das verstand sich ganz von selbst. Und bevor diese Buße
+nicht erledigt war, konnte es für mich keine ersprießliche
+Arbeit und keine Zukunft geben. Ich kehrte also nach
+fünf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu
+stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig
+gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten,
+die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun,
+was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war,
+daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde.
+Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die Strenge
+des Richters, der mein Urteil fällte, vollständig begreife.
+Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt zu begreifen,
+der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt
+wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet,
+und zwar in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein,
+bei dieser billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben
+zu können oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm
+nicht mehr als Alles, was nötig ist, um eine solche
+Aufgabe auch nur einigermaßen zu lösen. Ich hätte gar
+wohl leugnen können, gab aber Alles, dessen man mich
+beschuldigte, glattweg zu. Das tat ich, um die Sache
+um jeden Preis los zu werden und so wenig wie möglich
+Zeitverlust zu erleiden. Dieser Advokat war unfähig, mich
+oder überhaupt ein nicht ganz alltägliches Seelenleben
+zu begreifen. Das Urteil lautete auf 4 Jahre Zuchthaus
+und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So schwer es mir fällt,
+dies für die Oeffentlichkeit niederzuschreiben, ich kann mich
+nicht davon entbinden; es muß so sein. Nicht mich bedaure
+ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister,
+welch erstere mir noch im Grabe leid tun, daß
+ihr Sohn, auf den sie so große, vielleicht nicht ganz
+unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche
+Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse gezwungen
+ist, derartige Geständnisse zu machen.
+
+ Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir
+vorgeworfen werden, hier aufzuzählen. Mein Henker,
+Schinder und Abdecker zu sein, überlasse ich jener
+abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an
+das Kreuz geschlagen und während dieser Zeit keinen
+Augenblick lang aufgehört hat, immer neue Qualen für
+mich zu ersinnen. Sie mag in diesen Fäkalienstoffen
+weiterwühlen, zum Entzücken aller jener niedern Lebewesen,
+denen diese Stoffe Lebensbedingungen sind. Und
+ebensowenig bin ich gewillt, mit dieser meiner jetzigen
+Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich habe schlicht
+und einfach über sie zu berichten, die Wahrheit zu sagen
+und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen Abgrund,
+der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer Valet
+zu sagen.
+
+ Meine Strafe war schwer und lang, und der auf
+zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir
+bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen.
+Ich war also auf strenge Behandlung gefaßt. Sie war
+ernst, aber sie tat nicht weh. Eine Anstaltsdirektion
+handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen
+zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte
+sich fügt. Nun, ich fügte mich! Freilich wurde für dieses
+Mal auf meinen Stand keine Rücksicht genommen. Man
+teilte mich derjenigen Beschäftigung zu, in der grad
+Arbeiter gebraucht wurden. Ich wurde Zigarrenmacher.
+Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete es mir. Ich
+habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke
+noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an
+sie zurück, welche man stillen, nicht grausamen Leidensstätten
+schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie
+war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak
+kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der
+billigsten bis zur teuersten. Das tägliche Pensum war
+nicht zu hoch gestellt. Es kam auf die Sorte, auf den
+guten Willen und auf die Geschicklichkeit an. Als ich
+einmal eingeübt war, brachte ich mein Pensum spielend
+fertig und hatte auch noch stunden- und halbe Tage lang
+übrige Zeit. Diese Zeit für mich verwenden zu dürfen,
+war mein innigster Wunsch, und der wurde mir eher,
+viel eher erfüllt, als ich es für möglich hielt.
+
+ Ich betone hier ein für allemal, daß es für mich keinen
+Zufall gibt. Das weiß ein jeder meiner Leser. Für
+mich gibt es nur eine Fügung. So auch in diesem Falle.
+Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische
+und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet
+(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen
+Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der
+Zeit so mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet
+worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter
+suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen
+die Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch
+noch die Orgel übernehmen konnte. Die Direktion billigte
+ihm zu, sich einen Vertreter unter den Gefangenen zu
+suchen. Er tat es. Es gab eine ganze Anzahl bestrafter
+Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden geprüft.
+Warum keiner von ihnen genommen wurde, das weiß
+ich nicht. Sie waren alle länger da, als ich, hatten
+also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches
+zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war
+mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte
+der zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und
+hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem
+Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich,
+keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der
+Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile
+mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen.
+Einige Tage später kam auch der katholische Geistliche.
+Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne daß er sich
+über den Grund seines Besuches äußerte. Aber am
+nächsten Tage wurde ich in die Kirche geführt, an die
+Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und mußte spielen.
+Die Herren Beamten saßen unten im Schiff der Kirche
+so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war nur der Katechet,
+der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die Prüfung
+und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir eröffnete,
+daß ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr
+gut zu führen habe, um dieses Vertrauens würdig zu
+sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel
+für mich und mein Innenleben entwickelte.
+
+ Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer
+katholischen Kirche! Das brachte mir zunächst einige
+Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebäude. Man
+konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen!
+Aber es brachte mir noch mehr, nämlich Achtung und
+diejenige Rücksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf
+gewisse Aeußerlichkeiten strebte. Der Aufseher unserer
+Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr
+wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich katholischer
+Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle,
+um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten
+ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als
+evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen.
+Da sah er mich groß an und sagte:
+
+ "Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt
+du -- -- -- hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!"
+
+ Die Gefangenen werden natürlich "Du" genannt;
+von jetzt an aber sagte er "Sie", und Andere taten ihm
+das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem
+sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere
+folgerte. Bald stellte sich zu meiner freudigen
+Ueberraschung heraus, daß mein Aufseher der Dirigent des
+Bläserkorps war. Ich erzählte ihm von meiner
+musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da brachte er mir
+schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen.
+Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war
+dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in meiner
+freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher
+ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und
+wir haben, als er später pensioniert war und nach Dresden
+zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit
+einander verkehrt.
+
+ Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur
+Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein
+Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und
+von einer so reichen erzieherischen, psychologischen
+Erfahrung, daß das, was er meinte, einen viel größeren Wert
+für mich besaß, als ganze Stöße von gelehrten Büchern.
+Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit mir. Er
+hielt mich für einen Protestanten und machte nicht den
+geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung
+einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich
+zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem
+Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen mußte, das
+wußte ich bereits oder konnte es in anderer Weise
+erfahren. Mir war das schöne Verhältnis heilig, das
+nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne daß
+sich störende Gegensätze in das rein menschliche Wohlwollen
+schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst,
+ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die Religion
+zwischen uns vollständig unberührt und konnte also umso
+direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein
+Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen,
+und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen
+Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das
+Kleinste groß zu nehmen weiß.
+
+ Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt
+lernte ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige
+Musikstücke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt,
+Musikverständnis zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache
+Katechet gab mir Nüsse zu knacken, die mir sehr zu schaffen
+machten. Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst
+jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das
+allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt.
+
+ Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn
+eine besondere Feststellung in Beziehung auf die
+Orgelbegleitung nötig war. Er sprach nur das Allernötigste,
+über Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat
+war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen
+beginne. Solche Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte
+eigentlich jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn
+der Laie ist nur allzusehr geneigt, die Kirche so zu
+betrachten und zu beurteilen, wie ihre Priester sich zu ihm
+stellen. Ueber den Unterschied zwischen dem protestantischen
+und dem katholischen Gottesdienst gehe ich hinweg, aber
+jeder vernünftige Mensch wird es für ganz naturgemäß
+und selbstverständlich halten, daß ich nicht vier Jahre
+lang an dem letzteren teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm
+beteiligt sein konnte, ohne von ihm beeinflußt zu werden.
+Wir sind doch keine Steine, von denen alles Weiche
+abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, wenn
+der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste
+waren ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine
+unendliche Dankbarkeit für diese Wärme und diese Güte in
+mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf
+für mich hatte, als alles Andere gegen mich war. Ich
+habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde
+sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm müssen doch die
+Menschen innerlich sein, welche behaupten, daß ich katholisiere!
+Es ist ganz unmöglich, daß sie die Menschenseele und die
+in ihr liegenden Heiligtümer kennen. Uebrigens habe
+ich über den katholischen Glauben gar nichts geschrieben,
+über den mohammedanischen aber ganze Bände. Der
+Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint also viel berechtigter,
+als der, daß ich katholisiere. Warum macht man mir
+diesen nicht? Die Madonna ist von hundert protestantischen
+Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtern,
+sogar von Goethe, behandelt worden. Warum sagt man
+von diesen nicht, daß sie katholisieren? Ich habe der
+katholischen Kirche für die hochsinnige Gastfreundlichkeit,
+die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre lang erwies,
+durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich für
+meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich
+der religiösen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des
+Geldes wegen! Ich wiederhole: Wie arm müssen diese
+Menschen sein, wie unendlich arm! -- --
+
+ Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der
+ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich
+sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben. Es stand mir
+jedes Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien
+brauchte. Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und
+begann dann mit der Ausführung derselben. Ich schrieb
+Manuskripte. Sobald eines fertig war, schickte ich es heim.
+Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern.
+Ich schrieb diesen nicht direkt, weil sie jetzt noch
+nicht erfahren sollten, daß der Verfasser der Erzählungen,
+die sie druckten, ein Gefangener sei. Einer aber erfuhr
+es doch, weil er persönlich zu den Eltern kam. Das war
+der später noch viel zu erwähnende Kolportagebuchhändler
+H. G. Münchmeyer in Dresden. Er war Zimmergesell
+gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das
+Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In
+dieser Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal
+und lernte in einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd
+kennen, die er heiratete. Das fesselte ihn an die
+Gegend. Er wurde da bekannt und erfuhr auch von mir.
+Was er da Tolles hörte, schien ihm außerordentlich passend
+für seine Kolportage. Er suchte meinen Vater auf und
+machte sich vertraut mit ihm. So kamen ihm meine
+Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war ihm
+zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er
+sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und
+bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und
+legte das Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht.
+Er schob es zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich
+zu geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Münchmeyer
+sehr gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann,
+den er gebrauchen könne; er werde mich nach meiner
+Heimkehr aufsuchen und alles Nähere mit mir besprechen.
+
+ Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest. Es ist
+für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu wissen,
+daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, wie sie
+in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles
+gehört hatte, was hinzugelogen worden war.
+
+ Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich
+Ruhe, vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der
+letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die
+dunklen Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen
+belästigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehört
+und war schließlich still geworden, ohne sich wieder zu
+regen. Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf psychologische
+Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht,
+daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie man
+in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber
+die letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder
+schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der
+Katechet war derselben Meinung. Ich hatte ihm von
+meinen inneren Anfechtungen nichts erzählt, wie ich in
+rein persönlichen und familiären Dingen überhaupt nie
+einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen
+fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte,
+aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal
+kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, von meinen
+dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu sprechen;
+aber ich tat so, als ob ich von einem Andern spräche, nicht
+von mir selbst. Da lächelte er. Er wußte gar wohl, wen
+ich meinte. Am nächsten Tage brachte er mir ein kleines
+Buch, dessen Titel lautete: "Die sogenannte Spaltung des
+menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung
+überhaupt." Ich las es. Wie köstlich es war! Welche
+Aufklärung es gab! Nun wußte ich auf einmal, woran
+ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese
+Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu fürchten! Später,
+als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der
+Freude entsprechend, die ich darüber empfand. Da fragte
+er mich:
+
+ "Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie
+erzählten?"
+
+ "Ja," antwortete ich.
+
+ "Haben Sie alles verstanden?"
+
+ "Nein, noch nicht."
+
+ "Dieses hier?"
+
+ Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: "Wer
+an diesen schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor
+der Stelle, an der er geboren wurde. Er wohne niemals
+längere Zeit dort. Und vor allen Dingen, wenn er einmal
+heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem
+Orte!"
+
+ "Nein, das verstehe ich noch nicht," gestand ich ein.
+
+ "Ich auch nicht," gab er zu. "Aber denken Sie
+darüber nach!"
+
+ Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich
+zu keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein
+psychologische Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende
+Lehrerin, und diese Erfahrung mußte ich machen, ehe
+ich es begriff, leider, leider! -- -- --
+
+ _________
+
+
+ VI.
+ Bei der Kolportage.
+
+ _____
+
+Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war
+ein stürmischer Frühlingstag, es regnete und schneite.
+Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal
+nicht ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine
+Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig
+gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine
+Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei
+dieser Gelegenheit auch auf Münchmeyer zu sprechen und
+darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle.
+
+ "Das wird vergeblich sein," sagte ich. "Dieser Mann
+will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter
+nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt
+wahrscheinlich, daß ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man
+über mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken,
+der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber
+vernichten würde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere
+Zwecke und Ziele!"
+
+ Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt
+angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er
+nach dem nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes,
+neugebautes Haus und fragte mich:
+
+ "Kennst du das dort?"
+
+ "Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?"
+
+ "Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es
+heraus, wer es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter
+sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus
+gekommen als du. Mutter wird es dir erzählen."
+
+ "O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte
+sie, daß sie hierüber schweigen soll!"
+
+ Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der Ortswachtmeister
+in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf
+er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre
+lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er
+kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in
+die Brust, daß man es wirklich keinem in dieser Weise
+behandelten Menschen übelnehmen kann, wenn er dadurch
+rückfällig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein
+Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich täglich zu melden habe.
+Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der
+Tasche, um mir eine Vorlesung über meine Pflichten zu
+halten. Ich sagte kein Wort, sondern öffnete die Tür und
+gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht
+sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Bürgermeister und
+machte kurzen Prozeß. Ich forderte einen Auslandspaß,
+und als mir die Auskunft wurde, daß dies nicht so ohne
+weiteres möglich sei, war ich schon am nächsten Tage ohne
+Paß unterwegs.
+
+ Im Zuge saß ich in einem sonst leeren Coupé. Es
+ging über die Grenze. Da begann es plötzlich in mir
+laut zu wüten und zu toben, zu schreien und zu brüllen
+wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte
+mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von
+Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen
+das kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber ließ
+es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht
+hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren.
+Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach
+ganz von selber still werden.
+
+ Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der
+zweite Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um
+nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er
+das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim.
+Ungefähr dreiviertel Jahre später erschien er wieder, und
+zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal
+fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine
+"Geographischen Predigten" zu schreiben und in Druck zu
+geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann
+auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut
+gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in
+Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte
+einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das
+war mir unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie
+etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu
+tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte.
+Er erklärte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr
+beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so
+trefflicher Weise, daß ich beide nicht kurzer Hand
+abwies, sondern sie aussprechen ließ. Aber als sie das
+getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, obgleich ich es
+nie für möglich gehalten hätte, daß ich jemals zu der
+"Kolportage" in irgend eine Geschäftsbeziehung treten
+könne.
+
+ Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden
+Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was
+er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er
+sprach von einem sogenannten "Schwarzen Buch" mit lauter
+Verbrechergeschichten, von einem sogenannten "Venustempel",
+der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen
+Werken gleicher Art. Für heut aber handle es sich
+um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel "Der
+Beobachter an der Elbe" herausgebe. Gründer und
+Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender
+Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter,
+tatkräftiger, aber in geschäftlicher Beziehung höchst
+gefährlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm überworfen, sei
+plötzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle
+Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz ähnliches
+Blatt wie den "Beobachter an der Elbe" herausgeben,
+um ihn tot zu machen. "Wenn ich nicht sofort einen
+anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist
+und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!"
+schloß Münchmeyer seinen Bericht.
+
+ "Aber wie kommen Sie da grad auf mich?" erkundigte
+ich mich. "Ich bin weder Redakteur noch in irgend
+einer Weise bewährt!"
+
+ "Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel
+von Ihnen gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre
+Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der,
+den ich brauche!"
+
+ "Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur
+Kolportage wird mich niemand bringen!"
+
+ "Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch
+Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?"
+
+ Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer;
+er begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten,
+die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom
+Niedrigen leben.
+
+ "Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!" rief er
+aus. "Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am
+besten und schnellsten bei mir!"
+
+ "Wieso?"
+
+ "Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen
+diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!"
+
+ "Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr
+,Beobachter an der Elbe' nicht gefällt? Ich kenne ihn
+ja nicht."
+
+ "So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein
+neues Blatt an seiner Stelle!"
+
+ "Was für eines?"
+
+ "Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke
+paßt!"
+
+ Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon
+mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine
+Pläne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch
+weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht
+machte, auf seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine
+eigenen Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet
+die prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die
+Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher
+Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte
+für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde
+mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den [sic]
+Münchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend,
+aber es flossen mir ja außerdem derartige Honorare zu,
+daß ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war
+gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljährige Kündigung
+an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es
+mir nicht gefiel.
+
+ "Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!" forderte er
+mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.
+
+ "Wann hätte ich anzutreten?" fragte ich.
+
+ "Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag
+darf uns nicht vorauskommen."
+
+ "Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!"
+
+ "Ich weiß Alles. Das tut aber nichts."
+
+ "Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!"
+
+ "Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut
+nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der
+Allerliebste! Schlagen Sie ein!"
+
+ Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand
+hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab
+ich ihm den Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.
+
+ Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst
+ein möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr
+bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur
+Verfügung, und ich kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand
+den Verlag ganz ungemein häßlich. Das "Schwarze Buch"
+war geradezu empörend verbrecherisch. Der "Venustempel"
+zeigte sich als ein scheußliches, auf die niedrigste
+Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften
+Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden
+Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke für
+Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die
+mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte
+und Bilder lagen überall umher. Die Arbeiter und
+Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Töchter
+Münchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter,
+lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau
+Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: "Was
+denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine
+Masse Geld!" Ich nahm mir vor, dies müsse entweder
+anders werden oder ich würde ohne Kündigung wieder
+fortgehen. Was den "Beobachter an der Elbe" betrifft,
+dessen Redaktion ich übernommen hatte, so sah ich gleich
+mit dem ersten Blick, daß er verschwinden müsse.
+Münchmeyer war so vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen
+das Blatt eingehen, und ich gründete drei andere an
+seiner Stelle, nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter,
+welche "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden"
+betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt
+für Berg-, Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die
+Ueberschrift "Schacht und Hütte" gab. Diese drei Blätter
+waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse
+der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser
+und Herzen zu bringen. In Beziehung auf "Schacht und
+Hütte" bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die
+großen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür
+zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis
+war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte.
+Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu Weihnachten
+ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab
+sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, mußte
+sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen.
+
+ In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß Münchmeyer
+von auswärtigen Behörden wegen der Verbreitung
+des "Venustempels" angezeigt wurde. Verfasser dieses
+Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag,
+der nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil
+dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht
+partizipieren ließ. Das Buch enthielt eine lüstern
+geschriebene Abteilung über "die Prostitution", die zu
+Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde
+Münchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher,
+das weiß ich nicht, daß eine Haussuchung nach dem "Venustempel"
+stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte
+Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhüten.
+Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir aber
+sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen
+Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte
+ganze Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern
+Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte
+jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der
+gefährdeten Bücher in die Privatwohnungen und verbarg
+sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell
+und gelang so gut, daß die Polizei, als sie sich einstellte,
+kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange
+hat man sich im Münchmeyerschen Hause des Schnippchens
+gerühmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener
+Behörde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst später,
+viel später hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines
+Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund
+heraus, nicht aber wieder hinunter!
+
+ Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig
+gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die
+Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag
+zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir,
+daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb,
+so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann
+gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten
+Blätter mit der Ausführung meiner literarischen Pläne.
+Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser Beziehung mein
+Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, nämlich
+auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten
+wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das "Deutsche
+Familienblatt" für die Indianer und die "Feierstunden"
+für den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort
+mit "Winnetou", nannte ihn aber einem anderen
+Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich war
+überzeugt, daß diese beiden Blätter eine Zukunft hätten,
+und ich bildete mir ein, für eine ganze Reihe von
+Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da gab es Raum
+und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz
+selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, die ich
+wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich
+bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten,
+weit ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes
+Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt
+war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine
+Anerkennung, eine Förderung bedeuten. Man machte mir
+nämlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag,
+die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten. Man
+lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden
+ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Münchmeyers
+wohnen und bekam vom Vater der Frau Münchmeyer
+die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte grad
+das Gegenteil. Ich sagte "nein" und kündigte, denn
+nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben
+konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen
+Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte,
+das Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen
+zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das
+Vierteljahr vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch
+nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage
+tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei,
+schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann
+auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berührend, wurde
+ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und
+erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der
+Verleger des "Venustempels", wegen dieses Schandwerkes
+kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir
+verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses
+Venustempels hineingeheiratet zu haben!
+
+ Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise
+hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in
+Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte
+einige Tage bei ihr und lernte da ein Mädchen kennen,
+welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte.
+Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, daß
+ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen
+mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen. Ob das
+ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich
+entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es
+nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und
+eine schöne häßlich finde. Die interessantesten Wesen
+sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft
+erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren
+Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich
+an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nichts
+dafür. Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche,
+hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis.
+Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in
+Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort
+nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen.
+Auf dem Rückwege kam ich über den Hohensteiner Markt.
+Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem
+Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden
+sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler
+und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit,
+die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg
+oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es
+war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das. Sein
+Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man für
+das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte
+ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich
+stehen. Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen
+wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu,
+die war vom Dorfe, sie fragte, was das für eine
+Leiche sei.
+
+ "Pollmers Tochter," antwortete eine der beiden ersten
+Frauen.
+
+ "Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn
+die gestorben?"
+
+ "An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses
+wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an
+dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das
+bringt Jedermann nur Unheil."
+
+ "Was ist denn der Vater?"
+
+ "Der? Es hat ja keinen!"
+
+ "Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es
+freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben
+werden!"
+
+ Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg
+heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen
+Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person,
+welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind,
+der "Nickel", der seine eigene Mutter getötet hatte und
+Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem
+nichts. Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den
+Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der
+Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg
+fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich später noch
+oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor
+einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an
+dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. Ich
+glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an
+das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine
+Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis
+und an den unglückseligen "Nickel" dachte. Sobald ich
+später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich
+ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der
+Oberstube des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer
+Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes,
+eines Mädchens, herausschauen. Ich blieb für einen
+Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es
+war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes
+noch etwas Fürchterliches an sich. Später begegnete ich
+einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen
+Manne, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen
+an der Hand führte. Das war der alte Pollmer mit
+seinem "Nickel". Der Alte sah sehr ernst, das Kind
+aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar
+nichts an sich, was verriet, "daß seine Mutter an ihm
+gestorben war". Dann habe ich es noch verschiedene
+Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang
+aufgeschossen, überaus schmal, ganz uninteressant, ein
+vollständig gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß
+dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch
+nur unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt
+bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer
+Freundinnen einige junge Mädchen vorgestellt, unter
+denen sich auch ein "Fräulein Pollmer" befand. Das
+war der "Nickel"; aber er sah ganz anders aus als
+früher. Er saß so still und bescheiden am Tisch,
+beschäftigte sich sehr eifrig mit einer Häkelei und sprach
+fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht
+errötete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen,
+geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort über
+die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, gar
+nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so
+herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das gefiel
+mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, nämlich
+Pollmer, meine "Geographischen Predigten" gelesen hatte
+und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr.
+Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden.
+Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur
+von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der
+Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder
+Niederland, ob Wüste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich
+nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich
+deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land
+kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer wohlhabenden
+oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht
+verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer
+Webersohn und eigentlich viel weniger als das.
+
+ Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie
+hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch
+erweckt, mich nach der Lektüre meiner "Predigten" nun
+auch persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir
+befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch
+ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein
+Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch
+beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus
+einem persönlichen in einen schriftlichen verwandelte.
+Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich
+bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer
+hätte jemals gedacht, daß ich mit dem "Nickel", der Einem
+"nur Unheil bringt", in Korrespondenz treten würde!
+
+ Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten
+Eindruck. Sie sprach da von meinem "schönen, hochwichtigen
+Beruf", von meinen "herrlichen Aufgaben", von
+meinen "edlen Zielen und Idealen". Sie zitierte Stellen
+aus meinen "Geographischen Predigten" und knüpfte
+Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch
+eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es
+mir zuweilen so vor, als ob nur ein männlicher Verfasser,
+und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben
+könne, aber es war mir nicht möglich, sie eines solchen
+Betruges für fähig zu halten. Meine Schwester schrieb
+mir auch. Sie floß vom Lobe "Fräulein Pollmers" über
+und lud mich für die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu
+besuchen. Ich tat es. Ich vergaß, daß grad die
+Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und
+daß ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde,
+gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied über
+mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte
+ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis
+ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte,
+um das Seelenstudium des "Nickels", der nun "mein
+Nickel" werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam
+nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer
+Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bühne zu sein
+pflegt. Nämlich als Pollmer erfuhr, daß ich wieder da
+sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum
+Mittagessen ein. Er war längst Witwer, und seine Familie
+bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wußte,
+daß er sich überall nur höchst lobend über mich aussprach,
+und daß meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten,
+mich für einen guten, vertrauenswürdigen Menschen
+zu halten. Aber ich wußte auch, daß er sein Enkelkind
+für das schönste und wertvollste Wesen der ganzen
+Umgegend hielt und daß er ganz märchenhafte Gedanken
+in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war
+der Ansicht, daß solche strahlende Beautés der größte
+Reichtum ihrer Familie seien und nur möglichst reich
+und vornehm verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich
+konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß
+auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte
+ich sehr wohl; und vielleicht war es die höchste Zeit, sie
+diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum,
+als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:
+
+ "Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich
+nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter
+willen kommen darf."
+
+ Er horchte überrascht auf.
+
+ "Um Emmas willen?" fragte er.
+
+ "Ja."
+
+ "Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf
+sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?"
+
+ "Allerdings."
+
+ "Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist
+aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie
+dazu?"
+
+ "Sie ist einverstanden."
+
+ Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot
+im Gesicht und rief aus:
+
+ "Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter
+ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie
+sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet!
+Die kann andere Männer kriegen. Die soll mir keinen
+Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von
+seiner Berühmtheit und nur vom Hunger lebt!"
+
+ "Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?"
+fragte ich. "Das würde ich gelten lassen!"
+
+ "Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen
+Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das
+Zuchthaus gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz
+andere Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!"
+
+ Er rief das sehr laut aus.
+
+ "Oho!" antwortete ich.
+
+ "Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole
+Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!"
+
+ Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck
+zu verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden.
+Es juckte mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die
+Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: "Gut, so behalten
+Sie sie!" Aber dagegen bäumte sich das väterliche
+Erbteil in mir auf, der zähe, unbedachte Zorn, der
+niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf:
+
+ "Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!"
+
+ "Versuchen Sie das!"
+
+ "Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde
+es tun, wirklich tun!"
+
+ Da lachte er.
+
+ "Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte
+mir von jetzt an jeden Besuch!"
+
+ "Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage
+Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu
+mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt
+aber leben Sie wohl!"
+
+ "Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!"
+
+ Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte
+sie seiner Tochter. Die lauteten: "Entscheide zwischen
+mir und Deinem Großvater, Wählst Du ihn, so bleib;
+wählst Du mich, so komm sofort nach Dresden!" Dann
+reiste ich ab. Sie wählte mich; sie kam. Sie verließ
+den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie
+war. Das schmeichelte mir. Ich fühlte mich als Sieger.
+Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene,
+hochgebildete Töchter besaß. Durch den Umgang mit
+diesen Damen wurde es ihr möglich, sich Alles, was sie
+noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von da aus bekam
+sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft führen
+zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr
+gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anständige
+Honorare. Ich hatte mit meinen "Reiseerzählungen"
+begonnen, die sofort in Paris und Tours auch
+in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich
+herum; das imponierte sogar dem "alten Pollmer". Er
+hörte von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein
+wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da
+schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn
+um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf,
+nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber
+mitzubringen. Sie erfüllte ihm diesen Wunsch, und ich
+begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach
+Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich
+aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt
+habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse
+er persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!
+
+ Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht
+von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung
+gesiegt, daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen
+bringen werde, und es gab sogar die Gefahr für mich,
+daß diese Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen
+worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer
+Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte
+nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um
+bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals
+eine Zeit ganz eigenartiger innerer und äußerer
+Entwicklungen für mich. Ich schrieb und machte Reisen.
+Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr ich, kaum
+aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der "alte Pollmer"
+gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. Ich
+eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel
+gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber
+weder sprechen noch sich bewegen. Sein Enkelkind saß
+in einer seitwärts liegenden Stube bei einer klingenden
+Beschäftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und
+es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube kaum
+zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken
+hinüber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es
+aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem
+Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde
+Arzt. Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen
+untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid,
+daß alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt
+hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir
+nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich
+versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar
+noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt, in
+Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine
+Etage des oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich
+leben können, wenn uns ein solches Glück beschieden
+gewesen wäre.
+
+ Ich schrieb damals schon einige Jahre für
+Pustet in Regensburg, in dessen "Deutschem Hausschatz"
+meine "Reiseerzählungen" erschienen. Die Firma Pustet
+ist eine katholische und der "Deutsche Hausschatz" ein
+katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle
+Zugehörigkeit war mir höchst gleichgültig. Der Grund,
+warum ich dieser hochanständigen Firma treugeblieben
+bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher.
+Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei
+der zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur
+Vinzenz Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine
+Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen
+Verlag senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren
+Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe
+er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel
+Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem
+ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden
+darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar,
+wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau
+übermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines
+einzigen Males, daß es später gekommen wäre. Und
+niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur
+die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe
+nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und
+als Pustet es mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus
+eigenem, freiem Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf
+bezüglichen Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern
+bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und
+ihrer Konfession zu fragen.
+
+ Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für
+mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt
+waren und sicher an- und aufgenommen wurden.
+Das machte es mir möglich, meine auf die "Reiseerzählungen"
+bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es
+war mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit
+hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen
+dann später in Buchform herausgeben würde, war eine
+Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt
+feindselige Menschen, welche behaupten, daß ich mich
+nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag
+herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, für deren
+Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte
+finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan,
+dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem "Deutschen
+Hausschatz" und seinem Herausgeber Opfer gebracht,
+von deren Größe die Familie Pustet keine Ahnung
+hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef
+Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem ich
+sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich
+schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in
+Stuttgart erscheinende Revue "Vom Fels zum Meere",
+für welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie
+folgt:
+
+ "Sehr geehrter Herr!
+
+ Sie haben inzwischen schon wieder für andere
+ Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich
+ mit dem längst Versprochenen noch immer im Stiche
+ ließen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte
+ Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenüber
+ wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht
+ vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht
+ geneigt wären, einmal einen recht packenden, fesselnden
+ und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich würde
+ I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend
+ Mark pro "Fels"-Bogen zusichern können, wenn Sie
+ etwas Derartiges schreiben würden.
+
+ In vorzüglicher Hochachtung
+
+ Ihr ergebenster
+
+ Josef Kürschner.
+
+ Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war
+gegen diese tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich
+scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet
+trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewiß wohl mehr
+als hinreichender Beweis, daß ich für den "Hausschatz"
+nicht geschrieben habe, um "mehr Geld zu machen, als
+ich von Andern bekam". Auch meine andern Verleger
+zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß ich, um
+diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit
+konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner
+Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe,
+der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet
+zurück zu Münchmeyer zu wenden.
+
+ Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau
+auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte
+ihr Münchmeyer so lebhaft geschildert, daß sie sich ein
+ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie
+ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wünschte aber sehr,
+ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt
+hatten, daß er ein hübscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter
+und für schöne Frauen begeistert sei. Er pflegte
+in dieser Jahreszeit um die Dämmerstunde in einer
+bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr
+das sagte, bat sie mich, sie hinzuführen. Ich tat es,
+obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich
+seiner Schwägerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich
+nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen
+Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig;
+das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch
+geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar
+so zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den
+Kopf in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich
+froh und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er
+machte mir in seiner Kolportageweise die unmöglichsten
+Komplimente, eine so schöne Frau zu haben, und meiner
+Frau gratulierte er in denselben Ausdrücken zu dem
+Glück, einen so schnell berühmt gewordenen Mann zu
+besitzen. Er kannte meine Erfolge, übertrieb sie aber,
+um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf
+meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu
+schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie
+sei schön wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel
+werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner
+jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten, indem sie
+mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und nun
+erzählte er:
+
+ Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er
+keinen passenden Redakteur für die von mir gegründeten
+Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren.
+Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten
+fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es
+wollte überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte
+auf Verlust, und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage
+Sein oder Nichtsein nicht länger von sich weisen
+konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darüber
+nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden könne,
+doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie
+vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, daß er gerettet
+werde, nämlich durch mich, durch einen Roman von mir,
+durch meine schöne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die
+mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen
+Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben
+Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau
+vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch
+zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise
+vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen
+Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles außerordentlich
+gut gestanden; aber daß ich seine Schwägerin nicht habe
+heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das
+habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder
+gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet,
+ihm jetzt unter die Arme zu greifen.
+
+ Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich
+gar wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte
+damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau
+Münchmeyer zu heiraten, für so selbstverständlich gehalten,
+daß überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß
+ich den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen,
+sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche
+Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld
+trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz
+dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß
+wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde
+auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen
+geschäftlichen, nicht aber einen persönlichen Grund geben,
+seinen Wunsch zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher
+Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern.
+Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In
+dem Umstand, daß Münchmeyer Kolportageverleger war,
+lag kein Zwang für mich, ihm nun auch meinerseits nichts
+Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu
+schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische
+Folge von Reiseerzählungen, wie ich sie Pustet und anderen
+Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich
+auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das,
+was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso später für
+mich in Bänden erscheinen lassen, wie das für meine
+Hausschatzerzählungen bestimmt worden war.
+
+ Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während
+Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen.
+Ich erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht entschließen
+können, den gewünschten Roman zu schreiben, doch nur
+unter der Bedingung, daß er nach einer bestimmten Zeit
+mit sämtlichen Rechten wieder an mich zurückfalle. Es
+dürfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort geändert
+werden; das wisse er ja von früher her. Münchmeyer
+erklärte, hierauf einzugehen, doch möge ich ihn mit dem
+Honorar nicht drücken. Er sei in Not und könne nicht
+viel zahlen. Später, wenn mein Roman gut einschlage,
+könne er das durch eine "feine Gratifikation" ausgleichen.
+Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an
+welcher der Roman wieder an mich zurückzufallen habe,
+sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald
+sie erreicht worden sei, er aufzuhören und mir meine Rechte
+wiederzugeben habe. Er berechnete, daß er mit sechs- bis
+siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme;
+was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug
+ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde,
+solle Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten
+gehen dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine "feine
+Gratifikation" zu zahlen, und der Roman falle mit allen
+Rechten an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das
+entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen
+Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache.
+Hierauf ging Münchmeyer sofort ein, ich aber gab meine
+Zusage noch nicht definitiv; ich erklärte, mir die Sache
+erst noch reiflich überlegen und meine Entscheidung dann
+morgen geben zu wollen.
+
+ Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser
+Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja,
+halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte
+nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm
+seinen Wunsch zu erfüllen. Er bekam den Roman zu den
+erwünschten Bedingungen, nämlich nur bis zum
+zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er für die Nummer
+35 Mark zu bezahlen und beim Schluß eine "feine
+Gratifikation". Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt
+war also kein schriftlicher, sondern ein mündlicher. Er sagte,
+wir seien beide ehrliche Männer und würden einander
+nie betrügen. Es klinge für ihn wie eine Beleidigung,
+von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus
+zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich erstens durften
+nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel eines
+Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden;
+Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich sein wollte,
+nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte
+ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und
+unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine
+Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so
+einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles
+enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das
+habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig
+aufgehoben.
+
+ Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort
+beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst
+nach Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine
+Frau trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er
+hatte eine persönliche Vorliebe für den nichtssagenden
+Titel "Das Waldröschen". Ich ging auch hierauf ein,
+hütete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen
+zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen günstige
+Nachrichten. Der Roman "ging". Dieses "ging" ist ein
+Fachausdruck, welcher einen nicht gewöhnlichen Erfolg
+bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu
+lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine
+Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich
+verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare nach
+Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit
+war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine
+Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu
+vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war
+ja bestimmt worden, daß mir kein Wort geändert werden
+dürfe, und ich besaß damals die Vertrauensseligkeit, dies
+für genügend zu halten.
+
+ Der Erfolg des "Waldröschens" schien nicht nur ein
+guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer
+zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er
+schrieb wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer
+Zeit für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman
+so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte
+den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben,
+sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner
+Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken
+mit Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell
+wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich keineswegs.
+Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit mehr
+und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem
+Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte,
+dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle,
+an der ich geboren worden war, seßhaft niedergelassen,
+sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich
+war für einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser
+Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber
+gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und
+wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen,
+einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter
+über trübe Gewässer hinüberlangt, als wenn er eine
+zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen
+kann noch schwimmen will. Darum war mir diese
+Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht
+nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir
+Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da
+sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es entwickelte
+sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr zwischen
+ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast keine
+Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell vorwärts,
+und sein Erfolg wuchs derart, daß Münchmeyer mich bat,
+noch einen zweiten und womöglich noch einige weitere
+zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß meine Entscheidung
+über diesen seinen Wunsch eine für mich hochwichtige sei
+und daß sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu
+einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher
+Qual werden könne. Ich betrachtete nur die angeblichen
+Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.
+
+ Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus
+meinen literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte
+diese Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut.
+Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht
+ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab.
+Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein
+freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte,
+das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich
+brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei
+Pustet, auf viele Jahrgänge auseinander zu dehnen, sondern
+ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das,
+was jetzt als Heftroman erschien, später in Buchform
+herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das
+beständige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwände,
+die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen
+brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige
+Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen
+wie das "Waldröschen". Diese Arbeiten hatten
+mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten
+mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir
+eine "feine Gratifikation" zu zahlen. Es gab nur eine
+einzige Aenderung, nämlich die, daß ich für diese Romane
+ein Honorar von fünfzig Mark pro Heft bezog, anstatt
+nur fünfunddreißig bei dem "Waldröschen".
+
+ Infolge dieser Abmachungen begann für mich von
+jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung,
+zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschämung denken
+kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit
+blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter
+nichts. Es war ein fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich
+damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere
+Schriftsteller, mühsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja
+reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich
+nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich
+suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich
+hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu schreiben.
+Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder
+rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war
+es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es
+für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das,
+welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so
+viel und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß ermöglichte
+es mir, zu vergessen, daß ich mich in meinem Lebensglück
+geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es
+vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere
+Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede auszufüllen,
+zu rastlosem Fleiße und machte mich leider gleichgültig
+gegen die Notwendigkeit, geschäftlich vorsichtig zu
+sein. Es kam bei Münchmeyer so viel vor, was mich
+veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, daß mehr als
+genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integrität alles
+dessen, was ich für ihn schrieb, so sicher wie möglich zu
+stellen. Daß ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den
+ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht
+verzeihen kann.
+
+ Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden.
+Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garçonlogis gemietet,
+um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns
+verbringen zu können. Er kam auch an Abenden der
+andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr
+oft auch andere Personen mit. Er wünschte zwar, daß
+ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stören lassen
+möge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner
+Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr
+möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus
+Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue
+Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen,
+und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und
+Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm und
+überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause. Grad
+das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und
+äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte.
+Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür
+aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen
+von Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen
+durch Wald und Heide zu begleiten. Diese
+Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe
+Lufteinatmung verordnet hatte. Ich mußte mich wohl
+oder übel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch
+meiner Frau war, deren Gründe ich leider nicht zu würdigen
+verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer
+jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich
+mußte kündigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung
+des amerikanischen Viertels, die über einer Kneipe
+lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank.
+Der Arzt riet ihr sehr frühe Spaziergänge nach dem großen
+Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen
+ärztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab
+für mich keinen Grund, diese Spaziergänge zu verhindern,
+die morgens vier bis fünf Uhr begannen und ungefähr
+drei Stunden währten. Ich wußte nicht, daß Frau
+Münchmeyer auch nicht gesund war und daß auch sie
+von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frühe
+Morgenspaziergänge nach dem Großen Garten zu machen. Erst
+nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was während
+dieser Spaziergänge geschehen war. Meine Frau war
+mir nicht nur seelisch, sondern auch geschäftlich verloren
+gegangen. Die beiden Damen saßen tagtäglich früh morgens
+in einer Konditorei des großen Gartens und trieben eine
+Hausfrauen- und Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich
+erst später verspürte. Ich machte Schluß und zog von
+Dresden fort, nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt
+seiner Vorortsperipherie.
+
+ Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane
+für Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf
+geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn
+man später vor Gericht behauptet hat, daß ich für Münchmeyer
+nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich,
+mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und
+zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat.
+Hiermit sei für heut mit meiner "Kolportagezeit"
+abgeschlossen. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ VII.
+ Meine Werke.
+
+ _____
+
+Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich
+diejenigen meiner Bücher, mit denen sich die Kritik
+beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen, über
+welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen
+hat, können auch hier übergangen werden. Zu diesen
+gehören meine Humoresken, meine erzgebirgischen
+Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den
+Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu
+sein. Ich könnte hierzu auch noch meine "Himmelsgedanken"
+rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen scheint, seit
+es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, daß er sich mit
+ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb bekanntlich:
+"Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,"
+obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges
+lyrisches Gedicht befindet! Auch meine sogenannten "Union-
+oder Spemannbände" brauche ich hier nicht zu besprechen,
+weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur
+als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die
+einzigen Sachen sind, die ich für die Jugend geschrieben
+habe. Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen
+"Reiseerzählungen" und um die bei Münchmeyer
+erschienenen "Schundromane", welch letztere im nächsten
+Kapitel behandelt werden.
+
+ Meine "Reiseerzählungen" haben, wie bereits erwähnt,
+bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah
+Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und
+der Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf
+diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen
+bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.
+Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem
+Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen
+diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der "Wüste".
+In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der völligen
+Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und
+den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das
+"Ich", die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die
+Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein
+sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen
+Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten
+Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi
+sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch
+niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo
+man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man
+sieht, daß ich ein echt deutsches, also einheimisches,
+psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand
+kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen
+zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte,
+daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also bildlich
+resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus
+oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein.
+Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter
+ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag.
+
+ Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt
+und auch seinen Vater und Großvater noch als Hadschis
+hinten anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich
+für die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst
+zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen
+hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen,
+sondern auch im gelehrten Leben alltäglich, aber man
+ist derart blind für diesen Fehler, daß ich eben arabische
+Personen und arabische Zustände herbeiziehen muß, um
+diese blinden Augen sehend zu machen. Ich schicke darum
+diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka,
+wodurch seine Lüge zur Wahrheit wird, weil er nun
+wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine
+"Seele" kennen lernen -- -- -- Hannah [sic], sein Weib.
+
+ Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem
+ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und
+wie man meine Bücher lesen muß, um ihren wirklichen
+Inhalt kennen zu lernen. Ein zweites Beispiel mag
+folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen
+Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll von dem
+Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der
+Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum
+Schah, um ihn um Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat
+aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon
+die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, daß
+sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun
+Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des
+Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah
+ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese
+Erzählung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8:
+"Euer Vater weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn
+bittet!" Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl
+May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser,
+welches von den Sillan vernichtet werden soll. Ich
+erzähle also rein deutsche Begebenheiten im persischen
+Gewande und mache sie dadurch für Freund und Feind
+verständlich. Ist das nicht Gleichnis? Nicht bildlich?
+Gewiß! Und ist es etwa mystisch? Nicht im
+Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig
+mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere
+bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch
+erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will.
+Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher
+Absicht an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres
+finden, daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht.
+Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben
+ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmärchen nicht
+verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen
+und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen
+zu bilden haben. Diese Märchen sind es auch,
+aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse
+meiner letzten Tage zu entwickeln hat.
+
+ Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi
+Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von
+der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals
+wiedergefunden werden kann, außer sie findet sich selbst.
+Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die
+Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des
+Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege
+also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so
+aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt
+worden ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich
+gewisse Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht
+werden, keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es
+einmal wagen, so offen über sich selbst zu sprechen wie
+ich über mich, so würde das sogenannte Karl May-Problem
+schon längst in jenes Stadium getreten sein, in
+welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht.
+Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis.
+Es ist nichts Anderes, als jenes große, allgemeine
+Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon ungezählte Millionen
+gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen.
+Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir
+herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der
+traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und
+in den Schriften Derer lebe, die sich berufen wähnen,
+Probleme zu lösen, dies aber immer nur da tun, wo
+keine vorhanden sind.
+
+ Ich nenne ferner das Märchen von "Marah Durimeh",
+der Menschheitsseele, von "Schakara", der edlen,
+gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner
+jetzigen Frau gegeben habe. Das Märchen vom "erlösten
+Teufel", vom "eingemauerten Herrgott", vom
+"versteinerten Gebete", von den "verkalkten Seelen",
+von den "Rosensäulen des Beit-Ullah", von dem "Sprung
+in die Vergangenheit", von der "Dschemma der Lebendigen
+und Toten", von der "Schlacht am Dschebel Allah",
+vom "Mahalamasee", vom "Berg der Königsgräber",
+vom "Mir von Dschînnistan", vom "Mir von Ardistan",
+von der "Stadt der Verstorbenen", vom "Dschebel Muchallis",
+von der "Wasserscheide von El Hadd" und noch
+viele, viele andere. Wie man bei einem geistig und
+seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Bücher
+als "Jugendschriften" und mich als "Jugendschriftsteller"
+bezeichnen kann, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht
+wüßte, daß Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder
+nicht begriffen oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst
+"Winnetou", der so leicht zu lesen zu sein scheint,
+bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt,
+eines Nachdenkens und eines Verständnisses, welches doch
+gewiß keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen
+ist! Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdrücken
+"Jugendschriften" und "Jugendschriftsteller" bleibt, so
+muß ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu
+dem sich kein anständiger, ernster Kritiker hergeben wird.
+
+ Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu,
+daß meine "Reiseerzählungen" nicht als Jugendschriften
+verfaßt worden sind, so ist der jetzt landläufig
+gewordenen Behauptung, daß sie schädlich sind, aller Boden
+entzogen. Es lese sie doch nur der, dem sie nicht
+schädlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu! Weshalb
+und wozu die Vorwürfe alle, die man mir jetzt in hunderten
+von Zeitungen macht? Sieht man sich diese Vorwürfe
+aber genauer an, so verlieren sie allen Wert.
+Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist
+so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder
+in das Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht
+nur Mode, sondern Mache! Selbst wenn meine Bücher
+jetzt von keinem Menschen mehr gelesen würden, könnte
+mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich
+weiß, daß man sehr bald hinter diese Mache kommen
+und sich demgemäß verhalten wird. Ja, hätte ich meinen
+Lesern bloß nur Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte
+ich von der Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder
+aufzutauchen, und würde ganz von selbst so verständig
+sein, mich darein zu ergeben. Aber _ich_habe_während_
+_meines_"Lebens_und Strebens"_allzu_viele_und_
+_allzu_große_Fehler_begangen,_als_daß_ich_so_
+_mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_für_immer_
+_verschwinden_dürfte.__Ich_habe_gutzumachen!_
+Was der Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu
+sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels
+erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod hinüberzunehmen,
+sondern sie schon hier zu bezahlen. Das will
+ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja,
+ich behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem
+irdischen Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was
+es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr
+schuldig. Und was über diese von Menschen gestellten
+Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem
+ich das, was ich noch schreiben werde, dem großen
+Gläubiger widme, der ganz genau weiß, ob ich ihm mehr
+als jene Andern schuldig bin, die sich besser dünken
+als May.
+
+ Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit sie
+mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber
+auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich
+mir keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen
+"Reiseerzählungen" erreicht habe, wird erst nach meinem
+Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden,
+die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen
+bekommt; veröffentlicht werden sie nicht. Man pries
+diese Werke und schwärmte für sie, bis es eines Tages
+einem gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu
+behaupten, daß ich außer ihnen auch noch andere, aber
+"abgrundtief" unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst
+wenn dies wahr gewesen wäre, hätte das die "Reiseerzählungen"
+weder innerlich noch äußerlich im Geringsten
+verändern können. Dennoch wurden sie von jenem Tage
+an zunächst mit Mißtrauen betrachtet, dann mehr und
+mehr verleumdet und endlich gar für direkt schädlich
+erklärt und aus den Bibliotheken gestoßen, in denen sie
+früher willkommen geheißen worden waren. Warum?
+Waren sie anders geworden? Nein! Hatten sich die
+bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze
+verändert? Nein! Waren die Bedürfnisse der Leser
+andere geworden? Auch nicht! Aber aus welchem Grunde
+denn sonst? Einfach einer Schund- und Kolportageklique
+wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie
+sich selbst auszudrücken pflegte, "kaput zu machen". Aber
+ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique
+einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf Literatur
+und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe
+im nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte
+scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen
+Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu
+gebärden! Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen
+meiner Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang
+mit allen möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage
+aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten
+Vorwurf gemacht haben. Ich bezeichne das als eine
+Schande!
+
+ Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich fünfzig
+Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das
+ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt. Ein
+einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist,
+kann dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten,
+und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma
+Münchmeyer achtundfünfzig -- man lese und staune --
+achtundfünfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist!
+Man rechne; man multipliziere! Welche Verluste! Welch
+eine ungeheure Summe von Gift und Unheil! Wie viel
+hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran,
+dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und nun
+schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den
+Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich
+macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet,
+verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May,
+immer wieder Karl May und nur und nur Karl May!
+Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen,
+als nur diesen einen? Was habe ich denn getan, daß
+man mich überhaupt zum Schunde zählt? Wo stecken die
+zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus,
+jahrein rastlos dafür sorgen, daß in Deutschland und
+Deutschösterreich der Schund kein Ende nimmt? Vor Gericht,
+in "wissenschaftlichen" Werken, bei Kommissionssitzungen,
+in öffentlichen Vorträgen, von Schriftstellern,
+Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Künstlern,
+Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden
+Gelegenheiten, wo von "Jugendverderbnis" die Rede ist,
+da bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld,
+nur er! Er ist der Typus der Jugendvergifter! Er ist
+der Vater aller ruchlosen Kapitän Thürmers, Nick Carters
+und Buffalo Bills! Mein Gott, wissen diese Herren
+denn wirklich nicht, was sie tun? Wie sie sich
+versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser wissen,
+von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen
+Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist,
+daß Jemand durch eines meiner Bücher verdorben worden
+ist! Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten
+Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen
+Band oder einige Bände von Karl May. Den kennt
+man, die Andern aber nicht; darum muß er es sein,
+dessen Namen man nennt und den man als Täter bezeichnet!
+Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus
+fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt,
+auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen
+Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das
+ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und
+vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum
+nennt man ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie
+nicht fest? Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten,
+die wegen Verbreitung von unzüchtigen Schriften
+bestraft worden sind. Und noch größer ist die Zahl
+derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben,
+nur um Geld zu machen. Warum nennt man sie nicht?
+Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem
+man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke
+duldet? Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern
+nur auf mich, den Sündenbock für den ganzen literarischen
+Mob? Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache!
+Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so
+viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen
+vermag! Ich habe das im nächsten Kapitel des Näheren
+zu beleuchten.
+
+ Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt,
+sind bisher immer nur Behauptungen gewesen. Zu
+keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht.
+Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezählte meiner
+Leser brieflich oder mündlich gefragt, ob es ihnen möglich
+ist, mir eine der Reiseerzählungen oder eine Stelle
+aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, daß
+sie schädlich wirke. Es hat mir Niemand auch nur eine
+einzige derartige Zeile nennen können. Ist doch sogar
+meine unerbittlichste Gegnerin, die "Kölnische Volkszeitung",
+gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen:
+"Alles für die Jugend Anstößige _ist_sorgfältig_
+_vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_bloß_für_
+_diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben
+aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung
+im reichsten Maße geschöpft!" Schon aus diesem
+Atteste geht die jetzige "Mache" hervor, denn meine
+Bücher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben,
+und derselbe Herr, der dieses öffentliche Zeugnis aus
+stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat
+sich seitdem nicht wieder aufrichten können.
+
+ Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen
+mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung
+des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion
+zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig
+verehrte Herr aber wohl verzeihen wird. Doktor
+Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres
+aus Krieglach:
+
+ "Sehr geehrter Herr!
+
+ Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der
+ Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder
+ das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet,
+ werde ich mit größter Freude davon Notiz nehmen.
+
+ Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als
+ solcher möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine
+ Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie
+ sich am besten rechtfertigen könnten.
+
+ Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles
+ ausschalten, was sich nicht sachlich auf die
+ Anschuldigungen bezieht. Das, was Sie aus Ihrer
+ Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch
+ abgetan und würde Ihnen kaum ein rechtlich denkender
+ Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht
+ tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persönlich
+ erlebt haben, daß es nur Erzählungen in "Ichform"
+ sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln.
+ So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu
+ erbringen, daß die berührten obszönen Stellen nicht
+ Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was
+ die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen
+ doch Sachverständige entscheiden können, inwiefern es
+ Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete Stoffe
+ und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben
+ mit den neuen Auflagen verglichen, müßte doch
+ klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und
+ der Stil der neu eingefügten Sätze sich organisch an
+ Ihre Art und an das Buch anschließen oder nicht.
+ Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun
+ Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen
+ drängen, daß die Dinge endlich vor Gericht zur
+ Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer Freunde,
+ die nur so im Allgemeinen herumreden über die Vorzüge
+ Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können für
+ die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere
+ Wirkung erzielen.
+
+ Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer
+ gerichtlichen Genugtuung zu kommen. Gelingt das
+ nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und
+ gelingt es, so muß doch auch die Presse Ihrer jetzigen
+ Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und
+ in das Volk tragen.
+
+ Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen
+ Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen
+ entspringt, und seien Sie gegrüßt
+
+ von Ihrem ergebenen
+
+ P e t e r R o s e g g e r."
+
+ Krieglach, 2. 7. 1910.
+
+ Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende
+und human denkende geistige Aristokrat, das, was er
+über meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan
+betrachtet, versteht sich ganz von selbst. In derartigen
+Bodensätzen und Rückständen können nur niedrige
+Menschen waten. Hierdurch habe ja auch ich selbst schon
+längst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden,
+der sich mit mir beschäftigt, nach dem Maße zu beurteilen,
+welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird.
+Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist
+im Himmel und auf Erden Recht.
+
+ Was die "Obszönitäten" und den Nachweis betrifft,
+daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand
+im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine
+mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt.
+Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese unsittlichen
+Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu
+beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so
+selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen Richter
+einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der
+spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der
+Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der
+Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er
+unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten
+Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen
+Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für Münchmeyer
+das "Buch der Liebe" geschrieben zu haben. Wie kann
+ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, es
+wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige
+Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten,
+daß Peter Rosegger den berüchtigten "Venustempel"
+geschrieben habe. Würde Rosegger den Beweis antreten,
+daß dies eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man
+die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe?
+Ich bin überzeugt, das Letztere. Und so thue [sic] auch ich.
+Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte.
+Einen andern Beweis kann es nicht geben.
+
+ Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate
+betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis:
+Der Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe
+von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben
+und ihnen die Drohung vorangeschickt, daß er mir mit
+ihnen einen Strick drehen werde, um mich "aus dem
+Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Er hat
+sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner
+Behauptungen, mit denen er mich hierauf überschüttete, war
+nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart,
+lieblos und tierquälerisch, darum die Leser empörend und
+ohne Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer
+Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich
+des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Mühe gab,
+die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. Er sprach
+da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter
+nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit
+erreichen. Die "Grazer Tagespost" schreibt hierüber:
+
+ "Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich unlängst
+in echt christlicher Demut selbst das schmückende
+Beiwort eines "anerkannten Kritikers" beilegte, hat die
+moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht
+gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald
+vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder
+voll usw. usw."
+
+ Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten,
+ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch
+nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die ich
+schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen
+lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken
+entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht
+sehr häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann
+niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat,
+liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile
+eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der
+Art verwendet, daß sie dann wesentliche Bestandteile des
+Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen
+Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan
+und werde es auch nie tun. Geographische Werke können,
+besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind,
+ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um
+das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen
+handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des
+Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In
+der Einleitung zum Voigtländerschen "Urheber- und
+Verlagsrecht" heißt es:
+
+ "Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus
+sich selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was
+Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben
+haben. Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene
+Schöpfung. Selbst die am meisten schöpferische Tätigkeit,
+die des Dichters, steht dann am höchsten, erreicht
+dann ihre größten Erfolge, wenn sie die Weihe der
+künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich
+sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form
+ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird
+von der gebildeten Sprache geliefert, "die für dich dichtet
+und denkt", und die Manchem, der sich Dichter zu sein
+dünkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder
+deren Schein leiht. Kurz, der Schriftsteller und Künstler
+steht mit seinem Wissen und Können inmitten und auf
+der Kulturarbeit von Jahrtausenden. Goethe, auf einer
+einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht Goethe
+geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet,
+daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen
+Schritt hat weiter bringen können, weil er an das von
+den Vorfahren Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es
+nicht mehr als billig, _daß_sein_Werk_zur_gegebenen_
+_Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_
+_diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_
+_Form."_
+
+ So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm
+ist nicht zu widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal
+begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollständig
+gerechtfertigt. Ein anderer schreibt: "Alles ist mehr oder
+weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder
+Phantasieproduktion. Der Intellektadel, die obern Träger
+der Bildung und Kultur schöpfen ja doch alle mehr oder
+minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen
+Anderer, Früherer, Größerer gespeist worden ist."
+
+ In Nr. 268 der "Feder", der Halbmonatsschrift für
+Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: "Aus
+den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic]
+Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem
+gewissen Grade muß deshalb auch Jeder ein Plagiator
+sein. Wenn das eigentliche Gedankengebäude neu ist,
+dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von
+schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach Emmerson ist
+_der_größte_Genius_zugleich_auch_der_größte_
+_Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_
+_darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn
+man einen großen Zweck damit erreichen will; aber man
+darf es sich nicht merken lassen; man muß mit dem
+Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen."
+
+ Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner
+Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben
+hat. Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn
+aus und ließ das Stück ruhig unter seinem Namen
+erscheinen. Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied
+aus dem Freischütz: "Wir winden dir den Jungfernkranz"
+nicht von Weber, sondern von einem fast ganz
+unbekannten Gothaer Musikdirektor ist. Weber hörte es
+und nahm es in seinen Freischütz auf, ohne sich etwas
+aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb
+bezeichnet zu werden. Shakespeare war bekanntlich der
+größte literarische Entwender, den wir kennen. Wenn
+es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen ginge, würden
+sogar verschiedene Verfasser biblischer Bücher als
+literarische Diebe bezeichnet werden müssen. So könnte ich
+noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterführen,
+will mich aber damit begnügen, nur noch unsern
+Allergrößten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten
+Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzuführen.
+Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er konnte ohne
+fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit
+über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist
+es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe "Der
+Goldkäfer" zu den spannendsten Stellen in seinem "Grafen
+Monte Christo" ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft,
+so zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich
+unter der Ueberschrift "Goethe über das Plagiat" durch
+die Zeitungen ging:
+
+ "Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage
+sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen,
+absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der
+er diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben
+Freund hat Jedermann, der den glücklich entdeckten
+Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt. Richard
+von Kralik ist unlängst des Plagiates beschuldigt worden,
+weil er -- ohne seine Schuld -- mangelhaft zitiert
+worden ist. Solchen Plagiatschnüfflern möchten wir die
+Ansicht Goethes über das Plagiat in das Gedächtnis
+rufen. Der Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und
+Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons
+angebliche Plagiate. Siehe "Eckermanns Gespräche mit
+Goethe", 3. Auflage Band I S. 133. Da sagte Goethe:
+"Byron weiß sich auch gegen dergleichen, ihn selbst
+betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation
+nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken
+sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ hätte er sagen
+sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_
+_Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_
+_kam_bloß_darauf_an,_daß_ich_es_richtig_gebrauchte!_
+Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem
+"Egmont", und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_
+_mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So
+hat er auch den Charakter meiner "Mignon" in einem
+seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel
+Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons "verwandelter
+Teufel" ist ein fortgesetzter Mephistopheles,
+und das ist recht. Hätte er aus origineller Grille
+ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen müssen.
+So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare,
+und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir
+die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
+Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es
+sollte? Hat daher auch die Exposition meines "Faust"
+mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das
+wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als
+zu tadeln."
+
+ Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen.
+Was haben unsere Berühmtesten getan, ohne daß man
+sie beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich
+als den niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt?
+Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner
+kleinen, asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen
+geographischen und ethnographischen Arabesken verziert,
+welche ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit
+angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes
+Recht. Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft
+mich öffentlich als einen _"Freibeuter_auf_
+_schriftstellerischem_Gebiete,_für_ewige_Zeiten_das_
+_Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson,
+der Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika,
+sagt: "Der größte Genius ist zugleich auch der größte
+Entlehner". Und Goethe sagt: "Was da ist, das ist
+mein. Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche
+nehme, das ist gleich!" Wie hätte da wohl das
+entsprechende Urteil Pater Pöllmanns über diese beiden
+Heroen zu lauten? Sie hätten für ihn "für ewige Zeiten
+die schlimmsten aller literarischen Bestien" zu sein, stinkend
+vor Raubgier und Verworfenheit! Eine Kritik, die so
+unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend und so
+wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine
+Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das ganze
+Volk.
+
+ Ich habe in diesen meinen "Reiseerzählungen" genau
+so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte,
+für die Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur
+für sie allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben
+ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen
+und begreifen. Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder.
+Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für
+Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals
+sein und niemals werden. Haben wir es erst so weit
+gebracht, daß wir nur noch Musterautoren, Musterleser
+und Musterbücher haben, dann ist das Ende da! Ich
+bin so kühn, zu behaupten, daß wir uns nicht die
+vorhandenen Musterbücher, sondern den vorhandenen Schund
+zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen,
+was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben.
+Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht
+liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller,
+die es verstehen, Hunderttausende und Millionen
+Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel
+sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt
+für die große Seele! Schreibt nicht für die kleinen
+Geisterlein, für die Ihr Eure Kraft verzettelt und
+verkrümelt, ohne daß sie es Euch danken. Denn gebt Ihr
+Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall zu erringen, so
+behaupten sie doch, es besser zu können als Ihr, obgleich
+sie gar nichts können! Und schreibt nichts Kleines,
+wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure Augen
+empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es
+zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen
+wohnt das wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch
+Fehler macht, so viele Fehler und so große Fehler wie
+Karl May, das schadet nichts. Es ist besser, auf dem
+Wege zur Höhe zuweilen zu stolpern und diese Höhe aber
+doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu
+stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder gar erhobenen
+Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator
+immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst
+anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu
+sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale,
+hochgelegene Haltepunkte und Ziele.
+
+ Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und
+laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen;
+aber ich befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und
+was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche
+es nicht zu wiederholen. Und ich habe schon so viele
+steile Höhen zu überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich
+für einen jener armen Teufel halten kann, die immer
+auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt
+Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt
+Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt
+Dritte, die behaupten, daß ich allerdings einen Stil habe,
+aber es sei ein außerordentlich schlechter. Die Wahrheit
+ist, daß ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte.
+Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und
+ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre.
+Ich verändere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also
+meine Seele, und nicht mein "Stil", sondern meine Seele
+soll zu den Lesern reden. Auch befleißige ich mich keiner
+sogenannten künstlerischen Form. Mein schriftstellerisches
+Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genäht
+und dann gar gebügelt. Es ist Naturtuch. Ich
+werfe es über und drapiere es nach Bedarf oder nach
+der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das,
+was ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche
+Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will nicht
+fesseln, nicht den Leser von außen festhalten, sondern ich
+will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in
+sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann
+und darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen
+noch störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie
+mich die Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das
+haben mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt.
+Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich
+mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur
+allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine
+Leser nicht andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche
+stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen
+Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch höhere Form zu
+geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt skizziere ich
+noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind.
+
+ Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten
+abgerechnet, in meinen Werken keine einzige
+Gestalt, die ich künstlerisch durchgeführt und vollendet
+hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht,
+über die ich doch am meisten geschrieben habe. Ich bin
+ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender.
+Es ist in mir noch Alles in Vorwärtsbewegung, und
+alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen
+sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht
+habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken
+sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer
+Dichter und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer
+großen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er
+innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser
+Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen
+sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir
+darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich
+gestatten. Was bei Andern selbstverständlich ist, das ist
+bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und was bei
+Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung
+gilt, das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein
+einziges Mal etwas künstlerisches schreiben wollen, mein
+"Babel und Bibel". Was war die Folge? Es ist als
+"elendes Machwerk" bezeichnet und derart mit Spott und
+Hohn überschüttet worden, als ob es von einem Harlekin
+oder Affen verfaßt worden sei. Da weicht man zurück
+und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiß.
+Man kann wohl literarische Hanswürste beseitigen, nicht
+aber Geistesbewegungen unterdrücken, die unbesiegbar
+sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen,
+denen doch keine Folge gegeben würde. Unterlassen aber
+darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier
+berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein einziges,
+welches so deutlich spricht, daß ich ohne Weiteres auf
+alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein Verein,
+dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und
+Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich
+mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich
+stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die
+Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen
+kursierende Auskunft: "Hierseits wird zwar von dem
+weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand
+genommen, und werden die Bücher nicht mehr durch unsere
+Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht
+sagen, daß der Inhalt der Mayschen Reiseerzählungen
+zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorständen
+unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Bücher aus den
+Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige ablehnende
+Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der
+_Persönlichkeit_ des Verfassers. _Sie_können_also_ohne_
+_Bedenken_die_Bände_weiter_ausleihen."_ Das genügt
+gewiß! Meinen Büchern ist nichts anzuhaben; meine
+Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum?
+Infolge jener "Mache", von der ich schon weiter oben
+sprach. Denn man glaube ja nicht, daß die "Karl
+May-Hetze", oder, ein wenig anständiger ausgedrückt, das
+"Karl May-Problem" eine literarische Angelegenheit sei.
+Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder
+gar um ethische Gründe, sondern, die Sache beim richtigen
+Namen genannt, um eine rein persönliche Abschlachtung
+aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen
+Gründen. Was man da von sittlichen und journalistischen
+Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um
+die Wahrheit zu verstecken. Wollte man hierüber einen
+Roman schreiben, so könnte dieser der sensationellste aller
+Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen würden
+folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann
+Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Münchmeyer
+in Dresden, der Franziskanermönch Dr. Expeditus
+Schmidt in München, der aus der christlichen Kirche
+ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in
+Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Pöllmann in
+Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Münchmeyer,
+Dr. Gerlach in Niederlößnitz bei Dresden. Dieser
+Roman würde für die Beleuchtung der gegenwärtigen
+Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein und auch über andere
+Verhältnisse, gesellschaftliche, geschäftliche, psychologische,
+überraschende Streiflichter werfen. Es würde da
+viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts
+weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn
+auch hier zu erwähnen und zu zeigen habe, mich bemühen,
+so schnell wie möglich über ihn hinwegzukommen.
+
+ _________
+
+
+ VIII.
+ Meine Prozesse.
+
+ _____
+
+Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt
+in seiner Parabel "Der Schatten" zum Dichter: "Sie
+wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und
+schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines
+und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele
+Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem
+weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie
+wissen nicht, wie manches Menschenglück Sie töten, wie
+manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer
+stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den
+Blumengläsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie,
+_daß_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_
+_schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend
+dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung.
+Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich,
+wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben
+je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die
+jungen Mädchen sind züchtig oder leichtfertig, wie es die
+Weiber sind, die Ihr verherrlicht."
+
+ Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht
+ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über
+die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat
+einen weit größern, entweder schaffenden oder zerstörenden,
+reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten
+Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere
+Psychologie behauptet, nämlich "Nicht Einzelwesen, Drama
+ist der Mensch", so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers
+unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt
+nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt
+bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung
+bewußt, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald
+wir zur Feder greifen. So oft ich dieses Letztere
+tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender
+nur Gutes, niemals aber Böses zu schaffen. Man kann
+sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr,
+daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer "abgrundtief
+unsittliche" Bücher geschrieben haben solle. Der
+Ausdruck "abgrundtief unsittlich" ist von Cardauns, dessen
+Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den
+übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann
+Alles nicht nur erwiesen, sondern "zur Evidenz erwiesen",
+nicht ausgesonnen, sondern "raffiniert ausgesonnen",
+nicht entstellt, sondern "bis zur Unkenntlichkeit entstellt".
+Darum genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen,
+weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort
+"unsittlich" nicht, sondern es war ganz selbstverständlich,
+daß sie gleich "abgrundtief unsittlich" sein mußten.
+
+ Die erste Spur von diesen meinen "Unsittlichkeiten"
+tauchte drüben in den Vereinigten Staaten auf.
+Kommerzienrat Pustet, welcher da drüben Filialen besitzt,
+schrieb mir von diesem Gerücht und wünschte, daß ich
+mich darüber äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm,
+daß ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache
+untersuchen lassen werde, wenn es sein müsse sogar
+gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen.
+Damit war für ihn die Sache abgemacht. Er war ein
+Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es
+niemals eingefallen wäre, durch Hintertüren zu verkehren.
+Wir hatten einander gern. Auf ihn fällt ganz gewiß
+auch nicht die geringste Spur von Schuld an der
+unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen
+Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus Amerika kam,
+hatte ich zunächst drüben zu recherchieren. Das erforderte
+lange Zeit, und es war mir unmöglich, etwas
+Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte nur, daß sich das
+Gerücht auf meine Münchmeyerschen Romane bezog,
+doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die
+Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit
+lag. Und auf ein bloßes, vages Gerücht hin alle
+fünf Romane, also ungefähr achthundert Druckbogen nach
+Dingen, die ich gar nicht kannte, mühsam durchzuforschen,
+dazu hatte ich keine überflüssige Zeit, und das war mir
+auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich
+anzuklagen, der mußte die unsittlichen Stellen genau
+kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf
+wartete ich. Es meldete sich aber Keiner, der es tat.
+Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die
+angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich. Leider
+war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm meine
+Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste
+Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte.
+Dieser hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend
+gekürzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe
+Korrekturen und Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll
+mich so kennen lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern
+und Schwächen, nicht aber wie der Redakteur mich
+zustutzt. Darum teilte ich Pustet mit, daß er von mir
+kein Manuskript mehr zu erwarten habe. Er versuchte,
+mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam er,
+der alte Herr, persönlich nach Radebeul. Das war
+rührend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann
+seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben
+negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die
+sich an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der
+Richtige, Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, daß
+es nie wieder geschehen solle, und daraufhin nahm ich
+meine Absage zurück. Man hat mir das von gewisser
+Seite bis heut noch nicht vergessen. Man drückt das
+folgendermaßen aus: "Heinrich Keiter hat Kotau vor
+Karl May machen müssen." Ich besitze hierüber
+Zuschriften aus nicht gewöhnlichen Händen. Aber er trug
+selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe Heinrich Keiter
+geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne alle
+seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich
+damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging
+nicht anders. Ich mußte die Buchform meiner
+"Reiseerzählungen" nach dem Texte des "Hausschatzes" drucken
+lassen und durfte darum nicht zugeben, daß an meinen
+Manuskripten herumgeändert wurde.
+
+ Später schrieb ich für Pustet meinen vierbändigen
+Roman "Im Reiche des silbernen Löwen". Ich war
+grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da
+bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel
+des "Hausschatzes" geschickt, dessen Inhalt mich
+veranlaßte, meine damalige Absage zu wiederholen. Ich
+telegraphierte Pustet, daß ich mitten in der Arbeit
+aufhören müsse und kein Wort weiter für ihn schreiben
+werde. Er mußte mir sogar das in seinen Händen befindliche,
+noch ungedruckte Manuskript wieder senden, wofür
+ich ihm das darauf entfallende Honorar wiederschickte.
+Ich würde hierüber kein Wort verlieren, wenn
+mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings von sehr unmaßgeblicher
+Seite, mit Enthüllungen aus jener Zeit gedroht
+worden wäre. Ich habe darum die Gelegenheit wahrgenommen,
+hier die Wahrheit festzustellen. Und ich stelle
+zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn Kommerzienrat
+Pustet niemals persönlich gebrochen habe und eine
+aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er
+nach einer Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen
+Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat
+Dr. Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in München
+sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter des
+"Hausschatzes" zu werden. Ich habe ihm daraufhin den
+"Mir von Dschinnistan" geschrieben.
+
+ Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der
+Cardaunsschen "abgrundtiefen Unsittlichkeit" vorausgeeilt
+und kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit
+auf Grund und Wurzel zu gehen. Der Grund heißt
+Münchmeyer, und die Wurzel heißt ebenso. Die hierher
+gehörigen Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange
+Kette, deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch
+innig ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist
+erwiesen. Einiges liegt noch in den Akten, um an das
+Tageslicht gezogen zu werden. Ich bin nicht gewillt,
+den laufenden Prozessen vorzugreifen, und werde also
+nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle Klarheit
+herrscht.
+
+ Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine
+Vorstrafen kannte. Er wußte sogar Alles, was man
+hinzugelogen hatte. Er wünschte sehr, daß ich einen
+Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber
+entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und
+Bekannten meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern
+ganz unbefangen davon erzählt und meine Ansichten
+über Verbrecher und Verbrechen, Schuld, Strafe und
+Strafvollzug ausführlich dargelegt. Kein einziges Glied
+der Münchmeyerschen Familie darf behaupten, nicht
+davon gewußt zu haben. Auch die Arbeiter der Firma
+erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, ebenso die
+mitarbeitenden Schriftsteller. "May ist bestraft; er hat
+gesessen," das drang bald leiser, bald lauter, aber überall
+durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von plötzlichen
+"Enthüllungen" oder gar von meiner "Entlarvung" zu
+sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt, der lügt.
+
+ Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz ausgesprochene
+geschäftliche Vorliebe grad für bestrafte Mitarbeiter
+hatte. Geht man die Schriftsteller und Schriftstellerinnen
+durch, die für ihn geschrieben haben, so bilden die
+Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von ihnen.
+Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm
+eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von
+dem er alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war
+vorbestraft. Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion
+brachte er mir einen Wiener Postbeamten, der sich
+an der Kasse vergriffen hatte, als Mitarbeiter. Als sich
+ähnliche Fälle wiederholten und ich ihn nach seinen
+Gründen fragte, antwortete er: "Mit einem Schriftsteller,
+der bestraft worden ist, kann man machen, was
+man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen verraten
+werden." "Also auch ich?!" rief ich aus, erstaunt
+über diese Aufrichtigkeit. "Unsinn!" entgegnete er. "Mit
+Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde!
+Und Sie sind doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit
+sich machen läßt, was man will! Selbst wenn ich Sie
+nicht aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den
+Kürzern!" Er gab sich Mühe, das in mir erwachte
+Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz
+verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich kündigte
+und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion aufgab.
+Auch später, als ich nach sechs Jahren das "Waldröschen"
+für ihn zu schreiben begann, tauchte dieses Bedenken
+gegen ihn wieder in mir auf. Aber die Ausnahmestellung,
+die er mir persönlich und geschäftlich bei sich
+einräumte, das Ausnahmehonorar, welches er mir zahlte,
+und vor allen Dingen die Einwürfe, die mir meine Frau
+bei jeder Gelegenheit gegen mein Mißtrauen machte, das
+alles wirkte dahin, daß ich schließlich zu meinem früheren
+Vertrauen zurückkehrte.
+
+ Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen
+keine Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte
+nicht mehr zurückbekam, habe ich bereits erwähnt.
+Ich konnte also nicht kontrollieren, ob der Druck mit
+meinem Originalmanuskript übereinstimmte. Doch war
+mir hier so bestimmt Ehrlichkeit versprochen worden, daß
+ich einen Betrug für ausgeschlossen hielt. Auch daß
+Münchmeyer später einmal behaupten könne, meine Romane mit
+allen Rechten nicht bloß bis zum zwanzigtausendsten
+Abonnenten, sondern für immer erworben zu haben, erschien
+mir als unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine
+Briefe aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich
+miteinander ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte,
+und zweitens hatte ich auch noch einen andern vollgültigen
+Beweis in der Hand, daß er diese Rechte nicht für immer
+besaß. Er hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht,
+diese Rechte noch nachträglich zu erwerben. Er hatte das
+durch einen Revers getan, den er mir durch jenes
+vorbestrafte Faktotum Walter schickte und zur Unterschrift
+vorlegen ließ. Ich wies aber diesen außerordentlich
+pfiffigen Boten mit seinem Revers zurück. Dieser Walter
+war es auch, durch den ich auf meine Anfragen immer
+die schriftliche oder mündliche Versicherung bekam, daß
+die Zwanzigtausend noch nicht erreicht sei. Uebrigens
+hatte ich nicht die geringste Sorge, weder um meine Rechte
+noch um meine "feinen Gratifikationen". Meine Rechte
+waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich jetzt in
+pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich glaubte, mehr
+als bloß zahlungsfähig waren. Daß er mit schlechtgehenden
+Romanen wieder verlor, was er an gutgehenden
+verdiente, und daß er sich auf Wechselreitereien eingelassen
+hatte, durch welche seine Kapitalkraft arg geschädigt wurde,
+davon wußte ich nichts. Ich war also überzeugt, ruhig
+warten zu können und gar keine Veranlassung zu haben,
+verfrühte und darum beleidigende Forderungen zu stellen.
+Uebrigens war meine Frau so vollständig gegen alles
+geschäftliche Drängen und Treiben, daß ich nun auch um
+den äußeren häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls
+ich gegen Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie
+wünschte. Auch behaupten die Kolportageverleger, daß
+es in ihrer Buchführung viel schwieriger sei und viel
+längere Zeit erfordere, als bei andern Verlegern,
+nachzuweisen, wieviel feste Abonnenten man habe. Es springen
+beständig welche ab, und es kommen beständig welche
+hinzu, darum hatte ich Geduld.
+
+ Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger
+F. E. Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich
+übergab ihm den Buchverlag der bei Pustet in Regensburg
+erschienenen Werke und vereinbarte mit ihm, nach diesen
+dann auch die Münchmeyerschen herauszugeben. Er nahm
+die ersten sofort in Angriff, und sie gingen ausgezeichnet.
+Wir waren beide überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen
+nicht weniger Erfolg haben würden, stellten
+die letzteren aber bis zur Vollendung der Pustetschen
+Serie zurück. Jede der beiden Serien sollte dreißig
+Bände umfassen. Was daran fehlte, hatte ich noch
+hinzuzuschreiben. Das ergab für die Pustetsche Serie ungefähr
+zehn Bände, die ich noch zu liefern hatte. Das war eine
+Arbeit, die mir keine Zeit ließ, mich jetzt um meine
+Münchmeyerschen Sachen zu bekümmern. Darum mußte mich
+auch die unerwartete Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich
+gestorben sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen.
+Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als
+ich hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der
+Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt.
+
+ Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline
+Münchmeyer schickte mir einen Boten, der den Auftrag
+hatte, mich auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein
+werde, ihr einen neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote
+war auch ein "Vorbestrafter". Ich ließ ihn unverrichteter
+Sache wieder gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung
+besonders nachzudenken. Ich wußte damals nicht, was
+ich erst viel später erfuhr, nämlich daß es mit
+Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte. Man
+hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem
+Entschlusse gelangt, durch einen neuen Roman von Karl
+May die Lage zu verbessern. Ich hatte weder Zeit
+noch Lust, ihn zu schreiben, beschloß aber für den Fall,
+daß man den Versuch erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen
+einzutreten, um über die Erfolge meiner bisherigen
+Romane etwas Bestimmtes zu erfahren. Und die
+Wiederholung des Versuches kam. Frau Münchmeyer
+stellte sich selbst und persönlich bei uns ein. Sie besuchte
+uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar Vorausbezahlung
+des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum Walter
+und ließ Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den Bescheid,
+daß ich nicht eher etwas Neues liefern könne, als
+bis über das Alte volle Klarheit geschafft worden sei.
+Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der
+Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend
+müsse doch schon längst erreicht worden sein. Frau
+Münchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau
+zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen.
+Wir stellten uns ein. Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend
+erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht
+nur bei einem; nur müsse es erst noch genau berechnet
+werden, und das sei in der Kolportage so ungemein
+schwierig und zeitraubend. Ich möge mich also in Geduld
+fassen. Was meine Rechte betreffe, so fallen diese mir
+hiermit wieder zu, ich könne die Romane nun ganz für
+mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir meine
+Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken
+lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde
+mir an ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und
+sie vorher extra für mich in Leder binden lassen. Das
+geschah. Nach kurzer Zeit kamen die Bücher durch die
+Post; ich war wieder Herr meiner Werke -- -- -- so
+glaubte ich! Freilich war es mir unmöglich, sie sofort
+herauszugeben, weil die Pustetschen vorher zu erscheinen
+hatten. Ich legte die Bücher also für einstweilen zurück,
+ohne mich mit der Prüfung ihres Inhaltes befassen
+zu können. Ich hatte meinen Zweck erreicht, und von
+der Abfassung eines neuen Romanes war keine Rede
+mehr. Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich hören.
+Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß nun
+doch die "feinen Gratifikationen" fällig waren, deren
+Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich
+aber drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte
+das Geld nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht
+übergehen, daß meine Frau während dieser ganzen Zeit
+sich alle Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen
+Frau Münchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe für
+Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund
+der sonst unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte.
+
+ Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach
+dem Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer
+ihr Geschäft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort
+einen Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane
+mit zu verkaufen. Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche
+dar und ging zunächst nach Oberägypten. Von dort nach
+Kairo zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich
+erfuhr, daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen
+sei; der Verkäufer [sic] heiße Fischer. Ich zögerte nicht, an
+diesen Herrn zu schreiben. Er antwortete mir im
+Kolportageton, daß er das Münchmeyersche Geschäft nur wegen
+der Romane von Karl May gekauft habe. Alles Andere
+sei nichts wert. Er werde diese meine Sachen so
+ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich, falls ich ihn
+daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser Ton
+fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr
+minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mußte diesem
+mir vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art
+geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit
+verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen
+Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu berichten.
+Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau an.
+Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn
+Tage, in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und
+telegrafierte, doch vergebens; es kam kein Bericht. Endlich
+erhielt ich einige Zeilen, in denen sie mir sagte, daß
+sie in Paris gewesen sei, aber weiter nichts. Als in
+Massaua, der Hauptstadt von Erythräa am roten Meere, mein
+arabischer Diener mir die Post brachte, quoll mir eine
+Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus denen ich, der
+gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat
+inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine
+Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner
+Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit
+derartigen Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf
+dieses Unternehmen aufmerksam werden mußte. Mein
+Name war genannt, obgleich ich diese Romane, nur einen
+ausgenommen, pseudonym geschrieben und Münchmeyer
+verpflichtet hatte, diese Pseudonymität auf keinen Fall
+zu brechen. Zugleich stellte sich heraus, daß mit den
+Romanen eine Umarbeitung vorgenommen werden sollte.
+Mir wurde himmelangst. Ich schrieb heim und beauftragte
+einen dortigen Freund, dem ich vollständig vertrauen
+konnte, sich einen Rechtsanwalt zu Hilfe zu nehmen
+und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu führen, wenn
+nötig sogar gerichtlich.
+
+ Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der
+Besitzer der "Sächsischen Verbandstoffabrik" in Radebeul,
+die er gegründet hatte. Man wird bald sehen, warum
+ich für kurze Zeit bei ihm verweile. Er war außerordentlich
+glücklich verheiratet. Seine Familie bestand nur aus
+ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir waren
+so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du
+nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten.
+Aber außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu
+sagen, das brachte Plöhn nicht fertig. Er versicherte, daß
+ihm dies unmöglich sei. Frau Plöhn ist jetzt meine Frau.
+Es ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder
+gar Vorzügen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische.
+Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher
+gelesen. Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr
+ebenso unbekannt und gleichgültig wie meine Ziele und
+Ideale überhaupt. Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin
+von mir und besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis
+für all mein Hoffen, Wünschen und Wollen. Ihr Mann
+freute sich darüber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes
+Arbeiten, oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht
+hindurch, keine helfende Hand, kein warmer Blick, kein
+aufmunterndes Wort; ich stand innerlich allein, allein,
+allein, wie stets und allezeit. Das tat ihm wehe. Er
+versuchte, durch seine Frau auf die meinige einzuwirken,
+damit diese mir wenigstens die störende Korrespondenz
+abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu
+erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn
+eine große Freude sein. Ich gestattete es den beiden
+guten Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in
+der Hand von Frau Plöhn. Tausenden von Leserinnen
+und Lesern ist über der Unterschrift von "Emma May"
+geantwortet worden, ohne daß sie wußten, daß es nicht
+meine Frau, sondern eine schwesterliche Helferin war,
+die mir meine Last erleichterte. Sie arbeitete sich mehr
+und mehr in meine Gedankenwelt und meinen Briefwechsel
+ein, so daß ich ihr schließlich die ganze, umfangreiche
+Korrespondenz getrost überlassen konnte. Ihr Mann
+war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter,
+eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau,
+die gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich
+gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die nicht
+unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.
+
+ Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit
+so kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und
+er tat es, so gut er konnte. Er übergab die prozessuale
+Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und
+benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich
+augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber
+nicht zögern werde, mich bei der beabsichtigten
+Vergewaltigung zu erwehren. Mehr konnte für den Augenblick
+nicht getan werden, weil es mir unmöglich war, meine
+Reise abzubrechen. Von meiner Frau bekam ich keine
+Nachricht. Es war ihr unmöglich, sich um so ernste,
+geschäftliche Angelegenheiten zu bekümmern. Plöhns aber
+schrieben, doch konnten mich diese Briefe erst in Padang
+auf der Insel Sumatra erreichen. Sie lauteten
+aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen
+Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in
+einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden Gerüchte
+über mich verbreitet, die teils lächerlich, teils gewissenlos
+waren. Man las in den Zeitungen, daß ich mich gar
+nicht im Orient befinde, sondern mich wegen einer
+bösartigen Krankheit im Jodbad Tölz, Oberbayern, versteckt
+habe. Hätte ich geahnt, daß das in dieser lügenhaften,
+gehässigen und böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt
+weitergehen werde, so würde ich meine Reise doch
+unterbrochen und schleunigst nach Hause zurückgekehrt sein.
+Hätte ich das getan, so wären mir alle die unmenschlichen
+Martern und Qualen, die ich während dieser langen
+Zeit ausgestanden habe, erspart geblieben. Leider aber
+wußte ich damals noch nicht, was mit meinen Romanen
+vorgegangen war und welche Leitgedanken im Münchmeyerschen
+Geschäft über mich kursiert hatten und heute
+noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der
+Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für
+nötig, als eine genaue Information, aus der sich die
+einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten. Ich schrieb
+also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten
+kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen
+würde. Sie kamen, aber sehr verspätet, weil
+Plöhn unterwegs krank geworden war. Was ich von
+ihnen erfuhr, lautete keineswegs günstig und klang
+außerdem sehr unbestimmt. Der Rechtsanwalt stand immer
+noch erst bei den Vorbereitungen. Fischer hatte erklärt,
+sich auf das Aeußerste wehren zu wollen; meine Romane
+habe er von Frau Münchmeyer gekauft; sie seien sein
+wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er
+machen könne, was er wolle. Die Zeitungen waren
+gegen mich eingenommen. Meine Münchmeyerschen
+Romane wurden als Schundromane bezeichnet. Ich sah
+ein, daß ein Prozeß mit Münchmeyers nicht zu umgehen
+war, und fragte meine Frau nach den für mich hierzu
+nötigen Dokumenten.
+
+ Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers
+Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war für einen
+Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig, daß ich
+ihn glattweg gewinnen mußte. Diese Briefe waren nebst
+andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten
+Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner
+Abreise meine Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt
+ganz besonders aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der
+Briefe ganz besonders erklärt und sie aufgefordert, dafür
+zu sorgen, daß ja nicht das geringste Blättchen davon
+verloren gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen
+Dokumenten fragte, versicherte sie mir, daß sie noch genau
+so lägen, wie ich sie ihr übergeben habe. Kein Mensch
+habe sie berührt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete
+den sicher gewonnenen Prozeß. Als meine Frau mir
+diese Versicherung gab, stand Frau Plöhn dabei und
+hörte es. Sie sah sie groß an, sagte aber nichts. Das
+fiel mir damals nicht auf; später aber, als ich mich
+dieses großen, erstaunten, mißbilligenden Blickes erinnerte,
+wußte ich nur allzu gut, was er hatte sagen sollen.
+Meine Frau war nämlich eines Abends zu Frau Plöhn
+gekommen und hatte ihr mitgeteilt, daß sie soeben unsern
+Trauschein verbrannt habe, der Vorbedeutung wegen,
+die sich damit verbinde. Und einige Zeit später hatte
+sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, daß sie nun
+auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten genommen
+und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, daß ich
+Münchmeyers verklage. Frau Plöhn war hierüber entsetzt
+gewesen, hatte aber die vollendete Tatsache nicht zu
+ändern vermocht. Jetzt, als sie die Versicherung meiner
+Frau mit anhören mußte, daß die Briefe noch unberührt
+vorhanden seien, gab es in ihr den ersten Riß zu jener
+innern Scheidung, die erst dann auch äußerlich zu Tage
+trat, als nichts mehr verheimlicht werden konnte. Wir
+reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien, über
+Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause. Während
+dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen
+immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig
+unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen. Sie
+wurde schließlich zornig und verbat sich jede weitere
+Erwähnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster
+Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten
+-- -- -- leer! Hierüber zur Verantwortung gezogen,
+erklärte sie, daß sie die Briefe allerdings verbrannt und
+vernichtet habe. Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers
+gewesen und sei es auch noch heute. Sie wisse zwar,
+daß ich recht habe, aber sie dulde nicht, daß ich
+Münchmeyers verklage. Darum habe sie die Papiere
+verbrannt. Man kann sich denken, wie mir zu Mute war,
+aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon jahrelang
+in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war still,
+nahm den Hut und ging.
+
+ Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich
+immer zahlreicher und deutlicher geworden. Man
+beschuldigte mich, zu gleicher Zeit fromm und unsittlich
+geschrieben zu haben. Ich nahm die Romane her, die mir
+Frau Münchmeyer hatte einbinden lassen, und fand, daß
+man von meinen Originalmanuskripten abgewichen war
+und sie verändert hatte. Also darum hatte man die
+Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben!
+Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können!
+Das Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon
+benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung
+abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich
+wollte die Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern
+des Strafprozesses verfolgen, stieß dabei aber auf solchen
+Widerstand bei meiner Frau, daß ich darauf verzichtete.
+Ich befragte mich bei verschiedenen Rechtsanwälten,
+nicht nur in Dresden, sondern auch in Berlin und
+anderswo. Ich hätte so gern gleich direkt wegen der
+"abgrundtiefen Unsittlichkeiten", die mir vorgeworfen
+wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig versichert,
+daß dies unmöglich sei. Eine Klage könne nicht auf
+ideale Dinge gerichtet, sondern müsse materiell begründet
+sein. Ich müsse vor allen Dingen beweisen, daß ich der
+rechtmäßige Eigentümer der betreffenden Romane sei,
+und also das Recht besitze, zu verklagen. Am Besten sei
+es, die Klage auf "Rechnungslegung" zu richten. Das
+geschah.
+
+ Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des
+Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir
+meldete. Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn
+abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war
+eine hochinteressante, sowohl psychologisch als auch
+prozessual. Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er
+wisse, ich sei vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg
+am Rocken habe, der solle sich wohl sehr hüten, zu
+prozessieren, sonst könne die Sache sehr leicht ein anderes
+Ende nehmen, als man denke. Meine Romane seien jetzt
+sein Eigentum. Man habe sie schon früher verändert,
+und nun lasse er sie von Neuem umarbeiten, ganz so,
+wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn prozessiere, so
+könne das länger als zehn Jahre dauern; aber bis dahin
+sei ich längst kaput. Er sei aber gekommen, mir die
+Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich
+solle ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf
+meine Romane und liefere sie mir mit allen Rechten aus.
+Dann sei es mir leicht, die ganze Aufregung der Presse
+gegen mich mit einem einzigen Schlage zum Schweigen
+zu bringen. Er biete mir seine Hilfe dazu an. Er wisse
+mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze Münchmeyerei.
+Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter siebzigtausend
+Mark könne er nicht verzichten, denn er habe
+hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt.
+
+ Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen
+Vorschlag nicht einging. Ich erklärte ihm, daß ich keinen
+Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei.
+Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten
+werde, ob gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe.
+Er rate mir zu dem Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich
+als Zeuge dienen könne, denn er sei mit dieser
+Frau keineswegs zufrieden, sondern stehe in
+immerwährendem Streit mit ihr. Hierauf entfernte er sich
+mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen in
+Acht zu nehmen.
+
+ Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen.
+Aber meine Frau und, wohl infolgedessen, auch mein
+Rechtsanwalt bestimmten mich, hiervon abzusehen. So
+wurde also Fischer verklagt. Aber die Witwe schien
+keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel
+ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei
+und ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang
+mir, gegen Fischer eine einstweilige Verfügung zu
+erreichen, welche ihm verbot, meine Romane weiterzudrucken.
+Er durfte nur noch komplettieren. In dieser für ihn
+sehr heiklen Lage kam er mit meinem Rechtsanwalt zu
+sprechen und klagte über den Verlust, der ihm dadurch
+entstehe; dieser betrage schon vierzigtausend Mark. Wenn
+das nicht aufhöre, müsse er sich noch ganz anders wehren
+als bisher und mich durch die Veröffentlichung meiner
+Vorstrafen in allen Zeitungen vor ganz Deutschland
+kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese Drohung
+mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu begreifen
+und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu sondieren.
+Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir zustande,
+in einer separierten Weinstube, unter vier Augen.
+Da wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er
+während der Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers
+über mich und meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr
+den ganzen Feldzugsplan, von dem ich bisher keine
+Ahnung gehabt hatte. Es war ihm weisgemacht worden,
+ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, weil ich als
+Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe. Das
+passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen,
+daß ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche
+das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput.
+Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor
+solchen Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso
+gut wie ich selbst. Was ich mit Münchmeyer über meine
+Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig. Münchmeyer
+sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwören habe.
+Und daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man
+zu sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe,
+die es gebe. Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung
+zu drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück.
+Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still.
+"Den haben wir in der Hand!"
+
+ In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen,
+und daraufhin hatte er das Geschäft gekauft. So
+versicherte er mir. Daß meine Romane verändert worden
+seien, das wisse er. Nur wisse er nicht genau, von wem.
+Wahrscheinlich von Walter. Der habe ja weiter gar
+nichts Anderes als solche Sachen zu machen und
+dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar
+nicht schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur
+ein Wort zu ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so
+ist die "Unsittlichkeit" da, ohne die es bei solchen
+Romanen nun einmal nicht abgehen will. Ich könne diese
+Aenderungen sehr leicht nachweisen; ich brauche nur
+meine Originalmanuskripte vorzulegen.
+
+ "Aber die sind ja verbrannt!" fiel ich ein.
+
+ Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede.
+Er behauptete, sie seien noch da. Er könne sie mir
+verschaffen, aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen
+nicht, wo ich sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner
+einstweiligen Verfügung zugrunde richte. Er könne nur
+dann mein Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten,
+wenn ich diese Verfügung fallen lasse und mich mit ihm
+vergleiche.
+
+ Diese Unterredung war für mich von unendlicher
+Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte
+mich, ob ich trauen dürfe. Waren die Originalmanuskripte
+wirklich noch da, so konnte ich allerdings alle
+gegen mich gerichteten Vorwürfe, wie Fischer gesagt
+hatte, mit einem Schlage verstummen machen. Aber er
+konnte mich täuschen wollen oder auch selbst getäuscht
+worden sein. Ich durfte nicht vorschnell entscheiden; ich
+mußte beobachten und überlegen, zumal diese Wendung
+meiner Angelegenheit in eine Zeit fiel, in der mich
+schwere, innerliche Kämpfe derart beschäftigten, daß ich
+für Anderes weder Zeit noch Raum zu finden vermochte.
+Das war die Zeit meiner Ehescheidung.
+
+ Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen
+Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament
+sei. Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich
+diesen Schritt schon längst getan und nicht erst dann,
+als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze
+innere und äußere Existenz zu retten galt. Man hat
+mir diesen Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr
+mit Unrecht. Katholische Kritiker, die anstatt auf
+sachlichem Gebiete zu bleiben, ihre Angriffe auf das
+persönliche hinüberspielten, haben mir in einem Atem
+vorgeworfen, daß ich Protestant sei und mich von meiner
+Frau habe scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil
+ich als Protestant gelte, hat kein Mensch das Recht, mir
+den zweiten Vorwurf zu machen. Für jeden nur einigermaßen
+anständigen Menschen ist die Ehescheidung eine
+Angelegenheit von selbstverständlichster Diskretion. Die
+meinige aber hat man in den Zeitungen herumgetragen,
+mit den widerlichsten Randglossen versehen und zu den
+ungeheuerlichsten Verdächtigungen ausgenutzt. Ich will
+das Alles hier übergehen, um meine Bemerkungen, falls
+ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer Stelle zu
+machen. Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern
+auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil sie ihr
+den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte,
+wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe
+bereits gesagt, daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten
+krank geworden sei. Er erholte sich nur scheinbar
+wieder. Das Uebel repetierte, nachdem er in die Heimat
+zurückgekehrt war. Ein Jahr später kam der Tod. Frau
+Plöhn brach fast zusammen. Wäre ihre Mutter nicht
+gewesen, so wäre sie ihrem Manne sicher nachgestorben.
+Glücklicherweise bot ihr auch die Korrespondenz, die sie
+für mich mit meinen Lesern führte, die seelische Erleichterung
+und Unterstützung, deren sie bedurfte. Sie besaß
+zwei Zinshäuser in Dresden, die sie gern gegen ein ihr
+angebotenes Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu
+dem Dorfe Niedersedlitz gehörte. Dorthin hatte Fischer
+seine Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung
+lag da. Frau Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung
+dieses Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun
+einmal in Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe,
+dies Fischer wissen zu lassen. Er lud uns nach seiner
+Privatwohnung ein, und es entspann sich da eine
+Verhandlung, welche am nächsten Tage zu einem Vergleiche
+führte.
+
+ Ich will so kurz wie möglich sein. Fischer klagte
+darüber, daß er sich durch den Kauf des Münchmeyerschen
+Geschäftes zum "Schundverleger" degradiert habe;
+er versicherte, daß er sich heraussehne, und er behauptete,
+daß ich ihm dazu behilflich sein könne wie kein Anderer.
+Dieses Letztere war auch ich überzeugt. Er hatte die
+veränderten Romane erworben, ohne daß Frau Münchmeyer
+das Recht besaß, sie ihm zu verkaufen. Wenn er
+dafür sorgte, daß ich meine Originalmanuskripte
+zurückerhielt, konnte er die Schundarbeiten fallen lassen und
+an ihrer Statt meine Originale herausgeben; da war
+ihm und zugleich auch mir geholfen; er war kein
+Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich nichts
+Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke
+des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben,
+war ich überzeugt, daß aller Streit gehoben sei. Fischer
+bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß die
+unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane _nicht_aus_
+_meiner_Feder_stammen,_sondern_von_dritter_
+_Hand_hineingetragen_worden_seien._
+
+ Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als trügerisch.
+Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht
+bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich
+vernichtet. Es war ihm also unmöglich, sich aus einem
+"Schundverleger", wie er sich in einem Briefe an mich
+bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er
+machte zwar den Versuch, auch ohne meine
+Originalmanuskripte zu einem Originalroman zu kommen, um
+den Schund dann fallenlassen zu können, aber ich mußte
+ihm dabei die Hilfe, die er von mir forderte, versagen.
+Er verlangte nämlich von mir, daß ich den Schund aus
+dem Gedächtnisse in seine frühere, einwandfreie Fassung
+zurückverändere; das aber war bei einer Fülle von
+ungefähr dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding
+der absolutesten Unmöglichkeit. Er bestand aber auf
+seinen [sic] Schein, auf unsern [sic] Vergleich, und obgleich er das
+nicht leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich
+doch Alles tun, was grad seinetwegen unmöglich war.
+Daraus ergab sich ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen,
+welches sich über seinen Tod hinaus erstreckte und
+erst von seinen Erben zum friedlichen Ende geführt worden
+ist. Diese sahen klarer als er, und sie waren ruhigen,
+unbefangenen Gemütes. Sie waren Fachleute, nämlich
+Rechtsanwälte, Kaufleute, Buchdruckerei- und
+Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu folgender
+Erklärung:
+
+| "In einem zwischen Herrn Karl May und |
+| den Erben des Herrn Adalbert Fischer anhängig |
+| gewesenen Rechtsstreite haben die Fischerschen |
+| Erben erklärt, daß die im Verlage der Firma |
+| H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des |
+| Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit |
+| durch Einschiebungen und Abänderungen von |
+| dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten |
+| haben, daß sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr |
+| als von Karl May verfaßt gelten können. Herr |
+| May ist zur Veröffentlichung dieser Erklärung |
+| ermächtigt worden. |
+
+| Dresden, im Oktober 1907. |
+
+ Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth
+verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert,
+Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred
+Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein,
+Rechtsanwalt Dr. Elb. Leichtfertige Menschen
+haben behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern
+und unmündigen Personen abgegeben worden sei. Man
+sieht auch hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich
+kämpft. Für mich aber ist die Abteilung Fischer meines
+Münchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung
+Pauline Münchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr
+habe ich mich in Folgendem nun zuzuwenden.
+
+ Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm,
+welches ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen,
+nämlich:
+
+| "May ist vorbestraft. Er hat das zu |
+| verheimlichen. Wir haben ihn in der Hand. Zwei |
+| Zeilen genügen, so ist er still. Wenn er uns |
+| verklagt, so machen wir ihn durch Veröffentlichung |
+| seiner Vorstrafen in allen Zeitungen |
+| durch ganz Deutschland kaput. Was May mit |
+| Münchmeyer ausgemacht hat, ist gleichgültig. |
+| Hauptsache ist, wer den Eid bekommt. Und daß |
+| May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu |
+| sorgen wissen." |
+
+ Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim
+geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den Akten
+festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun neunjährigen
+Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt worden. Von dem,
+was Rechtsanwalt Dr. Gerlach im Namen seiner Klientin
+Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise behauptet
+oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen. Mich
+aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen
+hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig
+ist. Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte
+hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit
+neun Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür bestrafen
+lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz
+grad jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von
+ihm zu dulden, was sich kein Anderer jemals erlaubt.
+Von den Richtern wiederholt zurechtgewiesen und von
+andern Anwälten zur Rede gestellt, bleibt er dieser seiner
+Spezialität doch treu. Zur Ausführung des Münchmeyerschen
+Programms war es zunächst nötig, zu meiner
+Strafliste zu gelangen. Zu diesem Zweck wurde eine
+Beleidigungsklage fingiert, die man sofort zurücknahm,
+als der Zweck erreicht war. Von da an tauchten in den
+Zeitungen mehr oder weniger verblümte Notizen über
+meine Vergangenheit auf. "Ich weiß noch mehr!" schrieb
+der Eine; "Sie wissen wohl, was ich meine, Herr May?"
+fragte der Andere. Das "Kaputmachen" begann. Aber
+der Spiritus rector, der eigentliche Täter, blieb stets
+schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte
+stets durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit über seine
+Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein
+sehr umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er
+steht mit allen meinen literarischen Gegnern in inniger
+Beziehung, und wo in einem Blatt von mir die Rede
+ist, da pflegt ein Brief von ihm oder von einem seiner
+Vertrauten sich einzustellen. Und man glaubt ihm fast
+überall. Man glaubt ihm, wie Cardauns seinerzeit dem
+Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß ich die
+Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie im Druck
+erschienen sind.
+
+ Dieser Herr Dr. Hermann Cardauns ist von dem
+sehr dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der
+zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze
+bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders
+gewollt. Er steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er
+eigentlich nicht gehört. Er hat auch das gewollt. Sein
+niederschmetternder Stil, seine infallible Ausdrucksweise,
+seine "abgrundtiefen" oder "evidenten" Verdoppelungsworte
+haben Schule gemacht, besonders bei denen, welche
+mir Stricke drehen, um mich "aus der deutschen Kunst
+hinauszupeitschen." Aber alles, was er in Vorträgen
+und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und
+zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule,
+an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus
+lauter vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen,
+dessen Schnur niemand mehr halten will, es sei denn
+Herr Cardauns selbst. Es ist gewiß sehr viel blinder
+Glaube dazu nötig, gleich ihm zu denken, daß meine
+"Unsittlichkeiten" auch noch in anderer Weise bewiesen
+werden können, als nur durch Vorlegung meiner
+Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es nicht; auch
+Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht bewiesen
+werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen
+gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen
+Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber
+bis jetzt habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein
+einziges Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser
+Herr besitzt einen älteren Münchmeyerschen Druck und
+eine spätere Fischersche Ausgabe und hält den ersteren
+für gleichlautend mit meinem Originale. Es ist für mich
+aber wirklich unmöglich, daß einem "Haupt- oder
+Chefredakteur" solche Irrungen passieren können. Ich gebe
+ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in
+einem berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht
+und was für Schwindel da getrieben wird, aber das ist
+keine Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn,
+denn wenn er das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht
+gestatten, Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes
+zu ziehen, die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute
+ziehen darf. Die ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten
+Schundromane hatte Fischer nur den überlauten Trommel-
+und Paukenschlägen des Herrn Cardauns zu verdanken.
+Selbst der unfähigste Politikus weiß, daß man solche
+Dinge durch Schweigen tötet, nicht aber durch Gongs
+und Tamtams. Mir aber, der ich durch diese Tamtams,
+diese Vorträge und Zeitungsartikel erschlagen werden
+sollte, wurde es durch sie unmöglich gemacht, den Schund
+so, wie ich wollte, gänzlich aus der Welt zu schaffen.
+Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns meine
+Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich um
+die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben,
+welches man ihm nie vergessen wird. Er ist während
+der ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion
+gewesen, ob gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf
+die Wirkung gleich.
+
+ Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende
+Champion für die Münchmeyersache ist der aus der
+christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D.
+Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg. Ich gebe über
+ihn einen Auszug meines Schriftsatzes an die vierte
+Strafkammer des Königlichen Landgerichtes III in Berlin:
+
+ "Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde
+am Gardasee von einer heimatlichen Postsendung erreicht,
+bei der sich auch eine Zuschrift eines gewissen Lebius
+befand, der sich in ganz überschwenglicher Weise als einen
+großen Kenner und Bewunderer meiner Werke bezeichnete
+und die Bitte aussprach, mich einmal besuchen zu dürfen.
+Diese Ueberschwänglichkeit erregte sofort meinen Verdacht.
+"Der will Geld, weiter nichts," sagte ich mir.
+Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei und ihn
+also nicht empfangen könne. Hierauf schrieb er mir am
+7. April 1904:
+
+ "Sehr geehrter Herr!
+
+ Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich
+ Ihnen zu nähern, wovon die inliegende Karte ein
+ Beweis ist. Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung
+ herausgegeben, die großen Anklang findet. Können
+ Sie mir vielleicht etwas für mein Blatt schreiben?
+ Vielleicht etwas Biographisches, die Art, nach der Sie
+ arbeiten, oder über derartige Einzelheiten, für die sich
+ die deutsche May-Gemeinde interessiert. Ich würde
+ Sie auch gern interviewen.
+
+ _Mit_vorzüglicher_Verehrung_
+ Rudolf Lebius,
+ Verleger und Herausgeber."
+
+ Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig
+aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er
+unterschrieb sich "mit vorzüglicher Verehrung." Ich sagte
+mir wieder: "der will nur Geld." Die Behauptung, daß
+seine neue Zeitung "großen Anklang finde", entsprach
+der Wahrheit nicht. Ich sollte damit geködert werden.
+Man darf den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal
+wenn sie mit einer wenn auch noch so kleinen Zeitung
+bewaffnet sind, sonst rächen sie sich. Ich schrieb ihm also,
+daß er kommen dürfe, und er antwortete am 28. April:
+
+ "Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben.
+ Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern
+ Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben,
+ komme ich am Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen
+ (Abfahrt 3,31).
+
+ _Mit_großer_Hochachtung_und_Verehrung_
+ Rudolf Lebius."
+
+Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen.
+Ich duldete das nicht. Er wurde von meiner Frau, die
+ihn empfing, nur unter den Bedingung zu mir gelassen,
+daß absolut nichts veröffentlicht werde. Er gab erst ihr
+und dann auch mir sein Wort darauf. Er blieb zum
+Kaffee, und er blieb bis nach dem Abendessen. Er sprach
+sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich war absichtlich
+schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt nötig war.
+Ich traute ihm nicht und hatte, um später einen Schutzzeugen
+zu haben, zugleich mit ihm den Militärschriftsteller
+und Redakteur Max Dittrich eingeladen, der an meiner
+Stelle die Unterhaltung leitete.
+
+ Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte.
+Er wurde um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich
+blieb. Er gab sich alle Mühe, mich und meine Frau
+davon zu überzeugen, daß er "ein ganzer Kerl" sei. So
+lautete sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er
+sprach unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten,
+seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit, seinen
+reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen
+als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger,
+Herdenführer und Volkstribun.
+
+ Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren,
+geschah in einer Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen
+Menschen, der so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt
+ist, daß er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber
+lachen. Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden
+seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mußte von seiner
+Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis! Denn
+er brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er
+auf mich gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum
+offenbarte er uns in seiner Geldangst seine verborgensten
+Geschäfts- und Lebensgrundsätze. Er glaubte infolge des
+vielen Weines, uns dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch
+aber um so sicherer ab. Da ich mich hier kurz zu fassen
+habe, gebe ich von diesen seinen Grundsätzen nur die drei
+wichtigsten wieder. Nämlich:
+
+ 1. Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich
+ kein Geld. Darum dürfen wir uns auch keine eigene
+ Meinung gestatten. Wir wollen leben. Darum
+ verkaufen wir uns. _Wer_am_meisten_zahlt,_
+ _der_hat_uns!
+
+ 2. Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter
+ und in seinem Leben. _Auch_jeder_Arbeitgeber,_
+ _jeder_Beamte,_jeder_Polizist,_jeder_
+ _Richter_oder_Staatsanwalt_hat_solches_Werg_
+ _an_seinem_Rocken._ Das muß man klug und
+ heimlich zu erfahren suchen. Keine Mühe darf dabei
+ verdrießen. Und ist es erforscht, so hat man
+ gewonnenes Spiel. Man bringt in seinem Blatte
+ eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, daß
+ man alles weiß, doch so, daß er nicht verklagen
+ kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann
+ mit ihm machen, was man will. Er gibt klein
+ bei. In dieser Weise habe ich meinen Lesern schon
+ außerordentlich viel genützt!
+
+ 3. Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in
+ Schafe und Böcke, in Herren und Knechte, in
+ Gebietende und Gehorchende. Wer aufhören will,
+ Herdenmensch zu sein, _der_hat_das_
+ _Herdengewissen_bei_Seite_zu_legen._ Wenn er das
+ tut, dann laufen alle, die dieses Gewissen noch mit
+ sich schleppen, hinter ihm her. Es ist ganz gleich,
+ zu welcher Herde er gehören will. Er kann von
+ einer zur anderen übertreten, kann wechseln. Das
+ schadet ihm nichts. Nur hat er dafür zu sorgen,
+ daß es mit der nötigen Wärme und Ueberzeugung
+ geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die
+ Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen
+ nach!
+
+ Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten,
+brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau
+war still vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den
+Ekel zu verwinden! Lebius bekam infolge dessen weder
+Geld noch sonst etwas von mir. Da sah er ein, daß
+diese beispiellose Selbstentlarvung nicht nur ganz umsonst
+gewesen sei, sondern daß er sich durch sie in unsere Hände
+geliefert hatte. Wir drei waren nun die gefährlichsten
+Menschen, die es für ihn gab. _Er_durfte_uns_nie_
+_vor_Gericht_zu_Worte_kommen_lassen,_ sondern mußte
+alles tun, _uns_als_unglaubhafte,_eidesunwürdige_
+_Personen_hinzustellen._ Ich lege großen Wert darauf,
+dies ganz besonders zu betonen, denn
+ | es ist der einzig richtige Schlüssel zu seinem |
+ | ganzen späteren Verhalten, welches man |
+ | ohne diesen Schlüssel wohl kaum begreifen |
+ | könnte, weil der Haß dieses Mannes gegen |
+ | uns drei fast unmenschlich erscheint. |
+
+ Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich
+entfernte, beklagte ich mich absichtlich über die vielen
+Zuschriften, in denen man mich, den gar nicht reichen Mann,
+mit Bitten um Geld überschüttet, und tat dies in einer
+Weise, die jeden gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten
+mußte, mir mit ähnlichen Wünschen zu kommen. Schon
+gleich am nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:
+
+ "Dresden-A., den 3. 5. 04.
+
+ Sehr geehrter Herr Doktor!
+
+ Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen
+ Empfang und die erwiesene Gastfreundschaft danke,
+ bitte ich Sie, wenn Sie die Kunstausstellung besuchen
+ oder sonst einmal nach Dresden kommen, bei uns zu
+ Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.
+
+ In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen
+ widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann
+ ich nicht annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig für die
+ Zeile, was wohl derselbe Preis sein wird, den Sie
+ von anderen Blättern erhalten haben.
+
+ Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute
+ noch einmal überdacht. Es will mir scheinen, als ob
+ trotz des kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz
+ noch erheblich gesteigert werden könnte. Meine
+ Buchhändler- und Verlagserfahrungen haben mich gelehrt,
+ daß der Wert einer richtig geleiteten Propaganda
+ und direkten Reklame gar nicht überschätzt werden kann.
+
+ Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten
+ Frau Gemahlin und Ihnen in _Verehrung_ und
+ _Dankbarkeit_ ergebenst
+
+ Rudolf Lebius."
+
+ Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich "Doktor"
+titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches bedeutet
+hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat
+dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als
+Waffe gegen mich dienen!
+
+ Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre
+über mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig,
+das Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort
+nach Radebeul geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich
+dafür zu verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das
+Werk in Verlag gebe. Er wurde ganz selbstverständlich
+mit dieser Bitte abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max
+Dittrich, daß ich niemals wieder mit ihm verkehren würde,
+wenn es ihm einfalle, diesem Manne die Broschüre zu
+überlassen.
+
+ Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens
+zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine
+Photographie, die er mir entwendet hatte. Er durfte
+nie wiederkommen. Trotzdem hat er wiederholt behauptet,
+in meinem Hause vielfach verkehrt zu sein und mich sehr
+genau studiert zu haben.
+
+ Am folgenden Tage schrieb er mir:
+
+ "Dresden-A., 12. 7. 04.
+ Fürstenstraße 34.
+
+ Sehr geehrter Herr Doktor!
+
+ _Ich_möchte_sehr_gern_die_Dittrichsche_
+ _Broschüre_verlegen_und_würde_mir_auch_die_größte_
+ _Mühe_geben,_sie_zu_vertreiben._ Durch den Rücktritt
+ von der "Sachsenstimme" -- offiziell scheide ich
+ erst am 1. Oktober d. J. aus -- bin ich aber etwas
+ kapitalschwach geworden.
+
+ _Würden_Sie_mir_vielleicht_ein_auf_drei_
+ _Jahre_laufendes,_5prozentiges_Darlehen_ gewähren?
+ Ich zahle Ihnen die Schuld vielleicht schon
+ in einem Jahre zurück.
+
+ | Als Dank dafür würde ich die Broschüre |
+ | so lancieren, daß alle Welt von dem Buche |
+ | spricht. Ich habe ja auf diesem Gebiete |
+ | besonders große Erfahrung. |
+
+ Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf
+ ganz solider Basis. Nun heißt es arbeiten und zeigen,
+ _daß_man_ein_ganzer_Kerl_ist_ usw. usw. Beste
+ Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin
+
+ Ihr Ihnen ergebener
+ Rudolf Lebius."
+
+ Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, daß
+jemand, der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht
+weitergehen könne, zumal ich Herrn Lebius _mit_der_
+_Broschüre_total_abgewiesen_hatte._ Aber am 8. August
+schrieb er trotzdem wieder:
+
+ "Die "Sachsenstimme" ist am 4. d. zu vorteilhaften
+ Bedingungen an mich allein übergegangen. Ich kann
+ jetzt schalten und walten, wie ich will. Um mich von
+ dem Drucker etwas unabhängig zu machen, _würde_
+ _ich_gern_einige_tausend_Mark_(3--6)_auf_ein_
+ _halbes_Jahr_als_Darlehen_aufnehmen._ Ein
+ Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jüdischen
+ Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison
+ bewiesen hat, in weitgehendem Maße unterstützten. Das
+ Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. _Würden_
+ _Sie_mir_das_Darlehen_gewähren?__Zu_Gegenleistungen_
+ _bin_ich_gern_bereit._ Die große Zahl
+ von akademischen Mitarbeitern erhebt mein Blatt über
+ die Mehrzahl der sächsischen Zeitungen. Wir können
+ außerdem die Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300
+ oder mehr deutsche und österreichische Zeitungen versenden
+ und den betreffenden Artikel blau anstreichen. So etwas
+ wirkt unfehlbar. In Dresden lasse ich mein Blatt
+ allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit vorzüglicher
+ Hochachtung Rudolf Lebius."
+
+ Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts
+besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, daß
+er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß er
+überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar Honorar
+schuldig bleibe. Daß seine Zeitung eine solide Basis habe,
+war unwahr, ebenso die "große Zahl der akademischen
+Mitarbeiter" und Anderes. Dergleichen absichtliche
+Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt.
+Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam:
+"Sehr geehrter Herr . . . . Mit vorzüglicher
+Verehrung!" "Mit großer Hochachtung und Verehrung!"
+"Sehr geehrter Herr Doktor . . . . In Verehrung
+und Dankbarkeit." Als er sah, daß diese Höflichkeiten
+nicht zogen, schrieb er nicht mehr an mich, sondern
+an Dittrich. So am 15. August 1904:
+
+ "Werter Herr Dittrich!
+
+ Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent.
+ _Mehr_als_10_000_Mk._brauche_ich_nicht._ Ich
+ würde aber auch mit weniger vorlieb nehmen. Das
+ Honorar sende ich am 20. d. wie verabredet.
+
+ Können Sie nicht Dr. May _b_e_a_r_b_e_i_t_e_n,_ daß
+ er mir Geld vorschießt?
+
+ Freundlichen Gruß R. Lebius."
+
+ Dann am 27. August:
+
+ "Werter Herr Dittrich!
+
+ Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn
+ Dr. Klenke, einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei
+ dieser Gelegenheit gibt sie Ihnen Ihr Honorar. Sie
+ haben meine schriftliche Zusage, daß ich Ihnen 1 Prozent
+ von dem Gelde gebe, welches Sie mir von H. V.
+ oder Dr. M. (May) vermitteln. Sie erhalten das
+ Geld sofort . . . .
+
+ Freundlichen Gruß Lebius."
+
+ Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar
+von 37 Mark 45 Pfennigen schuldig, welches er trotz
+der Kleinheit dieses Betrages nicht bezahlen konnte. Es
+wurde ihm daraufhin ein Spiegel gerichtlich abgepfändet.
+Als er von Dittrich, anstatt der 10 000 Mark von mir,
+eine Mahnung um diese 37 Mark 45 Pfennig bekam,
+schrieb er ihm am 3. September:
+
+ "Geehrter Herr Dittrich!
+
+ Ich habe Herrn Dr. med. Klenke ersucht, Ihnen
+ 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten
+ mir gegenüber finde ich höchst sonderbar, um
+ nicht zu sagen beleidigend.
+
+ Achtungsvoll
+ R. Lebius."
+
+ Diesem Dr. Klenke fiel es aber auch nicht ein, die
+Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in
+logischer Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer
+Postkarte folgende Drohung bei mir an:
+
+ "Werter Herr!
+
+ Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der "Sachsenstimme",
+ erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel
+ gegen Sie schreibt. Ich habe es im Lokal gerade
+ gehört. Es warnt Sie ein Freund vor dem Manne.
+
+ B."
+
+ Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte
+war ich mir natürlich sofort im Klaren. Auch das
+Gutachten der _vereideten_Sachverständigen_ lautet dahin,
+_daß_sie_unbedingt_von_Lebius_selbst_geschrieben_
+_ist._ Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf
+diese Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde.
+Gab ich sie nicht, so waren mir nicht nur der jetzt
+angedrohte, sondern noch weitere Racheartikel sicher und
+auch noch anderes dazu, was mich in Besorgnis setzen
+mußte. Aber ich ließ auch jetzt nichts von mir hören
+und sah mit gutem Gewissen dem unvermeidlichen Artikel
+entgegen, der am 11. September 1904 in Nummer 33
+des Lebiusschen Blattes, der "Sachsenstimme" erschien
+und die dreifache Ueberschrift hatte:
+
+| "Mehr Licht über Karl May |
+| 160 000 Mark Schriftstellereinkommen |
+| Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller." |
+
+ Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort
+gegeben, nichts zu veröffentlichen. Er war sogar nur
+unter diesem Versprechen bei uns hereingelassen worden,
+und nun veröffentlichte er doch, und zwar in welcher
+Weise und aus welchen Gründen! Er stellte alles auf
+den Kopf; er drehte alles um! Er legte uns alles, was
+ihm beliebte, in den Mund, und was wir wirklich gesagt
+hatten, das verschwieg er, um sich nicht zu blamieren.
+Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische Unsauberkeiten,
+Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das war
+nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach.
+Dieser Artikel in Nr. 33 der "Sachsenstimme" war so
+gehalten, daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich
+das Geld nun endlich noch gab. Und schon in Nr. 34
+kam ein sehr deutlicher Wink, der mir sagte, was
+geschehen werde, falls ich mich nicht zum Zahlen bewegen
+lasse. Dieser Wink bestand in einer Münchmeyerschen
+Annonce, die ganze Bände zu mir sprach. Der Besitzer
+der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir gesagt:
+"Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen
+noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem "Verlorenen
+Sohn" fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren!
+Der wird so happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist,
+als Schriftsteller weiter zu existieren!" Und dieser
+"Verlorene Sohn" wurde jetzt in Nr. 34 der "Sachsenstimme"
+annonciert. Das war genau so, als ob mir mit
+Riesenbuchstaben geschrieben worden wäre: "Nun aber endlich
+Geld her, sonst geht es in diesem Tone weiter!" Der
+gefährlichste Erpresser ist der, welcher es in dieser
+raffinierten Weise anfängt, die noch deutlicher ist, als das
+gesprochene Wort, aber von keinem Staatsanwalt verfolgt
+werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts. Da
+kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein
+drittes und in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde
+mir die Verbindung des Herrn Lebius mit der Firma
+Münchmeyer schon deutlicher gezeigt, denn es wurde da
+gesagt, der Inhaber dieser Firma habe einen ganzen
+Haufen alter Briefe von mir in der Hand und könne
+also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn er
+nur wolle. In Wahrheit aber besaß er nicht einen
+einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau,
+daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen Programms,
+mich durch meine Vorstrafen "in den Zeitungen
+vor ganz Deutschland kaput zu machen", übernommen
+hatte. Ich war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000
+Mark ihn sofort zum Schweigen bringen würde, hätte
+mich aber vor mir selbst geschämt, ihm auch nur einen
+einzigen Pfennig zu geben.
+
+ Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die
+Nr. 48 brachte die ohne alle Veranlassung frei aus der
+Luft niederfallende Verkündigung: "Die vier Jahre, die
+Herr Karl May in Waldheim verbüßte, waren nach
+unserer Information die Folge eines Einbruchdiebstahls
+in einem Uhrenladen." Ich habe aber niemals einen
+Einbruch verübt. Man sieht, daß es nicht auf die Wahrheit
+ankam, sondern nur auf das "Kaputmachen". Diese
+Nr. 48 erschien am Weihnachtsheiligenabend. Da hingen
+an den Fenstern der Dresdener Buchhandlungen Plakate
+aus, auf denen die "Sachsenstimme" mit den großen
+roten Buchstaben _"Die_Vorstrafen_Karl_Mays"_
+angekündigt wurde. Einen schreienderen Beweis, daß es
+sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um die
+Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es
+wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des
+grausamen Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten
+des Herrn Lebius einzeln aufzuzählen. Ich will nur in
+Summa sagen, daß er in dieser Weise fortfuhr, bis er
+nach einiger Zeit aus Dresden verschwinden mußte. Ich
+habe die Unwahrheiten, die er in seinen Dresdener
+Artikeln über mich verbreitete, zusammengestellt, um sie
+gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer trotz der Kürze der
+Zeit nicht weniger als hundertzweiundvierzig. Mehr hat
+bisher wohl noch kein Mensch geleistet! Ich betone aber
+ausdrücklich, daß diese Aufstellung nicht etwa alles, sondern
+nur eine Auswahl enthält. Ich könnte diese Ziffer trotz
+ihrer Höhe gut verdoppeln. Ich habe lange dazu
+geschwiegen, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Da
+mußte ich mich endlich wehren. Ich erstattete bei der
+Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Erpressung. Ich legte
+seine Briefe bei. Auch die drohende Karte vom 7. September
+1904. Die Sachverständigen erklärten, daß Lebius
+sie unbedingt geschrieben habe. Die erwähnte Behörde
+aber war der Ansicht, daß dies nicht zureiche, eine
+Untersuchung zu eröffnen. Und Lebius gab sich bei seinen
+Auskünften die größte Mühe, mich als einen Menschen
+hinzustellen, dem man nicht glauben dürfe. Das Meisterstück
+hat er dabei abgelegt, indem er der Königlichen
+Staatsanwaltschaft in Dresden berichtete, daß der Wirt
+des Hotels auf dem Berge Sinai in Dresden gewesen
+sei und sich sehr schlecht über mich ausgesprochen habe.
+Nun weiß aber Jedermann, daß es auf dem Berg Sinai
+bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben hat! Ich
+zeige damit wohl zur Genüge, was man von der
+Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann.
+Ich erhob zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog
+ich während der Verhandlung aus reinem Ekel vor dem
+Schmutz, in dem ich da waten sollte, zurück. Die andere
+brachte ihm in der ersten Instanz eine Geldstrafe von
+30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er
+freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und
+einen Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne
+orientiert zu sein.
+
+ Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen
+wie unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe.
+Gewiß wenig genug! Daß ich Berichterstattern Auskunft
+gab, wenn sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz
+von selbst. Es kann mir niemand zumuten, diesen Herren
+aus Angst vor Herrn Lebius die Unwahrheit zu sagen.
+Dennoch behauptet er noch heute, daß nicht ich von ihm,
+sondern er von mir verfolgt und angegriffen werde.
+
+ Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer
+ganz bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten
+seine Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwähne da
+nur den Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch
+den er ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg.
+Ich schwieg selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen
+"Wahrheit" in Berlin einen geradezu empörenden
+Angriff gegen mich brachte, in dem er mich als "atavistischen
+Verbrecher" brandmarkte, der wegen "fortgesetzter
+Einbruchdiebstähle" fast ein Jahrzehnt im Gefängnis
+und Zuchthaus gesessen habe! Er behauptete da, daß
+ich eine schwere, chronische Krankheit durchgemacht habe,
+die "offenbar kulturhemmend" gewirkt habe. Hiermit
+hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk
+in Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich
+gezwungen, ihn dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem
+großen Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten
+hatte, die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem
+Zwecke mit meiner Frau nach Berlin. Wir entdeckten
+seine Wohnung. Wir hörten, daß er ein neues Blatt
+herausgab, der "Bund" genannt. Wir telefonierten
+ihm. Er bestellte uns nach Café Bauer. Wir folgten
+dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau und
+deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht.
+Er leugnete alles. Ich sagte ihm, daß ich sein neues
+Blatt sehen möchte. Das war ganz ehrlich und gut
+gemeint, ohne alle böse Absicht. Er aber begehrte sofort
+zornig auf und fragte drohend: "Haben Sie etwas vor?
+Dann gehe ich auf der Stelle von neuem gegen Sie los!
+Hier in Berlin gibt es über zwanzig Blätter wie die
+"Dresdener Rundschau". Die stehen mir alle zu Gebote,
+wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das gar
+nicht lang!"
+
+ Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder
+in den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu
+seiner Frau in ruhiger, freundlicher Weise, daß es die
+schönste Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu
+wirken und die Härten des Lebens zu mildern; dann
+entfernten wir uns.
+
+ Das war am 2. oder 3. September. _Einen_Monat_
+_später,_ am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin;
+ich war verreist:
+
+ Geehrter Herr!
+
+ Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei
+ Ihnen einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen
+ über einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden,
+ machen könnten. Genannter Herr, ehemaliger
+ Sozialdemokrat, hat gegen mich als den seinerzeit
+ verantwortlich zeichnenden Redakteur des "Vorwärts"
+ die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es wird vor
+ Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als
+ "Ehrenmann" zu kennzeichnen. Auf den Rat eines
+ Dresdener Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an
+ Sie, ob Sie mir über diesen Herrn vielleicht einige
+ Auskunft geben könnten. Sollte dies der Fall sein,
+ so sehe ich Ihrer Freundlichkeit sehr verbunden
+ entgegen.
+
+ Mit größter Hochachtung
+ Carl Wermuth,
+ Redakteur des "Vorwärts".
+
+ Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf
+dessen Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht
+eingehen konnte. Am 5. April 1908, also
+| ein volles halbes Jahr später, |
+erhielt ich von der Redaktion des "Vorwärts" eine weitere
+Zuschrift:
+
+ _"Zu_unserem_Bedauern_haben_Sie_es_bisher_
+ _unterlassen,_sich_ über die gegen Sie gerichteten
+ Angriffe des Lebius _zu_äußern_ resp. _uns_die_
+ _notwendigen_Beweismittel_ der ehrenabschneiderischen
+ Tätigkeit des Lebius in Bezug auf Ihre Person _zur_
+ _Verfügung_zu_stellen._ Wie ich von meinem Kollegen
+ Wermuth erfuhr, hat Ihre Frau mitgeteilt, daß
+ Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden und _nicht_in_
+ _der_Lage_seien,_uns_mit_dem_gewünschten_
+ _Material_gegen_Lebius_zu_versehen._ Ich hoffe,
+ daß Sie inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind
+ und nunmehr . . . ."
+
+ Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen, _daß_
+_nicht_ich_Herrn_Lebius_verfolge,_sondern_er_mich._
+Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am Sedanstage,
+an ihn gemacht habe, um dem "Vorwärts" beizustehen.
+Hier beweise ich, daß ich damals von jener
+Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern
+daß der "Vorwärts" es mir erst einen Monat später
+mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten
+_noch_gar_keine_Antwort_bekommen_hat!_ Ich hatte
+also Herrn Lebius volle sechs Monate geschont, wo es
+mir doch durch die Sozialdemokratie so bequem und leicht
+gemacht worden war, mich an ihm zu rächen. _Daß_ich_
+_ihn_nicht_verfolge,_sondern_von_ihm_fort_und_
+_fort_zur_Notwehr_gezwungen_werde,_ ist übrigens
+auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis heut
+umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit
+dieser Zeugenschaft für den "Vorwärts"-Redakteur hatte
+es damals folgende Bewandtnis:
+
+ Lebius hatte den "Vorwärts" wegen Beleidigung
+verklagt, und der "Vorwärts" hatte mich, natürlich ohne
+erst viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das
+Gewissen des Lebius sagte ihm, daß er von diesem Zeugen
+wohl nicht viel freundliches zu erwarten habe. Ja, es
+kam ihm sogar der Gedanke, daß ich von dieser Zeugenschaft
+schon im Café Bauer gewußt habe. Das erzürnte
+ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach
+Radebeul, um mir zu drohen. Meine Frau wünschte diese
+Zusammenkunft in meinem Hause; aber darauf ging Frau
+Lebius nicht ein. Die beiden Frauen trafen sich im
+Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau Lebius
+uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und
+wie ich als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte
+ich vor Gericht erklären, daß er jene drohende Postkarte
+vom 7. September in Dresden nicht geschrieben habe.
+Tue ich das nicht, so müsse er den alten Kampf gegen
+mich von Neuem beginnen. Meine Frau lehnte das ganz
+entschieden ab, denn wir waren jetzt mehr als je überzeugt,
+daß er der Verfasser sei. Seine Frau kehrte also
+unverrichteter Sache nach Berlin zurück.
+
+ Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß
+er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine
+Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge
+aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte. Da aber
+diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen
+war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des
+Verfassers nach sich zog, die Lebius von sich abwenden
+wollte, so sah er sich nach einem Strohmanne um, der
+ihn und Karl May noch nicht kannte und unerfahren,
+vertrauensselig und bedürftig genug war, sich für einige
+Hundert Mark _völlig_ungeahnt_ in die ganz sicher zu
+erwartende _Gefängnisstrafe_stürzen_zu lassen._ Er
+fand ihn in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus
+Basel, zog ihn in sein Netz und umspann ihn derart mit
+Selbstvergötterungs- und Lügenfäden, daß der junge,
+völlig ehrliche Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in
+den Dienst eines so bedeutenden, geistig, sozial und auch
+juristisch hervorragenden Mannes stellen zu dürfen.
+
+ Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei
+außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er
+verschwieg anfänglich, daß es sich _nur_ um eine Broschüre
+gegen _mich_ handle. Er machte dem jungen Manne
+weis, daß er ein w i s s e n s ch a f t l i c h e s Werk über
+berühmte resp. berüchtigte Männer schreiben solle. Er
+nannte ihm die Namen derselben; darunter befand sich
+auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk
+machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten
+diese so, daß nach und nach alle diese "Berühmten und
+Berüchtigten" verschwanden und nur Karl May allein
+übrig blieb. Aus dem "wissenschaftlichen" Werke aber
+sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten
+Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag
+immer deutlicher. Er begann zu ahnen, daß er mit aller
+Liebenswürdigkeit in das Verderben geführt werden solle.
+Als er das Herrn Lebius zu verstehen gab, hielt dieser
+es für geraten, ihm den ganzen Zweck der Broschüre
+einzugestehen. Er gab folgendes zu:
+
+| Lebius hat den Redakteur des "Vorwärts" |
+| wegen Beleidigung verklagt. |
+
+| Der "Vorwärts" hat Karl May als Zeugen |
+| gegen Lebius angegeben. |
+
+| Darum ist es für Lebius notwendig, Karl |
+| May kaput zu machen. |
+
+| Um das zu erreichen, gibt er die hier in |
+| Arbeit liegende Broschüre heraus. |
+
+| Der Termin, in dem Karl May als Zeuge |
+| verhört wird, findet anfangs April statt. |
+
+| Darum muß die Broschüre ganz unbedingt |
+| bis zum 1. April fertig zum Versenden sein. |
+
+| Wenn die Broschüre erst später fertig wird, |
+| hat sie keinen Zweck; dann braucht man sie |
+| überhaupt gar nicht erst zu schreiben. |
+
+| Sie wird an die Zeitungen versandt, die |
+| darüber berichten. Das soll auf die Richter |
+| wirken. |
+
+| Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. |
+| Sobald dies geschieht, ist May als Zeuge kaput. |
+
+ Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden
+seine Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren.
+Als er diese äußerste und seiner Besorgnis, gerichtlich
+bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm
+folgendes vor:
+
+| Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets |
+| mit einem Fuße im Gefängnisse. |
+
+| Bestraft zu sein ist für uns eine gute |
+| Reklame. Auch ich bin schon oft vorbestraft. |
+
+| Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht |
+| zu fürchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie |
+| dürfen schwören. May aber darf nicht schwören. |
+
+| May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm |
+| verboten, in einer Stadt zu wohnen. Darum |
+| wohnt er in Radebeul. |
+
+| I ch b i n e i n g r o ß e s, f o r e n s i s ch e s |
+| T a l e n t. W e n n i ch a n f a n g e z u s p r e ch e n, |
+| s i n d d i e R i ch t e r a l l e m e i n! |
+
+| W e n n m a n i n e i n e m P r o z e s s e st e ck t |
+| u n d m a n s ch r e i b t e i n e s o l ch e B r o s ch ü r e, |
+| d a s w i r k t u n g e h e u e r b e i d e n R i ch t e r n! |
+
+| Die Frau May hat mich mit Tränen in den |
+| Augen um Gnade für ihren Mann gebeten. |
+
+| May muß durch die Broschüre totgemacht |
+| werden. Alles übrige ist Beiwerk, u m d e n |
+| w a h r e n Z w e ck z u v e r s ch l e i e r n! |
+
+ Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren
+Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von dieser
+Sache zurückzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm
+zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese Broschüre
+zu mißbrauchen. Er richtete ganz dasselbe Verbot
+auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher
+aus diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber
+er kannte Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht.
+Die Broschüre erschien, und zwar genau am ersten April.
+Ihr Titel war:
+
+| K a r l M a y, |
+| ein Verderber der deutschen Jugend |
+ von
+| F. W. Kahl-Basel. |
+
+ Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß
+die Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter
+seinem Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte.
+Der von Lebius gefürchtete Termin, an dem ich als
+Zeuge vernommen werden sollte, hat nicht stattgefunden.
+Ob er den Herren Richtern die Broschüre dennoch vorgelegt
+hat oder nicht, ist mir unbekannt. Aber an die
+Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, und zwar mit
+Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren verleumderischer
+Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur
+folgende Zeilen liest, die er an die "Neue Züricher
+Zeitung" schickte:
+
+ "Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß
+er durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung
+untergrub und mich in den Bankrott trieb. Sobald ich
+in einer andern Stadt festen Fuß gefaßt hatte, erschien
+er wieder auf der Bildfläche, um dasselbe Manöver zu
+wiederholen. Dabei liebt er es, bevor er zu einem neuen
+Schlage gegen mich ausholt, mich jeweils in meiner
+Wohnung aufzusuchen und mit tränenden Augen um Frieden
+zu bitten."
+
+ Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier
+nicht zu sprechen. Ganz selbstverständlich waren meine
+Vorstrafen aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu.
+Das schickte er in alle Welt hinaus, um mich nach
+Münchmeyerschem Rezept "kaput" zu machen. Ich erlangte
+eine einstweilige Verfügung gegen sie. Sie durfte
+nicht weitergedruckt und weiterverarbeitet werden. Und
+ich erhob Privatanklage wegen Beleidigung gegen ihn.
+Diese Privatklage konnte nicht zur Verhandlung kommen,
+weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, und deren
+waren weit über hundert, verloren hatte. Sie fanden
+sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder. Ich
+war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche
+der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle
+seine Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück,
+drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben,
+und versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das
+tat er durch seine Unterschrift. Es war mir unmöglich,
+einem solchen, vor Gericht gegebenen Versprechen nicht
+zu glauben. Und doch war es eine Untreue und
+Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er mir dieses
+Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders geben,
+als _in_der_Absicht,_es_nicht_zu_halten._ Er hatte
+sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung
+gesetzt. Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen,
+eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen Mann;
+die trachtete er, für sich auszunutzen. Er suchte sie in
+Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und
+zufrieden von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr
+gab, obgleich ich ihr nichts zu geben brauchte, weil sie
+die Alleinschuldige war. Auch hatte ich sie in jeder Weise
+reichlich ausgestattet. Da kam dieser Mann zu ihr und
+entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, um daraus mit
+Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und Verdrehungen
+einen Strick für mich zu fertigen. Er versprach ihr
+ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts,
+gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und
+schrieb für seinen "Bund" vom 28. März 1909 einen
+Aufsatz unter der Ueberschrift "Ein spiritistisches
+Schreibmedium als Hauptzeuge der "Vorwärts"-Redaktion." Mit
+diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau
+gemeint.
+
+ Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da
+über mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und
+zwar mit raffinierter Benutzung und Bearbeitung der
+Bitterstoffe, die im Gemüte geschiedener Frauen vorhanden
+sind. Als das arme, unglückliche Weib das las, erschrak
+sie. Er schwieg also nicht! Er hatte nicht Wort
+gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach Berlin, um ihn zur
+Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort. Er übergab
+sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem früher
+gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm
+ihr Beistand wurde. Beide veranlaßten sie zunächst, auf
+ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie
+sodann, ihre Pretiosen zu versetzen, damit es "nach außen
+einen besseren Eindruck mache". Das heißt doch wohl,
+damit man denken möge, daß ich es sei, der diese Frau
+in solche Armut und solches Elend gestürzt habe! Das
+hat Lebius in seinem Briefe an die Kammersängerin vom
+Scheidt, welcher den Gegenstand der vorliegenden Privatklage
+bildet, wörtlich eingestanden, und der Vorsitzende
+der ersten Instanz hat ihn gelobt, indem er öffentlich
+sagte: "Das ist sehr edel von Ihnen!"
+
+ Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles
+Einkommen war und vor dem Nichts stand, eine Rente für
+das ganze Leben von monatlich 100 Mark versprochen,
+er, der wegen zwei oder drei Mark vergeblich ausgepfändet
+worden ist! Sie hat es ihm zunächst geglaubt;
+er aber hat sehr wohl gewußt, daß dieses Versprechen
+nicht rechtsverbindlich war. Nichts als Spiegelfechterei!
+Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben zu
+können. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur
+200 Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur
+geliehen, denn als er merkte, daß sie von ihm weg und
+wieder zu mir strebte, drohte er ihr, sie wegen dieser
+200 Mark um 300 Mark zu verklagen.
+
+ Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes
+Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen,
+wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge
+sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und versetzte?
+Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das Rachewerkzeug des
+Herrn Lebius wurde, daß er sie abrichtete, so über mich zu
+denken, zu sprechen und zu schreiben, wie es ihm beliebte,
+und daß sie ihm und seinem Schwager Medem in jeder
+Beziehung gänzlich in die Hand gegeben war. Denn als ich
+infolge des obigen Artikels im "Bund" gezwungen war,
+meine geschiedene Frau zu verklagen, machten Lebius und
+Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß Lebius für seine
+Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon hatte und
+sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren Zweck
+und Tragweite sie keine Ahnung besaß! Es kam vor,
+daß sie unter Tränen sich sträubte, einen derartigen
+Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber doch!
+Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich auf diesem
+Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn sie
+nicht vollständig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete
+sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte
+das arme, verführte Weib. Ich nahm den Strafantrag
+und den Beleidigungsprozeß gegen sie zurück. Und nun
+erfuhr ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius
+aus ihrer sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt
+worden war, um wirtschaftlich vernichtet und
+moralisch ausgebeutet resp. gegen mich ausgespielt zu
+werden. Er sagt in seinem Briefe, welcher den
+Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens bildet:
+
+| "Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe |
+| ich allerdings im Hinblick auf meine gerichtliche |
+| Einigung mit May verlangt, daß Frau Emma |
+| erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, |
+| weil das nach außen hin einen bessern Eindruck |
+| macht." |
+
+ Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe,
+weil er mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat
+und weil er gerichtlich versprochen hat, mich nun für
+immer in Ruhe zu lassen, also darum, _"im_Hinblick_
+_darauf"_ mußte die Frau nun ihre Kleinodien versetzen,
+damit man _mich_ als den Schurken bezeichne,
+durch den sie in solches Elend getrieben worden sei! Wie
+nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in
+dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und
+um ihre Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem
+seinem Briefe: "Ich habe auch durch meinen Syndikus
+Herrn Geheimrat Ueberhorst Schritte vorbereiten lassen,
+_um_wieder_zu_meinem_Gelde_zu_kommen!"_ Gibt
+es hier überhaupt einen Ausdruck, durch den man
+imstande wäre, die Lebiussche Denk- und Handlungsweise
+erschöpfend zu charakterisieren?
+
+ Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung vollständig
+ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder
+einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um
+seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz
+besondere taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene
+Frauen gegen ihre Männer auszuspielen. Das eklatanteste
+Beispiel hiervon ist der Fall "Max Dittrich".
+Indem ich ihn hier kurz erwähne, bitte ich um _ganz_
+_besondere_Aufmerksamkeit,_ weil er für die
+Beurteilung des Herrn Lebius _von_allergrößter_
+_Wichtigkeit_ist._
+
+ Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch
+bei mir machte, den Redakteur und Militärschriftsteller
+Max Dittrich als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen
+und Vorsicht, um gegen etwaige spätere Lügen und
+Schwindeleien des Herrn Lebius durch einen vollgültigen
+Zeugen geschützt zu sein. Herr Dittrich war damals
+vom Anfang bis zum Ende anwesend und hatte jedes
+von mir gesprochene Wort gehört. Einen solchen Zeugen
+zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer
+peinlicher, immer gefährlicher. Er beschloß darum, _ihn_
+_eidesunwürdig_zu_machen,_ also ganz dasselbe, was
+er auch bei mir getan hat _und_noch_heute_tut._ Es
+ist das, wie sich später zeigen wird, _ein_persönlicher_
+_Trick_ von ihm, den er _für_unfehlbar_ hält -- -- --
+eidesunwürdig machen!
+
+ Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während
+seines Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder
+Polizist und Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken,
+hat eine Schuld auf sich, die er verheimlichen muß.
+Man muß das _entdecken_ und _in_die_Zeitung_bringen;_
+dann wird man Herrscher und als _"tüchtiger_Kerl"_
+bekannt. So tat Herr Lebius auch hier. Die erste Frau
+Max Dittrichs war gestorben; von der zweiten Frau
+hatte er sich scheiden lassen; jetzt war er infolge eines
+Schiffbruchs, bei dem er nur gefährlich verletzt dem
+Tode entging, schwer nervenkrank geworden. Das gab
+ein hochinteressantes Material, aus dem sich jedenfalls
+etwas machen ließ! Herr Lebius ging also aus, um
+nach dem "Werg am Rocken", nach der "heimlichen"
+Schuld und Sünde zu suchen. Er forschte überall,
+schriftlich, mündlich, persönlich. Er stellte sich überall ein,
+wo er glaubte, etwas erfahren zu können. Er scheute
+sich nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er
+schlich sich zu Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs
+Neffen und Nichte, sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die
+wieder verheiratet war und in glücklicher, stiller Ehe
+lebte. Er forschte sie aus, ohne daß sie ahnten, warum
+und wozu. Sie antworteten vertrauensvoll und
+unbefangen. Aber als er plötzlich zu ihrem Entsetzen die
+Worte "Gericht" und "Eid" fallen ließ, da fühlten sie
+die Krallen, in die sie geraten waren. Sie hatten nichts
+Böses sagen können und baten, sie aus dem Spiele zu lassen.
+Er versprach es ihnen. Besonders entsetzt über die Aussicht,
+in diesen Lebiusschen Schmutz verwickelt zu werden,
+war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger Mann war ein
+lieber, guter, aber in Beziehung auf die "Ehre" sehr
+streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in
+_solcher_ Angelegenheit an Lebius' Seite, das wäre
+unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie
+gewesen! Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu
+verwickeln, und er scheute sich nicht, es ihr hoch und
+heilig zu versprechen. Dann aber ging er schleunigst hin
+und brachte in Nummer 12 seiner "Sachsenstimme"
+einen Bericht, dem ich nur einige Punkte entnehme, die
+nicht einmal die schlimmsten sind, nämlich:
+
+ "Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine
+Kinder, wohl aber zwei von seiner Stieftochter, bevor
+diese das 16. Lebensjahr erreichte."
+
+ "Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen
+ihres Mannes zu Tode."
+
+ "Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb
+Dittrich es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung
+unvermeidlich wurde."
+
+ "Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden
+Nichte seiner Frau unterhielt er ein mehrjähriges
+Verhältnis."
+
+ "Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen
+Mädchen an."
+
+ "Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau
+beobachten."
+
+ "Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich
+mit seiner Braut zusammen und hatte auch seine
+Tochter bei sich."
+
+ "Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen
+Nervenleidens Halbinvalide" usw.
+
+ Man kann sich den Schreck der Verwandten denken,
+als sie das lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert
+wurden, weil Max Dittrich ganz selbstverständlich
+Herrn Lebius verklagte! Die Nichte mußte im Hause
+vernommen werden; sie lag krank. Die geschiedene Frau
+Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter und
+sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein
+absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe sei;
+sie werde das wohl kaum überleben. Dieser vortreffliche
+Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu
+auch ein menschliches Herz in der Brust und erledigte
+die Vernehmung in entsprechender humaner Weise.
+
+ Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen
+Punkte alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl
+für jeden nur einigermaßen gebildeten und nicht verrohten
+Menschen die Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher
+Dinge _gesetzlich_ resp. _preßmoralisch_statthaft_ sei.
+Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius, diese
+Frage mit einem "Nein!" beantworten wird. Das
+würde zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls
+genügen, ist aber noch lange nicht alles, denn wenn man
+Gelegenheit findet, die Akten Dittrich contra Lebius
+aufzuschlagen, so sieht man am Schlusse derselben Herrn
+Lebius in noch ganz anderer Weise beleuchtet. Er
+gesteht da nämlich ein, daß seine Verleumdungen gegen
+Max Dittrich
+| nicht wahr gewesen seien, |
+und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu
+tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen,
+um diesen Herrn nun zu kennen.
+
+ Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den
+anderen ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines
+Rowdyblattes heraus die Menschen niederknallt, so oft
+es ihm beliebt, das wird von der Strafgesetzgebung der
+Zukunft wohl ganz anders betrachtet und ganz anders
+behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt es,
+Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und menschheitsethische
+Instanzen, welche den Totschlag einer Menschen_seele_
+für wenigstens ebenso strafbar halten wie die
+Ermordung eines Menschen_körpers._
+
+ Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten
+Anklagen in seiner "Sachsenstimme" gegen
+Max Dittrich geschleudert, und am 18. November darauf
+erklärte er in der zweiten Strafkammer des Königlichen
+Landgerichtes Dresden zu Protokoll:
+
+| "Ich erkläre, daß ich die gegen den |
+| Privatkläger in der "Sachsenstimme" vom 27. März |
+| 1905 erhobenen, beleidigenden Behauptungen |
+| ! ! ! als unwahr ! ! ! |
+| hiermit zurücknehme und mein Bedauern über |
+| die gemachten Aeußerungen in der "Sachsenstimme" |
+| ausdrücke und den Privatkläger deshalb |
+| ! ! ! um Verzeihung bitte ! ! ! |
+
+ Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin
+Streit und Prozesse mit dem "Vorwärts" begann, gab
+dieser den Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen
+ihn an. Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten
+Trick, Zeugen durch die Presse unschädlich zu machen.
+Er veröffentlichte genau dasselbe wieder, was er damals
+über Dittrich veröffentlicht und dann vor dem Dresdener
+Landgericht
+| ! ! ! als unwahr ! ! ! |
+mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte.
+Dittrich war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu
+verklagen und auf jene Zurücknahme und Bitte um
+Verzeihung hinzuweisen. Was tat Lebius? Er erklärte in
+seinem an das Königliche Amtsgericht Charlottenburg
+gerichteten Schriftsatz vom 24. Dezember 1909, daß er
+damals jene Abbitte und jenes Eingeständnis der
+Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich
+| "aus Gründen wirtschaftlicher Natur" |
+abgelegt habe. Seine Verhältnisse seien damals so
+bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen
+nach Dresden habe reisen können. Er selbst also ist es,
+der das folgende moralische Porträt von sich liefert:
+
+| Lebius verleumdet den Militärschriftsteller |
+| Dittrich 1905 in seinem Dresdener Blatte. |
+
+| Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener |
+| Landgericht, daß diese Verleumdungen erlogen |
+| seien, und bittet um Verzeihung. |
+
+| Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte |
+| jene von ihm als Lügen bezeichneten |
+| Verleumdungen als Wahrheiten wieder. |
+
+| Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an |
+| das Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals |
+| das Landgericht Dresden angelogen habe. |
+
+ Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht!
+Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch
+Ehr- und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als
+Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als Lüge
+bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf
+diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage;
+| ! ! ! er hatte kein Geld ! ! ! |
+
+ Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für
+ihn vollständig genügender Grund, _Richter_und_
+_Gerichtsämter_zu_belügen_und_sich_als_einen_
+_Charakter_hinzustellen,_dem_kein_vorsichtiger_
+_Mensch_mehr_etwas_glauben_kann!_
+
+ Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise
+von Lebius zu erzählen. Für meine heutigen Zwecke aber
+genügt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir
+die Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete,
+notiert, nicht alle, sondern nur die augenfälligsten. Es
+sind jetzt _über_fünfhundert,_ die ich ihm gerichtlich
+beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei
+Wochen vier Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich
+an diesen Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt
+man Hinrichtung! Und dabei legt er, wie bereits
+erwähnt, den größten Nachdruck immer darauf, daß ich
+ihn verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und
+fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe
+ich nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal
+beim Gericht Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen
+seinen ferneren Angriffen geschwiegen, bis er mich durch
+die angebliche Kahl-Broschüre zwang, mich zu verteidigen,
+weil ich _"vor_den_Richtern_kaput_gemacht"_werden_
+_sollte._ Und selbst da habe ich ihm verziehen, habe mich
+mit ihm verglichen, habe gegen sein Versprechen, mich
+fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag zurückgezogen,
+obgleich der betreffende Richter sagte, daß Lebius
+_eine_schwere Strafe_ erleiden werde, falls es zur
+Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 B. 254 08/34,
+gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen, daß
+Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich künftig
+in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich
+verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer
+Schmucksachen beraubte _und_sie_fast_an_den_Bettelstab_
+_brachte._ Sie wurde von ihm zu gerichtlichen
+Schritten gegen mich verleitet, die man fast wahnsinnig
+nennen muß. Und dabei hatte er den Mut, in der ersten
+Instanz des vorliegenden Beleidigungsprozesses zu
+behaupten,
+ | "daß er ihre Interessen vertreten habe und |
+ | also den Schutz des § 193 beanspruchen dürfe!" |
+
+ Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen
+worden als diese! Lebius hat durch die Verführung der
+Frau Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen
+verfolgt, _die_Interessen_dieser_armen_Frau_
+_aber_geradezu_mit_Füßen_getreten._ Es ist unerhört,
+daß er dafür auch noch den Schutz des § 193
+verlangt!
+
+ Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet
+worden, daß er ein Mensch sei, "der über Leichen
+geht." Meine geschiedene Frau hat anstatt "Mensch"
+sogar ein anderes, äußerst schlimmes Wort gebraucht,
+ohne daß er es gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu
+belangen. Ob dieser Vorwurf wahr ist oder ob er zu
+viel sagt, das könnte ich mit vielen Beispielen belegen;
+ich will aber nur das eine bringen: Nach der in den
+Blätterberichten völlig korrumpierten Charlottenburger
+Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte der
+"Boston American" in Boston, Massachusetts, folgende
+ihm aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:
+
+ "Autor frommer Bücher, ein Bandit. Berlin --
+-- -- Herr Charles May, der Millionär, Philanthrop,
+Autor frommer Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit
+Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der
+Verüber vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend
+des südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine
+Räuberbande anführte, gebrandmarkt. _May_brach_zusammen_
+_und_wurde_unter_den_Schutz_seiner_Freunde_gestellt,_
+_um_zu_verhindern,_daß_er_Selbstmord_begehe_
+usw." Sich solche monströse Unwahrheiten aussinnen,
+um mich "kaput zu machen", das ist doch wohl
+über Leichen gegangen. Oder nicht? Doch hiermit genug
+über diesen Herrn Lebius. Alles Andere gehört vor das
+Gericht, nicht aber hierher. Um meine Leser klar sehen
+zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, daß der Münchmeyersche
+Rechtsanwalt Dr. Gerlach auch sein Rechtsanwalt
+ist und daß Beide einander gegenseitig die weitgehendste
+Hilfe und Unterstützung leisten. Ich habe noch
+zwei äußerst interessante Münchmeyersche Champions zu
+erwähnen, die in Beziehung auf geistige Bedeutung zwar
+weder an Gerlach noch an Lebius kommen, aber als
+fromme, katholische Klosterbrüder mitten unter protestantischen
+oder gar aus der Kirche ausgetretenen Kolportageinteressenten
+doch einen frappierenden Eindruck machen.
+
+ Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar
+Pöllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem
+Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden. Der
+hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als Professor.
+Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im "Stern der
+Jugend" gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei
+Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste
+hin und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren.
+Da stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht besaß,
+einen Professortitel zu führen. Er leistete mir folgende
+schriftliche Abbitte:
+
+ "Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten
+ Bezeichnungen "Professor" und "Jugendschriftsteller"
+ auf Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an
+ der Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau
+ und Korrespondent der Jugendzeitschrift "Stern der
+ Jugend" bin, erkläre ich hiermit der Wahrheit gemäß,
+ daß ich die in genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25)
+ enthaltene Notiz über Krankheitserscheinungen des
+ Schriftstellers Karl May bedauere und die von ihm gerichtlich
+ inkriminierten Worte in aller Form zurücknehme.
+
+ Seckau, den 20. Oktober 1904.
+
+ Pater Willibrord Beßler
+ O.S.P." [sic]
+
+ Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich
+gerichtlich belangen muß! Der Abt scheint hier wie dort
+Ildefons Schober zu heißen. Ist es vielleicht derselbe?
+Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts,
+haben die Benediktiner mir meine "Reiseerzählungen"
+ohne mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen
+untersagte. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein
+Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und
+verbreiten und mich doch so öffentlich beleidigen und
+verfolgen resp. mich und meine selben Werke in Acht und
+Bann erklären kann! Ich bemühe mich vergeblich, beides
+logisch zusammen zu bringen. Denn daß ich diesen
+Nachdruck unmöglich dulden konnte, versteht sich ganz von
+selbst! Uebrigens ist dieser Beuroner Pater derselbe, der
+mir "einen Strick drehen will, um mich damit aus dem
+Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Also, erst
+druckt man meine Bücher nach, ohne mich zu fragen, und
+dann peitscht man mich hinaus! In dieser Weise charakterisiert
+Pater Pöllmann seinen eigenen Orden, der sich doch
+wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere Literatur
+erworben hat, als daß er von einem seiner Angehörigen
+in dieser Weise beleumundet werden sollte!
+
+ Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift
+"Ueber den Wassern" eine Reihe von Artikeln gegen mich
+geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener "Freistatt"
+geantwortet. Damit wären wir nun eigentlich mit
+einander fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und
+mir zu entscheiden. Aber während ich in meinen Antworten
+ganz selbstverständlich so sachlich und höflich wie
+möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen
+fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem
+Gang vor das Gericht zu bequemen haben wird. Und
+außerdem ist sein persönliches und literarisches Verhältnis
+zu Herrn Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem
+Münchmeyerschen Programm, mich in den Zeitungen "kaput
+zu machen", festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius,
+Gerlach u. s. w. in Beziehung zu stehen; es sind ihm
+aber derartige Beziehungen ganz unschwer nachzuweisen.
+Hierüber ist Klarheit zu schaffen. Denn daß er in dieses
+"Kaputmachen" auf das Kräftigste mit eingegriffen hat,
+kann nicht einmal er selbst in Abrede stellen. Seine
+"Wasser"-Artikel werden sowohl im Lebius- als auch im
+Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das Eifrigste gegen
+mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge oder
+"Sachverständiger" benannt und wird als solcher in Berlin
+auszusagen haben.
+
+ Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern
+Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht gutheißen
+kann. Ich muß mich fragen, ob es in dieser seiner Taktik
+liegt, das Leserpublikum irre zu führen. Zuerst erschienen
+von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben herab
+klingende Notizen darüber, daß ich es unterlassen habe,
+meine Drohung, ihn zu verklagen, auszuführen. Und
+nun sich herausstellt, daß ich dieses Versprechen doch
+gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich gesinnten
+Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine Beleidigungsklage
+bald hier bald dort zurückgewiesen worden sei und
+ich sämtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht
+fair, vielleicht sogar unwürdig. Es handelt sich hier um
+die Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den
+Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich
+in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen
+wurde das Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich
+jetzt nun zuständig bin. Darum fragt es sich, ob die
+Sache infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu
+verhandeln ist. Bis das entschieden ist, hat sie zu ruhen.
+Wer es anders darstellt, kann nur entweder unwissend
+oder böswillig sein. Von Kosten weiß ich kein
+Wort.
+
+ Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage
+gegen Pater Expeditus Schmidt in München. Sie wurde
+in Dresden eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig
+verhandelt. Auch hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben
+worden, doch nicht von mir. Mir kann es sehr gleichgültig
+sein, an welchem Orte das Urteil gesprochen wird,
+denn meine Sache ist gerecht. Ich habe nicht nötig,
+spitzfindig zu erwägen, an welchem Orte, bei welchem Gerichte
+und in welchem Falle ich meinen Prozeß gewinne oder
+verliere. Ich habe mich nicht an solche Nebendinge
+zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre
+Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den
+Richtern.
+
+ Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern
+förderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben,
+die Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen
+Dingen hat es sich herausgestellt, daß die beiden Pater
+Schmidt und Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen
+und der Sache Münchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht
+in Verbindung mit dem Münchmeyerschen und Lebiusschen
+Rechtsanwalt. Ich werde die Beweise erbringen, und
+dann wird sich der Zusammenhang mit dem Münchmeyerschen
+Programm, mich "in allen Zeitungen vor ganz
+Deutschland kaput zu machen", ganz von selbst ergeben.
+Um einen kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der
+Dinge zu ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem
+Artikel, den das "Wiener Montags-Journal" am 17.
+Oktober dieses Jahres brachte. Er lautet:
+
+| Karl May als Schriftsteller. |
+ (Eine Genugtuung.)
+
+ Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die
+Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen
+Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung.
+Denn nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines
+Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und
+hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur
+Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausführliche Würdigung
+der so reichen Phantasie eines deutschen Romanziers
+eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das Wort zu
+einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den erfolgreichen
+Prozessen gegen seine hämischen und boshaften Widersacher,
+zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt uns:
+
+ Die ganze sogenannte "Karl May-Hetze" ist auf
+Unwahrheiten aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist,
+daß ich Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen
+für unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten
+dieser Erzählungen sind im "Deutschen Hausschatz"
+erschienen, der doch gewiß niemals eine Knabenzeitung
+gewesen ist. Und den später erschienenen Bänden sieht jedes
+ehrliche Auge sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen
+Leuten verstanden werden können. Hiermit fallen
+alle Vorwürfe, die man mir als angeblichem "Jugendverderber"
+macht, in sich selbst zusammen. Wenn die Jugend
+meine Bücher trotzdem liest, und zwar sehr gerne, so
+beweist das doch nicht, daß ich sie für sie bestimmt habe,
+sondern daß die Jugendseele in ihnen findet, was ihr von
+andern vorenthalten wird.
+
+ Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen
+meinen Reiseerzählungen schwindle. Wer das behauptet,
+ahnt gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner
+eigenen Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick
+eines Tertianers aus, zu erkennen, daß alles, was ich
+erzähle, nur mit den Wurzeln in das reale Leben greift,
+im übrigen aber nach Regionen strebt, die nicht alltäglich
+sind. Jeder Leser, der mich begreift, weiß, daß ich Länder
+und Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen
+existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der
+absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was
+anderen noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und
+beschreibe, kann dies nur für unwissende oder übelwollende
+Menschen ein Grund sein, zu behaupten, daß ich schwindle.
+
+ Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser
+beleidigenden Weise über mich zu urteilen. Wer mich nicht
+begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine
+sehr ausgiebige sei. Erst als die größte aller Unwahrheiten,
+die es über mich gibt, verbreitet wurde, nämlich
+die, daß ich "abgrundtief unsittliche Schundromane"
+geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen Tone mit
+mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von
+einer Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es
+lag, sie zu verbreiten, um durch meinen Namen möglichst
+viel Geld zu verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns,
+dem damaligen Hauptredakteur der "Kölnischen Volkszeitung",
+den Mann, der durch seine Veröffentlichungen für
+diese Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar
+unternahm, die sogenannten "Beweise" zu liefern, daß die
+betreffenden Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur
+aus meiner Feder stammen. Ganz selbstverständlich konnte
+der wahre, unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung
+der von mir geschriebenen Originalmanuskripte geführt
+werden. Jeder andere Beweis konnte nur durch absichtliche
+Täuschung oder Selbstbetrug ermöglicht sein und
+mußte sich schließlich zur Spiegelfechterei gestalten.
+
+ Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns?
+Er brachte Behauptung über Behauptung. Er führte eine
+ganze Reihe von "inneren Gründen" an, hinter denen sich
+der Mangel an wirklichen Gründen versteckte. Er sprach
+von Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und
+dergleichen. Das Wiener "Neuigkeits-Weltblatt" weist ihm
+sogar die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege
+dafür, daß May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann
+mußte hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte
+in den Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal
+die Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir
+die Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten.
+Er machte mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere
+täuschten sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von
+selbst zur richtigen Einsicht kamen. Heute glauben nur
+noch Wenige seinen Ausführungen. Andere akzeptieren
+sie aus prozessualen und ähnlichen guten Gründen. Ob
+Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann,
+meine beiden neuesten Gegner, wirklich an ihren Cardauns
+glauben, das weiß ich nicht; ich kann da nur vermuten.
+Was sie behaupten, gilt für mich noch lange nicht als
+Beweis. Aber sie fußen in allem, was sie gegen mich
+tun, auf altem Cardaun'schem Grund und Boden und
+scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich nächstens unter
+ihren und den Anschuldigungen ihrer Verbündeten
+zusammenbrechen werde.
+
+ Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau
+Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten,
+von der Polizei konfiszierten "Venustempels". Ferner
+der Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden,
+der nun schon seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im
+Felde liegt. Und endlich der wohlbekannte Herr Rudolf
+Lebius in Charlottenburg, der aus der christlichen Kirche
+ausgetretene Sozialist, dem ich 3000 bis 6000 Mark und
+dann sogar 10 000 Mark geben sollte, dafür wolle er mich
+in seinem Blatt loben und preisen. Ich gab ihm nichts.
+Da ging er zu Münchmeyers über und war seitdem der
+unermüdlichste meiner Gegner. Ich bemerke ausdrücklich,
+daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum Anwalt hat.
+Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser Münchmeyersche
+Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater von Pater
+Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist, so
+ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin
+vollständig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns,
+Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat
+Gerlach, Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann.
+Diese alle sind jederzeit schußbereit. Sie leugnen zwar
+den gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren
+Prozessen gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und
+helfen einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen
+mich und bei der Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen
+für das Gericht. Der Ueberragendste von ihnen
+ist aber dieser Münchmeyersche Advokat, der alles und
+alle dirigiert, sogar die beiden Patres. Der unschädlichste
+und erfreulichste aber ist Herr Cardauns, der meines
+Wissens niemals zu dem Eingeständnis gebracht werden
+konnte, daß er meine Originalmanuskripte nicht besitze,
+kürzlich aber in Bonn in meiner Gegenwart vor dem
+beauftragten Richter als Zeuge zugeben mußte, daß er sie noch
+nie gesehen habe.
+
+ Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf
+weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen
+wird, ist eine schon längst entschiedene Frage. Kein Kenner
+der Verhältnisse stellt sie mehr auf. -- --
+
+ Radebeul-Dresden, Oktober 1910.
+ Karl May.
+
+ _________
+
+
+ IX.
+ Schluß.
+
+ _____
+
+Wie meine "Reiseerzählungen" nur Skizzen sind, so ist
+auch das vorliegende Werk nur Skizze. Es kann gar
+nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch nicht
+zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener
+Prozesse wie drohende Revolver auf mich gerichtet sind.
+Außerdem verhindern mich brutale Körperschmerzen, in
+der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang
+täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen
+erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude
+überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules aus.
+Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir
+nicht das Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und
+meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen.
+Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden,
+hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen.
+Seit einem Jahre ist mir der natürliche Schlaf versagt.
+Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu
+künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur
+betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann
+ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme,
+gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche,
+fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts
+mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal
+aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß
+brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht
+sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das
+alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben,
+und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil
+meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine
+Aufgabe lösen.
+
+ Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe
+ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie
+ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. Ich
+sagte bereits: Das Karl May-Problem ist, wie das
+Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem
+im Einzelnen. Aber während die meisten Menschen nur
+dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse
+Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es noch
+Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild
+desselben zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im
+Einzelnen, sondern im Ganzen zu liefern. Die Vielen
+stellen Menschheitsteile, diese Wenigen aber stellen
+Menschheitsbilder dar. Die Vielen können ihren engen
+Kreis sauber halten; sie sind Dutzendmenschen; sie können
+sogar als Mustermenschen erscheinen. Den Wenigen aber
+ist die Tugend und die Sünde, die Reinheit und der
+Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhältnisse
+wie dieser zugeteilt; sie können berühmte Feldherren oder
+rohe Mörder, große Diplomaten oder berüchtigte
+Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige
+Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden.
+Ihnen ist nicht das wohltuende Glück der unbewußten
+Mittelmäßigkeit beschieden. Ist das Leben mächtiger als
+sie, so werden sie zwischen Tugend und Laster, zwischen
+Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin-
+und hergezerrt, bis sie über den Wolken zerstäuben oder
+in den Schluchten zerschellen. Sind sie stärker als das
+Leben und sind sie im Glücke geboren, so werden sie in
+stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie
+aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und
+der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen,
+weil sie es erreichen müssen, aber der Widerstand, den
+sie zu überwinden haben, wird ein grausamer, ein
+unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren
+Siegesruf erschallen lassen können, werden sie ermattet
+zusammenbrechen, um die Augen für diese Welt zu
+schließen.
+
+ Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von
+diesen Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch
+wenigstens verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken.
+Das habe ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung
+gekommen, daß ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück
+zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend
+in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um
+mich ebenso beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm
+emporzuarbeiten, wie die Menschheit Ströme von Schweiß
+und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich
+aus dem ihrigen zu erheben. Ebenso bin ich überzeugt,
+daß es mir beschieden war, dabei den hartnäckigen
+Widerstand zu finden, der sich mir auch heute noch
+entgegenstellt, und daß ich mich nicht über ihn beschweren
+darf, weil ich ihn mir ebenso selbst bereitet habe, wie
+die Menschheit schneller vorwärtskommen würde, wenn
+sie endlich aufhören wollte, sich ihren eigenen Weg mit
+Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich keinen
+anderen, als nur mich selbst anklage.
+
+ Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf
+gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so
+war dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern
+die immer noch nicht ganz überwundene Anima ist es
+gewesen, die es mir diktierte. So lange sich der Mensch
+im Niedrigen bewegt, und das mußte ich in dieser meiner
+Lebensbeschreibung doch mehr als reichlich tun, hat das
+Niedrige Macht über ihn, und ich durfte nicht unwahr
+sein; ich mußte so schreiben, wie das Milieu es mit sich
+brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und bessere,
+reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und
+freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft
+zurück, alles das, was mich verbittern will, zu
+überwinden.
+
+ Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam
+Grund vorhanden. Ich spreche da nur von den
+letztvergangenen zehn Jahren und den Begleiterscheinungen
+des Münchmeyerprozesses. Dieser wurde von Seiten
+meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in
+einer Weise geführt, die ich vorher für vollständig
+unmöglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie weitgehender
+Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt schützt.
+Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter
+herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst
+Niemand erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des
+Paragraphen 193, denn er handelt im Interesse seines
+Klienten. Ich bringe eine Musterauswahl der Ausdrücke,
+die ich mir vom Münchmeyerischen Advokaten Dr. Gerlach
+gefallen lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner
+Eigenschaft als Anwalt bediente:
+
+ Er beschuldigte mich "frecher Anzapfungen", "unberechtigter
+Forderungen", zahlreicher "Dreistigkeiten"
+und "faulen Zaubers". Er nannte mich "raffiniert",
+"frech", "dreist", "verleumderisch", "pathologisch zur
+Unwahrheit reizend", "Lügner", "Lügenmay", Renommist",
+"Münchhausen", "Aufschneider", "Betrüger", "Lump",
+"Schwindler", "Allerweltsschwindler", "Einbrecher",
+"Hochstabler" [sic], "Zuchthäusler" usw. usw. Ich frage:
+Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die
+Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt?
+Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich
+ihrer schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr
+vor Gericht sind sie gestattet, denn ich habe diesen
+Anwalt auf sie hin wegen Beleidigung verklagt und bin
+abgewiesen worden. Aber noch mehr: Er erhob auf
+diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und
+diese wurde nicht zurückgewiesen. Der Richter ist hieran
+völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz
+verlangt es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen für
+die Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen
+waren, sagte dieser Anwalt zum Richter: "Aber es ist
+doch ganz unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie
+May, den Prozeß gewinnen kann!" "Das haben Sie
+abzuwarten," antwortete ihm der Richter. Ich stand
+dabei und mußte mir die Beleidigung gefallen lassen,
+denn das Gesetz erlaubte sie ihm. Das ist nun fast zehn
+Jahre lang so gegangen und geht noch heut in diesem
+Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch stehender
+Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem Rechtsanwalt:
+"Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir eine
+Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May.
+Was muß dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er
+hätte getrost hinzufügen können: "Was leidet er noch,
+und was wird er noch weiter leiden!" Dieser Richter
+kannte meine Vorstrafen genau; er hatte die hierüber
+vorhandenen Akten studiert. Ich gewann trotzdem und
+trotz aller gegnerischen Schmähungen den Prozeß in
+sämtlichen Instanzen, gewiß ein laut sprechender Beweis,
+daß der deutsche Richter sich durch anwaltliche Invektiven
+nicht beeinflussen läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich
+sie doch und habe ich sie noch heut. Und sie wirken,
+wenn nicht auf das Urteil, so doch ganz bestimmt nach
+anderer Seite hin. Sie verrohen den Parteiverkehr und
+greifen aus dem Verhandlungszimmer hinaus in das
+öffentliche und hinein sogar in das private Leben. Man
+wird alle die beleidigenden Ausdrücke über mich, die ich
+oben angeführt habe, schon in den Zeitungen gelesen
+haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet
+sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die
+jeder übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen
+darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter führt
+als die Humanität. Er schreibt diese Roheiten in seine
+Schriftsätze und lanciert sie von da als beweiskräftiges
+Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder er schickt
+sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in gedruckter
+Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, daß
+sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte
+einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder
+Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede
+Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu
+erschüttern oder wohl gar zu vernichten. "In den Zeitungen
+von ganz Deutschland kaput machen," nennt man das.
+Und das Gesetz begünstigt dieses Treiben!
+
+ Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes
+Beispiel nahe, welches nichts weniger als empfehlend für
+mich klingt. Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn
+ich der Allgemeinheit nützen will, nicht fragen darf, ob
+ich mir selbst etwa dadurch schade. Meine erste Frau
+hatte die Frau eines Dresdener Schriftstellers beleidigt,
+welcher von Münchmeyers aus wußte, daß ich vorbestraft
+bin. Er rächte sich dadurch, daß er mich bei einem
+deutschen Fürsten denunzierte und ihm mitteilte, daß seine
+Verwandten meine Bücher läsen und mich auch persönlich
+besuchten. Der Fürst antwortete durch Schweigen.
+Da kam eine zweite Denunziation, und nun war der
+Fürst gezwungen, sich nach Dresden zu wenden, um zu
+erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei. Er erhielt
+die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach
+Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu
+erkundigen. Er erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei,
+weshalb ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause
+bleibe, und daß ich in meinen Büchern über Länder
+schreibe, in denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was
+ich da berichte, sei nicht wahr. Infolge dessen steht in
+den Dresdener Polizeiakten über mich verzeichnet, daß ich
+einen unsoliden Lebenswandel führe und ein literarischer
+Hochstabler [sic] sei. Das wurde dem Fürsten mitgeteilt, und
+einer der betreffenden Verwandten erzählte es mir bei
+nächster Gelegenheit sehr ausführlich wieder. Er wußte
+sehr wohl, was an der Sache war, bat mich aber um
+Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber zu
+schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil
+ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den
+verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören. Jetzt
+aber werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht
+und von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet.
+Wie kommt ein aus der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat
+a. D. zu diesen geheimen Dresdener Polizeiakten?
+Das Gesetz gestattet es! Ganz selbstverständlich fühle
+ich mich nun nicht mehr zur Diskretion verpflichtet und
+werde darauf dringen, daß diese Akten revidiert und
+berichtigt werden.
+
+ Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich
+wie auf Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig
+Jahren auf ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das
+ist so lange her, daß die betreffenden Gerichtsakten längst
+vernichtet worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt,
+daß solche Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer
+seien, und diese Dauer ist vorüber. Wer hat nun daran
+gedacht, daß auch bei der dortigen Polizei Notizen
+hierüber gemacht worden und vielleicht noch vorhanden sein
+können? Herr Lebius hat sie kürzlich veröffentlicht! Wie
+kommt ein Mann, wie er, nun auch zu den Leipziger
+Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt es!
+
+ Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht.
+Sie sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn
+gar nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm!
+
+ Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine
+prozessualen Verhältnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das,
+und wer ermöglicht es ihm? Das Gesetz und der Münchmeyersche
+Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige ist.
+Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand.
+Es ist sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene
+Frau in Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts
+veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum
+Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für
+sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke paßte.
+Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner reichen,
+persönlichen Erfahrung dafür, daß das Gesetz Dinge nicht
+nur erlaubt, sondern sogar begünstigt, die es eigentlich
+auf das strengste verbieten sollte. Dem steht selbst der
+rechtlichste und humanste Richter machtlos gegenüber, und
+das war es, woran ich dachte, als ich weiter oben sagte,
+daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt habe.
+Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren unfreiwillig
+da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, denen
+es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung
+zurück zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und
+ich weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die,
+welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder
+niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit
+besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu ihnen
+hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht gezwungen,
+sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse. Ich
+will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen
+wagte, nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn
+sie sich nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren
+sind, außer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch
+engsten Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen
+mein Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben.
+Will ihnen zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe
+fruchtet, wenn bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen
+zeigen, daß ein einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser
+eine, einzige Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten
+und die besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen
+Liebe und der Humanität mit einem Schlage zunichte
+zu machen. Ich will ihnen sagen, daß es eine Sünde
+von der Menschheit ist, ihre Mitschuld an der Schuld
+der Schuldigen zu verbergen. Daß es aber auch von
+diesen ein Fehler ist, zu verheimlichen, daß sie einst
+schuldig waren. Unser Leben, mein Leben, ihr Leben soll
+frei vor Gottes Auge liegen, besonders aber auch frei vor
+unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir nicht, und dann
+grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum
+wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und
+sehen wir das ein, so können wir uns selbst verzeihen,
+und wer sich selbst verzeihen darf, dem wird verziehen
+werden. Weg also mit der falschen Scham, und heraus
+mit der Offenheit! Nur das Geheimnis, in das wir uns
+hüllen, gibt jenem Paragraphen und jedem gewissenlosen
+Menschen die Macht, sich höher und besser zu dünken
+als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu sein!
+
+ Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie
+alles Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur
+Skizze sein. Aber ich fühle das Bedürfnis, das, was
+Andere Böses an mir taten, für meine Mitmenschen in
+Gutes zu verwandeln. Ich werde es denjenigen, die
+gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermöglichen, aus der
+unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlüsse zu
+ziehen, die ihnen heilsam sind. Was nützt alle sogenannte
+"Gerechtigkeit", alle sogenannte "Milde des Gerichtes",
+alle sogenannte "Humanisierung des Strafvollzuges", alle
+sogenannte "Fürsorge für entlassene Strafgefangene",
+wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder
+eines einzigen fragwürdigen Paragraphen bedarf, um all
+das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in
+einem einzigen Augenblicke zu vernichten? Wie kann
+man von dem Gefallenen verlangen, daß er wieder aufstehe
+und sich bessere, wenn man es unterläßt, auch die
+Verhältnisse, in die man ihn zurückversetzt, zu verbessern?
+Ist es eine Ermunterung für ihn, zu wissen, daß er trotz
+aller Besserung doch, so lange er lebt, der Geächtete, der
+Unterdrückte, der Rechtlose bleiben muß und bleiben wird,
+weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich
+alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut,
+ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche
+ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, sein gutes Recht
+zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt
+ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich von
+einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein
+"wissenschaftlichen" Gründen an diesen Pranger genagelt
+worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht
+einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen
+Gesetzesparagaphen zu dieser Vivisektion berechtigt
+worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanität
+sprechen, ganz unwillkürlich in das Gesicht, ob sich
+da nicht etwa ein sardonisches Lächeln zeigt, welches
+verrät, wie es eigentlich steht. Und da fühlt man mit den
+Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende
+Bedürfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der
+gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht
+zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen müssen, um
+durchschaut zu werden -- -- -- vor die Oeffentlichkeit,
+vor den Reichstag!
+
+ Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen
+hat. Es hat schon Einige gegeben, die als "entlassene
+Gefangene" ihre Erfahrungen niedergeschrieben
+haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend,
+daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte.
+Hier genügt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen,
+sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch
+im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind. _Und_
+_das_meinige_ist_ein_solches._ Ich fühle mich
+verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der
+Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das wird
+man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.
+
+ Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die
+Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl
+May, sondern auch mit dem Menschen May befaßte und
+daß Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf
+den letzten Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das
+Eine war berechtigte Kritik; das Andere war Henker-,
+Schinder- und Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen
+lassen mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld
+von dieser Qual und Marter zu befreien. Das war die
+Geisterschmiede meines Märchens, in der man auf mich
+losschlug, daß die Funken durch alle Zeitungen flogen.
+Sie fliegen sogar noch heut. Doch wird bald Ruhe
+werden. Die Zeit des Hammers ist vorüber; es kommt
+nur noch die Feile, und dann ist es gut. Daß all das
+Leid, welches über mich kam, auch meine andere, die
+schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen mußte, versteht sich
+ganz von selbst. Auch da gab es Schlacken, und zwar
+mehr als genug. Auch sie mußten herunter. Es flog
+der Ruß, der Schmutz, der Staub, der Hammerschlag.
+Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird
+ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne.
+
+ Es war überhaupt ein großes, ein schweres und
+ein höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen. Nicht
+nur in meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern,
+in meiner Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner
+Ehe. Alles, was mich in die Schmiede und dem Schmerze
+in die Arme getrieben hatte, mußte weichen. An seine
+Stelle trat, was rein und ehrlich war und mit nach oben
+strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, dem Land der
+Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und
+Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt werden
+konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen vorüber.
+Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes Wasser, irgend
+ein Beleidigungsprozeß, eine Staatsanwaltschaftsanzeige,
+doch auch das geht bald vorbei, und dann wird Ruhe
+und Friede um mich sein, so daß ich endlich, endlich Zeit
+und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches,
+an mein einziges und letztes "Werk" zu gehen.
+
+ Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin
+ich voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine
+"Hetze" wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde
+steht, noch nie in der Literatur irgend eines Landes, eines
+Volkes gegeben. Das gab Zeitungsstürme, Stürme in
+den Gerichtssälen, Stürme im eigenen Hause und Stürme
+im eigenen Innern. Mein alter, treuer, guter Freund,
+der Körper, behauptet zwar, nicht länger mitmachen zu
+können, aber ich bin überzeugt, daß er doch wieder so
+bereitwillig und verständig wird, wie er immer gewesen
+ist. Er hat ertragen müssen, was eigentlich wohl nicht
+zu ertragen war. Zunächst sechs Jahre lang die drei
+Instanzen des ersten Münchmeyerprozesses mit allen
+Aufregungen und Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren.
+Sodann die zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung
+wegen Meineid und Verleitung dazu. Denn der
+Münchmeyersche Rechtsanwalt hatte, nachdem der Prozeß
+für ihn verloren war, mich und meine Zeugen beim
+Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt. Der Staatsanwalt
+war, nach seiner eigenen Aussage auf diese Anzeige
+eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen.
+Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz
+selbstverständlich damit, daß man weder mir noch meinen Zeugen
+etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch
+nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast
+noch schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten
+Lebiusangriffe. Eine doppelseitige Lungenentzündung, die
+mich monatelang zwischen Tod und Leben schweben ließ.
+Die Beschuldigungen, welche meine geschiedene Frau auf
+mich, meine jetzige Frau und ihre Mutter wälzte und
+mit denen sie uns in schwere Strafe bringen wollte. Die
+Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann wegen dieser
+Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben
+ließ. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in
+Berlin wiederholt. Glücklicher Weise hatte diese geschiedene
+Frau Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete,
+während des Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten
+und ohne all mein Zutun freiwillig erzählt und
+eingestanden, so daß sie zu diesem späteren Leugnen nur
+verführt sein konnte. Die Vorlegung dieser Beweise zeigte
+alle Anklagen gegen mich als Lügen. Ferner der Antrag
+des Lebius an die Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus
+zu sperren. Sein Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich
+verfolgen zu lassen. Die zahllosen Artikel gegen
+mich in seinem Blatte, der "Bund". Seine Flugblätter
+mit den gräßlichsten Unwahrheiten, welche die Runde durch
+Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Italien, Frankreich,
+England, Nord- und Südamerika machten. Da beschuldigte
+er mich sogar, meinen Schwiegervater erwürgt
+zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit.
+Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des
+Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier
+Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich
+wegen Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren
+Zuchthaus bestraft wird. Man sieht, daß man zu den
+alleräußersten Mitteln greift, mich "kaput zu machen"!
+Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den
+Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und
+Lebenskraft zu verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum
+jeder fähig ist. Ich habe es ertragen, ohne mich zur
+Selbsthilfe reizen zu lassen, weil ich keinen Augenblick
+lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und
+weil mir in dieser überschweren Zeit ein Wesen zur Seite
+gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende Seele mich wie
+auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, dem ich verfallen
+sollte, nämlich meine jetzige Frau. Wenn man berechtigt
+gewesen ist, Bücher über das Thema "die Bestie im Weibe"
+zu schreiben, so könnte ich mich wohl verpflichtet fühlen,
+demgegenüber ein Buch zu veröffentlichen, welches den
+Titel "Der Himmel im Weibe" führt.
+
+ Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine
+Quelle alles menschlich Reinen, menschlich Edeln und
+menschlich Ewigen ist, läßt sich in Beziehung auf das
+Erdenleid Alles erlangen und in Beziehung auf die noch
+vor mir liegende Arbeit Alles leisten, was menschenmöglich
+ist. Ich bin nicht mehr so fürchterlich allein.
+Ich habe nicht mehr immer nur aus mir selbst herauszuschöpfen,
+sondern es hat sich mir ein köstlich reiches
+seelisches Leben zugesellt, durch dessen Einfluß sich Alles,
+was in mir zum guten Ziele führt, verdoppelt. Körperlich
+schwer leidend, bin ich geistig frisch und seelisch
+wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der Jugendzeit.
+Ich bin nicht töricht genug, mir zu verheimlichen, daß
+man mich als einen Ausgestoßenen betrachtet, ausgestoßen
+aus Kirche, Gesellschaft und Literatur. Der Eine schlägt
+auf mich los, weil er mich für einen verkappten
+Katholiken oder gar Jesuiten halt; der Andere greift zum
+Prügel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich
+Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig bringen,
+sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen
+sie die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als
+gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe
+nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft
+gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen
+war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten
+Leute, meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das
+Innenleben aneinander so vollauf genug, daß wir es gar
+nicht fertig bringen, uns nach "Gesellschaft" zu sehnen.
+Und was meine literarische Ausstoßung betrifft, so kann
+ich mich auch mit ihr zufrieden geben. Den Weg, auf
+dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen;
+ich wäre also auch ohne den Haß, den man auf mich
+richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein. Auch bin ich
+überzeugt, daß später, wenn man mich und das, was ich
+will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht
+sogar Viele von dem großen Haufen absondern werden,
+um sich mir zuzugesellen. Alte Wege können höchstens
+zu alten, toten Schätzen führen. Wer aber nach neuen,
+lebendigen Schätzen sucht, der soll auch neue, nicht alte
+Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das
+Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch
+ihren Wert oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes.
+Taugen sie etwas, so werden sie bleiben, ganz gleich,
+ob man sie gegenwärtig lobt oder tadelt. Taugen sie
+nichts, so werden sie verschwinden, ganz gleich, ob man
+sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die Hauptsache
+ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert bestimmt,
+bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er
+literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann auch
+nur den geringsten Einfluß darauf haben. Das klingt
+stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind
+Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen
+auf Späteres. Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles, durch
+was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man
+jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man will.
+
+ Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung
+auf die Münchmeyerromane übrig. Einer meiner
+erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem
+weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in
+unsittliche verwandeln könne; das würde eine Riesenarbeit
+sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint so
+glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines Schundverlages
+unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der Zeit
+und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben,
+so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und
+der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman
+umzuändern! Zweitens erfordert eine solche Umänderung
+keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner
+anzunehmen scheint. Die Einfügung von einigen Worten
+genügt vollständig, einen "moralischen" Druckbogen in
+einen "unmoralischen" zu verwandeln. Drittens sind
+Kräfte mehr als genug für solche Umarbeitungen vorhanden,
+und sie besitzen eine so erstaunliche Routine darin,
+daß selbst der Kenner sich über die Masse, die sie
+bewältigen, wundert. Ich habe hierüber Beweise erbracht
+und werde auch noch weitere bringen. Das oft erwähnte
+Faktotum Walther saß bei Münchmeyers täglich von früh
+bis abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann
+die Korrektur zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen
+bekam. Was erst Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen
+Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben
+mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und
+gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Münchmeyers
+Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß
+bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand ganze
+Kapitel verändert hat. Ein anderer Zeuge hat beschworen,
+Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er an meinen
+Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme, ohne
+es mir sagen zu dürfen. Ich brauche hier wohl nicht
+noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen,
+anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich absolut
+die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren
+Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa
+die dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man
+es zumutet, sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu
+der damaligen Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden.
+Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf
+von meinem Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir
+versichern, ganz genau sagen zu können, wo die Fälschung
+beginnt und wo sie endet.
+
+ Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick
+meiner Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam
+zu machen, den man anwendet, um meine den höhern
+Kreisen angehörenden Leser gegen mich zu empören. Da
+wird zum Beispiel an auffälliger Stelle gesagt, daß ich
+in hervorragender Gesellschaft in Dresden verkehre und
+daß ich mir überhaupt die größte Mühe gebe, mit
+hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein
+Wort, kein Buchstabe wahr. Bin ich "Hans für mich",
+so fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser
+Beziehung weiter nichts, als "Hans für mich" zu bleiben.
+Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis
+liefern wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich
+aufgedrängt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet,
+daß ich an "Höfen" verkehre. Das ist erst recht nicht
+wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit,
+die zu irgend einem "Hofe" gehört, meine Bücher liest
+und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad
+ich der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich "bei
+Hofe verkehre". Es kann diesen Behauptungen, die pure
+Erfindungen sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich
+den betreffenden Kreisen als indiskret oder gar als Lügner
+zu kennzeichnen und mich selbst da zu schädigen, wohin
+ich absolut nicht gehöre. -- -- --
+
+-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+ Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang
+zurück, auf mein altes, liebes Märchen von "Sitara",
+von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr,
+so wird man dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen,
+und zwar als die greifbarste, die es gibt. Es ist die
+Aufgabe des begonnenen, gegenwärtigen Jahrhunderts,
+unsere ungeübten Augen für die große, erhabene Symbolik
+des alltäglichen Lebens zu schärfen und uns zu der
+beglückenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß
+es höhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als
+diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschäftigt.
+Die Skizzen, die ich zeichnete und veröffentlichte,
+sollen der Vorbereitung zu dieser Erkenntnis dienen.
+Darum sind sie symbolisch geschrieben und, um verstanden
+zu werden, nur bildlich zu nehmen. Man möchte sich
+eigentlich darüber wundern, daß dies dem gewöhnlichen
+Leser so schwer zu fallen scheint. Es ist doch wohl keine
+allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines Gleichnisses irgend
+etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das Land
+der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das
+Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine,
+so kann es doch keiner geradezu akademischen Bildung
+bedürfen, einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise
+von Ardistan nach Dschinnistan beschreibe. Der Leser
+hat sich einfach aus seiner Alltagswelt in meine
+Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch wohl auch nicht
+schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu verlassen,
+um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.
+
+ Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit,
+so will ich durch meine Erzählungen das Innere meiner
+Leser vom äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken
+klingen hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es
+einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser
+klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn
+entläßt. So leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich
+zu nehmen, so leicht ist es auch, meine Bücher zu
+verstehen und ihren Inhalt zu begreifen. Ich will, daß
+meine Leser das Leben nicht länger als ein nur materielles
+Dasein betrachten. Diese Anschauung ist für sie ein
+Gefängnis, über dessen Mauern sie nicht hinaus in das von
+der Sonne beschienene freie, weite Land zu schauen
+vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien.
+Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich
+selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen,
+seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im
+Gefängnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze
+der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich,
+der zu mir in die Zelle trat. Da durfte mich niemand
+berühren. Da war es keinem erlaubt, den Werdegang
+meines inneren Menschen zu stören. Kein Schurke hatte
+Macht über mich. Was ich besaß und was ich erwarb,
+das war mein sicheres, unantastbares Eigentum, bis ich
+-- -- entlassen wurde, länger nicht! Denn mit dieser
+Entlassung verlor ich meine Freiheit und meine Menschenrechte.
+Was andere, die nur materiell zu reden wissen,
+als Freiheit bezeichnen, das ist für mich ein Gefängnis,
+ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in dem ich nun
+schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet habe, ohne,
+außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen Menschen zu
+finden, mit dem ich hätte sprechen können wie damals
+mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten. Ich
+lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für Andere.
+Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich
+mir sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit
+mir machen, was ihm beliebte, denn überall fand er einen
+Anwalt, der seine Sache führte. Ein Jeder durfte mich
+verdächtigen, mich beleidigen, auf mich einschlagen, denn
+überall gab es einen Paragraphen, der ihn schützte. Ich
+mußte um meines Eigentums willen sechs Jahre lang
+prozessieren, und als ich den Prozeß gewonnen hatte,
+bekam ich noch lange nichts und wurde wegen Meineides
+zweiundzwanzig Monate lang in Voruntersuchung genommen.
+Nun prozessiere ich schon fast zehn Jahre lang
+und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will
+es nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein
+Züchtling gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern
+darf, wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich
+mit einem jener Paragraphen zu bewaffnen, welche die
+Ideale aller "schneidigen" Anwälte sind. Jawohl, ich
+bin Gefangener, Zuchthäusler, noch immer! Ein Dutzend
+Prozesse haben mich festgehalten, damit ich ja nicht
+entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir wollte, aber
+keines bekam, hat sich als Zuchtmeister gebärdet und auf
+mich eingeschlagen. Ich habe das Beste aller derer, für
+die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und äußeres Heil,
+ihr gegenwärtiges und ihr zukünftiges Glück. Was gab
+man mir für diesen meinen guten Willen? Verachtung,
+Spott und Hohn! Als ich Zuchthäusler war, da war
+ich keiner. Und nun ich aber keiner bin, da bin ich einer.
+Warum?
+
+ Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe? Ist
+für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht selbst die
+Hölle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die Hölle,
+wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer,
+wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn
+ich symbolisch von meiner "Geisterschmiede" erzähle, deren
+fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden haben
+werde. Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es mußte
+so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen
+und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen
+und durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit
+zu verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne
+meine Schuld. Und was andere gezwungen an mir taten,
+das trage ich nicht nach. Ich bitte nur um das Eine:
+Laßt mir endlich, endlich Zeit, mit dieser Arbeit
+zu beginnen!
+
+ _________
+
+
+ Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag
+ Soll Feierabend sein im heil'gen Alter.
+ Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,
+ Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.
+ Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt;
+ Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,
+ Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,
+ So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.
+
+ Nach meines Lebens schwerem Leidenstag
+ Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände.
+ Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,
+ Das führe er in mir zum frohen Ende.
+ Ich hab' die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,
+ Gewißlich nicht allein für mich getragen,
+ Doch was dafür sich irdisch in mir regt,
+ Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.
+
+ Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag
+ Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,
+ Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,
+ Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen.
+ Ich juble auf. Des Kerkers Schloß erklirrt;
+ Ich werde endlich, endlich nun entlassen.
+ Ade! Und wer sich weiter in mir irrt,
+ Der mag getrost mich auch noch weiter hassen!
+
+ E n d e.
+
+ _________
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***
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+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div>
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+<h1>Mein Leben und Streben</h1>
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+<h3>Selbstbiographie</h3>
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+<h2 class="no-break">von<br/>
+Karl May</h2>
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+<b>Band I</b><br/>
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+Freiburg i. Br.<br/>
+Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld<br/>
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+Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.<br/>
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+<p class="poem">
+Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,<br/>
+    So gehe ruhig fort, und laß das Klagen.<br/>
+Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst<br/>
+    Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen.
+</p>
+
+<p class="right">
+(Karl May „Im Reiche des silbernen Löwen”)
+</p>
+
+<hr />
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><b> I n h a l t. </b></h2>
+
+<table summary="" style="">
+
+<tr>
+<td><a href="#chap01">I. Das Märchen von Sitara</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap02">II. Meine Kindheit</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap03">III. Keine Jugend</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap04">IV. Seminar- und Lehrerzeit</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap05">V. Im Abgrunde</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap06">VI. Bei der Kolportage</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap07">VII. Meine Werke</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap08">VIII. Meine Prozesse</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap09">IX. Schluß</a></td>
+</tr>
+
+</table>
+
+<hr />
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap01"></a>I.<br/>
+Das Märchen von Sitara.</h2>
+
+<hr />
+
+<p class="noindent">
+Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht
+und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so
+kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches
+Wort und bedeutet eben „Stern”.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist
+1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst
+und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen
+Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder
+weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen
+aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile
+zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise
+gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur
+einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein
+der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen
+schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden
+sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden
+Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben.
+Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich
+bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose
+Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was
+nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan
+ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich
+auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der <b>Gewalt- und
+Egoismusmenschen.</b> Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und
+schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des
+menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan.
+Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und
+bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das
+Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten
+nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke
+des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe
+bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge
+aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der
+<b>Edelmenschen.</b>
+</p>
+
+<p>
+Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden,
+selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: 
+„D u   s o l l st   d e r   T e u f e l   d e i n e s   N ä ch st e n  
+s e i n,   d a m i t   d u   d i r   s e l b s t   z u m   E n g e l  
+w e r d e st!”  Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über
+Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten,
+deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet:  „D u   s o l l st  
+d e r   E n g e l   d e i n e s   N ä ch st e n   s e i n,   d a m i t   d u  
+n i ch t   d i r   s e l b st   z u m   T e u f e l   w e r d e st!”
+</p>
+
+<p>
+Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein
+jeder Bürger und eine jede Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich
+und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein.
+Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine
+tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach
+Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es da ein Wunder, daß da unten im
+Tieflande eine immer größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Daß
+die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu
+befreien und zu erlösen suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den
+Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht
+anders haben. Sie würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren
+können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch
+die Mächtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, die
+Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen
+arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche
+Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die
+Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen
+unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen
+diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr gäbe? Darum ist es
+Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem
+Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen
+den, der es wagt, nach dem Lande der Nächstenliebe und der Humanität, nach
+Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird
+ergriffen und nach der „Geisterschmiede” geschafft, um dort gemartert und
+gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend
+in das verhaßte Joch zurückzukehren.
+</p>
+
+<p>Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan,
+jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen
+Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und
+beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches
+Wort; es bedeutet „Mann”. Märdistan ist das Zwischenland,
+in welches sich nur „Männer” wagen dürfen; jeder
+Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil
+dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der „Wald von
+Kulub”. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl
+des deutschen Wortes „Herz”. Also in den Tiefen des Herzens
+lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen
+hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und
+mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen,
+von dem es in „Babel und Bibel,” Seite 78 heißt:</p>
+
+<p class="poem">
+„Zu Märdistan, im Walde von Kulub,<br/>
+Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.<br/>
+Da schmieden Geister?”
+</p>
+
+<p class="poem">
+                          „Nein, man schmiedet sie!<br/>
+Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,<br/>
+Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.<br/>
+Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.<br/>
+Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.<br/>
+Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.<br/>
+Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug<br/>
+Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.<br/>
+Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.<br/>
+Man stößt dich in den Brand; die Bälge
+knarren.<br/>
+Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,<br/>
+Und Alles, was du hast und was du bist,<br/>
+Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,<br/>
+Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,<br/>
+Gedanken und Gefühle, Alles, Alles<br/>
+Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert<br/>
+Bis in die weiße Glut -- -- --”   
+                              „Allah, Allah!”<br/>
+„Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!<br/>
+Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,<br/>
+Wird weggeworfen in den Brack und Plunder<br/>
+Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.<br/>
+Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,<br/>
+Die in der Faust der Parakleten funkelt.<br/>
+Sei also still!                Man
+reißt dich aus dem Feuer -- --<br/>
+Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest.<br/>
+Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.<br/>
+Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.<br/>
+Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.<br/>
+Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- --<br/>
+Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,<br/>
+Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.<br/>
+Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.<br/>
+Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,<br/>
+Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- --<br/>
+Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied<br/>
+Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual<br/>
+Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag<br/>
+Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.<br/>
+Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.<br/>
+Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg<br/>
+Was noch -- -- --”
+</p>
+
+<p class="poem">
+                    „Halt ein! Es ist genug!”<br/>
+„Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,<br/>
+Der schraubt sich tief -- -- --”<br/>
+                                   „Sei still! Um Gottes willen!”<br/>
+                                     u. s. w.   u. s. w.
+</p>
+
+<p>So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im
+Innern der „Geisterschmiede von Kulub” zu! Jeder Bewohner des
+Sternes Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller
+bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel
+herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele,
+welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in
+Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme
+Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt,
+wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes
+Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von
+oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen,
+und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder
+gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen
+Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft
+nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es
+ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er
+doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede
+geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis
+er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben.</p>
+
+<p>Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach
+Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so groß und
+so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste
+Pein der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen
+Gesellen „aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig
+dankbar froh entgegenlächelt”. Einer solchen Himmelstochter
+kann selbst dieser größte Schmerz nichts anhaben, sie
+ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer
+vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und sind
+alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr
+zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan
+gehört. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr
+hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach
+Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines
+Nächsten ist. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap02"></a>II.<br/>
+Meine Kindheit.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not,
+der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren
+beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines
+Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um
+Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom
+Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des „Krähenholzes”, aus der
+er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte
+lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man
+seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die
+Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen.
+</p>
+
+<p>Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr
+ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen
+Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren
+Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater,
+meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern
+und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte
+für die Leute und spann Watte. Es kam vor, daß sie
+sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie
+splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier
+Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und
+altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fünf Kinder.
+Sie war eine gute, fleißige, schweigsame Frau, die niemals
+klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die
+eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man
+gegenwärtig diskret als „Unterernährung” zu
+bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Großmutter, die
+Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht
+hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin,
+eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer
+eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch
+ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus
+ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem
+sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre
+Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr
+davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig
+rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen saß
+und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr
+eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie
+gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit
+einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort
+verwischt.</p>
+
+<p>Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele
+unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im
+Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß
+hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben
+waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule
+besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend lesen und
+sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was
+nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen,
+das machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er
+doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine
+Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern,
+und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht
+so übel. Als ich eine Geige haben mußte und er kein
+Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen.
+Dem fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und
+Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung
+zu erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich
+sein Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn
+Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen
+vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren.
+Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm
+auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen.
+Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe
+uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue
+Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der
+wohlbekannte „birkene Hans”, vor dem wir Kinder uns besonders
+scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im
+großen „Ofentopfe” einzuweichen, um ihn elastischer und
+also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden
+vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten;
+wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns
+an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir
+selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das
+Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von
+Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man
+den Strick oder den „Hans” so lange, bis Vater nicht mehr
+konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes,
+heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als
+Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem
+Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach
+Hause kam, als ihr erlaubt worden war.</p>
+
+<p>Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste,
+wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht
+etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder
+mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung,
+daß durch die Art und Weise, in der man mich umstürmt,
+jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich
+schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn die
+kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht erst
+nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben.
+Ich schreibe es vielmehr nur  u m   m e i n e r   s e l b st  
+w i l l e n,  um über mich klar zu werden und mir über
+das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke,
+Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber
+ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht
+einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern ich
+beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden
+sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend
+sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, sondern
+heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe.
+Ich spreche hier nicht nur für dieses, sondern auch für
+jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem
+ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als
+das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir
+wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem oder
+in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz
+andere, in die richtigen Hände, nämlich in die
+Hände des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der
+es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und
+Wahrheit gibt. Da läßt sich nichts verschweigen und
+nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und
+ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch
+noch so pietätlos und tue es auch noch so weh. Man hat den
+Ausdruck „Karl May-Problem” erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an
+und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen
+denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen oder
+nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen. Das
+Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem
+großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die
+einzelne Individualität transponiert. Und genauso, wie
+dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist auch das Karl
+May-Problem zu lösen, anders nicht! Wer sich unfähig
+zeigt, das Karl May-Rätsel in befriedigender, humaner Weise
+zu lösen, der mag um Gottes Willen die schwachen Hände
+und die unzureichenden Gedanken davon lassen, über sich
+selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen
+Menschheitsfragen zu befassen! Der Schlüssel zu all diesen
+Rätseln ist längst vorhanden. Die christliche Kirche
+nennt ihn „Erbsünde”. Die Vorväter und Vormütter
+kennen, heißt, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der
+Humanität, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es
+gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um
+auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können.
+Den Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das
+Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine
+Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die
+meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag
+man dies für unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht
+nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr
+zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in
+seinem Falle das Richtige zu tun. -- --</p>
+
+<p>Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten
+ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer
+dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer
+lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem
+vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im
+fünften und letzten fanden sich zehn alte
+Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf
+Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermögen! Das
+erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus
+nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut,
+dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben
+unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern
+bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt.
+Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre,
+wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab.
+Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die
+für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet
+wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle
+zehn, zwölf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das
+förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock
+wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem
+Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von
+Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die
+eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns
+zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer.
+Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die
+gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen
+Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser
+wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns
+gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir
+fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu
+stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen
+Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen
+Wassertümpel gab, den wir als „Teich” bezeichneten. Der
+Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns
+erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn
+das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern an, zu
+husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte
+immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl
+wußten, daß die Aepfel gleich nach der Blüte am
+besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet.
+Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie
+gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand
+wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch
+mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den
+„Teich” betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider
+nicht mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir
+alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen
+zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit
+Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten
+Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen
+Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren
+uns auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie kamen
+an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. Einige
+ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche
+Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren.
+Keine Sennerin kann sich mehr über ihre Zither freuen als
+wir über unsere Frösche. Wir wußten ganz genau,
+welcher es war, der sich hören leß <tt>[sic]</tt>, ob der Arthur, der Paul oder Fritz,
+und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen,
+so sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, um
+mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und uns dahin
+zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider aber
+kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, um
+sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte
+überall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie
+gefühllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern
+schönen Tümpel sah, die Hände über dem Kopf
+zusammen und erklärte, daß dieser Pest- und
+Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten
+Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn
+Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und
+drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie
+zu töten sei, bei fünfzehn „Guten Groschen” Strafe.
+Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! Ja,
+wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen wäre, dann
+herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen,
+wurde ausgeführt. Der Tümpel wurde so weit
+ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen konnten.
+Sie wurden in den großen Deckelkorb getan und dann hinaus
+hinter das Schießhaus nach dem großen Zechenteich
+getragen, Großmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder
+einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das
+Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel
+Tränen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile
+dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefällt worden sind,
+das ist jetzt, nach über sechzig Jahren, wohl kaum mehr
+festzustellen. Doch weiß ich noch ganz bestimmt, daß
+Großmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen,
+uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn
+Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem
+fünfmal größeren Garten erben, in dem es einen
+zehnmal größeren Teich mit zwanzigmal
+größeren Fröschen gebe. Das brachte in unserer
+Stimmung eine ebenso plötzliche wie angenehme Aenderung
+hervor. Wir wanderten mit der Großmutter und dem leeren
+Deckelkorb vergnügt nach Hause.</p>
+
+<p>Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und
+schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit
+irgendeinem vererbten körperlichen Fehler behaftet. Vater
+und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie
+sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer
+Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir
+unbedingt verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt
+sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre
+siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein
+örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und
+der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald
+ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das
+Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger
+und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit
+jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst
+berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu
+bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.</p>
+
+<p>Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden
+geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, daß wir
+eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter
+war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem
+maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem
+Fleiße, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der
+Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein
+konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden frei
+zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte,
+plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt
+zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen.
+Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem
+Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte
+Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen,
+was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während
+er, nicht schlafen könnend, im Bette lag und darüber
+nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten
+über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren
+wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem
+Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, die
+Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte
+Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das
+geringste verstand. Er hatte gehört, daß da sehr viel
+Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, daß er auch
+ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze,
+jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden
+vertrieben und Tauben angeschafft.</p>
+
+<p>Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu
+bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel opfern,
+vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an
+den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an
+ihnen fanden. Am meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir
+beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider
+veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure
+„Blaustriche” gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns.
+Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige
+Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie waren
+nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren
+„Blaustriche” entpuppten sich als ganz wertlose
+Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen,
+jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler
+fünfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich
+heraus, daß der Täuberich altersblind war. Er ging
+nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und
+ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war,
+daß Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um
+den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab
+sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er
+besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften,
+um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen;
+bald kaufte er Wicken, die er „halb geschenkt” erhalten hatte.
+Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem
+Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und
+Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer
+gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und
+wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses
+unstäte <tt>[sic]</tt>,
+unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß
+das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die
+übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie
+härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen
+wäre, weiter zu tragen. Da faßte sie einen
+Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich
+in diesem Falle viel, viel vernünftiger als damals gegen
+unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie
+sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe,
+aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten
+müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher
+erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne
+noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr
+Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie
+sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu
+sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und
+zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler.
+Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz
+dachte nach; dann sagte er: „Meine liebe Frau May, ich kenne
+Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein.
+Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen
+nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich
+werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück,
+so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.
+Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir
+Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie
+Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte
+mit ihm zu reden!”</p>
+
+<p>Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten
+Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort;
+sie wurde angestellt. Während ihrer Abwesenheit führte
+Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit,
+eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir
+Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über
+Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte
+sich der Blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen
+verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren
+vollständig verschwunden. Der Arzt mußte durch
+Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens
+ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt
+heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder
+krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt
+geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.</p>
+
+<p>Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz
+vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden
+großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß
+und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden
+Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem
+elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben
+erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu
+bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das
+geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge.
+Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen gesundend,
+heim. Aber das Alles hatte große, große Opfer
+gefordert, freilich nur für unsere armen Verhältnisse
+groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben
+willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise
+unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir
+zogen zur Miete. -- --</p>
+
+<p>Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den
+tiefsten und größten Einfluß auf meine
+Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer
+Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die
+„Hohensteiner Großmutter” genannt wurde, stammte die
+Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als
+„Ernsttaler Großmutter” bezeichnen lassen. Diese Letztere
+war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast
+möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von
+Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus
+dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals
+ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles? Sehr
+einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige
+Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der
+tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum
+sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erlösung sehnenden
+Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben
+vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor
+sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die
+Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter früh verloren
+und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen
+konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten,
+ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn
+mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die
+Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer
+Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle
+Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur
+den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge
+nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der
+es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie
+wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave
+Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb
+ihr treu.</p>
+
+<p>Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch
+älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene
+Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch
+weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie
+noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren
+gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten.
+Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst
+gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das
+Reifröckchen *)</p>
+
+<p class="footnote">
+*) Kleines Oellämpchen.
+</p>
+
+<p class="noindent">
+angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das
+Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon
+zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich
+dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und
+auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten
+gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr
+abgegriffener Band, dessen Titel lautete:
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>Der Hakawati</b><br/>
+d.i.
+</p>
+
+<p class="letter">
+der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,
+Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,
+<tt>explanatio</tt> und <tt>interpretatio</tt> auch viele
+Vergleychung und Figürlich seyn
+</p>
+
+<p class="center">
+von<br/>
+Christianus Kretzschmann<br/>
+der aus Germania war.<br/>
+Gedruckt von Wilhelmus Candidus<br/>
+<tt>A. D: M. D. C. V.</tt>
+</p>
+
+<p class="center">
+*<br/>
+*                   *
+</p>
+
+<p>Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller
+orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern
+Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese
+Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich
+wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in
+denen sie es für nötig hielt, gab sie Aenderungen und
+Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist
+dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau
+wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen
+von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die
+Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein
+ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.</p>
+
+<p>Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die
+Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tode
+nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener
+Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim.
+Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe,
+wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor
+ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat
+und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht,
+daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei
+uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts
+verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das
+Häßliche schön zu malen. Aber kurz nach der
+Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche
+Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzählte. Der
+brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die
+tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren
+beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst
+nach langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher
+Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre
+der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege
+und der Hungersnot. Es war Alles verwüstet. Es gab nirgends
+Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer
+Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm
+nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst
+keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das
+erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde
+wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte,
+Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe,
+einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte
+<tt>[sic]</tt> Mehl, eine Düte
+<tt>[sic]</tt> Graupen, ein Scheibchen
+Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell
+fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder
+gesehen; Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht
+vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe.
+Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso
+wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie
+hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er
+wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft
+zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern
+eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern
+unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen
+Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich
+nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs
+oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle
+satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit
+ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not!</p>
+
+<p>Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der
+Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der
+besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie
+Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine
+Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre
+Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im
+Stillen und belohnte sie dadurch, daß er ihren Kindern in
+jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen.
+Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er aß mit
+seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur
+Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde- sondern mit
+in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen
+Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich
+ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die
+große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner
+Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und
+gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu
+schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so
+nützliche Bücher!</p>
+
+<p>Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit
+gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich
+kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der
+jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und
+er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen.
+Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald
+wußte er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und
+Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in
+seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre
+Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese
+Wißbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des
+Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen
+mit sich gehen zu lassen. Ich muß das erwähnen, um
+Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige
+Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen
+Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte
+auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.</p>
+
+<p>In dieser Zeit war es, daß Großmutter während
+des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden
+sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt.
+Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach
+drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein
+Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz
+geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das
+Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches
+gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher
+kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie
+hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am
+Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die
+Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der
+Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu
+nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Nächte
+lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch
+irgendeine Bewegung zu zeigen, daß sie noch lebe -- --
+vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung
+möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab
+es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, daß
+sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz
+unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem
+Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum
+letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste
+Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an
+Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken
+aus: „Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich
+festhalten!” Und richtig, man sah, daß die scheinbar
+Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd
+öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte
+nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden
+andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber von da
+an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als
+vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen
+unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und
+Leben gedacht und empfunden hatte. Es muß schrecklich
+gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch
+fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie
+nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den
+sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte
+jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und
+zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu
+verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube,
+nicht aber an den Tod.</p>
+
+<p>Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz überwunden,
+als Großmutter infolge der Versetzung und
+Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden Kindern
+in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen
+wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder
+jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver
+Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, hielt um ihre Hand
+an. Jedermann redete ihr zu, sie müsse ihren Kindern doch
+einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und
+hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit
+wieder Witwe. Er starb und hinterließ ihr alles, was er
+besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven,
+fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um
+sie. Sie tat ihr Mädchen zu einer Nähterin und ihren
+Knaben zu einem Weber, der ihn von früh bis abends am
+Spulrad beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter
+nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz
+von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während seines
+Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen; er hatte
+sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiß
+erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses
+ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam,
+sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat
+er sowohl als Knabe wie auch als Jüngling seine Pflicht. Er
+war fleißig und wurde ein tüchtiger Weber, dessen Ware
+so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, daß jeder
+Unternehmer ihn gern für sich arbeiten ließ. In seinen
+Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu
+botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich
+bei dem Oberförster erworben hatte Darum machte es ihm
+große Freude, daß sich unter der oben erwähnten
+Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante
+Bücher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen
+Freibeschäftigungen von großem Nutzen war. Ich denke
+da besonders an einen großen, starken Folioband, der gegen
+tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte:</p>
+
+<p class="center">
+Kräutterbuch
+</p>
+
+<p>
+Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn <tt>Dr.
+Petri Andreae Matthioli</tt>. Jetzt widerumb mit vielen
+schönen newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen /
+vnnd andern guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern
+Fleiß gemehret vnnd verferdigt /
+</p>
+
+<p class="center">
+Durch<br/>
+Joachimum Camerarium,<br/>
+der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct.
+</p>
+
+<p>
+Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der
+Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann die
+Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben
+genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brennöfen.
+</p>
+
+<p class="center">
+Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio,<br/>
+in keinerley Format nachzudrucken.<br/>
+Gedruckt zu Franckfurt am Mayn<br/>
+M. D. C.<br/>
+<br/>
+*<br/>
+*                   *
+</p>
+
+<p>Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses Buch
+sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt
+sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der
+Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch,
+böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was
+später besonders mir ganz außerordentlich
+vorwärts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses
+köstlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel,
+viel mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die
+Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer
+ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer
+Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft
+und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche
+sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch
+wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten
+Freuden, und ich kann wohl sagen, daß Vater mich dabei
+vortrefflich unterstützte.</p>
+
+<p>Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer
+Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der
+xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das
+Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz
+vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses
+und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der
+Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden.
+Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem
+Jahre das Werk stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn
+sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser
+Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit
+komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter
+für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche
+Gabe, zu erzählen.</p>
+
+<p>Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie
+schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der
+widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren
+Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder
+einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie
+erzählte, ganz nur für ihn allein erzählte. Und
+das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer
+reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am
+Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde,
+der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung,
+daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der
+Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im
+höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, daß sie
+das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie
+nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war
+Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am
+sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet.
+Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem
+eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine
+Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was
+sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im
+Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.</p>
+
+<p>In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von
+Sitara, sondern das Märchen „von der verloren gegangenen
+und vergessenen Menschenseele” auf. Sie tat mir so unendlich
+leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen
+Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese
+Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich
+das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen
+eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, daß die
+Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen
+wurde und daß alle unsere Psychologie bisher nicht imstande
+war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner
+Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die
+Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin
+die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte
+sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß,
+küßte mich auf die Stirn und sagte: „Sei still, mein
+Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie
+ist da!” „Wo?” fragte ich. „Hier, bei mir”, antwortete sie.
+„Du bist diese Seele, du!” „Aber ich bin doch nicht
+verloren,” warf ich ein. „Natürlich bist du verloren. Man
+hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan.
+Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen
+haben, Gott hat dich nicht vergessen.” -- Ich begriff das damals
+nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später.
+Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes
+lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es
+gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder
+Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und
+Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber
+das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen.
+Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein
+Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur
+innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch.
+Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper,
+sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, sondern sein
+Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen,
+nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen
+gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist
+der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der
+Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung
+zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir
+tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und
+nur wer eine so tief gegründete und so mächtige
+Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend
+wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt
+beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich
+plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die
+Fähigkeit, mich zu kritisieren, <b>sonst keiner!</b></p>
+
+<p>Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern
+bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater,
+meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein,
+der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich
+und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz
+selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte,
+das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine
+kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich
+erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir
+kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in
+Großmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel
+duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir
+den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes.
+So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich
+wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben
+worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und
+klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand,
+einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es
+hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder.
+Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider
+besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der
+Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit
+der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir
+bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es,
+daß ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später
+doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu
+werden.</p>
+
+<p>Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart
+entwickelt und in seinen späteren Grundzügen
+festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun
+vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den
+Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen.
+Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so
+größeres Kind, je größer ich wurde, und
+zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß
+und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die
+Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals
+bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch
+richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich
+unausgesetzt die Erfahrung gemacht, daß es dem Volke genau
+ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus
+äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst
+heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und
+schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus
+geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so
+stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig
+bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem
+großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke
+nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir hunderte von
+Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und
+tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir
+werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen,
+falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in
+unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in
+den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen
+kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin
+selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum
+weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine
+Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben
+keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will
+Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen
+Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt,
+weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was
+ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird.
+Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin,
+Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus
+köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt
+überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst
+besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler
+und Dummheiten machen läßt, vor denen er die
+jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er
+läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß
+der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah,
+obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun
+seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier
+liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu
+drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte
+Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber
+lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.</p>
+
+<p>Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am
+Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war
+der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich
+die älteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum
+Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive
+Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht
+wollte, so machte man keinen „Summs”; der wurde
+fortgeprügelt und kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber
+kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt,
+obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die Andern aber
+dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch
+niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren
+Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich
+still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen
+kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht
+übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt
+die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann
+aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage
+ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere
+Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich
+leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter
+arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen
+hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir
+unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an
+das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch „Der
+Hakawati” gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß
+dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich
+vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war
+die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß
+ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den
+Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der
+Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen
+hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und
+Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie
+erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen
+vermochte.</p>
+
+<p>Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die
+Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr
+an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn
+Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern
+erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam
+Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf
+zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch
+von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und
+schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und
+dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das,
+was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich
+an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte.
+Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere
+Verhältnisse tun dürfen. Und er mußte immer daran
+denken, daß es unter unsern Vorfahren bedeutende
+Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen
+mußten, daß wir ihrer nicht würdig seien. Er
+hatte das werden gewollt, war aber von den Verhältnissen
+gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das
+ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen
+Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, was er
+war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug
+seine Wünsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich.
+Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nichts zu
+versäumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm
+versagt gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich
+von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche
+Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut
+und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und
+glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß ich,
+ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine
+„Kindheit” jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. Sie
+starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen
+öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen
+bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid
+und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich
+schier ohne Ende peinigt. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap03"></a>III.<br/>
+Keine Jugend.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft
+mich über dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du
+nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht
+neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz
+in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben
+Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und
+ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und
+Wärme. Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser
+Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in
+sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann
+es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich,
+wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch
+der immer nur Empfangende!
+</p>
+
+<p>Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich
+über mich befindet, gleich von vornherein aufzuklären.
+Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar
+für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte
+bisher nur mein „gutes Auskommen,” weiter nichts. Selbst
+hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die
+nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch
+erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit
+dem Gedanken vertraut, daß ich genau so sterben werde, wie
+ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender
+Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich.
+Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts
+ändern.</p>
+
+<p>Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß
+mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem
+raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein
+scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt,
+diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in
+Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte sehr wohl, was er
+tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lanzierte. Er
+erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind
+gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind
+jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von
+Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos
+gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und
+humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle.
+Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem
+anderen Falle als litararische <tt>[sic]</tt> Kavaliere erweisen, auf diesem
+ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein
+schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital
+als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von
+dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht grad
+aus für meinen bescheidenen Haushalt und für die
+schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu
+bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge
+tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner
+Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört.
+Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge
+jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld
+von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und
+fast ein Jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich
+enttäuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, daß
+jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu
+schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle
+gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten
+zusammengenommen.</p>
+
+<p>Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt,
+nun wieder zurück zur „Jugend” dieses angeblichen
+„Millionärs”, der nach ganz anderen Schätzen strebt
+als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.</p>
+
+<p>Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen
+Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem
+gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich
+vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger
+Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit,
+Mißwuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte
+erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des
+Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von
+unserem Nachbarn, dem Gastwirt „Zur Stadt Glauchau”, des
+Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die
+vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden.
+Wir gingen nach der „roten Mühle” und ließen uns
+einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend
+etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir
+pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen
+Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu
+kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der
+Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder
+drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie
+nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise
+gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren,
+auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz
+zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so
+außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den
+Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter,
+solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da
+saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh
+bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte
+die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen
+mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die
+Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten wir
+alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar auch
+zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür
+gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf
+fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr
+gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung
+für die verflossene und Anregung für die kommende
+Woche.</p>
+
+<p>Während wir in dieser Weise fleißig daheim
+arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu
+tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend.
+Es galt nämlich, den König Friedrich August und die
+ganze sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten.
+Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der
+König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande
+gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in
+Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurück,
+und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war
+nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten
+sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da
+kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie
+fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und
+Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen
+wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten
+sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen
+auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen
+Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie
+baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich zu
+ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt
+Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist
+Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen
+Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte
+ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die
+Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden,
+vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches
+derart beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte,
+sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es,
+daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von
+der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil,
+er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es
+nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu
+vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt
+Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten
+geschehe, und da allüberall vom Kampf und Krieg und Sieg
+gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, daß
+auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen,
+sondern auch in kriegerische Gewänder und kriegerische
+Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn
+ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mußte
+Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels
+standen überall an den Ecken und Winkeln herum,
+erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern
+gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen
+über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und
+die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte,
+böse Frau war man empört. Die war an Allem schuld. Sie
+hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des
+Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser
+niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine
+Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter
+Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand fürchtete,
+auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloß die
+allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In
+Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und
+eine Gardekompagnie. Die erstere schoß nach einem
+hölzernen Vogel, die letzere <tt>[sic]</tt> nach einer hölzernen Scheibe. Zu
+diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere
+gegründet werden, besonders auch eine polnische
+Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich
+denn heraus, daß es in unserem Städtchen eine ganz
+ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch
+veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte
+keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren
+dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich
+glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen
+Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den
+Schützen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so
+ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreißig Offiziere
+waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde
+ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen
+ganz selbstverständlich nur klein bemessen sein konnte; aber
+der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim
+Militär gestanden und darum alle dreiunddreißig
+Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur
+vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger
+Leute könnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so
+blieb es bei dem, was beschlossen worden war.</p>
+
+<p>Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam
+einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser
+Charge nicht zufrieden; er trachtete nach höherem. Darum
+beschloß er, sobald er ausexerziert war, sich ganz
+heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas davon bemerkte, im
+„höheren Kommando” einzuüben. Und da er mich
+ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen
+vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte mit ihm
+tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von
+Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen
+Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald
+Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die
+sächsische Armee. Ich wurde erst als „Zug”, dann als ganze
+Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment,
+Brigade und Division. Ich mußte bald reiten, bald laufen,
+bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach
+links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf
+den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich
+war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem
+jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es
+mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der
+einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen,
+gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der
+militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich
+weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine
+sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch
+ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater
+Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: „Junge, dazu hast
+du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour
+werden!” Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen
+ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese Püffe,
+Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohle und
+zur Rettung des Königs von Sachsen und seines Ministeriums
+empfangen zu haben! Wenn er das wüßte!</p>
+
+<p>Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der
+Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm
+behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene
+Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin später, als
+ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe,
+Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese
+Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf Kompagnieen
+taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast täglich, wozu
+mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie
+wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt
+haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein
+Wunder vor. Es gab auch an andern Orten „Königsretter”.
+Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen,
+sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen
+und für den König alles zu wagen, unter Umständen
+sogar das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser
+Befehl. Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten.
+Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf dem
+Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war
+Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und saß
+da mitten drauf. Es war keine leichte Sache für ihn,
+zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den
+Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als
+der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke
+und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war
+geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch
+gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war
+überhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz!
+Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und Kindern besonders
+Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an
+allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein
+grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die
+Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: „Achtung -- -- Augen
+rechts, rrrricht’t euch -- -- Augen grrrade aus -- -- G’wehr bei
+Fuß -- -- G’wehr auf -- -- G’wehr präsentiert -- --
+G’wehr über -- -- Rrrrechts um -- -- Vorwärts marsch!”
+Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die
+Musikanten mit dem türkischen Schellenbaum, die Tamboure,
+sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die
+Schützen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so
+marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts zur
+damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vorüber,
+dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach
+Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der
+Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte
+hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des
+Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem
+ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser
+Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine
+Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie
+hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen
+wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich
+glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle
+meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln
+oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht,
+monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück
+zu zwei Pfennige. Die mußte ich ihm vom Krämer holen,
+weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er
+rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht
+vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer
+Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte
+er:</p>
+
+<p>„Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche
+Begeisterung für Gott, für König und
+Vaterland!”</p>
+
+<p>„Aber was bringt sie ein?” fragte die Frau Kantorin.</p>
+
+<p>„Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre
+Glück!”</p>
+
+<p>Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu
+streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein
+Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte
+über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott,
+König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre
+Glück; das wollte und mußte ich mir merken!
+Später hat dann das Leben an diesen drei Worten
+herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die
+Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.</p>
+
+<p>Von allen, die heut ausgezogen waren, um große
+Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul
+zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten
+übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als
+Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das
+Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar
+erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister
+Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen
+Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein
+Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel
+geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus
+triftigen Gründen entlassen worden waren und die die
+Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz
+bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg <tt>[sic]</tt> geschickt habe, das dortige
+Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die
+überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde,
+daß man aus Freiburg <tt>[sic]</tt> die Weisung erhalten habe, sofort
+wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die
+Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe
+für den König und die Regierung nicht das Geringste
+mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es
+heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich
+empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß
+einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels
+zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden
+Vätern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde
+ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder
+Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter
+klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg
+hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um
+uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend
+in Empfang zu nehmen.</p>
+
+<p>Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des
+tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die
+Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals
+zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was
+später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick
+im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich
+gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der
+Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir
+selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der
+frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf
+mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors
+vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu
+Geist und Seele geworden sind.</p>
+
+<p>Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen,
+früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder
+Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte
+dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige
+Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem
+guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen
+nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell
+treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So kam
+es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli
+übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für
+teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor
+mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht
+angängig war, da komponierte er selbst. Und er war
+Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammt aus dem
+kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen,
+ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium
+förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor
+wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden
+können und sah einen Taler für ein Vermögen an,
+von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die
+Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu
+machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher
+Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die
+komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und
+hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können,
+wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre.
+Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden
+Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz
+sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und
+einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er
+sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von
+Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders
+auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein
+wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als
+zweiunddreißigfüßiger „Prinzipal”
+ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer
+sanften <tt>„Vox humana”</tt> zugebilligt wurde. Sie
+besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten,
+deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit
+verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder
+teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits
+erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben,
+als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich
+hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als
+Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis.
+Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal
+gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen
+Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete
+keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen
+verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen
+Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat
+sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft,
+ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht
+daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es
+ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu
+sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den
+begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen
+kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter
+Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine
+ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine
+Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein
+armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und
+außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen
+war.</p>
+
+<p>Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht.
+Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine
+selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz
+selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn
+zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht
+einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der
+Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau
+Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der
+Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der
+Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: „Es
+gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike
+hält es nicht aus; sie hat Migräne”. Manchmal
+hieß es auch „sie hat Vapeurs”. Was das war, wußte
+ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem,
+was ich auch nicht wußte, nämlich von der
+Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte,
+wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der
+gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach
+und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der
+Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren
+brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so
+weit bin ich jetzt noch nicht.</p>
+
+<p>Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in
+dem, was er meine „Erziehung” nannte. Notabene mich „erzog”
+er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte
+alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das
+erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich
+nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig
+höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm
+nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein
+sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er
+aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der
+geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im
+Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken
+vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein
+hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine
+Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein
+Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in
+andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht
+wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er
+glaubte stets an das, was er wünschte, und war
+vollständig überzeugt, es erreichen zu können.
+Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und
+über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war,
+nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse,
+die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum
+größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht,
+daß selbst das allergrößte Opfer eines armen
+Teufels dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein
+Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine
+Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er dazu
+gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern.
+Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie
+möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und
+hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.</p>
+
+<p>Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der
+man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir
+leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester
+ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben
+gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die
+ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald
+klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein
+großes, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so
+viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht
+einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da
+begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung
+aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr
+lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die
+nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren
+waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so
+drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge
+darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger
+Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß.
+In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer
+Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies
+allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen
+großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich
+bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele,
+zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den
+Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte,
+für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der
+andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter
+Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und
+schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen
+Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich
+von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr
+klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich
+verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich
+bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige,
+höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der
+Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele
+auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr
+ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes
+Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es
+ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das,
+was man als „Jugend” bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein
+echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie
+beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist,
+daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat
+fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht;
+man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen,
+daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen
+gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben
+vermag.</p>
+
+<p>Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte,
+beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf
+die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten
+Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein
+oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er
+brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder
+gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser
+behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte
+Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte
+Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie
+Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark,
+mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter
+einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht
+mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir
+dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es
+war eine Verfütterung und Ueberfütterung
+sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zu Grunde
+gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der
+äußerst schmalen Kost so überaus kräftig
+entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen
+ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden
+der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und
+keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er
+pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich
+die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt
+wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen
+seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es
+wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte
+Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr
+Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der
+Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um
+Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets
+dabei und ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich
+gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben
+zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm,
+in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch
+nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein
+Verständnis. Ich konnte da Dinge hören, und
+Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten
+blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten
+Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn
+niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein
+regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für
+sieben Pfennige und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder
+für sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei
+besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen
+für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt,
+mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen,
+selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen
+einstellte. Diese Herren wenigstens mußten doch wissen,
+daß ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen
+Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer
+Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die
+mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht
+frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf
+Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu
+hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus
+meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg
+gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben
+mußten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich
+mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei
+ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten
+konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, daß
+dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob.
+Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es
+konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis
+emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so
+nötig war.</p>
+
+<p>Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich
+seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur
+ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch
+Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei
+Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen
+Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit
+Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige
+für uns beide. Es wurde gegeben: „Das
+Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena.” Meine Augen
+brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber
+sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und
+haßten; sie duldeten; sie faßten große,
+kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf König und
+für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals
+gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause
+gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie
+die Puppen bewegt werden.</p>
+
+<p>„An einem Holzkreuze,” erklärte sie mir. „Von diesem
+Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder
+der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das
+Kreuz bewegt.”</p>
+
+<p>„Aber sie sprechen doch!” sagte ich.</p>
+
+<p>„Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen
+hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen
+Leben.”</p>
+
+<p>„Wie meinst du das?”</p>
+
+<p>„Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber
+verstehen lernen.”</p>
+
+<p>Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals
+zu gehen. Es wurde gespielt „Doktor Faust oder Gott, Mensch und
+Teufel.” Es wäre ein resultatloses Beginnen, den Eindruck,
+den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen.
+Das war nicht der Göthesche Faust, sondern der Faust des
+uralten Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze
+Philosophie eines großen Dichters aufgestapelt wurde und
+auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten
+Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um
+Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich
+hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn
+mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals
+wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust hätte
+mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt mir,
+aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der
+Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese
+Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was sie sagten, das
+war groß, unendlich groß, weil es so einfach, so
+unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott
+zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und
+die Fäden, diese Fäden; die alle nach oben gehen,
+mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten
+bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am
+Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist
+überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel
+tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch
+nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in
+dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht
+direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich
+mußte als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die
+Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen,
+jemals einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber
+ich bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller
+Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich
+tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie
+damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das
+Theater bis auf den heutigen Tag als eine Stätte erschienen,
+durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber,
+häßlich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor
+fragte, wer dieses Theaterstück ausgesonnen und
+niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner
+Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein
+großer, berühmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe
+geheißen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht,
+welches nicht für Puppen, sondern für lebende Menschen
+geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: „Herr Kantor, ich will
+auch so ein großer Dichter werden, der nicht für
+Puppen, sondern nur für lebende Menschen schreibt! Wie habe
+ich das anzufangen?” Da sah er mich sehr lange und unter einem
+fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: „Fange es an,
+wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen
+sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.” Diesen
+Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen;
+aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf
+meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine
+Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke,
+daß die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht
+von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was
+ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob
+ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der
+Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in
+den Händen hält, um das Volk der Menschen zu
+beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst
+später an den Folgen zu ersehen.</p>
+
+<p>Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die
+nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das
+Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem
+ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ
+sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernsttal
+nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um
+ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als
+mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25
+Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10
+Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb
+täglich über die Hälfte der Sitze leer. Die
+„Künstler” fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde
+himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen;
+da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war -- -- -- ich.
+Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine
+Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß Vater
+schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: „Karl, hole deine
+Trommel herunter; wir müssen sie putzen!” „Wozu?” fragte
+ich. „Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal
+über die ganze Bühne herumzutrommeln”. „Wer ist die
+Preziosa?” „Eine junge, schöne Zigeunerin, die eigentlich
+eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt.
+Jetzt kommt sie zurück und findet ihre Eltern. Du bist der
+Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit
+weißer Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt
+gemacht. Wird das „Haus” voll, so gibt der Herr Direktor dir
+fünf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du
+nichts. Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe.”</p>
+
+<p>Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne
+schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Knöpfe!
+Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne herum!
+Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht sehr
+wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr pünktlich zur
+Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich gefiel sämtlichen
+Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau Direktorin
+streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein
+intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles
+Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht.
+Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit
+dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen.
+Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter,
+denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt und
+ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die
+fünfzig Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen
+Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die
+Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der jenseitigen
+Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schloßvogt Pedro
+spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das
+Zeichen für mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach
+einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu
+verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht
+irren. Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe
+mit. Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über
+dreißig Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf
+meine Weste. Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut
+mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster
+hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich
+eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da
+wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichtes
+empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart
+gefüllt, daß schnell ganz vorn noch einige „Logen”
+eingerichtet wurden mit dem Preise von zehn Neugroschen pro
+Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und
+Großmutter hatten Freiplätze bekommen. Ich war eben an
+diesem Tage ein höchst wertvolles Menschenkind. Diese
+Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, daß die Frau
+Direktorin sich bewogen fühlte, mir meine fünf
+Neugroschen schon ehe der Vorhang zum ersten Male aufging, in die
+rechte Hosentasche zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit
+und meine künstlerische Begeisterung bedeutend.</p>
+
+<p>Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke
+meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte in
+Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in der
+Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der Bühne
+gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel
+an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don
+Fernando und Donna Klara und noch irgend wer standen auf der
+Bühne. In der gegenüberliegenden Kulisse lehnte der
+Schloßvogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er
+sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, daß er
+glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium.
+Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber
+nahm das ganz selbstverständlich für das verabredete
+Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen,
+begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um
+die Bühne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor
+Schreck ganz starr. „Lausbub!” schrie mir der Schloßvogt
+zu, als ich an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse
+heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon
+war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte man mir,
+doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem,
+was ausgemacht worden war, nämlich dreimal rund um die
+Bühne herum. „Lausbub!” brüllte der Schloßvogt,
+als ich zum zweiten Mal an ihm vorüberkam, und zwar tat er
+das so laut, daß es trotz des Trommelwirbels auch hinaus-
+und über den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes
+Gelächter antwortete von dorther; ich aber begann meine
+dritte Runde. „Bravo, bravo!” erklangen die Beifallsrufe des
+Publikums. Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn
+Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu,
+faßte meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und
+die Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich
+an:</p>
+
+<p>„Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch
+auf!</p>
+
+<p>„Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!” rief
+man im Zuschauerraum lachend.</p>
+
+<p>„Ja, weiter, immer weiter!” antwortete auch ich, indem ich
+mich von ihm losriß. „Die Zigeuner haben zu kommen! Raus
+mit der Bande, raus mit der Bande!”</p>
+
+<p>„Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!” schrie,
+brüllte und johlte das Publikum.</p>
+
+<p>Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von
+neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen,
+voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die Andern alle
+hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rund
+um und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich
+das Publikum nicht zufrieden. Es rief: „Heraus mit der Bande,
+heraus!” und wir mußten den Umzug von neuem beginnen und
+immer wieder von neuem. Und am Schluß des Aktes mußte
+ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich
+eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr
+Direktor ließ mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze
+Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der
+Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine
+Sache gut machen würde, versprach er mir noch weitere
+fünfzig Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf
+mein Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der
+Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal
+trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die
+„hohen Herrschaften” zu bitten, sich noch nicht gleich zu
+entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu
+Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts zu verkaufen, so
+billig, wie sie morgen, übermorgen und auch fernerhin
+unmöglich abgegeben werden könnten. Als Reminiszenz auf
+den Wortlaut des heutigen Beifalles hatte der Herr Direktor dem
+Schlusse dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: „Also
+rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten,
+rrrraus!”</p>
+
+<p>Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem
+Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten Erfolg.
+Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion
+als auch diejenigen aller übrigen Künstlerinnen und
+Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam
+nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, sondern dazu auch
+noch ein Freibillett, welches für den ganzen, diesmaligen
+Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es wiederholt
+benutzt, und zwar für Stücke, in welche Vater mich
+gehen lassen konnte. Uebrigens gab es bei dieser braven Truppe
+wohl kaum eine sittliche Gefahr für die Zuhörerschaft,
+denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben
+beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er
+alle zärtlichen Liebesszenen so ängstlich aus seinen
+Stücken streiche, antwortete er: „Teils aus moralischem
+Pflichtgefühl und teils aus kluger Erwägung. Unsere
+erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu
+häßlich für solche Rollen.”</p>
+
+<p>In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach
+dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen hangen.
+Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer späteren
+Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott,
+den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir
+sogar noch heut sehr häufig, obwohl diese drei Foktoren
+<tt>[sic]</tt> nicht nur die
+bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren
+Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt,
+als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon
+und ließ mir von der leeren, hohlen Oberflächlichkeit
+gewaltig imponieren, wie jedes andere größere oder
+kleinere Kind. Die Menschen, die solche Stücke schrieben,
+die auf die Bühne gegeben wurden, kamen mir wie Götter
+vor. Wäre ich ein so bevorzugter Mensch, so würde ich
+nicht von geraubten Zigeunerinnen erzählen, sondern von
+meinem herrlichen Sitara-Märchen, von Ardistan und
+Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der
+Erlösung aus der Erdenqual und allen anderen, ähnlichen
+Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener
+Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und
+der auch mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde,
+in die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten
+Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch
+Anderes kam hinzu.</p>
+
+<p>Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß
+war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, genoß
+evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich
+vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch
+konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen
+Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns
+weder für besser noch für berufener als sie. Unser
+alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es
+gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche seines Kirchenamtes
+religiösen Haß zu säen. Unsere Lehrer dachten
+ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich
+Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei
+ursprünglich tief religiös aber von jener angeborenen,
+nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit
+einläßt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe
+stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich
+dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich
+hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über
+religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: „Ein
+Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.” Das habe ich mir
+gemerkt. Ich habe bereits gesagt, daß ich an jedem Sonn-
+und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein
+oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe
+täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch
+heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang
+beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe
+und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch
+unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.</p>
+
+<p>Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und
+zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine
+jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir
+heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an
+denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz
+besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war
+folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet
+worden waren, beteiligten sich am darauf folgenden grünen
+Donnerstag zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen
+Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung,
+sonst während des ganzen Jahres nicht, standen die ersten
+vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares,
+um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet,
+Priesterrock, Bäffchen <tt>[sic]</tt> und weißes Halstuch. Sie
+standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden
+Kommunikanten und hielten schwarze, goldgeränderte
+Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten
+heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende
+gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe
+ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen,
+gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare wirken noch
+heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.</p>
+
+<p>Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am ersten
+Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des
+Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu
+besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis
+mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser
+Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht
+selten vor, daß der Organist dem kleinen Sänger zur
+Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren.
+Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die
+Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir
+fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner
+Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner
+Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden
+und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden
+Gemeinde gesungen hat, daß ein helles Licht erscheine und
+von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn
+er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von
+Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet,
+wenn alle andern Sterne verlöschen.</p>
+
+<p>Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt
+wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf einen
+der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach
+dem andern unter den Füßen hinweggenommen wurde, so
+daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu
+schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde
+mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein
+Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu,
+dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm
+emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen
+sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten würden, von allem
+Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu
+sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner
+sogenannten Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut
+noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen,
+durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen
+Qual geworden ist.</p>
+
+<p>Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim
+richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa
+hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet,
+sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam
+und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters.
+Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns
+führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen,
+das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen
+unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen
+Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im
+Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher,
+die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa
+eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle
+Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten
+bis zum letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt das
+für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch
+der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, wenn auch nur
+scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle
+Beteiligung an den „Unarten” anderer Knaben. Er erzog mich, wie
+man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich
+mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu
+„lernen”! Von dem Handschuhnähen wurde ich nach und nach
+befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine
+Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine
+Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und
+lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen,
+mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte,
+war dies höchst gefährlich. Saß ich dann
+betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem
+Buche, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür
+hinaussteckte und erbarmend sagte: „So geh schnell ein
+bißchen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst
+schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!” O,
+diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da
+wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der
+schlage in meinen „Himmelsgedanken” das Gedicht auf Seite 105
+auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine
+Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah
+Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen
+Königstochter, die für mich und meine Leser als
+„Menschheitsseele” gilt.</p>
+
+<p>Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von
+Büchern jeden Genres in Privathänden befand,
+zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben
+resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab
+deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des
+Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich
+auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte,
+Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur
+Bücher zum Lernen, und für diese letzteren sei ich
+jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her,
+denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr
+nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge
+in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch
+war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt
+fehlte, doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:</p>
+
+<p class="poem">
+„Ein <tt>buer</tt> <tt>[sic]</tt> lernen muß,<br/>
+Wenn er will werden <tt>dominus</tt>,<br/>
+Lernt er aber mit Verdruß,<br/>
+So wird er ein <tt>asinus</tt>!”
+</p>
+
+<p>Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und
+meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein
+<tt>asinus</tt>, sondern ein <tt>dominus</tt> werde. Also nun
+schnell und fleißig lateinisch lernen!</p>
+
+<p>Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den
+Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika
+auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist
+so viel wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich
+ganz von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet
+auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch
+in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder mit
+Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin
+gedruckt und „Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm,
+Prinz von Preußen” gewidmet. Darum mußte es gut und
+von sehr hohem Werte sein! Der Titel lautete: <tt>„Chansons
+ma&ccedil;onniques”,</tt> und zu der Melodie, die mir am besten
+gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste
+hierhergesetzt sein mag:</p>
+
+<p class="poem">
+„Nons vénérous de l’Arabie<br/>
+La sage et noble antiquité,<br/>
+Et la célèbre Confrairie [sic]<br/>
+Transmise à la postérité”.
+</p>
+
+<p>Das Wort „Freimaurerlieder” reizte ganz besonders. Welch
+eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu
+können! Glücklicherweise erteilte der Herr Rektor
+für Privatschüler auch französischen Unterricht.
+Er gestattete mir, in diesem „Zirkle” einzutreten, und so kam
+es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und
+Französischen zugleich zu befassen hatte.</p>
+
+<p>Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen
+weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. Sein
+Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte von
+geographischen und ethnographischen Werken, die er meinem Vater
+alle für mich zur Verfügung stellte. Ich fiel über
+diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr
+freute sich darüber, ohne irgendein doch so naheliegendes
+Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte,
+war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer
+freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in
+seinen Worten, als vielmehr in den Büchern aus, die er
+besaß. Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr
+Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph,
+sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit
+ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich schon
+gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zunächst
+alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei
+Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und
+andern guten Menschen fügte. So kam es, daß ich vom
+Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen
+Wohltätigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor
+daneben einen Missionsbericht, in welchem über das
+offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit
+bittere Klage geführt wurde. In der Bibliothek des einen
+lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene „Großen”
+kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen,
+und in der Bibliothek des zweiten alle jene andern
+„Großen”, denen die religiöse Offenbarung himmelhoch
+über jedem wissenschaftlichen Ergebnisse steht. Und dabei
+war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz
+dummer Junge; aber noch viel törichter als ich waren die,
+welche mich in diese Konflikte fallen und sinken ließen,
+ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so
+verschiedenen Büchern stand, konnte gut, ja konnte
+vortrefflich sein; mir aber mußte es zum Gifte werden.</p>
+
+<p>Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche
+Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt
+werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise
+zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner
+Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer
+gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Uebung besaß,
+und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr
+viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch
+außerdem dafür geopfert! Der Kegelschub war ein
+vielbesuchter, zugebauter und heizbarer, so daß er zur
+Sommer- und zur Winterszeit und bei jeder Witterung benutzt
+werden konnte. Es wurde täglich geschoben. Von jetzt an
+hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen
+Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und
+dauerte bis zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war
+der Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, an dem die
+Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen,
+ihre Einkäufe zu machen und -- <tt>last not least</tt> --
+eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden
+fünf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen
+Montagen vor, daß ich mich von Mittags zwölf Uhr an
+bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur fünf
+Minuten ausruhen zu können. Zur Stärkung bekam ich des
+Nachmittags und des Abends ein Butterbrod <tt>[sic]</tt> und ein Glas abgestandenes,
+zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein
+mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte,
+mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister
+anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen
+Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig
+man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da
+wöchentlich zusammenbrachte, war gar nicht unbedeutend. Ich
+bekam pro Stunde ein Fixum und außerdem für jedes
+Honneur, welches geschoben wurde, einen festbestimmten Satz.
+Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert,
+so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache Höhe. Es
+hat Montage gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach
+Hause brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu
+unserer Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.</p>
+
+<p>Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht
+den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches,
+billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde
+an anderer Stelle nachweisen, daß es sich hier nicht um
+Leute handelte, welche das kannten, was man unter Rücksicht
+oder gar Zartgefühl versteht. Man platzte mit allem, was auf
+die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich
+da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute
+Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches da
+vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu
+mir. Alles, was Großmutter und Mutter in mir aufgebaut
+hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das
+empörte sich gegen das, was ich hier zu hören bekam. Es
+war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene
+kräftige, kerngesunde Fröhlichkeit wie z. B. bei einem
+oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute,
+welche aus der brusttötenden Atmosphäre ihres
+Webstuhles direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich
+für einige Stunden ein Vergnügen vorzutäuschen,
+welches aber nichts weniger als ein Vergnügen war, für
+mich jedenfalls eine Qual, körperlich sowohl als auch
+seelisch.</p>
+
+<p>Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel
+schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche
+böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was
+für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und
+äußerlich geradezu ruppige, äußerst
+gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals
+gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war
+die einzige, die es in den beiden Städtchen gab.
+Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Veränderung, die sie
+erlitt, war die, daß die Einbände immer schmutziger
+und die Blätter immer schmieriger und abgegriffener wurden.
+Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von neuem
+verschlungen, und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und
+zu meiner Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich
+einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden
+steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war,
+mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der
+Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo
+Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der
+wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle
+auf dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige <tt>[sic]</tt> Bandit. Die schöne
+Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der
+Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von
+Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsrück oder
+der Raubritter als Beschützer der Armen. Emilia, die
+eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der
+Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der König als
+Mörder. Die Sünden des Erzbischofs u. s. w. u. s.
+w.</p>
+
+<p>Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da
+waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen
+darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne sie alle
+lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las sie;
+ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm
+sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang,
+glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts
+dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl
+verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten
+gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche
+Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was
+da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen
+Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe,
+noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen,
+nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.</p>
+
+<p>Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung
+begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu
+unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie
+scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man
+behauptet, daß der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama
+sei. Soll ich mich dem anschließen, so darf ich das, was
+auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist und das,
+was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander
+verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen
+gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur
+das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was
+für eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monströs
+dicken, wasserköpfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt
+worden. Der sehr gut, ja vielleicht außergewöhnlich
+veranlagte Knabe hatte sich zu einer unartikulierten geistigen
+Mißgestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besaß
+als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat,
+ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erwähnten starken,
+unzerreißbaren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der
+Erde festgehalten, daß ich für König und
+Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als
+materielle Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an
+denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet hatten,
+den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und seine Regierung
+von dem Untergange zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser
+Halt genommen, und zwar durch die Lektüre dieser
+schändlichen Leihbibliothek. Alle die Räuberhauptleute,
+Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle
+Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte
+Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die
+grausame Obrigkeit geworden. Sie besaßen wahre
+Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose
+Wohltätigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller
+Armen, aller Bedrückten und Bedrängten auf. Sie zwangen
+die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser
+herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders
+die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde.
+Und vor allen Dingen die Fülle des Lebens, der
+Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern
+herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas
+Hochinteressantes, irgend eine große, schwere, kühne
+Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den
+Büchern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah
+in den Traktätchen des Pfarrers? In seinen langweiligen,
+nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz
+guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? Da waren
+große, weite und ferne Länder beschrieben, aber es
+ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und
+Völker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten
+nichts. Das war alles nur Geographie, nur Geographie, weiter
+nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnographie, nur
+Ethnographie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott,
+kein Mensch und auch kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden
+in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es
+gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt,
+nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er
+allein es ist, für den die Bücher geschrieben werden.
+Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab,
+denn diese bedeutet für sie den Tod. Welch ein Reichtum des
+Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen
+auf die Eigenheiten und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch
+in die Hände nimmt! Kaum fühlt er während des
+Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und
+welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da.
+Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal
+Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder
+böse Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König,
+Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt
+bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche
+Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit
+und Unumstößlichkeit der göttlichen und der
+menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch
+unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den
+Rinaldo Rinaldini geschrieben!</p>
+
+<p>Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in
+meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner
+Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam
+die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in
+hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und
+Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur
+Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je
+länger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern
+überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß,
+von „edlen” Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer
+verschenkten. Daß sie diese Reichtümer vorher andern
+abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns
+irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige
+Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und
+gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und
+bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo
+Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür
+hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch
+zählte und dabei sagte; „Das ist für euren Knaben; er
+mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke
+schreibt!” Das letztere war mir nämlich, seit ich den
+„Faust” gesehen hatte, zum Ideal geworden.</p>
+
+<p>Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen
+Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich
+zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in
+anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar
+nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche
+Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren,
+und schließlich bleibt nur die traurige Negation
+zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen
+verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die
+Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung
+zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! das
+führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat,
+die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon
+ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer,
+immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.</p>
+
+<p>Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was nach
+der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich
+gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber
+hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mußte mit
+meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim
+Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen
+uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz,
+mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm
+verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte
+ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er
+versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität
+und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns
+nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir
+recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem
+Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur
+eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das
+hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir
+glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur
+einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer
+Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte
+sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich
+ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns
+fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn
+wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung
+bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange
+Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: „Meine
+liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind
+arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe,
+und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen
+weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muß für
+sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen.
+Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht
+fleißig, so wird sich ganz gewiß zur rechten Zeit
+jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!”</p>
+
+<p>Das war abends. Ich saß da und las in einem
+Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was Herr
+Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus Empörung über
+solche Art der Frömmigkeit, als über die Abweisung
+selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand er auf und
+ging. Unter der Tür aber sagte er: „Einen solchen Versuch
+machen wir nicht mehr! Karl geht auf das Seminar, und wenn ich
+mir die Hände blutig arbeiten soll!” Als er fort war,
+saßen wir andern noch lange Zeit traurig beisammen. Dann
+gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte.
+Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, in
+dem ich gelesen hatte, führte den Titel „Die
+Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller
+Bedrängten.” Als Vater nach Hause gekommen und dann
+eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich aus der
+Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: „Ihr
+sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich gehe nach
+Spanien; ich hole Hilfe!” Diesen Zettel legte ich auf den Tisch,
+steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu
+einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab,
+öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und
+schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es
+höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz
+hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der
+über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu,
+nach Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus der
+Not. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap04"></a>IV.<br/>
+Seminar- und Lehrerzeit.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten
+aufzuspeichern hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie
+entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in
+dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen,
+aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als
+mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er
+in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm
+alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die
+Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer
+den Heimatboden und die Jugendatmosphäre eines „Gewordenen” genau kennt und
+richtig zu beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, welche
+Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile
+aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine
+der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die
+Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht
+geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit
+aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese
+Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind,
+die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und
+gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben
+„Nächsten”, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die
+Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen
+sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.
+</p>
+
+<p>Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen
+ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen,
+so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend welchen Teil
+meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen,
+sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu
+zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die
+Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung
+und Entwicklung hin genau zu untersuchen.</p>
+
+<p>Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe bei einander
+liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre
+Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände
+zwischen einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der
+Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen
+Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden,
+dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus
+zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus
+Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist
+Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände
+zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier
+weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem
+ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, „das
+erste Licht der Welt erblickte”. Die ersten und ältesten
+Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer
+beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern
+auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so
+viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals.
+Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar
+einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an
+der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete
+die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft
+überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es
+wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit.
+Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig
+heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte
+man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche
+Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der
+Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten,
+damit, wenn die Haussuchung kam, nichts gefunden werden
+könne. Es galt für die armen Weber, fleißig zu
+sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug
+ein jeder sein „Stück zu Markte”. Für jeden Fehler,
+der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte
+gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann wurde
+ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der Heiterkeit und -- -- --
+dem Schnaps gewidmet. Man fand sich beim Nachbar ein. Da ging die
+Bulle rundum. Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen
+Familien sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern
+regierte die Karte. Da wurde „gelumpt”, „geschafkopft” oder
+gar „getippt”. Das letztere ist ein verbotenes
+Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche
+opferte. Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von
+Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während der
+Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem Gang in das
+Freie war man mit Branntwein versehen. Da saß man im
+Grünen und trank. Schnaps war überall dabei; man mochte
+ihn nicht entbehren. Man betrachtete ihn als den einzigen
+Sorgenbrecher und nahm seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich
+das so ganz von selbst verstände.</p>
+
+<p>Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über
+die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in ganz
+geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden
+Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, die
+man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht.
+Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch
+gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt,
+dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen,
+sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war die ganze
+Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige und der
+allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, die man jetzt kaum
+mehr für möglich hält. Im persönlichen
+Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als die
+wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, welches ich
+da anführe, diene der Name Wolf. Es gab einen
+Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, einen
+Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter Wölfe. Die
+Häuser waren klein, die Gassen eng. Ein jeder konnte in die
+Fenster des andern sehen und alles beobachten, was geschah. So
+wurde es fast zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu
+haben. Und da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder
+seinen Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg.
+Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ
+man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch
+zur immerwährenden, aber stillen Hechelei <tt>[sic]</tt>, zur niedrigen Ironie, zu einem
+scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles
+an sich hatte. Das war ungesund und griff immer weiter um sich,
+ohne daß man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie
+Gift. So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein
+lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte,
+verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel zu
+pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der
+Zubereitung und im Gebrauch von falschen Karten zu üben. Sie
+etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie
+schickten Zubringer aus, um Opfer einzufangen. Da saß man
+nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da
+mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben war
+im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von jedem
+neuen Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten
+Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man
+diese Betrügereien verwarf. Man verkehrte mit den
+Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen
+Vorschub. Ja, man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und
+man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen
+wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze
+Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer
+beteiligt wurde und daß jedermann, der von diesen
+Gaunereien wußte, sich, streng genommen, als Hehler zu
+betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals
+gesagt hätte, daß dies einen beklagenswerten,
+allgemeinen moralischen Tiefstand bedeute, der wäre wohl
+ausgelacht worden, oder gar noch Schlimmeres. Das allgemeine
+Rechtsgefühl war irregeführt. Man bewunderte die
+Falschspieler, wie man die Rinaldo Rinaldini’s und die Himlo
+Himlini’s der alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände
+man verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden
+Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der
+Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener
+Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um
+ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der
+ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man
+ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das
+alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck
+gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und
+sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie
+wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich
+sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht
+gehabt hat oder nicht?</p>
+
+<p>Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden
+Namen „Batzendorf” und die „Lügenschmiede”. Der erstere
+leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und schweizer
+Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war
+eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals
+beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig
+zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen
+Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene
+Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden
+Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das
+der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde
+zum Batzendorfer Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm
+darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der
+alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie
+war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war
+Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und
+tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief
+herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das
+alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war
+Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die
+tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu
+werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge,
+Verheiratung zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne
+Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung
+eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar
+sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden
+und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte
+von allem das Beste. Er sagte immer: „Nur nicht
+übertreiben, nur nicht übertreiben!” Damit glaubte er,
+seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor
+schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich
+mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er
+den Mut, meinen Vater zu warnen: „Machen Sie nicht mit, Herr
+Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie
+und auch nicht gut für den Karl. Was man da treibt, ist
+alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und
+Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand
+rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen
+noch zu hören bekommen!”</p>
+
+<p>Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses „Batzendorf”, in dem man
+nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren
+bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere
+Wirkung gehabt. Da lockerten sich „die Bande frommer Scheu”. Da
+gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die
+Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und
+höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen
+bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer
+Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und
+Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte
+es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche
+nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden
+auch mit hinein geführt und haben sehr viel von unserer
+Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten
+schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt
+in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage
+treten, nicht mehr einzudämmen sind.</p>
+
+<p>Die „Lügenschmiede” war etwas neueren Datums. Indem ich
+von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das,
+was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen
+Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute,
+welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr
+achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in
+andern, größeren Verhältnissen durch diese
+Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie
+unten in den kleinen Verhältnissen hangen und konnten also
+auch nur Kleinliches und Gewöhnliches, oft sogar nur sehr
+Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!</p>
+
+<p>Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste,
+brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in
+diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für
+Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu
+errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese
+wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration
+hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so
+wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man
+nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt,
+den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen
+Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein
+Anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er
+etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn
+los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit,
+der nicht zu widerstehen war. Er wurde „gemacht”, wie man es
+nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen
+stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine
+wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er
+mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich,
+mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er
+zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche
+beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. Diese
+Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden
+kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit
+dem Wirt und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine
+Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.</p>
+
+<p>Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte
+einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen
+Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten
+Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und
+Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu
+bezahlen, denn Jeder wußte, die Blamage kommt dann
+hinterher. Bessere Gäste hatten keine so gewöhnlichen
+Witze zu befürchten. Die ließ man warten. „Der
+muß erst noch reif werden,” pflegte der Lügenschmied
+zu sagen. Und Jeder wurde reif, Jeder, mochte er sein, wer oder
+was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt
+oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber
+mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast,
+der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei
+nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war
+aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den
+Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne
+daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der
+Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen,
+vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht
+sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der
+Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheiter als alle,
+ihn könne niemand foppen. Einem andern Gaste wurde
+weisgemacht, sein Bruder sei heut’ Vormittag auf dem Jahrmarkt
+verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen
+und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe
+ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen
+müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam
+aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden
+Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde
+verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu
+Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet
+wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und
+oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse zu
+verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne
+unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie Alles, was
+unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze
+wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich
+verausgabt. Und ein Jeder, der die Lügenschmiede betrat,
+glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu
+dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher
+Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und
+Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur
+Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur
+unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede
+ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht.
+Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei
+nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken
+fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün
+und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele
+hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten
+Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, leider bin
+auch ich einer von denen, die sehr und schwer darunter zu leiden
+hatten und noch heutigen Tages leiden müssen. Daß
+meine Gegner es wagen konnten, den Karl May, der ich in
+Wirklichkeit und Wahrheit bin, in die verlogenste aller
+Karikaturen zu verwandeln und mich sogar als Marktweiberbandit
+und Räuberhauptmann durch alle Zeitungen zu schleppen, das
+wurde zum größten Teil durch die Lügenschmiede
+ermöglicht, deren Stammgäste gar nicht bedachten, was
+sie an mir begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen
+über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten traktierten.
+Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück und habe hier
+noch ganz kurz zu sagen: Was ich über jene
+Falschspielergesellschaft, über „Batzendorf” und über
+die „Lügenschmiede” zu berichten hatte, sind nur einige
+kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner
+Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus
+erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich
+und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in den meine
+Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, will dies aber
+gern und mit Vergnügen unterlassen, weil ich kürzlich
+zu meiner Freude gesehen habe, wieviel sich dort verändert
+hat. Ich hatte meine Vaterstadt schon lange Zeit gemieden und
+wollte sie auch ferner meiden, als ich durch eine Rechtssache
+gezwungen wurde, sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm
+enttäuscht. Das meine ich nicht äußerlich,
+sondern innerlich. Ich habe der Städte und Orte genug
+gesehen; da kann mich nichts überraschen und auch nichts
+enttäuschen. Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir
+bisher fremden Menschen zunächst und vor allen Dingen seine
+Seele kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden Ortes,
+den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals war zwar
+noch die alte; das sah ich sofort; aber sie hatte sich gehoben;
+sie hatte sich gereinigt; sie hatte ein anderes, besseres und
+würdigeres Aussehen bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie
+einige Tage lang beobachten zu können, und darf wohl sagen,
+daß mir diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand
+Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich begegnete
+einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie
+früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, mehr
+Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse
+zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in das Ideale.
+Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich gehoben und zeigte die
+Fähigkeit, sich auch fernerhin und zusehends zu veredeln.
+Ich begegnete alten Bekannten, aus denen in Wirklichkeit „Etwas
+geworden” war. Das war mir eine Genugtuung, die ich nicht
+erwartet hatte. Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten
+Gesichter mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit,
+sondern die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit,
+von gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War
+dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her?
+Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet
+werden kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben
+auffrischend, stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe
+aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen
+Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere und von
+Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare
+Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder sein
+möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten
+vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit
+jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit dem Erfolg
+kommt auch der Segen.</p>
+
+<p>Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst
+zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus
+Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen
+Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht,
+daß dies eine „verrückte” Idee gewesen sei. Ich war
+geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch
+schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge
+des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben
+hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die
+überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte
+die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.</p>
+
+<p>Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend
+von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein.
+Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu
+bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und
+gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien
+liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und
+machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen,
+sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den
+Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit,
+wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren
+arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei
+ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach
+entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie
+wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir
+anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für
+sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der
+jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz
+anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte
+mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich
+und sagte: „Mach so Etwas niemals wieder, niemals!” Dann ging
+er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.</p>
+
+<p>Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit
+still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand.
+Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich
+eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und
+hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor,
+ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir
+erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken
+sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach
+Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner
+Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich
+müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort
+gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener
+verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen
+war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande
+der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte
+ein gutes Wort für mich bei unserem Kirchenpatron, dem
+Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine
+Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe,
+die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu
+besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis
+bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu
+Waldenburg und wurde dort interniert.</p>
+
+<p>Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht
+akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch!
+Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich
+dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige
+Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf
+sie bezog. Freilich stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im
+Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das
+über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem
+ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke
+für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und
+Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als
+gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich,
+daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich
+zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch
+meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich
+an sich und bat:</p>
+
+<p>„Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in
+Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg
+wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an
+die, welche dich zurückhalten wollen!”</p>
+
+<p>„Und die Geisterschmiede?” fragte ich. „Muß ich da
+hinein?”</p>
+
+<p>„Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,”
+antwortete sie. „Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben
+ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.”</p>
+
+<p>„Ich will aber hinein; ich will!” rief ich mutig aus.</p>
+
+<p>Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte
+lächelnd:</p>
+
+<p>„Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn
+nie in deinem Leben!”</p>
+
+<p>Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich
+ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer
+geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit
+dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt
+hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der
+auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist,
+sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche
+Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es
+mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich
+diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu
+geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist
+es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von
+außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen,
+daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte
+ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie
+und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab
+täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder
+Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz
+richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich <tt>in
+corpore</tt> in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig.
+Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für
+Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und
+zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche
+Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich
+ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und
+Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es
+gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen
+religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab
+keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine
+Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es
+fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu
+begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren
+diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu
+erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die
+Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu
+Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten
+und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab,
+das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz
+unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das
+klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie
+gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in
+sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer
+andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von
+Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe
+unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der
+jemals ein sympathisches Wort über diese Art des
+Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen
+gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien
+Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich
+selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das
+auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar
+habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner
+Mitschüler fürchtete.</p>
+
+<p>Ich hätte gern über diese religiösen
+Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich
+die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen
+inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war.
+Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar
+vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige
+reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man
+sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein
+Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit
+meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich
+erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich
+vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und
+ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war.
+Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir
+selbst.</p>
+
+<p>Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf
+ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was
+ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine
+regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir
+nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte.
+Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren
+Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an
+und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv
+heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr
+beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten
+zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag
+wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres
+Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich
+fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und
+sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine
+stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen
+Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider
+nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich
+aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames
+Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer
+wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich
+absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den
+Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren
+Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des
+hiesigen Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als
+daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam.
+Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als
+vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man
+lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das
+Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu
+schmerzende Trockenheit des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen
+fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften
+zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war.
+Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich
+hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber
+keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In
+meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf
+das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder
+innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und
+darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen
+vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose
+Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer
+krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers
+vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und
+fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit
+keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch
+bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl
+sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es,
+welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich
+fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie
+beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was
+ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen
+versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr
+und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und
+arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich
+innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben,
+ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja
+auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer
+Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so
+unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus,
+keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine
+Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach
+stehen lassen.</p>
+
+<p>Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach
+geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte
+demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja,
+ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte,
+wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das
+sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas
+Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz
+selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz
+selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz
+selbstverständlich von der „Gartenlaube”, die vor einigen
+Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann
+gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das
+Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf
+ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich
+nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach
+weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück,
+um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief
+von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten
+lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu
+schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz
+tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig
+schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft
+alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in
+der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin
+milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem
+dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er
+nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich
+nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte
+von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber
+daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse
+gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den
+ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für
+einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr
+unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich
+stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite
+Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes
+Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so
+überklingendes Kapital geschlagen haben.</p>
+
+<p>Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die
+Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem
+eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als „Wochner”
+bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen
+„Ordnungswochner” und in der zweiten einen „Lichtwochner”,
+welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu
+übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe
+von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein
+anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte
+täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter
+vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den
+steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste
+wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu
+Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren
+allgemein als wertlos anzusehen.</p>
+
+<p>Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe,
+Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie
+jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen
+unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern, um
+meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches
+ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft
+es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg
+machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal
+kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es
+stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen
+Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute,
+für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen.
+Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert
+<tt>[sic]</tt> werden konnte nichts, gar
+nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter
+für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel
+der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen
+Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für
+fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige
+zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man
+sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand
+das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich
+soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte.
+„Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte
+machen?” fragte sie. „Ganz leicht,” antwortete ich. „Man
+braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter
+nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist
+nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.” „Wenn
+auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für
+die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?” „Eigentlich
+Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn
+wegwirft oder nicht, ist seine Sache.” „Also wäre es wohl
+nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach
+Hause nähmen?” „Gestohlen. Lächerlich! Fällt
+keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige
+wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei
+kleine Weihnachtslichte.”</p>
+
+<p>Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist
+stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse
+über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein
+Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit
+an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich
+dabei, ging fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor
+kam in eigener Person, den „Diebstahl” zu untersuchen. Ich
+gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den
+„Raub”, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte
+wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen
+„infernalischen Charakter” und rief die Lehrerkonferenz
+zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon
+nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war
+aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir
+beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester -- -- -- in die
+heiligen Christferien -- -- -- ohne Talg für die
+Weihnachtsengel -- -- -- es waren das sehr trübe, dunkle
+Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt,
+daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer,
+nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen
+löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert
+gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen
+Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die
+unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken
+und Heiden verfahren würden.</p>
+
+<p>Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus
+und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete,
+verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich
+erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen
+Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in
+dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach
+zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich
+meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach
+Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren
+Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen
+Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu
+beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit
+gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern
+mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.</p>
+
+<p>Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen
+hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere
+Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als
+Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine
+wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und
+andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht
+bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das
+heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und
+nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig
+umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf
+das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht
+absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die
+doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat,
+fast unentbehrlich ist.</p>
+
+<p>Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte
+kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte
+sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies
+Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein
+besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit
+mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und
+seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden,
+und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich
+ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahelag,
+sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien.
+Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm
+möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah,
+daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des
+Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die
+Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen
+Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun
+nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand.
+Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie
+mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab,
+denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue,
+bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich
+zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir
+den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu
+mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet
+sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der
+ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule
+zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später
+unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der
+Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie
+nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern
+lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf
+Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner
+Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder
+gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete
+mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich
+merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht
+behage.</p>
+
+<p>Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die
+Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete
+mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich
+abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren.
+Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach
+Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr
+zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht
+gedacht. Als ich bemerkte; daß sie sich in meiner Tasche
+befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht
+der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei
+den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die
+Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam
+Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger
+Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung
+vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft,
+über meine Ideale, die für mich alle im hellsten
+Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die
+Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue
+Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich
+noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über
+mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich
+bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen,
+vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und
+mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller
+werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen!
+Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten
+Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für
+Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken
+schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der
+Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem
+Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur
+Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen
+Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies
+bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu
+kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe.
+Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde
+zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau.
+Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber
+bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte
+meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit
+angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen,
+und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das
+benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:</p>
+
+<p>„Sie sind arretiert! Wissen Sie das?”</p>
+
+<p>„Nein,” antwortete ich, tödlich erschrocken.
+„Warum?”</p>
+
+<p>„Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen
+haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis
+und werden als Lehrer abgesetzt!”</p>
+
+<p>Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe
+mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte
+an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen,
+und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!</p>
+
+<p>„Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!”
+stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.</p>
+
+<p>„Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm
+heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell,
+schnell!”</p>
+
+<p>Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger
+klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb
+aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die
+Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck
+wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand,
+nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht
+gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm
+zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun
+geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den
+Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach
+ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge,
+anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war
+ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den
+Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage
+anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und
+wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich
+mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu
+irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt
+meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage
+sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig
+entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen
+Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie
+möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das
+Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände,
+über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben
+werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß
+nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und
+daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders
+der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt
+hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich
+nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes
+Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die
+Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik,
+noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich
+ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir,
+mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der
+Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns
+erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er
+versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher,
+so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat
+mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er
+keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere
+verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere
+verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst
+wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch
+Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des
+Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder
+gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant
+und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf
+der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen
+Vorwurf zu machen.</p>
+
+<p>Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht.
+Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß
+die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und
+daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher
+aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die
+Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern
+vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten
+hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu
+zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals
+wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die
+es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie
+gelöst. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap05"></a>V.<br/>
+Im Abgrunde.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die
+schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist. Es liegt mir
+in der schreibenden Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung jene
+psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung zu geben, welche am
+besten geeignet wäre, das, was damals in mir vorgegangen ist, für den Fachmann
+begreiflich zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen
+Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine Bücher gelesen werden, und
+habe mich also aller Versuche, Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde
+infolge dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen bildlichen
+Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der nicht allgemein verständlich ist.
+</p>
+
+<p>Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie ein
+Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter
+dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach
+zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur
+äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer
+Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es
+grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung
+verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, ob ich
+Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein Rechtsmittel
+ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß nur
+noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, zwei
+andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. Man
+schien mich also für ungefährlich zu halten, sonst
+hätte man mich nicht mit Personen zusammengesperrt, die noch
+nicht abgeurteilt waren. Der Eine war ein Bankbeamter, der Andere
+ein Hotelier. Weshalb sie in Untersuchung saßen, das
+kümmerte mich nicht. Sie zeigten sich lieb zu mir und gaben
+sich Mühe, mich aus dem Zustande innerlicher Versteinerung,
+in dem ich mich befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich
+verließ die Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben
+Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging
+heim, zu den Eltern.</p>
+
+<p>Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter noch
+den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe zu machen. Und das
+war geradezu entsetzlich! Als ich damals in meinem kindlichen
+Unverstand nach Spanien wollte und Vater mich heimholte, hatte
+ich mir vorgenommen, ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu
+betrüben, und es war so ganz anders und so viel schlimmer
+gekommen! Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir
+nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun
+da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht erst
+seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für
+immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende die Ideale
+lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug.
+Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am
+Großen, Schönen, Edlen mich emporarbeiten aus der
+jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen
+lernen, und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! Und am
+Schlusse dieses schweren, arbeitsreichen Lebens für die
+andere Bühne schreiben, für das Theater, um dort die
+Rätsel zu lösen, die mich schon seit frühester
+Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar fühlte, aber
+noch lange, lange, lange nicht begriff!</p>
+
+<p>Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang
+war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich
+aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das
+strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige
+freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige
+Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie
+hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur
+auf die Seele, nicht auch auf den Geist. Ich war seelenkrank,
+aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu
+jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen
+Aufgabe. Ich hatte den schärfsten Einblick in alles, was
+außer mir lag; aber sobald es sich mir näherte, um zu
+mir in Beziehung zu treten, hörte diese Einsicht auf. Ich
+war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu
+verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen
+kam ein Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu
+wissen, was ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten
+bis zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich
+ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem Buche gelesen
+hatte. Und ich war mir dieses seelischen Zustandes geistig sehr
+wohl bewußt, besaß aber nicht die Macht, ihn zu
+ändern oder gar zu überwinden. Es bildete sich bei mir
+das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei,
+sondern eine gespaltene Persönlichkeit, ganz dem neuen
+Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der
+Mensch. In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde
+Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch
+sehr genau voneinander unterschieden.</p>
+
+<p>Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das
+Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es
+steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es besaß
+große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte alle seine
+Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets nur in der Ferne. Es
+glich einer Fee, einem Engel, einer jener reinen,
+beglückenden Gestalten aus Großmutters
+Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte, wenn
+ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam war. Die
+dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern
+seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal,
+häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster
+und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich
+sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich
+hörte sie auch; sie sprach. Sie sprach oft ganze Tage und
+ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie
+das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich
+war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst
+jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie einmal
+still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt und aufmerksam
+zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut und so bekannt vor,
+als ob ich sie schon tausendmal gesehen hätte. Dann
+wechselte ihre Gestalt, und es wechselte auch ihr Gesicht. Bald
+stammte sie aus Batzendorf, aus dem Kegelschub oder aus der
+Lügenschmiede. Heut sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini,
+morgen wie der Raubritter Kuno von der Eulenburg und
+übermorgen wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem
+Talgpapiere stand.</p>
+
+<p>Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit einem Male,
+sondern nach und nach. Es vergingen viele, viele Monate, bis sie
+sich in mir so weit entwickelt hatten, daß ich sie mit dem
+geistigen Auge fassen und durch das Gedächtnis festhalten
+konnte. Und da begann ich zu begreifen, um was es sich eigentlich
+handelte. Was sich in jedem Menschen vollzieht, ohne daß er
+es bemerkt oder auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich
+es sah und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade?
+Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig,
+sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese
+Beobachtungen mit einer Objektivität und
+Kaltblütigkeit, als ob es sich nicht um mich selbst, sondern
+um einen ganz anderen, mir vollständig fremden Menschen
+handle. Und ich lebte das gewöhnliche, alltägliche
+Leben ganz so, wie jede gesunde Person es lebt, die von
+derartigen psychologischen Vorgängen nicht angefochten wird.
+Es kehrte mir die Kraft und der Wille zum Leben zurück. Ich
+arbeitete. Ich gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich
+dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine
+Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, einzuüben
+und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder dieser
+Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, mit dem ich
+öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. Und ich
+begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann
+„Erzgebirgische Dorfgeschichten”. Ich hatte nicht die geringste
+Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind
+äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen
+gingen aus einer Zeitung in die andere. Es war eine Freude, zu
+sehen, wie sich das so vortrefflich entwickelte. Aber diese
+Freude wurde in der grausamsten Weise durch eine andere
+Entwicklung vergällt, die sich zu gleicher Zeit und dem
+konform in meinem Innern vollzog. Die Spaltung dort griff weiter
+um sich. Jede Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen
+zu wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen,
+mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten.
+Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören.
+Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher außer mir
+selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die helle und die
+dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen. Und je länger
+es dauerte, daß sie sich von einander unterschieden, um so
+deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften da zwei einander
+feindliche Heerlager gegen einander: Großmutters helle,
+lichte Bibel- und Märchengestalten gegen die schmutzigen
+Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner
+Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die übererbten
+Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren wurde, gegen die
+beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. Die
+Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit gegen die
+reinen, beseligenden Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich
+in die Zukunft schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das
+Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen
+die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um
+zum Edelmenschen zu werden.</p>
+
+<p>Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, der
+vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es Gedanken und
+Empfindungen, die gegeneinander streiten. Bei mir aber hatten
+diese Gedanken und Regungen sich zu sichtbaren und hörbaren
+Gestalten verdichtet. Ich sah sie bei geschlossenen Augen, und
+ich hörte sie, bei Tag und bei Nacht; sie störten mich
+aus der Arbeit; sie weckten mich aus dem Schlafe. Die dunklen
+waren mächtiger als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit
+gab es keinen Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte
+Ruhe in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu
+arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede wollte
+die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam es sehr auf das
+Thema an, welches ich behandelte. Gegen eine lustige Humoreske
+hatte niemand etwas. Die konnte ich ohne Streit und Störung
+vollenden. Bei einer ernsten Dorfgeschichte aber erhoben sich
+zahlreiche Stimmen für und gegen mich. In diesen
+Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß
+Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genauso
+straft, wie man sündigt. Hiergegen empörten sich
+gewisse Gestalten in mir. Den größten Widerstand aber
+fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten oder meiner Lektüre
+noch höhere Linien bestieg. Wenn ich mir ein religiös
+oder ethisch oder ästhetisch hohes Thema stellte,
+empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit aller Macht
+dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz unaussprechlich sind.
+Um zu zeigen, in welcher Weise das vor sich ging und was für
+Qualen das waren, will ich ein erläuterndes Beispiel
+bringen: Ich hatte den Auftrag erhalten, eine Parodie von „des
+Sängers Fluch” von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die
+Parodie bekam den Titel „des Schneiders Fluch”. Ein Schneider
+verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen
+und winziges Gärtchen, in dem nur zwei
+Stachelbeerbüsche standen. Bei der Verfluchung des
+Häuschens kam es zu folgenden Zeilen:</p>
+
+<p class="poem">
+„Die Hypotheken lauern<br/>
+    Schon heut auf euern Sturz.<br/>
+Ihr hörts, verruchte Mauern,<br/>
+    Ich mach’ es mit euch kurz!”
+</p>
+
+<p class="noindent">Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich
+dabei gestört zu sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht
+die geringste Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt
+verschwand; sie trauerte, denn mein Können reichte zu
+Besserem und Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein
+Lehrgedicht zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende
+Strophen gegenwärtig sind:</p>
+
+<p class="poem">
+„Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,<br/>
+    Das euer Heiland euch gelehrt<br/>
+Und es in euren eig’nen Landen<br/>
+    Befolgt und mit Gehorsam ehrt,<br/>
+Dann einet sich zu einem Strome<br/>
+    Die Menschheit all von nah und fern<br/>
+Und kniet anbetend in dem Dome<br/>
+    Der Schöpfung vor dem einen Herrn.<br/>
+Dann wird der Glaube triumphieren,<br/>
+    Der einen Gott und Vater kennt;<br/>
+Die Namen sinken, und es führen<br/>
+    Die Wege all zum Firmament.”
+</p>
+
+<p>Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu diesem
+hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat eine seltene
+Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln der lichten
+Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken eilten herbei, um
+von mir aufgenommen zu werden. Ich griff zur Feder. Da aber war
+es plötzlich, als ob ein schwarzer Vorhang in mir
+niederfalle. Die Klarheit war vorüber; die lichte Gestalt
+verschwand; die dunkle tauchte auf, höhnisch lachend, und
+überall, durch mein ganzes inneres Wesen, erscholl es wie
+mit hundert Stimmen „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch,
+des Schneiders Fluch u. s. w.!” So klang es stunden- und
+stundenlang in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die
+geringste Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern
+wirklich, wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir,
+sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich
+gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch war
+das, solange ich die Feder in der Hand hielt und zum Schreiben
+sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich aufstand, klangen sie
+fort, und nur als mir der Gedanke kam, auf das Lehrgedicht zu
+verzichten, trat augenblicklich Schweigen ein. Da ich aber mein
+Versprechen, es anzufertigen, halten mußte, so griff ich
+bald wieder zur Feder. Sofort erklang der Stimmenchor von neuem
+„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!” und als ich
+trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte,
+kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu „Die Hypotheken
+lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte Mauern,
+ihr hörts, verruchte Mauern!” Das ging den ganzen Tag und
+die ganze Nacht hindurch und auch dann noch immer weiter. Kein
+anderer Mensch sah und hörte es; Niemand ahnte, was und wie
+furchtbar ich litt. Jeder Andere hätte das als Wahnsinn
+bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und
+beobachtete mich. Ich setzte es trotz aller Gegenwehr durch,
+daß mein Gedicht zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber
+derartige Siege hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach
+dann innerlich zusammen.</p>
+
+<p>Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung
+meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und
+Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch auf
+meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun. Es war,
+als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs Wochen lang
+eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge unsichtbarer
+Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, die es nun als
+ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir einzunisten und mich
+ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich sah sie nicht; ich sah nur die
+finstere, höhnische Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf
+und den Hohensteiner Schundromanen; aber sie sprachen auf mich
+ein; sie beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen
+sträubte, so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und
+so zu ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand
+verlor. Die Hauptsache war, daß ich mich rächen
+sollte, rächen an dem Eigentümer jener Uhr, der mich
+angezeigt hatte, nur um mich aus seiner Wohnung loszuwerden,
+rächen an der Polizei, rächen an dem Richter,
+rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an
+jedermann! Ich war ein Mustermensch, weiß, rein und
+unschuldig wie ein Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine
+Zukunft, um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß
+ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein
+Verbrecher.</p>
+
+<p>Das war es, was die Versucher in meinem Innern von mir
+forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte, so weit meine
+Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich damals schrieb,
+besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng
+gesetzliche, eine königstreue Tendenz. Das tat ich, nicht
+nur andern sondern auch mir selbst zur Stütze. Aber wie
+schwer, wie unendlich schwer ist mir das geworden! Wenn ich nicht
+tat, was diese lauten Stimmen in mir verlangten, wurde ich von
+ihnen mit Hohngelächter, mit Flüchen und
+Verwünschungen überschüttet, nicht nur
+stundenlang, sondern halbe Tage und ganze Nächte lang. Ich
+bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und
+hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen. Es hat
+mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat
+fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es
+zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand erfuhr, was
+in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich
+kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch
+eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein
+fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden,
+sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt.
+Ob irgend Jemand an meiner Stelle das ausgehalten hätte,
+daß weiß ich nicht, ich glaube es aber kaum. Ich war
+sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar
+ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder
+und müder. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze
+Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da
+wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In
+solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig
+verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es
+ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes
+tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie
+im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens
+Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der
+tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben.
+Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin
+mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der
+ich gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin
+mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen
+habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich
+habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn
+für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz
+unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann.
+Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar
+nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich
+auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich habe bis
+jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre Gefängnis
+betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber in den
+Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber gewesen. Doch
+das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß der Abgrund nicht
+vergeblich für mich offengestanden hatte. Ich war
+hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis Zwickau
+eingeliefert.</p>
+
+<p>Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite, habe
+ich mich gegen einige Vorurteile und falsche Anschauungen zu
+wenden, die sich gegen Alles, was mit dem Strafvollzug
+zusammenhängt, richten und mit denen nun doch endlich einmal
+aufgeräumt werden sollte. Ich habe manchen gebildeten
+Mitgefangenen in begreiflicher, aber unberechtigter Erbitterung
+drohen hören, daß er nach seiner Entlassung ein Buch
+über seine Gefangenschaft schreiben werde, um die ebenso
+schweren wie unzähligen Mängel unserer Rechtspflege und
+unseres Strafvollzuges aufzudecken. Ein verständiger Mann
+lächelt über solche Drohungen, die zwar ausgesprochen,
+aber nur höchst selten ausgeführt werden. Jeder
+entlassene Gefangene, der Ehrgefühl besitzt, ist froh, die
+Zeit der Strafe hinter sich zu haben. Es fällt ihm nicht
+ein, das, was bisher doch nur wenige wußten, nun, da es
+überstanden ist, an die volle Oeffentlichkeit zu bringen. Er
+schweigt also. Und das ist gut, weil sein Buch, wenn er es
+schriebe, gewiß beweisen würde, daß unter
+tausend Gefangenen kaum einer ist, der über sich und seine
+Bestrafung unbefangen und sachgemäß zu urteilen
+vermag. Ich aber glaube, mich zu dieser Sachlichkeit und
+Unbefangenheit emporgearbeitet zu haben; ich halte mein Urteil
+für wohlerwogen und richtig und fühle mich
+verpflichtet, hier folgende Punkte festzustellen:</p>
+
+<p>Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als
+„Verbrecherschulen” bezeichnet werden durften, sind längst
+vorüber. In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger
+moralisch und nicht weniger human als in der Freiheit zu.</p>
+
+<p>Das, was man einst als „Verbrecherwelt” brandmarkte, gibt es
+nicht mehr. Die Bewohnerschaft der heutigen Strafhäuser
+rekrutiert sich aus allen Ständen des Volkes. Sie setzt sich
+in Beziehung auf Beruf und Intelligenz aus denselben
+Prozentsätzen zusammen wie die der „Unbestraften”.</p>
+
+<p>An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. Sie
+hat ihn um ihrer selbst willen zu „ent”-schuldigen.</p>
+
+<p>Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses Satzes
+wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter kennen
+gelernt, auch unter denen, welche gegen mich entschieden, dem ich
+einen Vorwurf machen könnte. Die zahlreichen Prozesse, zu
+denen meine Gegner mich förmlich zwingen, geben mir
+reichlich Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, und ich muß
+sagen, daß ich alle diese Herren, sowohl Straf- als auch
+Zivilrichter, nur hochachten kann. Ich habe sogar den Fall
+erlebt, daß ein Dresdener Richter mir recht gab, obwohl
+alle seine Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in
+diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung und welch
+ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand dies erweckt, das
+weiß nur der, der Gleiches wie ich erlebte.</p>
+
+<p>In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe
+auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft nicht
+einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher kennen gelernt, der mir
+in Beziehung auf Gerechtigkeit und Humanität Grund zu irgend
+einem Tadel gegeben hätte. Ich behaupte sogar, daß die
+Aufseher die Strenge des Dienstes viel stärker empfinden als
+der Gefangene selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte,
+eine Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich
+gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und
+kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in
+welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen hat.
+Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies zu
+sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle mögliche
+Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, vergessen zu machen.
+Es gab Beamte, die ich herzlich lieb gewann, und ich bin
+vollständig überzeugt, daß ihre Erwiderung dieser
+meiner Zuneigung nicht etwa nur vorgetäuscht, sondern
+ehrlich und aufrichtig war.</p>
+
+<p>Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres
+Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns
+wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch
+nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die Ursachen
+sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der
+Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten
+Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu
+tief eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch in
+unserer sogenannten, hochgepriesenen „Kriminalpsychologie”, an
+welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht aber der wirkliche
+Menschenkenner und noch viel weniger der, um den es sich hier
+eigentlich handelt, nämlich der sogenannte -- -- --
+Verbrecher.</p>
+
+<p>Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue Straftaten
+und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst
+alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser
+einzudämmen und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll
+ich sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der
+letzten, der „Kriminalpsychologie”, beginnen, so liegen vor mir
+mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst
+strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen
+dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der Herren
+Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet sich durch seine
+zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung und den Strafvollzug
+in mildere, humanere Bahnen zu lenken. Er hat sich dadurch einen
+Namen gemacht. Er wird, wann und wo es sich um diese
+Humanisierung handelt, oft genannt und würde ein Segen auf
+diesem Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das
+wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der
+Humanität aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen
+Namen, denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die
+Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grade
+beachtenswert, kann er als „Seelenforscher” in fast noch
+höherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem er seine
+öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen versucht,
+läßt er sich so weit hinreißen, Personen, die
+vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden sind, nun
+aber sich in mühsam errungener, öffentlicher Stellung
+befinden, mit in seine „psychiatrischen” Betrachtungen zu
+ziehen und sie in seinen Schriften derart kenntlich zu machen,
+daß jedermann weiß, wen er meint. Von einem
+Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt, antwortete er,
+daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt sei; es gebe
+einen Paragraphen, der ihm das erlaube. Ich unterlasse es,
+kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen. Aber selbst wenn es
+wahr wäre, daß es einen solchen Paragraphen gibt, wer
+zwingt den Herrn Staatsanwalt, einen derartigen Paragraphen
+zuliebe gegen seine eigene, sonstige Humanität zu handeln
+und Menschen, die ihm nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm
+als dem Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem
+Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser Paragraph in
+Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für den Reichstag
+höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu unterwerfen.
+Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag er sich noch so hoch
+emporgearbeitet haben, durch das Gesetz gezwungen ist, es sich
+gefallen zu lassen, daß die Herren Kriminalpsychologen ihn
+öffentlich an den wissenschaftlichen Pranger stellen, so
+darf man sich gewiß nicht darüber wundern, daß
+die Kriminalistik keine Neigung zur Besserung zeigt. Ich werde im
+Verlaufe meiner Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen
+müssen.</p>
+
+<p>Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, so brauche
+ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der
+Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber
+hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen
+Anwalt in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er
+verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der arme
+Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein Ehrenmann,
+aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, den B. zu
+vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen und sich von
+ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann als Beschuldigter,
+daß die Strafakten des Klägers vorgelegt werden. Das
+geschieht. Sie werden in öffentlicher Verhandlung
+vorgelesen. A. bekommt zehn Mark Beleidigungsstrafe; B. aber ist
+in die frühere Verachtung und in das frühere Elend
+zurückgeworfen und wird nun darauf schwören, daß
+für den einmal Bestraften alle Vorsätze, sich zu
+„bessern”, nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig wird,
+ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider nicht wenige
+Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken zu dem höchst
+unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die in sachlicher Weise
+nicht zu gewinnen sind, in persönlich gehässiger,
+rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst habe
+es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer gesehen,
+daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz niemals
+beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade
+diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn
+endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen,
+durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken
+ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst
+Gesühntes wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende
+Zahl der sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in
+Wegfall kommen.</p>
+
+<p>Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des
+„lieben Nächsten” anführte, geschah mit vollstem
+Rechte. Sie ist und bleibt die Hauptursache der
+Mißstände, die hier zu besprechen sind. Ich will
+keineswegs behaupten, daß dies auf einem ethischen Mangel
+beruht. Ich meine vielmehr, es liegen alte Vorurteile vor, die
+sich so tief eingefressen haben, daß man sie gar nicht mehr
+als Vorurteile erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an
+denen niemand zu rütteln vermag. Der „Verbrecher” war
+einst vogelfrei; er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf
+ihn ein; ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er
+suche Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem
+andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und aberhundert
+Punkte, von denen aus er als minderwertiger Mensch betrachtet und
+behandelt wird, und es bedarf von seiner Seite einer
+ungewöhnlichen Seelenruhe und einer seltenen Willenskraft,
+dies immer wieder und immer weiter zu ertragen, ohne sich auf die
+alte Bahn zurückwerfen zu lassen. Die größte
+Gefahr für ihn liegt darin, daß ihm von dem lieben
+Nächsten das Ehrgefühl nach und nach abgestumpft oder
+gar getötet wird. Läßt er es so weit kommen, so
+ist er verloren, und die Kriminalistik gibt ihr entweder
+erbittertes oder vollständig gleichgültig gewordenes
+Opfer nie wieder her. Dies wird und kann gar nicht anders werden,
+so lange an dem alten, ebenso unsinnigen wie grausamen Vorurteil
+festgehalten wird, daß jeder bestrafte Mensch für die
+ganze Zeit seines Lebens als „Verbrecher” zu betrachten sei.
+Kürzlich kam in Charlottenburg der Fall vor, daß
+jemand, der vor über vierzig Jahren bestraft worden war,
+sich seitdem aber gut geführt hatte, von einem
+übelwollenden Menschen als „geborener Verbrecher”
+bezeichnet wurde. Der Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch
+dieser wurde freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen
+Menschen, der sich mit äußerster Willenskraft aus dem
+Abgrund emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt
+hat, mit brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --</p>
+
+<p>Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter
+berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der Weise zu
+tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne Leser
+es wünschen. Es ist mehr als genug, wenn man solche Dinge
+nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie zum zweitenmale zu
+erleben, indem man sie für andere niederschreibt, so besitzt
+man gewiß die Berechtigung, sich so kurz wie möglich
+zu fassen. Von dieser Berechtigung mache ich hiermit
+Gebrauch.</p>
+
+<p>Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt eine
+ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer höflich
+ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer Weise
+immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über Härte
+zu klagen haben. Was die Beschäftigung betrifft, die man
+für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube
+zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich die
+Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion
+berücksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fürsoge
+in meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nämlich ich
+versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als
+unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener das
+Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte ich nicht
+fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es mit mir eine
+ganz besondere Bewandtnis haben müsse, denn schreiben
+mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand besonderer
+Beachtung. Man gab mir andere Arbeit, und zwar die
+anständigste Handarbeit, die man hatte. Ich kam in den Saal
+der Portefeuillearbeiter und wurde Mitglied einer Riege, in
+welcher feine Geld- und Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese
+Riege bestand mit mir aus vier Personen, nämlich einem
+Kaufmann aus Prag, einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte
+war, das konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon.
+Diese drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten
+schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den
+Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle mögliche
+Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere Zeit
+so leicht wie möglich zu machen. Nie ist ein unschönes
+oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen. Unser Arbeitssaal
+faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich habe unter ihnen
+nicht einen einzigen bemerkt, dessen Verhalten an die Behauptung
+erinnert hätte, daß das Gefängnis die hohe Schule
+der Verbrecher sei. Im Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt
+bemüht, einen möglichst guten Eindruck auf seine
+Vorgesetzten und Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer
+Pläne für die Zukunft habe ich während meiner
+ganzen Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte
+irgend einer gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er,
+wenn nicht angezeigt, so doch auf das energischste
+zurückgewiesen worden.</p>
+
+<p>Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt wurde,
+dieser Visitation hieß Göhler. Ich nenne seinen Namen
+mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er hatte mich zu
+beobachten und kam, obwohl er von Psychologie nicht das geringste
+verstand, nur infolge seiner Humanität und seiner reichen
+Erfahrung meinem inneren Wesen derart auf die Spur, daß
+seine Berichte über mich, wie sich später
+herausstellte, die Wahrheit fast erreichten. Er hatte, wie wohl
+alle diese Aufseher, früher beim Militär gestanden, und
+zwar bei der Kapelle, als erster Pistonbläser. Darum war ihm
+das Musik- und Bläserkorps der Gefangenen anvertraut. Er gab
+des Sonntags in den Visitationen und Gefängnishöfen
+Konzerte, die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei
+Kirchenmusik die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu
+begleiten. Leider aber besaß weder er noch der Katechet,
+dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen
+Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten,
+für die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der
+fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren. Darum
+hatten beide Herren schon längst nach einem Gefangenen
+gesucht, der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war
+aber keiner vorhanden gewesen.</p>
+
+<p>Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner
+Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich in
+sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das vielleicht
+von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei der Direktion an
+und bekam die Erlaubnis. Dann fragte er mich, und ich sagte ganz
+selbstverständlich auch nicht nein. Ich trat in die Kapelle
+ein. Es war gerade nur das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein
+Althorn in den Händen gehabt, blies aber schon bald ganz
+wacker mit. Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich
+noch mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre
+getrieben habe und Musikstücke arrangieren könne. Er
+meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die
+Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des
+Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich
+damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neue zu
+arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen
+von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.</p>
+
+<p>Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen
+Arbeiten nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs
+von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder Gefangene pro Tag
+zu liefern hat, wenn er vermeiden will, sich Unannehmlichkeiten
+auszusetzen. Dieses Pensum ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder
+Arbeitswillige kann es liefern. Wer geschickt ist, der liefert es
+sogar in wenigen Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit
+für meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die
+ich nicht aufgab, auch als ich aus der Visitation der
+Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir
+nämlich mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu
+werden.</p>
+
+<p>Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine Zelle
+für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses
+Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, da man
+über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultate
+kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und unmittelbar neben
+dem Arbeitsraume des Inspektors desselben einquartiert. Er war
+ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr,
+dessen besonderer Schreiber ich wurde. Das war eine Stelle, die
+es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den
+psychologisch bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich
+zur Zeit meiner Einlieferung vollständig unfähig
+gewesen war, Schreiber zu sein, nun aber für fähig
+gehalten wurde, eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche
+große geistige Um- und Einsicht erforderte und die
+höchste Vertrauensstelle war, die es in der ganzen Anstalt
+gab. Mein Inspektor war nämlich neben seiner Direktion des
+Isolierhauses noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese
+seine Tätigkeit bezog sich auf die besondere Statistik
+unserer Anstalt und auf das Wesen und die Aufgaben des
+Strafvollzuges überhaupt. Er schrieb die hierauf
+bezüglichen Berichte und stand mit allen hervorragenden
+Männern des Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine
+Aufgabe war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre
+Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu
+vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. Das war
+an und für sich eine sehr schwere, anstrengende und
+scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem
+Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen und
+diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, ihnen Sprache zu
+verleihen, das war im höchsten Grade interessant, und ich
+darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr viel gelernt habe
+und daß mich diese Arbeiten in stiller, einsamer Zelle in
+Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts
+gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen
+wäre. Daß mir hierzu nur die besten und
+zuverlässigsten Unterlagen zu Gebote standen, versteht sich
+ganz von selbst. Es sind mir da ganz eigenartige Lichter
+aufgegangen. Ich habe da in die tiefsten Tiefen des
+Menschenlebens geschaut und Dinge gesehen, die andere niemals
+sehen werden, weil sie keine Augen dafür haben. Ich habe da
+erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit
+sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein
+ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die
+Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben
+nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur
+Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur
+Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir von
+größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst
+befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von denen ich
+weiter oben sprach, auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit
+ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. Sie
+kehrten zwar zurück; sie ließen sich wieder
+hören, doch in immer längern Zwischenräumen, bis
+ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für
+immer stumm geworden seien.</p>
+
+<p>Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen zu
+verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen.
+Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa nur auf
+Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren alle
+Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen,
+inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert
+und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur die Werke
+der Anstaltsbibliotheken, die mir zur Verfügung standen,
+sondern man zeigte sich auch gern bereit, mir solche von
+auswärts zugängig zu machen. Es war mir ein
+unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und Ungestörtheit
+der Zelle so viel wie möglich für mein geistiges
+Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten hatten ihre
+Freude daran, mir hierzu in jeder, den Anstaltsgesetzen nicht
+widersprechenden Weise behilflich zu sein. So verwandelte sich
+für mich die Strafzeit in eine Studienzeit, zu der mir
+größere Sammlung und größere
+Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler
+jemals in der Freiheit findet. Ich werde über diesen
+großen, unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft
+mir brachte, noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz
+besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten
+war, mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch
+den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten zu
+legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten sind, sondern
+ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes Genre bilden sollen. Doch
+ist es für jetzt nicht meine Absicht, mich über diese
+meine Studien zu verbreiten, sondern ich habe mich hier allein
+und ganz besonders mit dem Umstand zu befassen, daß die mir
+anvertraute Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit
+zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen gab, unter
+deren Einfluß meine schriftstellerische Tätigkeit sich
+zu der gestaltete, die sie geworden ist.</p>
+
+<p>Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen
+Bedürfnisse, oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der
+Volksseele kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst zu
+nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder Volksbibliothekar
+und jeder Leihbibliothekar genau dieselben Erfahrungen machen
+könne, denn das ist nicht wahr. Ein Leser in Freiheit und
+ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei
+dem Letzteren kann das Lesen geradezu zum seelischen
+Existenzbedürfnisse werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt
+sich um. Die äußere Persönlichkeit hat unter der
+Anstaltszucht ihre Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor.
+Und diese ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung
+erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich
+große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll,
+moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen der
+Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die sich beide
+aneinander versündigten. Dieses Hervortreten der innern
+Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme, in der
+Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene hat während
+seiner Detention auf alle seine leiblichen Sonderrechte zu
+verzichten. In leiblicher Beziehung ist er nicht mehr Person,
+sondern nur noch Sache, eine Nummer, die in den Büchern
+eingetragen wird und bei der man ihn auch nennt. Um so
+kräftiger, ja ungestümer tritt seine innere Gestalt,
+seine Seele hervor, um sich, ihre Rechte und Bedürfnisse
+geltend zu machen. Der Leib ist gezwungen, sich in die
+Gefängniskleidung und Gefängniskost zu fügen.
+Wehe, wenn man den Fehler begeht, den gleichen Zwang auch auf die
+Seele ausüben zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem
+Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach
+einer Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um
+sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu
+befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das
+Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im
+tiefsten Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur
+körperlich sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der
+scheinbar Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte,
+hungrige Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich
+gut im ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den
+sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen
+Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? Aus dem
+Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man beantworte diese
+Fragen, wie man will, die Hauptquelle aller Erziehung, Besserung
+und Emporhebung kann bei derartig gegebenen Verhältnissen
+nur die Bibliothek sein. Der Gefangene, der sich so führt,
+daß ihm das Lesen nicht verboten werden muß, bekommt
+pro Woche ein Buch. Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang
+die seelische Kost für den nach Nahrung Schmachtenden. Er
+darf sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er
+bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann ihm zum
+Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe sein, kann
+ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, ihn aber auch
+empören und verhärten. Einer meiner Mitgefangenen, ein
+geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre lang weiter nichts
+als alte „Frauendorfer Blätter” zu lesen bekommen,
+trockene Unterweisungen im Gartenbau, die ihn weder interessieren
+noch ihm irgendeinen Nutzen bringen konnten. Er trug es in
+steigender Erbitterung, bis ich die Bibliothek überkam <tt>[sic]</tt> und ihm Passenderes gab. Einen
+Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias Gotthelfs
+Erzählungen derart außer sich gebracht, daß er
+nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu werden. Das
+letzte, was er hatte lesen müssen, hatte den Titel gehabt
+„Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich
+umkommen.” Als ich ihm einen Band von Edmund Höfer gab, war
+er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen geschenkt
+hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister war einer
+langen Reihe von Erbauungsbüchern zum Opfer gefallen. Er
+schwor mir wütend zu, daß es schon um dieser
+Bücher willen keinen Herrgott geben könne. Er habe nur
+aus bitterer Not Bankrott gemacht; die Verfasser und Herausgeber
+dieser Schriften aber seien aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut
+bankrott und verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe
+wie er.</p>
+
+<p>Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich
+zunächst meine Bibliothek und sodann auch die
+Bedürfnisse ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit
+ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen verbunden
+und führte zu dem betrübenden Schlußresultate,
+daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten,
+nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht nur in unserer
+Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch überhaupt in der
+Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, an die
+Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund, der mich
+da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich verglich. Da
+dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner
+der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch
+ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter
+Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur
+allzu fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die
+Bewohner der Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden
+muß, damit der höhere, von oben stammende Teil unseres
+Wesens zur Geltung kommen möge? Muß nicht
+überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen
+Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch
+die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen
+Ideale, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es
+nicht die Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher
+Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der
+auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, mit
+angehöre!</p>
+
+<p>Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich zu
+Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst
+seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren. Es
+wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie weiteten
+sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich erkannte ich die
+zwar verborgenen aber doch innigen Zusammenhänge zwischen
+dem Kleinsten und dem Größten, dem Körperlichen
+und dem Seelischen, dem Leiblichen und dem Geistigen, dem
+Endlichen und dem Unendlichen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich
+begann, die lieben, alten Märchen meiner Großmutter in
+ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach
+und dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten,
+verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und
+alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor. Ich
+stellte mir vor, die verloren gegangene Menschenseele zu sein,
+die niemals wiedergefunden werden kann, wenn sie sich nicht
+selbst wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann nie hoch oben in
+Dschinnistan, sondern nur hier unten in Ardistan geschehen, im
+Erdenleid, in der Menschheitsqual, bei der Träberkost des
+verlorenen Sohnes unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie
+begann, das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen
+und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. Aber
+nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in
+jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als
+Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine Marah
+Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, der ich die
+Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da tauchte zum
+ersten Male mein Tatellah-Satah in mir auf, jener geheimnisvolle
+„Bewahrer der großen Medizin”, den meine Leser im
+dreiunddreißigsten meiner Bände kennen gelernt haben.
+Und da wurde auch der Gedanke „Winnetou” geboren.
+Wohlverstanden, nur der Gedanke, nicht aber er selbst, den ich
+erst später fand. Damals habe ich die psychologischen Werke
+der Beamtenbibliothek und alle andern, die mir zugängig
+wurden -- fast verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber
+das würde nicht wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort
+für Wort zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer
+Bedachtsamkeit in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich
+nicht allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und
+mit einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, meine
+Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu werden. Und
+als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen Wege zu befinden, da
+griff ich in meine Kinderzeit zurück und holte den alten,
+kühnen Wunsch hervor, „ein Märchenerzähler zu
+werden, wie du, Großmutter bist.” Ich befand mich ja an
+einem der größten und reichsten Fundorte alles dessen,
+was da zu erzählen war, im Gefängnisse. Da kondensiert
+und verdichtet sich alles, was draußen in der Freiheit so
+leicht und so dünn vorüberfließt, daß man
+es nicht ergreifen und noch viel weniger betrachten kann. Und da
+erheben sich die Gegensätze, die draußen sich wie auf
+ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, daß in dieser
+Vergrößerung Alles offenbar wird, was anderwärts
+in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich hatte sie vor mir
+aufgeschlagen, die anspruchsvollen, hochgelehrten Werke über
+Psychologie, besonders über Kriminalpsychologie. Fast jede
+Zeile war mir eingeprägt. Sie enthielten die Theorie, ein
+Konglomerat von Rätseln und Problemen. Die Praxis aber lag
+rund um mich her, in ebenso klarer wie erschütternder
+Aufrichtigkeit. Welch ein Unterschied zwischen beiden? Wo war die
+Wahrheit zu suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in
+der aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft ist
+wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft irrt, und das
+Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege führen über den
+Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie sich treffen. Wo diese
+Wahrheit liegt und wie sie lautet, das können wir nur ahnen.
+Es ist nur einem einzigen Auge vergönnt, sie vorauszusehen,
+und das ist das Auge des -- -- Märchens. Darum will ich
+Märchenerzähler sein, nichts Anderes als
+Märchenerzähler, ganz so, wie Großmutter es war!
+Ich brauche nur die Augen zu öffnen, so sehe ich sie
+aufgespeichert, diese Hunderte und Aberhunderte von
+fleischgewordenen Gleichnissen und nach Erlösung trachtenden
+Märchen. In jeder Zelle eins und auf jedem Arbeitsschemel
+eins. Lauter schlafende Dornröschen, die darauf warten, von
+der Barmherzigkeit und Liebe wachgeküßt zu werden.
+Lauter in Fesseln schmachtende Seelen, in alten Schlössern,
+die in Gefängnisse umgewandelt sind, oder in modernen
+Riesenbauten, in denen Humanität von Zelle zu Zelle, von
+Schemel zu Schemel geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des
+Aufwachens und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen
+Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse und
+Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit
+liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu erschauen vermag.
+Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines
+Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich getroffen
+hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich will die Strenge
+des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid
+mit allen denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und
+Barmherzigkeit, vor der es schließlich kein „Verbrechen”
+mehr und keine „Verbrecher” gibt, sondern nur Kranke, Kranke,
+Kranke.</p>
+
+<p>Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich
+erzähle, nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn
+wüßte man das, so würde ich nie erreichen, was
+ich zu erreichen gedenke. Ich muß selbst zum Märchen
+werden, ich selbst, mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine
+Kühnheit sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was
+aber liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es
+sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen
+Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksälchen eines
+verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so
+und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise, in
+der man über das „Verbrechen” denkt und spricht, nicht
+baldigst ändert!</p>
+
+<p>Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam, sich
+aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ. Er
+gewann Macht über mich; er wurde groß. Er nahm endlich
+meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb, weil er in sich die
+Erfüllung alles dessen barg, was schon von meiner Kindheit
+an Wunsch und Hoffnung in mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen
+Gedanken; ich erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn
+aus. Er hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide
+identisch. Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte
+eine lange, lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch
+schwerere Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich
+meinen Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte,
+daß an ihm nichts mehr zu ändern war. Ich nahm mir
+vor, zunächst noch weiter an meinen Humoresken und
+erzgebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen
+Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich mich
+absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege. Dann aber
+wollte ich zu einem Genre greifen, welches im allgemeinsten
+Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit
+besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen
+Erzählungen wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht
+absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse und nur
+Märchen sein, allerdings außerordentlich vielsagende
+Gleichnisse und Märchen. Trotzdem aber waren Reisen
+wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen
+Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten sich zu
+bewegen hatten. Vor allem galt es, sich tüchtig
+vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde treiben.
+Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben
+meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets
+der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich
+erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich
+mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu
+fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu
+verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen.
+In die Prärie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des
+Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des Wilden
+Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste
+Mitgefühl der Lesenden erwecken, so und nicht anders
+mußten alle meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit
+ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu
+hatte ich in allen den Ländern, die zu beschreiben waren,
+wenigstens theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein
+Europäer es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten,
+schwer und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und
+dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem
+ich lebte, grad so die richtige Stelle.</p>
+
+<p>Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische
+Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch die
+Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung gegeben. Die
+Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu beweisen; was die
+Offenbarung behauptet, wird von den Gelehrten höchstens als
+glaubhaft, nicht aber als bewiesen betrachtet. So eine himmlische
+Wahrheit steigt an den Strahlen der Sterne zur Erde nieder und
+geht von Haus zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden.
+Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein,
+aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation
+besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von
+Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen zu werden. Da
+steigt sie am Strahl der Sterne wieder himmelan und kehrt zu dem
+zurück, von dem sie ausgegangen ist. Sie klagt ihm weinend
+ihr Leid. Er aber lächelt mild und spricht: „Weine nicht!
+Geh’ wieder zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an,
+dessen Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn, dich
+in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche dann
+dein Heil noch einmal!” Sie gehorcht. Der Dichter nimmt sie
+liebend auf und kleidet sie. Sie beginnt ihren Gang als
+Märchen nun von Neuem, und wo sie anklopft, ist sie jetzt
+willkommen. Man öffnet ihr die Türen und die Herzen.
+Man lauscht mit Andacht ihren Worten; man glaubt an sie. Man
+bittet sie, zu bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber
+muß weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr
+aufgetragen worden ist. Doch geht sie nur als Märchen; als
+Wahrheit aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht
+sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle
+Folgezeiten.</p>
+
+<p>So, das ist das Märchen! Aber nicht das
+Kindermärchen, sondern das wahre, eigentliche, wirkliche
+Märchen, trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die
+höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm
+wohnenden Seele gemäß. Und einer jener Dichter, zu
+denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, wollte
+ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit des war.
+Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten. Die Wahrheit ist
+so verhaßt und das Märchen so verachtet, wie ich
+selbst es bin; wir passen zueinander. Das Märchen und ich,
+wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil
+man nicht in die Tiefe dringt. Wie man behauptet, daß das
+Märchen nur für Kinder sei, so bezeichnet man mich als
+„Jugendschriftsteller”, der nur für unerwachsene Buben
+schreibe. Kurz, ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen,
+daß ich so verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und
+Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein „Leben
+und Streben” schon an und für sich selbst einem
+Märchen, und sind es doch fast unzählige Fabeln und
+Märchen, mit denen meine Person von gegnerischer Seite
+umkleidet worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so
+glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen glaubt.
+Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich einmal zur
+Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur Wahrheit werden, und
+was man mir heut nicht glaubt, das wird man morgen glauben
+lernen.</p>
+
+<p>Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben
+beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie
+sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag. Ich
+wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser mit dem
+Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu verwickeln. Und was ich
+zu sagen hatte, das mußte ich suchen lassen; ich durfte es
+nicht offen vor die Türen legen, weil man Alles, was man so
+billig bekommt, liegen zu lassen pflegt und nur das zu
+schätzen weiß, was man sich mühsam zu erringen
+hat. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, gleich von
+vornherein anzudeuten, daß meine Reiseerzählungen
+bildlich zu nehmen seien. Man hätte mich einfach nicht
+gelesen, und Alles, was ich lösen wollte, wäre Fabel
+und Märchen geblieben. Der Leser mußte ungeahnt
+finden, was ich gab; er betrachtete es dann als wohlerrungen und
+hielt es für das Leben fest.</p>
+
+<p>Aber was war denn eigentlich das, was ich geben wollte? Das
+war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich wollte
+Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel
+lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es gewollt; ich
+habe es versucht und werde es weiter versuchen. Ob ich es
+erreiche, kann weder ich noch ein Anderer wissen. Es mag bei der
+Ausführung dann wohl mancher Fehler untergelaufen sein, denn
+ich bin ein irrender Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein
+gewesen. Ich wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur
+Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft
+worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das nicht noch
+lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man es dafür
+halten; ich aber habe an hundert und wieder hundert
+unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum in
+das Unglück geraten waren und nur darum darin stecken
+blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen der ganzen
+irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt
+worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete
+Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde und
+frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind alle Schulen
+da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis hinauf zur
+Universität, für die Seele aber keine einzige. Für
+den Geist werden Millionen Bücher geschrieben, wie viele
+für die Seele? Dem Menschengeiste werden tausend und
+abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen die, welche
+bestimmt sind, die Menschenseele zu verherrlichen? Wohlan, sage
+ich mir, so will ich es sein, der für die Seele schreibt,
+ganz nur für sie allein, mag man darüber lächeln
+oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum werden viele meine Werke
+entweder nicht oder falsch verstehen, aber das soll mich ja nicht
+hindern, zu tun, was ich mir vorgenommen habe.</p>
+
+<p>Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber ich
+wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. Ich sah um
+mich herum das tiefste Menschenelend liegen; ich war für
+mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch über uns lag die
+Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir
+emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war aber nicht allein die
+unsrige, sondern sie ist allen Menschen erteilt; nur daß
+wir, die wir um so viel tiefer lagerten als die Andern, weit mehr
+und weit mühsamer aufzusteigen hatten als sie. Aus der Tiefe
+zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern
+Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen
+müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem
+orientalischen und an einem amerikanischen. Ich teilte mir die
+Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften,
+in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt
+die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. An
+diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine Gedanken
+und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es, mich vor
+allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen und den
+Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare
+Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube an den
+„großen, guten Geist” der Andern harmonierte mit meinem
+eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In Amerika sollte
+eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal
+bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken
+hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh
+geworden. Im Westen soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der
+Savanne und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten
+Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten hat sie sich
+das Treiben der Wüste bis nach dem hohen Gipfel des Dschebel
+Marah Durimeh zu erheben. Darum beginnt mein erster Band mit dem
+Titel „durch die Wüste.” Die Hauptperson aller dieser
+Erzählungen sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein,
+ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen
+Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte
+er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara Ben Nemsi
+heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein hatte,
+verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst
+erzählend, also als „Icherzähler” dargestellt werden.
+Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische
+Imagination. Doch, wenn dieses „Ich” auch nicht selbst
+existiert, so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus
+der Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden.
+Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, also dieses
+„Ich” ist als jene große Menschheitsfrage gedacht, welche
+von Gott selbst geschaffen wurde, als er durch das Paradies ging
+um zu fragen: „Adam, d. i. Mensch, wo bist Du?” „Edelmensch,
+wo bist Du?” Ich sehe nur gefallene, niedrige Menschen!” Diese
+Menschheitsfrage ist seitdem durch alle Zeiten und alle
+Länder des Erdkreises gegangen, laut rufend und laut
+klagend, hat aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat
+Gewaltmenschen gesehen zu Millionen und Abermillionen, die
+einander bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie
+aber einen Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich
+und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder
+Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich selbst
+zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und wird die
+Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf die bis
+dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende
+Antwort erfolgt: „hier bin ich. Ich bin der erste Edelmensch,
+und Andere werden mir folgen!” So geht auch Old Shatterhand und
+so geht Kara Ben Nemsi durch die Länder, um nach
+Edelmenschen zu suchen. Und wo er keinen findet, da zeigt er
+durch sein eigenes edelmenschliches Verhalten, wie er sich ihn
+denkt. Und dieser imaginäre Old Shatterhand, dieser
+imaginäre Kara Ben Nemsi, dieses imaginäre „Ich” hat
+nicht imaginär zu bleiben, sondern sich zu realisieren, zu
+verwirklichen, und zwar in meinem Leser, der innerlich Alles
+miterlebt und darum gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich
+veredelt. In dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung
+der großen Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch,
+also der niedrige Mensch, zum Edelmenschen entwickeln
+könne.</p>
+
+<p>Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte ich gar
+wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer Gefahr
+aussetzen würde, die für mich keine geringe war. Wie
+nun, wenn man diese Imagination nicht verstand und dieses „Ich”
+also nicht begriff? Wenn man glaubte, ich meine mich selbst? Lag
+es da nicht nahe, daß ein Jeder, dem es an Intelligenz oder
+gutem Willen fehlte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu
+unterscheiden, mich als Lügner und Schwindler bezeichnen
+würde? Ja, das lag allerdings in der Möglichkeit, aber
+für wahrscheinlich hielt ich es nicht. Ich hatte dieses
+„Ich,” also diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit
+allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit im
+Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. Mein Held
+mußte die höchste Intelligenz, die tiefste
+Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in
+allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der
+Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte,
+das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn ich, wie
+ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig
+Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen,
+daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde,
+daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne.
+Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler
+sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig
+ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest
+überzeugt, trotzdem ich mit dem „Ich” mich nicht selbst
+meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können,
+daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt
+oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder
+doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es
+für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und
+vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen,
+daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar
+niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus
+seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem
+imaginären „Ich”, also von der großen
+Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme
+richtig war, wird bald die Folge zeigen.</p>
+
+<p>Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in
+orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich ganz
+selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die
+Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als
+unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich
+ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die
+Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem
+es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt,
+machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit
+will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht länger
+Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in
+meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern
+jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients
+zu erwecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man
+versichert mir heut, dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei
+Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt,
+dies zu glauben.</p>
+
+<p>Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher
+geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk,
+für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile
+desselben, für einzelne Stände, für einzelne
+Altersklassen. Vor allen Dingen nicht etwa allein für die
+Jugend! Auf diese letztere Versicherung habe ich das
+größte Gewicht und den schärfsten Ton zu legen.
+Wäre es meine Absicht gewesen, Jugendschriftsteller sein
+oder werden zu wollen, so hätte ich ganz notwendigerweise
+auf die Ausführung aller meiner Pläne und auf die
+Erreichung aller meiner Ideale für immer verzichten
+müssen. Und dies zu tun, ist mir niemals eingefallen. Zwar
+hatte ich auch an die Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur
+zeitlich die erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus
+der sich das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie
+ist es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten und
+den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern Pionieren neu
+gesichtete Terrain schnellsten Tempo’s zu besetzen. Aber wie sie
+nur einen Teil des Volkes bildet, so konnte das, was ich an sie
+zu richten hatte, auch nur ein Teil dessen sein, was ich für
+das Volk als Ganzes schrieb. Wenn ich sage, daß ich
+für das Volk schreiben wollte, so meine ich damit, für
+den Menschen überhaupt, mag er so jung oder so alt sein, wie
+er ist. Aber nicht jedes meiner Bücher ist für jeden
+Menschen. Und doch auch wieder ist es für jeden Menschen,
+aber nach und nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt,
+je nachdem er älter und erfahrener wird, je nachdem er
+fähig geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu
+begreifen. Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben
+begleiten. Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann,
+als Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer
+Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit Ueberlegung
+und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt, und zwar wahllos
+verschlingt, um den ist es vielleicht schade; auf alle Fälle
+aber ist es noch mehr schade um sie! Wer sie mißbraucht,
+der soll nicht mich oder sie, sondern sich selbst zur
+Verantwortung ziehen. Ich erinnere da an das Rauchen, an das
+Essen und Trinken. Rauchen ist ein Genuß. Essen und Trinken
+ist unerläßlich. Aber jederzeit zu rauchen, zu essen,
+zu trinken, und Alles, was einem geboten wird, zu rauchen und zu
+verzehren, würde nicht nur töricht, sondern sogar
+schädlich sein. Eine gute, interessante Lektüre soll
+man genießen, aber nicht wie ein Haifisch verschlingen! Da
+meine Bücher nur Gleichnisse und Märchen enthalten,
+versteht es sich ganz von selbst, daß man reiflich
+über sie nachdenken soll und daß sie nur in die
+Hände von Leuten gehören, die nicht nur nachdenken
+können, sondern auch nachdenken wollen.</p>
+
+<p>Als ich damals diese Gedanken erwog und meine Pläne
+faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben und
+an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch nicht
+eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als Künstler
+zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller muß doch
+zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich noch nicht
+einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern nur erst
+für einen außerhalb der Zunft herumtastenden
+Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht.
+Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende
+Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so
+hätte mir eigentlich himmelangst werden sollen, denn es
+gehörten jedenfalls mehrere arbeitsreiche, ungestörte,
+glückliche Menschenleben dazu, den vor mir liegenden Stoff
+echt literarisch, also künstlerisch zu bewältigen. Aber
+es wurde mir doch nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig
+dabei. Ich fragte mich: Muß man denn Schriftsteller sein,
+und muß man denn Künstler sein, um solche Sachen
+schreiben zu dürfen? Wer will und kann es Einem verbieten?
+Machen wir es ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen
+wir es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, was
+es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler mich als
+„Kollegen” gelten lassen würden, das mußte mir
+damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen Stolz
+besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von Kunst
+dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber diese meine
+Gedanken waren anders als diejenigen anderer Leute, besonders der
+Fachgenossen. Künstler zu sein, dünkte mich das
+Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief in meinem Herzen
+der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen, und sollte
+es erst noch in der letzten Stunde vor meinem Tode sein. Jener
+Kindheitsabend, an dem ich den „Faust” zu sehen bekam, stand
+noch unvergessen in meiner Seele, und die Vorsätze, die ich
+an ihn geschlossen hatte, besaßen noch ganz denselben
+Willen und dieselbe Macht über mich wie vorher. Für das
+Theater schreiben! Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt
+wird, wie der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem
+Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des niedern
+Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße. Um so
+Etwas schreiben zu können, muß man Künstler sein,
+und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich nur da als
+Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes als das, was die heutige
+Kritik als Kunst bezeichnet, und so blieb mir weiter nichts
+übrig, als alle meine Wünsche, die sich darauf bezogen,
+als Literat ein Künstler, und zwar ein wahrer, wertvoller
+Künstler sein zu dürfen, für lange, lange Jahre
+zurückzustellen und bis dahin zu bleiben, was ich eben war,
+nämlich ein unzünftiger Anfänger, der nicht die
+geringste Prätentien <tt>[sic]</tt>
+besaß, ein Zunftgenosse zu werden. Wie ich stets, seitdem
+ich lebte, abgesondert und einsam gestanden hatte, so war ich
+schon damals überzeugt, daß auch mein Weg als Literat
+ein einsamer sein und bleiben werde, so weit mein Leben reiche.
+Was ich suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was
+ich wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen
+vollständig Fernliegendes. Und was ich für richtig
+hielt, das war höchst wahrscheinlich für andere Leute
+das Falsche. Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es
+mir nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren
+Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf Kunst war
+ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die andern
+recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt mich
+mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach vollendeter Reife,
+ein großes, schönes Dichterwerk zu schaffen, eine
+Symphonie erlösender Gedanken, in der ich mich erkühne,
+Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen, Glück aus
+meinem Unglück, Freude aus meiner Qual. Dies für
+später, wenn mir der Tod einst seinen ersten Wink erteilt.
+Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu lernen und auf
+dieses Werk vorzubereiten, damit es nicht mißlinge. Jetzt
+Märchen und Gleichnisse geben, um dann am Schlusse des
+Lebens aus ihnen die Wahrheit und die Wirklichkeit zu ziehen und
+auf die Bühne zu bringen!</p>
+
+<p>Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke wie
+z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern lange
+Erzählungen, in denen viele Personen handelnd auftreten. Und
+ihre Zahl ist groß; sie sollen eine ganze Reihe von
+Bänden füllen und das Material für jene
+spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine
+Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine
+sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur
+Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an welche
+nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur für
+ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will und darf kein
+kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern meine Aufgabe ist, aus
+hochgelegenen Marmor und Alabasterbrüchen die Blöcke
+für spätere Kunstwerke zu brechen, deren Form ich
+höchstens andeuten kann, weil mir die Zeit zur
+Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese Andeutung
+gebe ich eben in Märchen, die meinen erzählenden
+Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte bilden, um welche
+sich das Interesse des Lesers konzentriert. Die
+künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen
+Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine
+Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar
+Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, schlichten Arm-
+oder Fußringen der Araberinnen zu gleichen, die weiter
+nichts sein sollen, als eben nur silberne Ringe. Der Wert liegt
+im Metall, nicht in der Arbeit. Der Maler, welcher flüchtige
+Skizzen zeichnet, um ein großes Gemälde vorzubereiten,
+würde sich gewiß über den Kritiker verwundern,
+der an diese Skizzen denselben Maßstab legen wollte, den er
+dann später an das Gemälde zu legen hat.</p>
+
+<p>Soviel über die Pläne, welche damals in mir
+entstanden und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf den
+heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie kamen nicht
+in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam, einer nach dem
+andern. Und sie reiften nicht eilig aus, sondern es dauerte
+monate- und jahrelang, ehe ich mir von dem einen Punkt bis zum
+nächsten klar geworden war. Ich hatte aber auch genugsam
+Zeit dazu. Ich legte mir eine Art von Buchhaltung über diese
+Pläne und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig
+aufgehoben und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde in
+seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. Ich
+stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den Inhalt
+aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. Ich bin
+zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen gegangen, aber
+es hat mir doch viel genützt, und ich zehre noch heut von
+Sujets, die schon damals in mir entstanden. Auch schriftstellerte
+ich fleißig; ich schrieb Manuskripte, um gleich nach meiner
+Entlassung möglichst viel Stoff zur Veröffentlichung zu
+haben. Kurz, ich war begeistert für mein Vorhaben und
+fühlte mich, obgleich ich Gefangener war, unendlich
+glücklich in der Aussicht auf eine Zukunft, die, wie ich
+wohl hoffen durfte, keine ganz gewöhnliche zu werden
+versprach.</p>
+
+<p>Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden
+zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für alles Leid
+entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene Gabe: Ich
+wurde begnadigt. Die Direktion hatte für mich ein
+Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein volles Jahr meiner
+Strafzeit erlassen bekam. Ich stand in der ersten
+Disziplinarklasse und erhielt ein Vertrauenszeugnis ausgestellt,
+welches mir den Rückweg in das Leben glättete und mich
+aller polizeilichen Scherereien überhob. Der Kenner
+weiß, was das bedeutet!</p>
+
+<p>Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt
+verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen
+Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach Hause geschrieben, um die
+Meinigen von meiner Heimkehr zu benachrichtigen. Wie freute ich
+mich auf das Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich
+nicht zu haben; dies war ja schon längst durch Briefe
+geordnet. Ich wußte, daß ich willkommen sei und
+daß man mir mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten
+freute ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich
+gegrämt und gehärmt haben! Und wie gern würde sie
+mir ihre alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie
+entzückt würde sie über meine Pläne sein! Wie
+sehr würde sie mir helfen, sie auszudenken und so tief wie
+möglich auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach
+Ernsttal, also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe
+gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es
+läßt sich denken, was für Gedanken mich auf
+diesem Weg begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem
+Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges
+zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten!
+Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für
+deren Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr
+zu leisten vermag? Das „Märchen von Sitara” tauchte vor
+mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen,
+wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend
+zu schleudern, so daß sie verloren gehen? Alles
+Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem
+Untergange geweiht. Gilt das auch mir?</p>
+
+<p>Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr ich
+mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von dort aus
+böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe Zuversicht schien
+mich verlassen zu wollen; ich mußte mir Mühe geben,
+sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe aus schaute ich
+über das Städtchen hin. Da schlängelten sich vor
+meinen Augen die Wege, die ich damals so oft gegangen war, in
+heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen inneren Stimmen
+liegend, die mir Tag und Nacht hindurch in einem fort die Worte
+„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
+Fluch” zuriefen. Und was war das? Indem ich hieran dachte,
+hörte ich ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz
+deutlich, wie erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu
+nähern, „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des
+Schneiders Fluch!” Sollte und wollte sich das etwa wiederholen?
+Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte von
+dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die Höhe
+hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, nach Hause,
+nach Hause!</p>
+
+<p>Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern wohnten
+noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg die Treppe empor
+und dann gleich noch eine zweite hinauf nach dem Bodenraume, wo
+Großmutter sich immer am liebsten aufgehalten hatte. Ich
+wollte zunächst zu ihr und dann erst zu Vater, Mutter und
+Geschwistern. Da sah ich die wenigen Sachen, die sie besessen
+hatte; sie selbst aber war nicht da. Da stand ihre Lade, mit
+blauen und gelben Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der
+Schlüssel abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war
+leer. Ich eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die
+Eltern. Die Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie
+hatten gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar
+nicht und fragte, wo Großmutter sei. „Tot -- -- --
+gestorben!” lautete die Antwort. „Wann?” „Schon voriges
+Jahr.” Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den
+Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir verschwiegen, um
+mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft nicht noch zu
+erschweren. Das war ja recht gut gedacht; nun aber traf es mich
+um so wuchtiger. Sie war nicht eigentlich krank gewesen; sie war
+nur so hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!</p>
+
+<p>Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die
+Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir
+später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige
+einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des
+Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu.
+Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich
+gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den
+Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz
+verbergen. Ich wollte nur von Großmutter wissen, jetzt
+weiter nichts, und man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von
+mir gesprochen, aber niemals ein Wort, welches mich hätte
+kränken müssen, wenn ich dabeigewesen wäre. Und
+sie hatte nie geklagt oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun
+wisse sie, daß ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer
+Geburt zur falschen Stelle geschleudert werden, um dort
+vernichtet zu werden. Nun sei sie überzeugt, daß ich
+durch die Geisterschmiede müsse, um alle irdischen Qualen
+über mich ergehen zu lassen. Aber sie wisse, ich werde nicht
+schreien, ich werde tragen, was zu tragen ist, und mir den Weg
+nach Dschinistan <tt>[sic]</tt>
+erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto
+ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt
+und desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An
+einem der letzten Tage erzählte sie, daß der
+längst verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen
+sei. Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser
+stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel
+die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, aber nicht
+in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, welches sie
+noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, sei der Herr Kantor
+erschienen. Er haben genauso ausgesehn wie damals, als er noch
+lebte. Er sei langsam bis an ihr Bett gekommen, habe sie
+freundlich lächelnd gegrüßt, wie es immer seine
+Art und Weise war, und dann gesagt, daß sie sich ja nicht
+um mich sorgen solle; ich könne wohl stürzen wie jeder
+Andere, nicht aber liegen bleiben; es werde mir zwar schwer
+gemacht, doch erreiche ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten
+nickte er ihr wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie
+er gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie
+schloß sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde
+wieder dunkel.</p>
+
+<p>Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob ein
+Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes auf ihrem
+Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch noch dann
+darauf, als sie die Augen geschlossen hatte und nicht mehr
+atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein friedlicher, ein seliger
+gewesen; mir aber war gar nicht friedlich und gar nicht selig zu
+Mute, als man mir von ihm erzählte. Es tauchten
+Vorwürfe in mir auf, aber keine Vorwürfe, die nur
+Gedanken sind, wie bei andern Leuten, die nicht von derselben
+Veranlagung sind wie ich, sondern Vorwürfe viel
+wesentlicherer, viel kompakterer Art. Ich sah sie in mir kommen,
+und ich hörte, was sie sagten, jedes Wort, ja wirklich,
+jedes Wort! Das waren nicht Gedanken, sondern Gestalten,
+wirkliche Wesen, die nicht die geringste Identität mit mir
+zu besitzen schienen und doch identisch waren. Welch ein
+Rätsel! Aber welch ein ungewöhnliches, furchtbar
+beängstigendes Rätsel! Sie glichen jenen in mir
+schreienden, dunkeln Gestalten von früher her, mit denen ich
+-- -- -- mein Gott, kaum hatte ich an sie gedacht, so waren sie
+wieder da, ganz so, wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in
+meinem Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre
+Stimmen so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an
+Stelle der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie
+blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir schlafen.
+Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht
+schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere
+Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten,
+die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht
+entdecken konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie
+schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner
+Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. Und
+doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, weil
+das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von meinem Willen
+war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Der vor
+mir liegende Teil meines Lebens sollte ein ganz anderer sein, als
+der, welcher hinter mir lag. Diese Stimmen aber waren
+bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit
+zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß
+ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen,
+für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit!
+Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich aber stemmte mich gegen
+sie; ich tat, als ob ich nichts, gar nichts höre. Das war
+aber selbst bei der größten Kraftaufwendung nicht
+länger als höchstens nur einige Tage lang auszuhalten.
+Indessen besuchte ich einige Verleger, um mit ihnen über die
+Herausgabe der im Gefängnisse geschriebenen Manuskripte zu
+verhandeln. Hierbei stellte es sich heraus, daß
+während dieser meiner Abwesenheit die inneren Stimmen um so
+mehr verstummten, je weiter ich mich von der Heimat entfernte,
+und wieder um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder
+näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort
+seßhaft seien und nur dann über mich herfallen
+könnten, wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort
+einzufinden. Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich
+kassierte meine Honorare ein und machte eine längere
+Auslandsreise. Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses Werkes
+zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren Ergebnissen
+ein größerer Raum gewidmet werden soll, als ich ihnen
+hier gewähren könnte. Während dieser Reise
+verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde
+vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein
+ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat
+zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker
+Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark,
+daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. Ich
+kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich Alles,
+was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen
+begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl,
+an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar
+dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich
+fühlte, daß ich, falls ich diesem Befehle Gehorsam
+leiste, ein höchst gefährlicher Mensch sein werde, und
+nahm alle mir gegebene Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche
+Schicksal anzukämpfen.</p>
+
+<p>Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren,
+daß ich meinen Zustand keineswegs für pathologisch
+hielt. Alle meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl
+körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es
+gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser Beziehung mir
+angeheftet hatte, das war gewiß nicht von innen heraus
+erzeugt, sondern von außen her an mich herangetreten. Ich
+arbeitete fleißig, fast Tag und Nacht, wie ich
+überhaupt an der Arbeit stets meine größte Freude
+gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. Ich litt also
+keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern wohnte, die sich jetzt
+auch besser standen als früher. Ich hätte
+vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts
+verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was ich
+schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas
+Gewöhnliches schrieb, stellte sich nicht die geringste
+Hinderung ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema
+stellte, eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere
+Aufgabe, wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen
+empörten und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande
+zu bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die
+trivialsten, blödesten oder gar verbotensten Gedanken
+dazwischenwarfen. Ich sollte nicht empor; ich sollte unten
+bleiben. Hierzu gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter
+Hallunke, dem Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so
+schmeichelt; ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist
+mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei.
+Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, und auch
+für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, welche man
+empfinden muß, um ein Trinker zu werden. Jetzt aber
+fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, wenn
+ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause
+vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht mehr
+arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder hinzulegen und
+in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat es aber nicht. Vater tat
+es. Er konnte sein Glas einfaches Bier und sein Schnäppschen
+<tt>[sic]</tt> nicht gut entbehren. Ich
+aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das war mir nicht
+etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa schwer, o nein. Ich
+erzähle es nur des psychologischen Interesses wegen, weil es
+mir höchst sonderbar erscheint, daß dieser meiner
+ganzen Natur widersprechende und mir sonst vollständig
+fremde Durst nach Spirituosen immer nur dann auftrat, wenn jene
+Stimmen die Oberhand in mir hatten, sonst aber nie!</p>
+
+<p>Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter meine
+Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich sprach
+hierüber also mit den Eltern und Geschwistern. Vater hatte
+jetzt Anderes zu denken. Er war in einer Art sozialer Mauserung
+begriffen und darum für mich nicht zu haben, zumal er des
+Abends nie daheim blieb. Auch die Schwestern hatten andere
+Interessen. Mein ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb
+mir nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem
+Strickstrumpf still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte ihr
+so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder
+beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte
+einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein
+liebes, tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch
+sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und sie
+wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden
+möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie fest
+und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, da
+glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter sein kann,
+deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, auf die
+Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. Ich aber
+fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen
+Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte
+verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese
+Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer
+Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. Nichts war
+mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. Aber ich
+stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich
+stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen
+wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. Und mitten
+in dieser Schutzlosigkeit wurde ich nun auch von andern Feinden
+gepackt, die, obgleich sie keine inneren, sondern
+äußerliche waren, doch ebenso wenig mit den
+Händen gefaßt werden konnten.</p>
+
+<p>Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt in
+andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. Man hatte
+sie gern. Man teilte ihr Alles mit, ohne daß man sie um
+Verschwiegenheit zu bitten brauchte. Sie erfuhr Alles, was im
+Städtchen und in der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo
+einen Einbruch gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter
+war entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise
+ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich
+von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene gesetzt. Ich
+hörte gar nicht hin, als man es erzählte, bemerkte aber
+nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster als
+gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu
+sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich blieb
+anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem
+Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten; ich bat
+aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein Gerücht,
+ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher
+sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen
+Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber
+war ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es
+brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die
+Stimmen schrien mir zu: „Wehre dich, wie du willst, wir geben
+dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir zwingen dich, dich zu
+rächen! Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein
+Schurke bleiben, wenn du Ruhe haben willst!” So klang es bei
+Nacht. Wenn ich am Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts
+fertig. Ich konnte nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater
+gesagt. Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu
+nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten ja
+genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus dem
+Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles im Vertrauen
+gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum gab es keinen Punkt, an
+dem ich zugreifen konnte, mich zu wehren. Aber es kam schlimmer.
+Die heimatliche Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit
+Vertrauenszeugnis entlassen worden und darum ihrer Aufsicht
+entgangen. Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich mit mir
+zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche vor,
+deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen Intelligenz
+behaftet waren. Man glaubte, dies auf mich deuten zu müssen.
+Das war zu derselben Zeit, in der sich die schon erwähnte
+„Lügenschmiede” zu bilden begann. Neue Gerüchte
+kursierten, romantisch ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister
+erkundigte sich unter der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der
+und der Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich
+sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute
+man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein guter Kerl,
+ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt hatte und auch jetzt
+noch an mir hing. Der war sprichwörtlich unbeholfen und
+unverzeihlich aufrichtig. Er hielt grob sein für
+Menschenpflicht. Der konnte es nicht länger aushalten. Er
+kam zu mir und erzählte mir auf Handschlag und
+Schweigepflicht Alles, was gegen mich im Schwange ging. Das war
+so dumm und doch so empörend, so leichtsinnig und
+gewissenlos, so -- -- so -- -- so -- -- so -- -- -- ich fand
+keine Worte, dem armen, wohlmeinenden Menschen für seine
+schmerzhafte Aufrichtigkeit zu danken. Aber als er mein Gesicht
+sah, machte er sich so schnell wie möglich von dannen.</p>
+
+<p>Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es trieb
+mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät
+abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu
+haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn,
+fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem
+Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom
+Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; wohin,
+wohin, das beachtete ich gar nicht. Es kam mir vor, als ob die
+inneren Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir
+herliefen. Voran der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter,
+der mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von
+Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf
+die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und
+Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das verfolgte
+mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und
+jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die
+Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen
+Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte
+nicht weiter. Da hatten sie mich fest, und da ließen sie
+mich nicht wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde,
+bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern
+herunterholten. Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den
+ganzen Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen
+und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf einem
+Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden Roggenfeldern. Ein
+Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, und der Gewitterregen
+floß in Strömen herab. Ich eilte fort und kam an ein
+Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus.
+Mit der kam ich in den Wald, kroch unter die dicht bewachsenen
+Bäume und aß. Hierauf schlief ich wieder ein. Aber ich
+schlief nicht fest; ich wachte immer wieder auf. Die Stimmen
+weckten mich. Sie höhnten unaufhörlich „Du bist ein
+Vieh geworden, frissest Rüben, Rüben, Rüben!” Als
+der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe, kehrte
+in den Wald zurück und aß. Dann suchte ich mir eine
+lichte Stelle auf und ließ mich von der Sonne bescheinen,
+um trocken zu werden. Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir
+Ruhe. Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen
+Schlaf, während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite
+auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern
+gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald ein
+Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus Preziosa und
+bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser Schlaf ermüdete mich
+nur noch mehr, statt daß er mich stärkte. Ich entwand
+mich ihm, als der Abend anbrach, und verließ den Wald.
+Indem ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel
+blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein
+Feuer. Das war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich
+wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer
+zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt vorkam.
+Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte in die Glut.
+Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir. Und der Rauch,
+dieser dicke, erstickende Rauch! Der war nicht da drüben
+beim Feuer, sondern hier bei mir. Der hüllte mich ein, und
+der drang mir in die Seele. Dort ballte er sich zu Klumpen, die
+Arme und Beine und Augen und Gesichtszüge bekamen und sich
+in mir bewegten. Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst
+später, viel später klar über die Entstehung
+solcher innerer Schreckgebilde geworden. Damals war ich es noch
+nicht, und so konnten sie die entsetzliche Wirkung
+äußern, gegen welche meine auf das Aeußerste
+angespannten Nerven keine Widerstandskraft mehr besaßen.
+Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben
+zusammenfiel, als die Flammen niedriger und niedriger wurden und
+endlich erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war
+auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm. Mein
+Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel
+umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich suchte auch gar nicht
+danach. Ich wankte beim Gehen. Ich lief irr. Ich torkelte weiter,
+bis ich endlich einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die
+Straße, auf der ich mich befand, vorüberführte.
+Ich lehnte mich an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war
+wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu
+verhindern. Diese Tränen waren keine erlösenden. Sie
+brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine Augen
+zu reinigen und zu stärken. Ich sah plötzlich,
+daß es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er
+war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag; heut
+aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.</p>
+
+<p>Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, über
+den Markt hinüber und öffnete leise die Tür
+unseres Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der
+Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne
+Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht.
+Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür.
+Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres
+Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die
+Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber
+leise:</p>
+
+<p>„Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?”</p>
+
+<p>„Nein,” antwortete ich.</p>
+
+<p>„Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach
+Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man
+dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!”</p>
+
+<p>„Fort? Warum?” fragte ich.</p>
+
+<p>„Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses
+Feuer!”</p>
+
+<p>„Was ist es mit dem Feuer?”</p>
+
+<p>„Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im Walde -- -- auf
+dem Felde -- -- und gestern auch bei dem Haus, bevor es
+niederbrannte!”</p>
+
+<p>Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!</p>
+
+<p>„Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!” stotterte ich. „Glaubst du
+etwa, daß -- -- --”</p>
+
+<p>„Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater
+auch,” unterbrach sie mich. „Alle Leute sagen es!”</p>
+
+<p>Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie
+jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie
+fuhr in demselben Atem fort:</p>
+
+<p>„Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen
+Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute
+aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier
+warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht
+länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist,
+kommst du wieder!”</p>
+
+<p>Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich
+berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu
+warten. Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach
+dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und
+Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht
+etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war
+der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung
+aussah, wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!</p>
+
+<p>Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den Kleiderschrank zu
+öffnen und einen andern, saubern Anzug anzulegen. Dann bin
+ich fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im
+Stich. Ich war wieder krank wie damals. Nicht geistig, sondern
+seelisch krank. Die inneren Gestalten und Stimmen beherrschten
+mich vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene
+Zeit zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig
+Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach dieser
+Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah
+und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir
+geblieben, doch so undeutlich, daß ich nicht behaupten
+kann, was wahr daran ist und was nicht. Ich habe in jener Zeit
+jenen dunklen Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich
+beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen
+unglaublich. Man beschuldigte mich, einen Kinderwagen gestohlen
+zu haben! Wozu? Ein leeres Portemonnaie mit nur drei Pfennigen
+Inhalt! Anderes ist schon glaublicher und Einiges direkt
+erwiesen. Man hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen
+war, da transportierte man mich als „hoffentlichen Täter”
+hin. Das war eine hochinteressante Zeit für die
+Habitu<tt>é</tt>s der Ernsttaler Lügenschmiede. Da
+wurde fast täglich Neues erzählt oder Altes variiert,
+was ich begangen haben sollte. Jeder Vagabund, der in den
+Ortsbereich dieser Märchen kam, legte sich meinen Namen bei,
+um auf meine Rechnung hin zu sündigen. Das war selbst
+für einen äußerlich und innerlich Gefangenen
+zuviel. Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln
+und verschwand. Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in
+dem ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu
+berichten. Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu
+erwähnen, nämlich, daß ich seelisch um so freier
+wurde, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, daß
+mich draußen in der Ferne ein unwiderstehlicher Trieb zur
+Heimkehr packte und daß ich innerlich wieder um so freier
+wurde, je mehr ich mich der Gegend meines Geburtsortes
+näherte. Gibt es Jemand, der das zu ergründen vermag?
+Ich folgte teils jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich
+freiwillig zurück, und zwar um meiner guten Pläne und
+um meiner Zukunft willen. Hatte ich gesündigt; so hatte ich
+zu büßen; das verstand sich ganz von selbst. Und bevor
+diese Buße nicht erledigt war, konnte es für mich
+keine ersprießliche Arbeit und keine Zukunft geben. Ich
+kehrte also nach fünf Monaten wieder heim, um mich dem
+Gericht zu stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es
+richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren
+Gewalten, die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu
+tun, was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war,
+daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen
+wurde. Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die
+Strenge des Richters, der mein Urteil fällte,
+vollständig begreife. Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt
+zu begreifen, der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt
+wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, und zwar
+in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein, bei dieser
+billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben zu können
+oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm nicht mehr als Alles,
+was nötig ist, um eine solche Aufgabe auch nur
+einigermaßen zu lösen. Ich hätte gar wohl leugnen
+können, gab aber Alles, dessen man mich beschuldigte,
+glattweg zu. Das tat ich, um die Sache um jeden Preis los zu
+werden und so wenig wie möglich Zeitverlust zu erleiden.
+Dieser Advokat war unfähig, mich oder überhaupt ein
+nicht ganz alltägliches Seelenleben zu begreifen. Das Urteil
+lautete auf 4 Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So
+schwer es mir fällt, dies für die Oeffentlichkeit
+niederzuschreiben, ich kann mich nicht davon entbinden; es
+muß so sein. Nicht mich bedaure ich, sondern meine armen,
+braven Eltern und Geschwister, welch erstere mir noch im Grabe
+leid tun, daß ihr Sohn, auf den sie so große,
+vielleicht nicht ganz unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die
+unendliche Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse
+gezwungen ist, derartige Geständnisse zu machen.</p>
+
+<p>Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir
+vorgeworfen werden, hier aufzuzählen. Mein Henker, Schinder
+und Abdecker zu sein, überlasse ich jener abgrundtiefen
+Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an das Kreuz
+geschlagen und während dieser Zeit keinen Augenblick lang
+aufgehört hat, immer neue Qualen für mich zu ersinnen.
+Sie mag in diesen Fäkalienstoffen weiterwühlen, zum
+Entzücken aller jener niedern Lebewesen, denen diese Stoffe
+Lebensbedingungen sind. Und ebensowenig bin ich gewillt, mit
+dieser meiner jetzigen Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich
+habe schlicht und einfach über sie zu berichten, die
+Wahrheit zu sagen und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen
+Abgrund, der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer
+Valet zu sagen.</p>
+
+<p>Meine Strafe war schwer und lang, und der auf zwei Jahre
+Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir bei meiner
+Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. Ich war also auf
+strenge Behandlung gefaßt. Sie war ernst, aber sie tat
+nicht weh. Eine Anstaltsdirektion handelt ganz richtig, wenn sie
+sich nicht voreingenommen zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und
+wie der Eingelieferte sich fügt. Nun, ich fügte mich!
+Freilich wurde für dieses Mal auf meinen Stand keine
+Rücksicht genommen. Man teilte mich derjenigen
+Beschäftigung zu, in der grad Arbeiter gebraucht wurden. Ich
+wurde Zigarrenmacher. Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete
+es mir. Ich habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke
+noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an sie
+zurück, welche man stillen, nicht grausamen
+Leidensstätten schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie
+war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak kennen
+und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der billigsten bis zur
+teuersten. Das tägliche Pensum war nicht zu hoch gestellt.
+Es kam auf die Sorte, auf den guten Willen und auf die
+Geschicklichkeit an. Als ich einmal eingeübt war, brachte
+ich mein Pensum spielend fertig und hatte auch noch stunden- und
+halbe Tage lang übrige Zeit. Diese Zeit für mich
+verwenden zu dürfen, war mein innigster Wunsch, und der
+wurde mir eher, viel eher erfüllt, als ich es für
+möglich hielt.</p>
+
+<p>Ich betone hier ein für allemal, daß es für
+mich keinen Zufall gibt. Das weiß ein jeder meiner Leser.
+Für mich gibt es nur eine Fügung. So auch in diesem
+Falle. Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische
+und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet
+(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen
+Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der Zeit so
+mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet
+worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter
+suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen die
+Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch noch die Orgel
+übernehmen konnte. Die Direktion billigte ihm zu, sich einen
+Vertreter unter den Gefangenen zu suchen. Er tat es. Es gab eine
+ganze Anzahl bestrafter Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden
+geprüft. Warum keiner von ihnen genommen wurde, das
+weiß ich nicht. Sie waren alle länger da, als ich,
+hatten also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches
+zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war mit
+nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte der
+zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und
+hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem
+Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich, keinen
+Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der Katechet kam in
+meine Zelle, unterhielt sich eine Weile mit mir und ging dann
+fort, ohne mir etwas zu sagen. Einige Tage später kam auch
+der katholische Geistliche. Auch er entfernte sich nach kurzer
+Zeit, ohne daß er sich über den Grund seines Besuches
+äußerte. Aber am nächsten Tage wurde ich in die
+Kirche geführt, an die Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt
+und mußte spielen. Die Herren Beamten saßen unten im
+Schiff der Kirche so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war
+nur der Katechet, der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die
+Prüfung und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir
+eröffnete, daß ich zum Organisten bestellt sei und
+mich also sehr gut zu führen habe, um dieses Vertrauens
+würdig zu sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr
+viel für mich und mein Innenleben entwickelte.</p>
+
+<p>Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer katholischen
+Kirche! Das brachte mir zunächst einige Bewegungsfreiheiten
+innerhalb der Anstaltsgebäude. Man konnte mir doch keinen
+Aufseher mit an die Orgel stellen! Aber es brachte mir noch mehr,
+nämlich Achtung und diejenige Rücksichtnahme, nach der
+ich in Beziehung auf gewisse Aeußerlichkeiten strebte. Der
+Aufseher unserer Visitation war ein stiller, ernster Mann, der
+mir sehr wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich
+katholischer Organist geworden sei, kam er verwundert in meine
+Zelle, um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen
+Einlieferungsakten ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als
+evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. Da
+sah er mich groß an und sagte:</p>
+
+<p>„Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt du -- -- --
+hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!”</p>
+
+<p>Die Gefangenen werden natürlich „Du” genannt; von jetzt
+an aber sagte er „Sie”, und Andere taten ihm das nach. Das war
+eine scheinbar kleine, aber trotzdem sehr wertvolle
+Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere folgerte. Bald stellte
+sich zu meiner freudigen Ueberraschung heraus, daß mein
+Aufseher der Dirigent des Bläserkorps war. Ich erzählte
+ihm von meiner musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da
+brachte er mir schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu
+erteilen. Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war
+dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in
+meiner freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher
+ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und wir
+haben, als er später pensioniert war und nach Dresden zog,
+noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit einander
+verkehrt.</p>
+
+<p>Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur Lehrer,
+ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder
+Beziehung, human wie selten Einer und von einer so reichen
+erzieherischen, psychologischen Erfahrung, daß das, was er
+meinte, einen viel größeren Wert für mich
+besaß, als ganze Stöße von gelehrten
+Büchern. Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit
+mir. Er hielt mich für einen Protestanten und machte nicht
+den geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung einzuwirken.
+Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich zu ihm. Nie habe ich
+ihm eine Frage nach dem Katholizismus vorgelegt. Was ich da
+wissen mußte, das wußte ich bereits oder konnte es in
+anderer Weise erfahren. Mir war das schöne Verhältnis
+heilig, das nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne
+daß sich störende Gegensätze in das rein
+menschliche Wohlwollen schleichen durften. Er tat seinen
+Kirchendienst, ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die
+Religion zwischen uns vollständig unberührt und konnte
+also umso direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein
+Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen,
+und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen
+Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das Kleinste
+groß zu nehmen weiß.</p>
+
+<p>Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt lernte
+ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige Musikstücke
+bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, Musikverständnis
+zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache Katechet gab mir Nüsse
+zu knacken, die mir sehr zu schaffen machten. Was Musik
+eigentlich ist, das begann ich erst jetzt zu ahnen, und die Musik
+ist nicht etwa das allergeringste Mittel, durch welches die
+Kirche wirkt.</p>
+
+<p>Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn eine
+besondere Feststellung in Beziehung auf die Orgelbegleitung
+nötig war. Er sprach nur das Allernötigste, über
+Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat war es stets,
+als ob bei mir die Sonne zu scheinen beginne. Solche
+Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte eigentlich
+jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn der Laie ist nur
+allzusehr geneigt, die Kirche so zu betrachten und zu beurteilen,
+wie ihre Priester sich zu ihm stellen. Ueber den Unterschied
+zwischen dem protestantischen und dem katholischen Gottesdienst
+gehe ich hinweg, aber jeder vernünftige Mensch wird es
+für ganz naturgemäß und selbstverständlich
+halten, daß ich nicht vier Jahre lang an dem letzteren
+teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm beteiligt sein konnte, ohne von
+ihm beeinflußt zu werden. Wir sind doch keine Steine, von
+denen alles Weiche abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm,
+wenn der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste waren
+ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine unendliche Dankbarkeit
+für diese Wärme und diese Güte in mir, die sich
+meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf für mich hatte,
+als alles Andere gegen mich war. Ich habe sie gesegnet bis auf
+den heutigen Tag und werde sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm
+müssen doch die Menschen innerlich sein, welche behaupten,
+daß ich katholisiere! Es ist ganz unmöglich, daß
+sie die Menschenseele und die in ihr liegenden Heiligtümer
+kennen. Uebrigens habe ich über den katholischen Glauben gar
+nichts geschrieben, über den mohammedanischen aber ganze
+Bände. Der Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint
+also viel berechtigter, als der, daß ich katholisiere.
+Warum macht man mir diesen nicht? Die Madonna ist von hundert
+protestantischen Malern dargestellt und von hundert
+protestantischen Dichtern, sogar von Goethe, behandelt worden.
+Warum sagt man von diesen nicht, daß sie katholisieren? Ich
+habe der katholischen Kirche für die hochsinnige
+Gastfreundlichkeit, die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre
+lang erwies, durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich
+für meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich der
+religiösen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des Geldes
+wegen! Ich wiederhole: Wie arm müssen diese Menschen sein,
+wie unendlich arm! -- --</p>
+
+<p>Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der
+ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich
+sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben. Es stand mir jedes
+Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien brauchte.
+Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und begann dann mit
+der Ausführung derselben. Ich schrieb Manuskripte. Sobald
+eines fertig war, schickte ich es heim. Die Eltern vermittelten
+dann zwischen mir und den Verlegern. Ich schrieb diesen nicht
+direkt, weil sie jetzt noch nicht erfahren sollten, daß der
+Verfasser der Erzählungen, die sie druckten, ein Gefangener
+sei. Einer aber erfuhr es doch, weil er persönlich zu den
+Eltern kam. Das war der später noch viel zu erwähnende
+Kolportagebuchhändler H. G. Münchmeyer in Dresden. Er
+war Zimmergesell gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das
+Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In dieser
+Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal und lernte in
+einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd kennen, die er
+heiratete. Das fesselte ihn an die Gegend. Er wurde da bekannt
+und erfuhr auch von mir. Was er da Tolles hörte, schien ihm
+außerordentlich passend für seine Kolportage. Er
+suchte meinen Vater auf und machte sich vertraut mit ihm. So
+kamen ihm meine Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war
+ihm zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er
+sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und
+bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und legte das
+Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht. Er schob es
+zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich zu
+geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Münchmeyer sehr
+gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann, den er gebrauchen
+könne; er werde mich nach meiner Heimkehr aufsuchen und
+alles Nähere mit mir besprechen.</p>
+
+<p>Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest. Es
+ist für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu
+wissen, daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit,
+wie sie in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles
+gehört hatte, was hinzugelogen worden war.</p>
+
+<p>Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich Ruhe,
+vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der letzten
+vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die dunklen
+Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen
+belästigt hatten; das hatte aber nach und nach
+aufgehört und war schließlich still geworden, ohne
+sich wieder zu regen. Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf
+psychologische Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht,
+daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie
+man in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber die
+letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder
+schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der Katechet war
+derselben Meinung. Ich hatte ihm von meinen inneren Anfechtungen
+nichts erzählt, wie ich in rein persönlichen und
+familiären Dingen überhaupt nie einen Menschen zu
+meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen fiel doch ein Wort,
+welches nicht andeuten sollte, aber doch andeutete. Er wurde
+aufmerksam. Einmal kam ich im Verlauf des Gespräches darauf,
+von meinen dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu
+sprechen; aber ich tat so, als ob ich von einem Andern
+spräche, nicht von mir selbst. Da lächelte er. Er
+wußte gar wohl, wen ich meinte. Am nächsten Tage
+brachte er mir ein kleines Buch, dessen Titel lautete: „Die
+sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der
+Menschheitsspaltung überhaupt.” Ich las es. Wie
+köstlich es war! Welche Aufklärung es gab! Nun
+wußte ich auf einmal, woran ich mit mir war! Nun mochten
+sie wiederkommen, diese Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu
+fürchten! Später, als er sich das Buch wieder holte,
+dankte ich ihm, der Freude entsprechend, die ich darüber
+empfand. Da fragte er mich:</p>
+
+<p>„Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie
+erzählten?”</p>
+
+<p>„Ja,” antwortete ich.</p>
+
+<p>„Haben Sie alles verstanden?”</p>
+
+<p>„Nein, noch nicht.”</p>
+
+<p>„Dieses hier?”</p>
+
+<p>Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: „Wer an diesen
+schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor der Stelle,
+an der er geboren wurde. Er wohne niemals längere Zeit dort.
+Und vor allen Dingen, wenn er einmal heiratet, so hole er sich
+seine Frau ja nicht von diesem Orte!”</p>
+
+<p>„Nein, das verstehe ich noch nicht,” gestand ich ein.</p>
+
+<p>„Ich auch nicht,” gab er zu. „Aber denken Sie darüber
+nach!”</p>
+
+<p>Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich zu
+keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein psychologische
+Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende Lehrerin, und
+diese Erfahrung mußte ich machen, ehe ich es begriff,
+leider, leider! -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap06"></a>VI.<br/>
+Bei der Kolportage.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war ein stürmischer Frühlingstag, es
+regnete und schneite. Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht
+ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine Manuskripte gelesen und meine
+Briefe fast auswendig gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine
+Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei dieser Gelegenheit auch auf
+Münchmeyer zu sprechen und darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle.
+</p>
+
+<p>„Das wird vergeblich sein,” sagte ich. „Dieser Mann will
+Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche
+Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß
+ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man über mich faselt,
+einen Kolportageroman zusammenzuflicken, der ihm allerdings viel
+Geld einbringen, mich aber vernichten würde. Da irrt er
+sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!”</p>
+
+<p>Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt angekommen
+waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem
+nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes,
+neugebautes Haus und fragte mich:</p>
+
+<p>„Kennst du das dort?”</p>
+
+<p>„Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?”</p>
+
+<p>„Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer
+es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter sehr rasch
+verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du.
+Mutter wird es dir erzählen.”</p>
+
+<p>„O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie,
+daß sie hierüber schweigen soll!”</p>
+
+<p>Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der
+Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf
+er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre lang; er
+lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er kam schon am andern
+Vormittag und warf sich derart in die Brust, daß man es
+wirklich keinem in dieser Weise behandelten Menschen
+übelnehmen kann, wenn er dadurch rückfällig wird.
+Er behauptete, zwei Jahre lang mein Vorgesetzter zu sein, bei dem
+ich mich täglich zu melden habe. Dann zog er die
+betreffenden Gesetzesparagraphen aus der Tasche, um mir eine
+Vorlesung über meine Pflichten zu halten. Ich sagte kein
+Wort, sondern öffnete die Tür und gab ihm einen Wink,
+sich zu entfernen. Als er das nicht sofort tat, tat ich es. Ich
+ging zum Bürgermeister und machte kurzen Prozeß. Ich
+forderte einen Auslandspaß, und als mir die Auskunft wurde,
+daß dies nicht so ohne weiteres möglich sei, war ich
+schon am nächsten Tage ohne Paß unterwegs.</p>
+
+<p>Im Zuge saß ich in einem sonst leeren
+Coup<tt>é</tt>. Es ging über die Grenze. Da begann es
+plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu
+schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem
+die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte
+von Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen das
+kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber
+ließ es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht
+hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. Ich
+reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach ganz von
+selber still werden.</p>
+
+<p>Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite
+Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um nach mir zu
+fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er das Honorar und ging
+unverrichteter Sache wieder heim. Ungefähr dreiviertel Jahre
+später erschien er wieder, und zwar nicht allein, sondern
+mit seinem Bruder. Dieses Mal fand er mich daheim, denn ich war
+wieder da, um meine „Geographischen Predigten” zu schreiben und
+in Druck zu geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann
+auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut
+gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in
+Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte einen
+Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das war mir
+unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie etwas zu tun
+gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und
+weder ihn noch seine Lage kannte. Er erklärte sie mir. Er
+war ein klug berechnender, sehr beredter Mann, und sein Bruder
+sekundierte ihm in so trefflicher Weise, daß ich beide
+nicht kurzer Hand abwies, sondern sie aussprechen ließ.
+Aber als sie das getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen,
+obgleich ich es nie für möglich gehalten hätte,
+daß ich jemals zu der „Kolportage” in irgend eine
+Geschäftsbeziehung treten könne.</p>
+
+<p>Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden
+Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was er
+herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er sprach
+von einem sogenannten „Schwarzen Buch” mit lauter
+Verbrechergeschichten, von einem sogenannten „Venustempel”, der
+eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen Werken gleicher
+Art. Für heut aber handle es sich um ein Wochenblatt,
+welches er unter dem Titel „Der Beobachter an der Elbe”
+herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes sei ein aus
+Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr
+geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher
+Beziehung höchst gefährlicher Mensch. Dieser habe sich
+mit ihm überworfen, sei plötzlich aus der Redaktion
+gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein
+ganz ähnliches Blatt wie den „Beobachter an der Elbe”
+herausgeben, um ihn tot zu machen. „Wenn ich nicht sofort einen
+anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist und
+es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!” schloß
+Münchmeyer seinen Bericht.</p>
+
+<p>„Aber wie kommen Sie da grad auf mich?” erkundigte ich mich.
+„Ich bin weder Redakteur noch in irgend einer Weise
+bewährt!”</p>
+
+<p>„Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel von Ihnen
+gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre Manuskripte
+gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!”</p>
+
+<p>„Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur Kolportage
+wird mich niemand bringen!”</p>
+
+<p>„Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch Gutes mit ihr
+leisten. Was haben Sie denn vor?”</p>
+
+<p>Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; er
+begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten,
+die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom Niedrigen
+leben.</p>
+
+<p>„Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!” rief er aus.
+„Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am besten und
+schnellsten bei mir!”</p>
+
+<p>„Wieso?”</p>
+
+<p>„Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen diesen
+Freytag und sein neues Blatt damit tot!”</p>
+
+<p>„Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr
+,Beobachter an der Elbe’ nicht gefällt? Ich kenne ihn ja
+nicht.”</p>
+
+<p>„So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein neues
+Blatt an seiner Stelle!”</p>
+
+<p>„Was für eines?”</p>
+
+<p>„Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke
+paßt!”</p>
+
+<p>Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon
+mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne
+ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch weitere
+Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht machte, auf
+seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine eigenen
+Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet die
+prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die
+Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher
+Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte
+für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde mir
+wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den <tt>[sic]</tt> Münchmeyer mir zahlen konnte,
+war zwar nicht bedeutend, aber es flossen mir ja außerdem
+derartige Honorare zu, daß ich ihn eigentlich gar nicht
+brauchte. Und ich war gar nicht gebunden. Er bot mir
+vierteljährige Kündigung an. Ich konnte also alle drei
+Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.</p>
+
+<p>„Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!” forderte er mich auf,
+indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.</p>
+
+<p>„Wann hätte ich anzutreten?” fragte ich.</p>
+
+<p>„Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag
+darf uns nicht vorauskommen.”</p>
+
+<p>„Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!”</p>
+
+<p>„Ich weiß Alles. Das tut aber nichts.”</p>
+
+<p>„Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!”</p>
+
+<p>„Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut nichts.
+Grad weil dies so ist, sind Sie mir der Allerliebste! Schlagen
+Sie ein!”</p>
+
+<p>Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand hin;
+Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab ich ihm den
+Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.</p>
+
+<p>Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein
+möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald
+mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur Verfügung, und ich
+kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand den Verlag ganz ungemein
+häßlich. Das „Schwarze Buch” war geradezu
+empörend verbrecherisch. Der „Venustempel” zeigte sich als
+ein scheußliches, auf die niedrigste Sinnenlust berechnetes
+Unternehmen mit zotenhaften Beschreibungen und entsetzlich
+nackten, aufregenden Abbildungen. Beigegeben war eine
+Hausapotheke für Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen
+verdient wurden, die mir fast unglaublich erschienen. Diese
+schamlosen Hefte und Bilder lagen überall umher. Die
+Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier
+Töchter Münchmeyers, damals noch im Schul- und
+Kindesalter, lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau
+Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: „Was
+denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine Masse
+Geld!” Ich nahm mir vor, dies müsse entweder anders werden
+oder ich würde ohne Kündigung wieder fortgehen. Was den
+„Beobachter an der Elbe” betrifft, dessen Redaktion ich
+übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick,
+daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so
+vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen das Blatt
+eingehen, und ich gründete drei andere an seiner Stelle,
+nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter,
+welche „Deutsches Familienblatt” und „Feierstunden” betitelt
+waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt für Berg-,
+Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die Ueberschrift
+„Schacht und Hütte” gab. Diese drei Blätter waren
+darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der
+Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und
+Herzen zu bringen. In Beziehung auf „Schacht und Hütte”
+bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die großen
+Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür zu
+interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis
+war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte.
+Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu
+Weihnachten ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab
+sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg,
+mußte sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen
+lassen.</p>
+
+<p>In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß
+Münchmeyer von auswärtigen Behörden wegen der
+Verbreitung des „Venustempels” angezeigt wurde. Verfasser
+dieses Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, der
+nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil dieser ihn
+an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht partizipieren
+ließ. Das Buch enthielt eine lüstern geschriebene
+Abteilung über „die Prostitution”, die zu Polizeianzeigen
+allerdings direkt herausforderte. Es wurde Münchmeyer von
+irgend einer Seite verraten, von welcher, das weiß ich
+nicht, daß eine Haussuchung nach dem „Venustempel”
+stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte
+Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu
+verhüten. Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir
+aber sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen
+Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte ganze
+Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern
+Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte jede
+verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der gefährdeten
+Bücher in die Privatwohnungen und verbarg sie sogar unter
+den Betten der Kinder. Das ging so schnell und gelang so gut,
+daß die Polizei, als sie sich einstellte, kaum eine ganz
+geringe Nachlese fand, und noch lange hat man sich im
+Münchmeyerschen Hause des Schnippchens gerühmt, welches
+damals der sonst so findigen Dresdener Behörde geschlagen
+worden sei. Ich erfuhr erst später, viel später hiervon
+und zog meine Konsequenzen. Meines Bleibens war hier nicht. Ich
+wollte aus dem Abgrund heraus, nicht aber wieder hinunter!</p>
+
+<p>Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig
+gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die
+Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag
+zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir,
+daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb,
+so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann
+gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten
+Blätter mit der Ausführung meiner literarischen
+Pläne. Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser
+Beziehung mein Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften,
+nämlich auf die Indianer und auf die islamitischen Volker
+richten wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das
+„Deutsche Familienblatt” für die Indianer und die
+„Feierstunden” für den Orient. Im ersteren Blatte begann
+ich sofort mit „Winnetou”, nannte ihn aber einem anderen
+Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich
+war überzeugt, daß diese beiden Blätter eine
+Zukunft hätten, und ich bildete mir ein, für eine ganze
+Reihe von Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da
+gab es Raum und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz
+selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen,
+die ich wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich
+bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, weit
+ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes
+Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt war,
+ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine Anerkennung, eine
+Förderung bedeuten. Man machte mir nämlich, um mich an
+die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau
+Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen,
+meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als
+Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau
+Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte
+grad das Gegenteil. Ich sagte „nein” und kündigte, denn
+nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben
+konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen
+Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das
+Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen zu
+schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das Vierteljahr
+vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht
+von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im
+geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige
+Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt
+berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht
+geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und
+Münchmeyer, der Verleger des „Venustempels”, wegen dieses
+Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man
+mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses
+Venustempels hineingeheiratet zu haben!</p>
+
+<p>Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte
+ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein
+verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und
+lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz
+eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses
+meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare
+Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als
+körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein
+Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser
+meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine
+häßliche Person schön und eine schöne
+häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir
+die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren
+Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht
+begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie
+abstoßend wirken; ich kann nichts dafür. Und mit dem
+Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine
+andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich,
+vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich
+eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um
+meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich
+über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende
+stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden
+sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler
+und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die
+man bald als Barbier, bald als Feldscheer <tt>[sic]</tt>, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er
+barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch
+weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine
+Tochter, die man für das schönste Mädchen der
+beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt
+begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch
+zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine
+dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für
+eine Leiche sei.</p>
+
+<p>„Pollmers Tochter,” antwortete eine der beiden ersten
+Frauen.</p>
+
+<p>„Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die
+gestorben?”</p>
+
+<p>„An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses
+wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem
+die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann
+nur Unheil.”</p>
+
+<p>„Was ist denn der Vater?”</p>
+
+<p>„Der? Es hat ja keinen!”</p>
+
+<p>„Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich
+besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!”</p>
+
+<p>Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus.
+Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der
+Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den
+Armen trug. Das war das Kind, der „Nickel”, der seine eigene
+Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich
+verstand von dem allem nichts. Was weiß ein
+vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von
+Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und
+ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich
+später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage,
+warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und
+schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß.
+Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was
+die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von
+Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis und an den
+unglückseligen „Nickel” dachte. Sobald ich später
+über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz
+unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube
+des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren
+sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens,
+herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das
+Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas
+Wohltuendes noch etwas Fürchterliches an sich. Später
+begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten,
+hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr
+zwölfjähriges Mädchen an der Hand führte. Das
+war der alte Pollmer mit seinem „Nickel”. Der Alte sah sehr
+ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte
+gar nichts an sich, was verriet, „daß seine Mutter an ihm
+gestorben war”. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen,
+als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen,
+überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig
+gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß
+dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur
+unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei
+meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen
+einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein
+„Fräulein Pollmer” befand. Das war der „Nickel”; aber er
+sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und
+bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer
+Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir.
+Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz
+eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort
+über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend,
+gar nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so
+herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das
+gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater,
+nämlich Pollmer, meine „Geographischen Predigten” gelesen
+hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie
+erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den
+Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur
+einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag
+psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste
+oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land
+war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir,
+dieses Land kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer
+wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich
+nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn
+und eigentlich viel weniger als das.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie
+hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt,
+mich nach der Lektüre meiner „Predigten” nun auch
+persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir befriedigt zu
+sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich
+tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann,
+als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging,
+sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen
+verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich
+bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte
+jemals gedacht, daß ich mit dem „Nickel”, der Einem „nur
+Unheil bringt”, in Korrespondenz treten würde!</p>
+
+<p>Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten
+Eindruck. Sie sprach da von meinem „schönen, hochwichtigen
+Beruf”, von meinen „herrlichen Aufgaben”, von meinen „edlen
+Zielen und Idealen”. Sie zitierte Stellen aus meinen
+„Geographischen Predigten” und knüpfte Gedanken daran,
+deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur
+Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur
+ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter,
+solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht
+möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu
+halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lobe
+„Fräulein Pollmers” über und lud mich für die
+Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich
+vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten
+freundlich gesinnt gewesen ist und daß ich vor der Stelle,
+an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht
+entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort
+verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf
+Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat
+einstellte, um das Seelenstudium des „Nickels”, der nun „mein
+Nickel” werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu
+dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie
+sonst nur auf der Bühne zu sein pflegt. Nämlich als
+Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und
+lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer,
+und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter.
+Ich wußte, daß er sich überall nur höchst
+lobend über mich aussprach, und daß meine Vorstrafen
+ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten,
+vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte
+auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und
+wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt und daß er ganz
+märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung
+hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlende
+Beaut<tt>é</tt>s der größte Reichtum ihrer
+Familie seien und nur möglichst reich und vornehm
+verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich
+konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine
+Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und
+vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einflusse zu
+entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu
+Mittag zu essen:</p>
+
+<p>„Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht
+nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen
+darf.”</p>
+
+<p>Er horchte überrascht auf.</p>
+
+<p>„Um Emmas willen?” fragte er.</p>
+
+<p>„Ja.”</p>
+
+<p>„Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie
+sie etwa heiraten?”</p>
+
+<p>„Allerdings.”</p>
+
+<p>„Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist aber
+doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie dazu?”</p>
+
+<p>„Sie ist einverstanden.”</p>
+
+<p>Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot im Gesicht und
+rief aus:</p>
+
+<p>„Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht
+dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem
+armen Teufel durch das Leben schindet! Die kann andere
+Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten,
+der, wenn es gut geht, nur von seiner Berühmtheit und nur
+vom Hunger lebt!”</p>
+
+<p>„Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?” fragte
+ich. „Das würde ich gelten lassen!”</p>
+
+<p>„Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen
+Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das Zuchthaus
+gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz andere
+Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!”</p>
+
+<p>Er rief das sehr laut aus.</p>
+
+<p>„Oho!” antwortete ich.</p>
+
+<p>„Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole Ihnen, Sie
+bekommen meine Tochter nicht!”</p>
+
+<p>Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck zu
+verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. Es juckte
+mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die Achsel zu legen
+und ihm lachend zu sagen: „Gut, so behalten Sie sie!” Aber
+dagegen bäumte sich das väterliche Erbteil in mir auf,
+der zähe, unbedachte Zorn, der niemals das Richtige tut. Ich
+brauste nun auch auf:</p>
+
+<p>„Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!”</p>
+
+<p>„Versuchen Sie das!”</p>
+
+<p>„Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde es tun,
+wirklich tun!”</p>
+
+<p>Da lachte er.</p>
+
+<p>„Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte mir von
+jetzt an jeden Besuch!”</p>
+
+<p>„Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage Ihnen im
+voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu mir kommen und
+mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt aber leben Sie wohl!”</p>
+
+<p>„Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!”</p>
+
+<p>Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte sie seiner
+Tochter. Die lauteten: „Entscheide zwischen mir und Deinem
+Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; wählst Du
+mich, so komm sofort nach Dresden!” Dann reiste ich ab. Sie
+wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen
+hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich
+fühlte mich als Sieger. Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe,
+die zwei erwachsene, hochgebildete Töchter besaß.
+Durch den Umgang mit diesen Damen wurde es ihr möglich, sich
+Alles, was sie noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von
+da aus bekam sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft
+führen zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit
+sehr gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr
+anständige Honorare. Ich hatte mit meinen
+„Reiseerzählungen” begonnen, die sofort in Paris und Tours
+auch in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich
+herum; das imponierte sogar dem „alten Pollmer”. Er hörte
+von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender,
+vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da schrieb er an seine
+Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen
+verlassen hatte, und forderte sie auf, nach Hohenstein zu kommen,
+ihn zu besuchen, mich aber mitzubringen. Sie erfüllte ihm
+diesen Wunsch, und ich begleitete sie. Aber ich ging nicht zu
+ihm, sondern nach Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach
+mir; ich aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt
+habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse er
+persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!</p>
+
+<p>Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von
+mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt,
+daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen
+werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese
+Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen worden
+war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer Verheiratung bei ihm in
+Hohenstein zu bleiben. Ich hatte nichts dagegen und gab mein
+Logis in Dresden auf, um bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es
+war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und
+äußerer Entwicklungen für mich. Ich schrieb und
+machte Reisen. Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr
+ich, kaum aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der
+„alte Pollmer” gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen.
+Ich eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel gesagt. Er
+war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber weder sprechen noch
+sich bewegen. Sein Enkelkind saß in einer seitwärts
+liegenden Stube bei einer klingenden Beschäftigung. Sie
+hatte nach seinem Gelde gesucht und es gefunden. Es war nicht
+viel; ich glaube kaum zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort,
+zu dem Kranken hinüber. Er erkannte mich und wollte reden,
+brachte es aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem
+Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde Arzt.
+Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen untersucht, tat
+dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, daß alle
+Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt hatte, glitt die
+Tochter des Sterbenden vor mir nieder und bat mich, sie ja nicht
+zu verlassen. Ich versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich
+habe sogar noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt,
+in Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine Etage des
+oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich leben
+können, wenn uns ein solches Glück beschieden gewesen
+wäre.</p>
+
+<p>Ich schrieb damals schon einige Jahre für Pustet in
+Regensburg, in dessen „Deutschem Hausschatz” meine
+„Reiseerzählungen” erschienen. Die Firma Pustet ist eine
+katholische und der „Deutsche Hausschatz” ein katholisches
+Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war
+mir höchst gleichgültig. Der Grund, warum ich dieser
+hochanständigen Firma treugeblieben bin, war kein
+konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher.
+Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei der
+zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur Vinzenz
+Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine
+Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen Verlag
+senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren
+Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe er
+sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel Geld! Es
+wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem ein solches
+Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden darauf ein. Rund
+zwanzig Jahre lang ist das Honorar, wenn ich das Manuskript heute
+zur Post sandte, genau übermorgen eingetroffen. Ich erinnere
+mich keines einzigen Males, daß es später gekommen
+wäre. Und niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch
+nur die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe nie
+mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und als Pustet es
+mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus eigenem, freiem
+Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf bezüglichen
+Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern bleibt man
+treu, auch ohne nach ihrem Glauben und ihrer Konfession zu
+fragen.</p>
+
+<p>Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für
+mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt
+waren und sicher an- und aufgenommen wurden. Das machte es mir
+möglich, meine auf die „Reiseerzählungen”
+bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es war
+mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit hinaus
+sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen dann
+später in Buchform herausgeben würde, war eine Frage,
+die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt feindselige
+Menschen, welche behaupten, daß ich mich nur um des Geldes
+willen an diesen katholischen Verlag herangemacht habe. Das ist
+eine Unwahrheit, für deren Gewissenlosigkeit und
+Verwerflichkeit ich keine Worte finde. Ich habe ganz das
+Gegenteil von dem getan, dessen man mich da beschuldigt. Ich habe
+dem „Deutschen Hausschatz” und seinem Herausgeber Opfer
+gebracht, von deren Größe die Familie Pustet keine
+Ahnung hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef
+Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem
+ich sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich schrieb. Es
+handelte sich um die bei Spemann in Stuttgart erscheinende Revue
+„Vom Fels zum Meere”, für welche ich mitgearbeitet habe.
+Der Brief lautet wie folgt:</p>
+
+<p class="center">
+„Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="letter">
+Sie haben inzwischen schon wieder für andere
+Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich mit
+dem längst Versprochenen noch immer im Stiche ließen.
+Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte Sie dringend, nun
+Ihr Versprechen mir gegenüber wahr zu machen. Ich will diese
+Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen,
+ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden,
+fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich
+würde  I h n e n  in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend
+Mark pro „Fels”-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas
+Derartiges schreiben würden.</p>
+
+<p class="center">
+In vorzüglicher Hochachtung
+</p>
+
+<p class="right">
+Ihr ergebenster          <br/>
+Josef Kürschner.
+</p>
+
+<p>Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war gegen diese
+tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich scheue, seinen
+Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet trotzdem vorgezogen habe,
+so ist das ein gewiß wohl mehr als hinreichender Beweis,
+daß ich für den „Hausschatz” nicht geschrieben habe,
+um „mehr Geld zu machen, als ich von Andern bekam”. Auch meine
+andern Verleger zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß
+ich, um diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen,
+hiermit konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner
+Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich
+habe, der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet
+zurück zu Münchmeyer zu wenden.</p>
+
+<p>Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau auf einer
+Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte ihr Münchmeyer so
+lebhaft geschildert, daß sie sich ein ganz richtiges Bild
+von ihm machen konnte, obgleich sie ihn noch nicht gesehen hatte.
+Sie wünschte aber sehr, ihn kennen zu lernen, von dem ihr
+auch Andere gesagt hatten, daß er ein hübscher Kerl,
+ein glanzvoller Unterhalter und für schöne Frauen
+begeistert sei. Er pflegte in dieser Jahreszeit um die
+Dämmerstunde in einer bestimmten Gartenrestauration zu
+verkehren. Als ich ihr das sagte, bat sie mich, sie
+hinzuführen. Ich tat es, obgleich es mir widerstrebte, ihm
+diejenige zu zeigen, die ich seiner Schwägerin vorgezogen
+hatte. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast
+im ganzen Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig;
+das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch
+geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar so
+zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den Kopf
+in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich froh
+und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er machte mir in
+seiner Kolportageweise die unmöglichsten Komplimente, eine
+so schöne Frau zu haben, und meiner Frau gratulierte er in
+denselben Ausdrücken zu dem Glück, einen so schnell
+berühmt gewordenen Mann zu besitzen. Er kannte meine
+Erfolge, übertrieb sie aber, um uns beiden zu schmeicheln.
+Er machte Eindruck auf meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er
+begann, zu schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden.
+Sie sei schön wie ein Engel, und sie solle sein
+Rettungsengel werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in
+seiner jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten,
+indem sie mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und
+nun erzählte er:</p>
+
+<p>Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen
+passenden Redakteur für die von mir gegründeten
+Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren.
+Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab;
+sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte
+überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust,
+und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder
+Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe
+soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen
+oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien
+wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse
+er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch
+einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute
+Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in
+seinen Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese
+derben Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau
+vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch
+zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise
+vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen
+schlimmen Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles
+außerordentlich gut gestanden; aber daß ich seine
+Schwägerin nicht habe heiraten wollen und aus der Redaktion
+gegangen sei, das habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das
+wieder gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu
+verpflichtet, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.</p>
+
+<p>Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich gar
+wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte damals meine
+Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau Münchmeyer zu
+heiraten, für so selbstverständlich gehalten, daß
+überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß ich
+den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen,
+sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche
+Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld
+trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz
+dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß
+wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde auseinander
+gegangen waren. Es konnte also wohl einen geschäftlichen,
+nicht aber einen persönlichen Grund geben, seinen Wunsch
+zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher Beziehung
+lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. Zeit hatte ich;
+ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In dem Umstand, daß
+Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für
+mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen
+Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas
+Besseres sein, eine organische Folge von Reiseerzählungen,
+wie ich sie Pustet und anderen Verlegern lieferte. Tat ich das,
+so war damit zugleich auch meinem Lebenswerke gedient, und ich
+konnte das, was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso
+später für mich in Bänden erscheinen lassen, wie
+das für meine Hausschatzerzählungen bestimmt worden
+war.</p>
+
+<p>Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während
+Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. Ich
+erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht
+entschließen können, den gewünschten Roman zu
+schreiben, doch nur unter der Bedingung, daß er nach einer
+bestimmten Zeit mit sämtlichen Rechten wieder an mich
+zurückfalle. Es dürfe an meinem Manuskripte absolut
+kein Wort geändert werden; das wisse er ja von früher
+her. Münchmeyer erklärte, hierauf einzugehen, doch
+möge ich ihn mit dem Honorar nicht drücken. Er sei in
+Not und könne nicht viel zahlen. Später, wenn mein
+Roman gut einschlage, könne er das durch eine „feine
+Gratifikation” ausgleichen. Das klang ja gut. Er bat, ihm keine
+Zeit zu setzen, an welcher der Roman wieder an mich
+zurückzufallen habe, sondern lieber eine Abonnentenzahl,
+nach welcher, sobald sie erreicht worden sei, er aufzuhören
+und mir meine Rechte wiederzugeben habe. Er berechnete, daß
+er mit sechs- bis siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung
+komme; was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug
+ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, solle
+Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten gehen
+dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine „feine
+Gratifikation” zu zahlen, und der Roman falle mit allen Rechten
+an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das entsprechende
+Honorar bei ihm oder bei einem anderen Verleger weiter erscheinen
+lasse, sei lediglich meine Sache. Hierauf ging Münchmeyer
+sofort ein, ich aber gab meine Zusage noch nicht definitiv; ich
+erklärte, mir die Sache erst noch reiflich überlegen
+und meine Entscheidung dann morgen geben zu wollen.</p>
+
+<p>Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser Hotel,
+um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, halb freiwillig
+und halb gezwungen. Meine Frau hatte nicht nachgelassen, bis ich
+ihr das Versprechen gab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er
+bekam den Roman zu den erwünschten Bedingungen, nämlich
+nur bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er
+für die Nummer 35 Mark zu bezahlen und beim Schluß
+eine „feine Gratifikation”. Er gab den Handschlag. Unser
+Kontrakt war also kein schriftlicher, sondern ein
+mündlicher. Er sagte, wir seien beide ehrliche Männer
+und würden einander nie betrügen. Es klinge für
+ihn wie eine Beleidigung, von ihm eine Unterschrift zu verlangen.
+Ich ging aus zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich
+erstens durften nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel
+eines Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt
+werden; Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich
+sein wollte, nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens
+konnte ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht
+und unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine
+Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so
+einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles
+enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das habe ich
+denn auch getan und seine Antworten mir heilig aufgehoben.</p>
+
+<p>Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort
+beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst nach
+Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine Frau
+trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er hatte eine
+persönliche Vorliebe für den nichtssagenden Titel „Das
+Waldröschen”. Ich ging auch hierauf ein, hütete mich
+aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen zu machen. Schon
+nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman
+„ging”. Dieses „ging” ist ein Fachausdruck, welcher einen
+nicht gewöhnlichen Erfolg bedeutet. Ich bekam weder
+Korrektur noch Revision zu lesen, und das war mir ganz lieb, denn
+ich hatte keine Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil
+sie mich verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare
+nach Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit war
+ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine Gelegenheit,
+mein Originalmanuskript mit dem Druck zu vergleichen, aber das
+machte mir keine Sorge. Es war ja bestimmt worden, daß mir
+kein Wort geändert werden dürfe, und ich besaß
+damals die Vertrauensseligkeit, dies für genügend zu
+halten.</p>
+
+<p>Der Erfolg des „Waldröschens” schien nicht nur ein
+guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer
+zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er schrieb
+wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer Zeit
+für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman
+so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte
+den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben,
+sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner
+Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken mit
+Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell
+wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich
+keineswegs. Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit
+mehr und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem
+Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, dieser
+Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, an der ich
+geboren worden war, seßhaft niedergelassen, sondern mir
+auch eine Frau von dort genommen. Ich war für einige Zeit
+geneigt gewesen, den Inhalt dieser Buchstelle als Aberglauben zu
+betrachten, sah sie aber gar bald wieder mit dem Auge des
+Psychologen an und wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen
+gezwungen, einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer
+unbedingt leichter über trübe Gewässer
+hinüberlangt, als wenn er eine zweite Person mitzunehmen
+hat, die weder schwimmen kann noch schwimmen will. Darum war mir
+diese Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht
+nicht nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir
+Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da
+sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es
+entwickelte sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr
+zwischen ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast
+keine Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell
+vorwärts, und sein Erfolg wuchs derart, daß
+Münchmeyer mich bat, noch einen zweiten und womöglich
+noch einige weitere zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß
+meine Entscheidung über diesen seinen Wunsch eine für
+mich hochwichtige sei und daß sie mir, falls sie bejahend
+ausfallen sollte, zu einer Quelle unsagbaren Elendes und
+unaussprechlicher Qual werden könne. Ich betrachtete nur die
+angeblichen Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.</p>
+
+<p>Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus meinen
+literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte diese
+Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. Er
+erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht
+ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm
+aufgab. Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein freier
+Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, das zu tun, was
+ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich brauchte das, was ich
+schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge
+auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg
+hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman
+erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte
+mich. Hierzu kam das beständige Zureden meiner Frau, welche
+die geringen Einwände, die ich zu erheben hatte, sehr leicht
+zum Schweigen brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch
+einige Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen
+wie das „Waldröschen”. Diese Arbeiten hatten mir also auch
+nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten mit allen Rechten wieder
+zuzufallen, und dann war mir eine „feine Gratifikation” zu
+zahlen. Es gab nur eine einzige Aenderung, nämlich die,
+daß ich für diese Romane ein Honorar von fünfzig
+Mark pro Heft bezog, anstatt nur fünfunddreißig bei
+dem „Waldröschen”.</p>
+
+<p>Infolge dieser Abmachungen begann für mich von jetzt an
+eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, zugleich aber
+auch nicht ohne tiefe Beschämung denken kann. Ich frage
+nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit blamiere; meine
+Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter nichts. Es war ein
+fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich damals arbeitete. Ich
+brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach
+Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von
+ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu
+finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig
+durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu
+schreiben. Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich
+weder rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war
+es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es
+für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das,
+welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so viel
+und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß
+ermöglichte es mir, zu vergessen, daß ich mich in
+meinem Lebensglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer
+lebte, als es vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe,
+innere Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede
+auszufüllen, zu rastlosem Fleiße und machte mich
+leider gleichgültig gegen die Notwendigkeit,
+geschäftlich vorsichtig zu sein. Es kam bei Münchmeyer
+so viel vor, was mich veranlassen konnte, auf der Hut zu sein,
+daß mehr als genugsam Grund vorlag, die Zukunft und
+Integrität alles dessen, was ich für ihn schrieb, so
+sicher wie möglich zu stellen. Daß ich hieran nicht
+dachte, war ein Fehler, den ich zwar entschuldigen, mir aber
+selbst heut noch nicht verzeihen kann.</p>
+
+<p>Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. Er hatte sich
+in Blasewitz eine Art Gar<tt>&ccedil;</tt>onlogis gemietet, um
+seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns verbringen zu
+können. Er kam auch an Abenden der andern Tage und brachte
+fast immer seinen Bruder, sehr oft auch andere Personen mit. Er
+wünschte zwar, daß ich mich dadurch ja nicht in meiner
+Arbeit stören lassen möge, doch konnte mich das nicht
+hindern, Herr meiner Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies
+nicht mehr möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und
+aus Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue Wohnung
+lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen, und mein
+neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und
+Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm
+und überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause.
+Grad das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und
+äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte.
+Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür
+aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen von
+Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen durch
+Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen waren ihr vom Arzt
+geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte. Ich
+mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil
+dies der Wunsch meiner Frau war, deren Gründe ich leider
+nicht zu würdigen verstand. Sie fand sich nicht in die
+Abgeschiedenheit unserer jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit
+dem Wirte. Ich mußte kündigen. Wir zogen aus, nach
+einer Radauwohnung des amerikanischen Viertels, die über
+einer Kneipe lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da
+wurde sie krank. Der Arzt riet ihr sehr frühe
+Spaziergänge nach dem großen Garten, dem weltbekannten
+Dresdener Park. Solchen ärztlichen Verordnungen hat man zu
+gehorchen. Es gab für mich keinen Grund, diese
+Spaziergänge zu verhindern, die morgens vier bis fünf
+Uhr begannen und ungefähr drei Stunden währten. Ich
+wußte nicht, daß Frau Münchmeyer auch nicht
+gesund war und daß auch sie von ihrem Arzt die Weisung
+erhalten hatte, frühe Morgenspaziergänge nach dem
+Großen Garten zu machen. Erst nach langer, sehr langer Zeit
+erfuhr ich, was während dieser Spaziergänge geschehen
+war. Meine Frau war mir nicht nur seelisch, sondern auch
+geschäftlich verloren gegangen. Die beiden Damen saßen
+tagtäglich früh morgens in einer Konditorei des
+großen Gartens und trieben eine Hausfrauen- und
+Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich erst später
+verspürte. Ich machte Schluß und zog von Dresden fort,
+nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt seiner
+Vorortsperipherie.</p>
+
+<p>Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane für
+Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf
+geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn man
+später vor Gericht behauptet hat, daß ich für
+Münchmeyer nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so
+bitte ich, mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und
+zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat.
+Hiermit sei für heut mit meiner „Kolportagezeit”
+abgeschlossen. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap07"></a>VII.<br/>
+Meine Werke.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich diejenigen meiner Bücher,
+mit denen sich die Kritik beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen,
+über welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen hat, können auch
+hier übergangen werden. Zu diesen gehören meine Humoresken, meine
+erzgebirgischen Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den
+Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu sein. Ich könnte hierzu
+auch noch meine „Himmelsgedanken” rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen
+scheint, seit es Herrn Herman <tt>[sic]</tt> Cardauns
+passierte, daß er sich mit ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb
+bekanntlich: „Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,”
+obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges lyrisches Gedicht
+befindet! Auch meine sogenannten „Union- oder Spemannbände” brauche ich hier
+nicht zu besprechen, weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur
+als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die einzigen Sachen sind,
+die ich für die Jugend geschrieben habe. Es handelt sich also nur um die
+Fehsenfeldschen „Reiseerzählungen” und um die bei Münchmeyer erschienenen
+„Schundromane”, welch letztere im nächsten Kapitel behandelt werden.
+</p>
+
+<p>Meine „Reiseerzählungen” haben, wie bereits
+erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel
+Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der
+Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege
+soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis
+des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die
+Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum
+beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der
+„Wüste”. In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der
+völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die
+Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das
+„Ich”, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die
+Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt,
+ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen
+Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten
+Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei,
+obgleich er schließlich zugeben muß, daß er
+noch niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo
+man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man sieht,
+daß ich ein echt deutsches, also einheimisches,
+psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand
+kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen
+zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte,
+daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also
+bildlich resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus
+oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. Meine Bilder
+sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter ihnen gar
+nichts Mystisches zu verstecken vermag.</p>
+
+<p>Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt und auch
+seinen Vater und Großvater noch als Hadschis hinten
+anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich für
+die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst zu
+wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen hat. Dies
+geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im
+gelehrten Leben alltäglich, aber man ist derart blind
+für diesen Fehler, daß ich eben arabische Personen und
+arabische Zustände herbeiziehen muß, um diese blinden
+Augen sehend zu machen. Ich schicke darum diesen Halef gleich in
+den ersten Kapiteln nach Mekka, wodurch seine Lüge zur
+Wahrheit wird, weil er nun wirklich Hadschi ist, und lasse ihn
+dann sofort seine „Seele” kennen lernen -- -- -- Hannah <tt>[sic]</tt>, sein Weib.</p>
+
+<p>Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem ersten
+Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und wie man meine
+Bücher lesen muß, um ihren wirklichen Inhalt kennen zu
+lernen. Ein zweites Beispiel mag folgen: Kara Ben Nemsi befindet
+sich bei dem persischen Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll
+von dem Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der Ustad,
+der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum Schah, um ihn um
+Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat aber den Schah noch nicht
+erreicht, so kommen ihm schon die Heerscharen desselben entgegen,
+die ihm sagen, daß sie vom Schah gesandt worden seien, den
+Dschamikun Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des
+Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah ist
+aber Gott, und so interpretiere ich durch diese Erzählung
+die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: „Euer Vater
+weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn bittet!”
+Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl May, und die
+Dschamikun sind das Volk seiner Leser, welches von den Sillan
+vernichtet werden soll. Ich erzähle also rein deutsche
+Begebenheiten im persischen Gewande und mache sie dadurch
+für Freund und Feind verständlich. Ist das nicht
+Gleichnis? Nicht bildlich? Gewiß! Und ist es etwa mystisch?
+Nicht im Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so
+wenig mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das
+Erstere bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch
+erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will.
+Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher Absicht
+an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres finden,
+daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. Und ist
+er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben ihm ganz sicher
+die zahlreichen Himmelsmärchen nicht verborgen, die in
+diesen Gleichnissen eingestreut liegen und den eigentlichen,
+tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen zu bilden haben.
+Diese Märchen sind es auch, aus denen sich mein eigentliches
+Lebenswerk am Schlusse meiner letzten Tage zu entwickeln hat.</p>
+
+<p>Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi
+Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von
+der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals wiedergefunden
+werden kann, außer sie findet sich selbst. Und dieser
+Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May!
+Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine
+eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und
+so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden
+ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich gewisse
+Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht werden,
+keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es einmal wagen, so
+offen über sich selbst zu sprechen wie ich über mich,
+so würde das sogenannte Karl May-Problem schon längst
+in jenes Stadium getreten sein, in welches es zu treten hat, mag
+man wollen oder nicht. Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein
+Gleichnis. Es ist nichts Anderes, als jenes große,
+allgemeine Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon
+ungezählte Millionen gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares
+zu erreichen. Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir
+herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der traurigen
+Karikatur, als die ich in den Gehirnen und in den Schriften Derer
+lebe, die sich berufen wähnen, Probleme zu lösen, dies
+aber immer nur da tun, wo keine vorhanden sind.</p>
+
+<p>Ich nenne ferner das Märchen von „Marah Durimeh”, der
+Menschheitsseele, von „Schakara”, der edlen, gottgesandten
+Frauenseele, der ich die Gestalt meiner jetzigen Frau gegeben
+habe. Das Märchen vom „erlösten Teufel”, vom
+„eingemauerten Herrgott”, vom „versteinerten Gebete”, von den
+„verkalkten Seelen”, von den „Rosensäulen des
+Beit-Ullah”, von dem „Sprung in die Vergangenheit”, von der
+„Dschemma der Lebendigen und Toten”, von der „Schlacht am
+Dschebel Allah”, vom „Mahalamasee”, vom „Berg der
+Königsgräber”, vom „Mir von
+Dsch<tt>&icirc;</tt>nnistan”, vom „Mir von Ardistan”, von der
+„Stadt der Verstorbenen”, vom „Dschebel Muchallis”, von der
+„Wasserscheide von El Hadd” und noch viele, viele andere. Wie
+man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren
+Inhalte meine Bücher als „Jugendschriften” und mich als
+„Jugendschriftsteller” bezeichnen kann, würde
+unbegreiflich sein, wenn man nicht wüßte, daß
+Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen
+oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst „Winnetou”, der
+so leicht zu lesen zu sein scheint, bedarf, wenn er sich im
+vierten Bande zum Schlusse neigt, eines Nachdenkens und eines
+Verständnisses, welches doch gewiß keinem Quartaner
+und keinem Backfisch zuzutrauen ist! Wenn man trotzdem noch
+ferner bei den Ausdrücken „Jugendschriften” und
+„Jugendschriftsteller” bleibt, so muß ich das als einen
+gewollten Unfug bezeichnen, zu dem sich kein anständiger,
+ernster Kritiker hergeben wird.</p>
+
+<p>Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu,
+daß meine „Reiseerzählungen” nicht als
+Jugendschriften verfaßt worden sind, so ist der jetzt
+landläufig gewordenen Behauptung, daß sie
+schädlich sind, aller Boden entzogen. Es lese sie doch nur
+der, dem sie nicht schädlich sind; ich zwinge ja keinen
+Andern dazu! Weshalb und wozu die Vorwürfe alle, die man mir
+jetzt in hunderten von Zeitungen macht? Sieht man sich diese
+Vorwürfe aber genauer an, so verlieren sie allen Wert.
+Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist so
+Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder in das
+Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht nur Mode, sondern
+Mache! Selbst wenn meine Bücher jetzt von keinem Menschen
+mehr gelesen würden, könnte mich das doch nicht im
+Geringsten beunruhigen, denn ich weiß, daß man sehr
+bald hinter diese Mache kommen und sich demgemäß
+verhalten wird. Ja, hätte ich meinen Lesern bloß nur
+Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte ich von der
+Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder aufzutauchen, und
+würde ganz von selbst so verständig sein, mich darein
+zu ergeben. Aber <b>ich habe während meines „Lebens und
+Strebens” allzu viele und allzu große Fehler begangen, als
+daß ich so mir nichts, dir nichts untergehen und für
+immer verschwinden dürfte. Ich habe gutzumachen!</b> Was der
+Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu
+sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels
+erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod
+hinüberzunehmen, sondern sie schon hier zu bezahlen. Das
+will ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, ich
+behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem irdischen
+Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was es von mir
+zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr schuldig. Und was
+über diese von Menschen gestellten Paragraphen hinausgeht,
+das werde ich begleichen, indem ich das, was ich noch schreiben
+werde, dem großen Gläubiger widme, der ganz genau
+weiß, ob ich ihm mehr als jene Andern schuldig bin, die
+sich besser dünken als May.</p>
+
+<p>Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit
+sie mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber
+auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich mir
+keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen
+„Reiseerzählungen” erreicht habe, wird erst nach meinem
+Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, die aber
+selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen bekommt;
+veröffentlicht werden sie nicht. Man pries diese Werke und
+schwärmte für sie, bis es eines Tages einem
+gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu behaupten,
+daß ich außer ihnen auch noch andere, aber
+„abgrundtief” unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst wenn
+dies wahr gewesen wäre, hätte das die
+„Reiseerzählungen” weder innerlich noch
+äußerlich im Geringsten verändern können.
+Dennoch wurden sie von jenem Tage an zunächst mit
+Mißtrauen betrachtet, dann mehr und mehr verleumdet und
+endlich gar für direkt schädlich erklärt und aus
+den Bibliotheken gestoßen, in denen sie früher
+willkommen geheißen worden waren. Warum? Waren sie anders
+geworden? Nein! Hatten sich die bibliographischen
+Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze verändert? Nein!
+Waren die Bedürfnisse der Leser andere geworden? Auch nicht!
+Aber aus welchem Grunde denn sonst? Einfach einer Schund- und
+Kolportageklique wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie
+sich selbst auszudrücken pflegte, „kaput zu machen”. Aber
+ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique
+einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf
+Literatur und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe im
+nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte
+scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen
+Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu gebärden!
+Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen meiner
+Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang mit allen
+möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage aber noch
+nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten Vorwurf gemacht
+haben. Ich bezeichne das als eine Schande!</p>
+
+<p>Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich
+fünfzig Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das
+ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt.
+Ein einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, kann
+dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten, und es
+gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma Münchmeyer
+achtundfünfzig -- man lese und staune -- achtundfünfzig
+solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! Man rechne; man
+multipliziere! Welche Verluste! Welch eine ungeheure Summe von
+Gift und Unheil! Wie viel hunderte, ja tausende von Menschen
+arbeiten daran, dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und
+nun schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den
+Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich
+macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet,
+verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May, immer wieder
+Karl May und nur und nur Karl May! Wo sieht und liest man jemals
+einen andern Namen, als nur diesen einen? Was habe ich denn
+getan, daß man mich überhaupt zum Schunde zählt?
+Wo stecken die zweitausend wirklichen Schundschriftsteller,
+welche jahraus, jahrein rastlos dafür sorgen, daß in
+Deutschland und Deutschösterreich der Schund kein Ende
+nimmt? Vor Gericht, in „wissenschaftlichen” Werken, bei
+Kommissionssitzungen, in öffentlichen Vorträgen, von
+Schriftstellern, Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren,
+Künstlern, Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden
+Gelegenheiten, wo von „Jugendverderbnis” die Rede ist, da
+bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, nur er! Er ist der
+Typus der Jugendvergifter! Er ist der Vater aller ruchlosen
+Kapitän Thürmers, Nick Carters und Buffalo Bills! Mein
+Gott, wissen diese Herren denn wirklich nicht, was sie tun? Wie
+sie sich versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser
+wissen, von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen Fall,
+wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, daß Jemand
+durch eines meiner Bücher verdorben worden ist! Hunderte von
+Schundgeschichten der verderblichsten Art hat so ein Bube
+gelesen, dabei auch einen Band oder einige Bände von Karl
+May. Den kennt man, die Andern aber nicht; darum muß er es
+sein, dessen Namen man nennt und den man als Täter
+bezeichnet! Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus
+fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt,
+auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen
+Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das
+ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und
+vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum nennt man
+ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie nicht fest? Es gibt
+hunderte von Verlegern und Literaten, die wegen Verbreitung von
+unzüchtigen Schriften bestraft worden sind. Und noch
+größer ist die Zahl derer, die in voller Absicht
+Jugendschund herausgeben, nur um Geld zu machen. Warum nennt man
+sie nicht? Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem man
+ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke duldet? Warum
+wirft man sich nicht auf sie, sondern nur auf mich, den
+Sündenbock für den ganzen literarischen Mob? Sehr
+einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! Und es kann nichts
+Anderes als Mache sein, weil so viel, wie man auf mich wirft,
+kein Einzelner zu begehen vermag! Ich habe das im nächsten
+Kapitel des Näheren zu beleuchten.</p>
+
+<p>Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, sind bisher
+immer nur Behauptungen gewesen. Zu keiner von ihnen wurde ein
+wirklicher Beweis erbracht. Ich habe infolge dieser
+Anschuldigungen Ungezählte meiner Leser brieflich oder
+mündlich gefragt, ob es ihnen möglich ist, mir eine der
+Reiseerzählungen oder eine Stelle aus ihnen zu nennen, von
+der man behaupten darf, daß sie schädlich wirke. Es
+hat mir Niemand auch nur eine einzige derartige Zeile nennen
+können. Ist doch sogar meine unerbittlichste Gegnerin, die
+„Kölnische Volkszeitung”, gezwungen gewesen, mir das
+Attest auszustellen: „Alles für die Jugend
+Anstößige <b>ist sorgfältig vermieden,</b>
+obgleich Mays Werke <b>nicht etwa bloß für diese</b>
+bestimmt sind; <b>viele tausend Erwachsene</b> haben aus diesen
+bunten Bildern schon Erholung und Belehrung im reichsten
+Maße geschöpft!” Schon aus diesem Atteste geht die
+jetzige „Mache” hervor, denn meine Bücher sind seit jener
+Zeit genau dieselben geblieben, und derselbe Herr, der dieses
+öffentliche Zeugnis aus stellte <tt>[sic]</tt>, war der Erste, der dieser Mache
+erlag und hat sich seitdem nicht wieder aufrichten
+können.</p>
+
+<p>Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen mich
+erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung des
+nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion zu begehen,
+die mir der von mir hoch und aufrichtig verehrte Herr aber wohl
+verzeihen wird. Doktor Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli
+dieses Jahres aus Krieglach:</p>
+
+<p class="center">
+„Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="letter">
+Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der Charlottenburger
+Gerichtsverhandlung, und sobald wieder das Gericht, und zwar zu
+Ihren Gunsten, entscheidet, werde ich mit größter
+Freude davon Notiz nehmen.<br/>
+    Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als solcher
+möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine Meinung zu sagen
+darauf hin, in welcher Weise Sie sich am besten rechtfertigen
+könnten.<br/>
+    Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles
+ausschalten, was sich nicht sachlich auf die Anschuldigungen
+bezieht. Das, was Sie aus Ihrer Jugendzeit selbst eingestanden
+haben, ist damit wohl auch abgetan und würde Ihnen kaum ein
+rechtlich denkender Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das
+Gericht tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht
+persönlich erlebt haben, daß es nur Erzählungen
+in „Ichform” sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln.
+So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu
+erbringen, daß die berührten obszönen Stellen
+nicht Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was die
+Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen doch
+Sachverständige entscheiden können, inwiefern es
+Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete
+Stoffe und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben mit
+den neuen Auflagen verglichen, müßte doch klar zu
+stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und der Stil der neu
+eingefügten Sätze sich organisch an Ihre Art und an das
+Buch anschließen oder nicht. Auf solche Wirklichkeiten,
+meine ich, sollten Sie nun Ihre ganze Abwehr konzentrieren und
+ununterbrochen drängen, daß die Dinge endlich vor
+Gericht zur Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer
+Freunde, die nur so im Allgemeinen herumreden über die
+Vorzüge Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können
+für die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere
+Wirkung erzielen.<br/>
+    Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer gerichtlichen
+Genugtuung zu kommen. Gelingt das nicht, so ist absolutes
+Schweigen das Beste, und gelingt es, so muß doch auch die
+Presse Ihrer jetzigen Gegner die gerichtliche Ehrenrettung
+anerkennen und in das Volk tragen.<br/>
+    Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen Sie diese
+Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen entspringt, und seien Sie
+gegrüßt</p>
+
+<p class="center">
+von Ihrem ergebenen
+</p>
+
+<p class="right">
+ P e t e r   R o s e g g e r.”  
+</p>
+
+<p class="letter">
+Krieglach, 2. 7. 1910.
+</p>
+
+<p>Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende
+und human denkende geistige Aristokrat, das, was er über
+meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan betrachtet,
+versteht sich ganz von selbst. In derartigen Bodensätzen und
+Rückständen können nur niedrige Menschen waten.
+Hierdurch habe ja auch ich selbst schon längst meinen Strich
+gemacht und habe einen Jeden, der sich mit mir beschäftigt,
+nach dem Maße zu beurteilen, welches mir hier in Roseggers
+Brief gegeben wird. Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht
+verziehen; das ist im Himmel und auf Erden Recht.</p>
+
+<p>Was die „Obszönitäten” und den Nachweis betrifft,
+daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen
+Gegenstand im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier
+eine mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt.
+Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese
+unsittlichen Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir
+zu beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so
+selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen
+Richter einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der
+spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der
+Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der
+Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er
+unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten
+Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen
+Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für
+Münchmeyer das „Buch der Liebe” geschrieben zu haben. Wie
+kann ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall,
+es wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der
+wahnsinnige Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, daß
+Peter Rosegger den berüchtigten „Venustempel” geschrieben
+habe. Würde Rosegger den Beweis antreten, daß dies
+eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man die
+Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? Ich bin
+überzeugt, das Letztere. Und so thue <tt>[sic]</tt> auch ich. Ich verlange die Vorlegung
+meiner Originalmanuskripte. Einen andern Beweis kann es nicht
+geben.</p>
+
+<p>Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate
+betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: Der
+Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe von
+Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben und ihnen die
+Drohung vorangeschickt, daß er mir mit ihnen einen Strick
+drehen werde, um mich „aus dem Tempel der deutschen Kunst
+hinauszupeitschen”. Er hat sich da des richtigen Bildes bedient,
+denn jede seiner Behauptungen, mit denen er mich hierauf
+überschüttete, war nichts weiter als ein
+Peitschenknall, spitz, scharf, hart, lieblos und
+tierquälerisch, darum die Leser empörend und ohne
+Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer Knall mit der
+Knabenpeitsche war es auch, als er mich des Plagiates bezichtigte
+und sich erfolglose Mühe gab, die Wahrheit seiner Behauptung
+zu beweisen. Er sprach da wie ein Unwissender und konnte darum
+auch weiter nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit
+erreichen. Die „Grazer Tagespost” schreibt hierüber:</p>
+
+<p>„Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich
+unlängst in echt christlicher Demut selbst das
+schmückende Beiwort eines „anerkannten Kritikers”
+beilegte, hat die moralische Niederlage, die er in seiner
+Schimpfschlacht gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt,
+sehr bald vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder
+voll usw. usw.”</p>
+
+<p>Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten,
+ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch
+nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die
+ich schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen
+lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken
+entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht sehr
+häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann niemals
+Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, liegt nur
+dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile eines
+Gedankenwerkes aneignet und diese in der Art verwendet, daß
+sie dann wesentliche Bestandteile des Werkes des Plagiators
+bilden und dabei als seine eigenen Gedanken erscheinen. So Etwas
+habe ich aber nie getan und werde es auch nie tun. Geographische
+Werke können, besonders wenn sie geistiges Allgemeingut
+geworden sind, ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich
+nicht um das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen
+handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des
+Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In
+der Einleitung zum Voigtländerschen „Urheber- und
+Verlagsrecht” heißt es:</p>
+
+<p>„Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus sich
+selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was Andere vor ihm
+oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben haben. Dann erst, im
+besten Falle, beginnt seine ureigene Schöpfung. Selbst die
+am meisten schöpferische Tätigkeit, die des Dichters,
+steht dann am höchsten, erreicht dann ihre
+größten Erfolge, wenn sie die Weihe der
+künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich
+sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form ist
+ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird von der gebildeten
+Sprache geliefert, „die für dich dichtet und denkt”, und
+die Manchem, der sich Dichter zu sein dünkt, mehr als die
+Form, die ihm auch Gedanken oder deren Schein leiht. Kurz, der
+Schriftsteller und Künstler steht mit seinem Wissen und
+Können inmitten und auf der Kulturarbeit von Jahrtausenden.
+Goethe, auf einer einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht
+Goethe geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet,
+daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen Schritt hat
+weiter bringen können, weil er an das von den Vorfahren
+Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es nicht mehr als
+billig, <b>daß sein Werk zur gegebenen Zeit wieder Andern
+zu zwangslosem Gebrauche diene, nicht nur der Inhalt, sondern
+auch die Form.</b>”</p>
+
+<p>So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm ist nicht zu
+widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal begangen habe, was er
+hier gestattet, bin also vollständig gerechtfertigt. Ein
+anderer schreibt: „Alles ist mehr oder weniger Plagiat an
+errungener Kultur-, Geistes- oder Phantasieproduktion. Der
+Intellektadel, die obern Träger der Bildung und Kultur
+schöpfen ja doch alle mehr oder minder aus <b>einem</b>
+Reservoir, welches von den Leistungen Anderer, Früherer,
+Größerer gespeist worden ist.”</p>
+
+<p>In Nr. 268 der „Feder”, der Halbmonatsschrift für
+Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: „Aus den
+Fingern kann sich der popularwissenschaftliche <tt>[sic]</tt> Schriftsteller nun einmal nichts
+saugen, und bis zu einem gewissen Grade muß deshalb auch
+Jeder ein Plagiator sein. Wenn das eigentliche
+Gedankengebäude neu ist, dann ist man wohl berechtigt,
+passende Zierformen von schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach
+Emmerson ist <b>der größte Genius zugleich auch der
+größte Entlehner.</b> Es kommt da ganz auf das Wie an.
+<b>Man darf das Gute nehmen, wo man es findet,</b> wenn man einen
+großen Zweck damit erreichen will; aber man darf es sich
+nicht merken lassen; man muß mit dem Entlehnten etwas
+wirklich Neues hervorbringen.”</p>
+
+<p>Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner
+Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben hat.
+Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn aus und
+ließ das Stück ruhig unter seinem Namen erscheinen.
+Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied aus dem
+Freischütz: „Wir winden dir den Jungfernkranz” nicht von
+Weber, sondern von einem fast ganz unbekannten Gothaer
+Musikdirektor ist. Weber hörte es und nahm es in seinen
+Freischütz auf, ohne sich etwas aus der Gefahr zu machen,
+als Plagiator und Dieb bezeichnet zu werden. Shakespeare war
+bekanntlich der größte literarische Entwender, den wir
+kennen. Wenn es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen
+ginge, würden sogar verschiedene Verfasser biblischer
+Bücher als literarische Diebe bezeichnet werden müssen.
+So könnte ich noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen
+weiterführen, will mich aber damit begnügen, nur noch
+unsern Allergrößten, den Altmeister Goethe und den
+erfolgreichsten Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas
+anzuführen. Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er
+konnte ohne fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit
+über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist
+es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe „Der
+Goldkäfer” zu den spannendsten Stellen in seinem „Grafen
+Monte Christo” ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, so
+zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich unter der
+Ueberschrift „Goethe über das Plagiat” durch die Zeitungen
+ging:</p>
+
+<p>„Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage
+sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen,
+absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der er
+diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben Freund hat
+Jedermann, der den glücklich entdeckten Plagiator an den
+vermeintlichen Pranger stellt. Richard von Kralik ist
+unlängst des Plagiates beschuldigt worden, weil er -- ohne
+seine Schuld -- mangelhaft zitiert worden ist. Solchen
+Plagiatschnüfflern möchten wir die Ansicht Goethes
+über das Plagiat in das Gedächtnis rufen. Der
+Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und Eckermann am 18.
+Januar 1825 waren Lord Byrons angebliche Plagiate. Siehe
+„Eckermanns Gespräche mit Goethe”, 3. Auflage Band
+<tt>I</tt> S. 133. Da sagte Goethe: „Byron weiß sich auch
+gegen dergleichen, ihn selbst betreffende unverständige
+Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte
+sich stärker dagegen ausdrücken sollen. <b>Was da ist,
+das ist mein,</b> hätte er sagen sollen. <b>Ob ich es aus
+dem Leben oder aus dem Buche genommen habe, das ist gleichviel;
+es kam bloß darauf an, daß ich es richtig
+gebrauchte!</b> Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem
+„Egmont”, und er hatte ein Recht dazu, <b>und weil es mit
+Verstand geschah, so ist er zu loben.</b> So hat er auch den
+Charakter meiner „Mignon” in einem seiner Romane nachgebildet,
+ob aber mit ebenso viel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord
+Byrons „verwandelter Teufel” ist ein fortgesetzter
+Mephistopheles, und das ist recht. Hätte er aus origineller
+Grille ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen
+müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von
+Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir
+die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
+Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat
+daher auch die Exposition meines „Faust” mit der des „Hiob”
+einige Aehnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin
+deswegen eher zu loben als zu tadeln.”</p>
+
+<p>Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen. Was haben
+unsere Berühmtesten getan, ohne daß man sie
+beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich als den
+niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt? Ich habe,
+ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner kleinen,
+asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen
+geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, welche
+ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit
+angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes Recht.
+Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft mich
+öffentlich als einen <b>„Freibeuter auf
+schriftstellerischem Gebiete, für ewige Zeiten das
+Musterbeispiel eines literarischen Diebes!</b> Emerson, der
+Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika, sagt: „Der
+größte Genius ist zugleich auch der größte
+Entlehner”. Und Goethe sagt: „Was da ist, das ist mein. Ob ich
+es aus dem Leben oder aus dem Buche nehme, das ist gleich!” Wie
+hätte da wohl das entsprechende Urteil Pater Pöllmanns
+über diese beiden Heroen zu lauten? Sie hätten für
+ihn „für ewige Zeiten die schlimmsten aller literarischen
+Bestien” zu sein, stinkend vor Raubgier und Verworfenheit! Eine
+Kritik, die so unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend
+und so wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine
+Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das
+ganze Volk.</p>
+
+<p>Ich habe in diesen meinen „Reiseerzählungen” genau so
+geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, für die
+Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur für sie
+allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben ist, soll
+es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen und begreifen.
+Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder. Ein
+Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für Musterleser
+schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals sein und niemals
+werden. Haben wir es erst so weit gebracht, daß wir nur
+noch Musterautoren, Musterleser und Musterbücher haben, dann
+ist das Ende da! Ich bin so kühn, zu behaupten, daß
+wir uns nicht die vorhandenen Musterbücher, sondern den
+vorhandenen Schund zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen
+wollen, was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben.
+Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest,
+sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es
+verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen!
+Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke
+und Ziele. Schreibt für die große Seele! Schreibt
+nicht für die kleinen Geisterlein, für die Ihr Eure
+Kraft verzettelt und verkrümelt, ohne daß sie es Euch
+danken. Denn gebt Ihr Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall
+zu erringen, so behaupten sie doch, es besser zu können als
+Ihr, obgleich sie gar nichts können! Und schreibt nichts
+Kleines, wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure
+Augen empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es
+zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen wohnt das
+wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch Fehler macht, so
+viele Fehler und so große Fehler wie Karl May, das schadet
+nichts. Es ist besser, auf dem Wege zur Höhe zuweilen zu
+stolpern und diese Höhe aber doch zu erreichen, als auf dem
+Wege zur Tiefe nicht zu stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder
+gar erhobenen Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen
+Aequator immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst
+anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu
+sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale, hochgelegene
+Haltepunkte und Ziele.</p>
+
+<p>Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und laufe
+darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; aber ich
+befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und was
+ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche es nicht
+zu wiederholen. Und ich habe schon so viele steile Höhen zu
+überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich
+für einen jener armen Teufel halten kann, die immer auf
+ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt Leute, welche
+meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt Andere, welche sagen,
+ich habe keinen Stil; und es gibt Dritte, die behaupten,
+daß ich allerdings einen Stil habe, aber es sei ein
+außerordentlich schlechter. Die Wahrheit ist, daß ich
+auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. Ich schreibe nieder,
+was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie
+ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie, und ich
+feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein
+„Stil”, sondern meine Seele soll zu den Lesern reden. Auch
+befleißige ich mich keiner sogenannten künstlerischen
+Form. Mein schriftstellerisches Gewand wurde von keinem Schneider
+zugeschnitten, genäht und dann gar gebügelt. Es ist
+Naturtuch. Ich werfe es über und drapiere es nach Bedarf
+oder nach der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, was
+ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche
+Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will
+nicht fesseln, nicht den Leser von außen festhalten,
+sondern ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele,
+in sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann und
+darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen noch
+störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie mich die
+Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das haben
+mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt.
+Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich
+mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur allein
+durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine Leser nicht
+andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche
+stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen
+Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch
+höhere Form zu geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt
+skizziere ich noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie
+sind.</p>
+
+<p>Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten
+abgerechnet, in meinen Werken keine einzige Gestalt, die ich
+künstlerisch durchgeführt und vollendet hatte, selbst
+Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, über die ich doch am
+meisten geschrieben habe. Ich bin ja mit mir selbst noch nicht
+fertig, bin ein Werdender. Es ist in mir noch Alles in
+Vorwärtsbewegung, und alle meine inneren Gestalten, alle
+meine Sujets bewegen sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis
+ich es erreicht habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine
+Gedanken sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer Dichter
+und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer großen
+Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er innerlich reif
+geworden ist, aber ich bin auch in dieser Beziehung als Outsider
+zu betrachten, werde von Vielen sogar als Outlaw oder Outcast
+bezeichnet und darf mir darum noch lange nicht erlauben, was
+Andere sich gestatten. Was bei Andern selbstverständlich
+ist, das ist bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und
+was bei Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung gilt,
+das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein einziges Mal etwas
+künstlerisches schreiben wollen, mein „Babel und Bibel”.
+Was war die Folge? Es ist als „elendes Machwerk” bezeichnet und
+derart mit Spott und Hohn überschüttet worden, als ob
+es von einem Harlekin oder Affen verfaßt worden sei. Da
+weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt
+gewiß. Man kann wohl literarische Hanswürste
+beseitigen, nicht aber Geistesbewegungen unterdrücken, die
+unbesiegbar sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen
+aufzustellen, denen doch keine Folge gegeben würde.
+Unterlassen aber darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des
+hier berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein
+einziges, welches so deutlich spricht, daß ich ohne
+Weiteres auf alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein
+Verein, dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und
+Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich
+mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich
+stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die
+Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen
+kursierende Auskunft: „Hierseits wird zwar von dem weitern
+Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand genommen, und werden die
+Bücher nicht mehr durch unsere Verzeichnisse angeboten,
+damit wollen wir aber nicht sagen, daß der Inhalt der
+Mayschen Reiseerzählungen zu verwerfen ist, und wir muten
+auch den Vorständen unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese
+Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige
+ablehnende Stellungnahme gilt nicht den <b>Schriften,</b> sondern
+der <b>Persönlichkeit</b> des Verfassers. <b>Sie können
+also ohne Bedenken die Bände weiter ausleihen.</b>” Das
+genügt gewiß! Meinen Büchern ist nichts
+anzuhaben; meine Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum?
+Infolge jener „Mache”, von der ich schon weiter oben sprach.
+Denn man glaube ja nicht, daß die „Karl May-Hetze”, oder,
+ein wenig anständiger ausgedrückt, das „Karl
+May-Problem” eine literarische Angelegenheit sei. Es handelt
+sich hier keineswegs um schriftstellerische oder gar um ethische
+Gründe, sondern, die Sache beim richtigen Namen genannt, um
+eine rein persönliche Abschlachtung aus moralisch ganz
+niedrigen, prozessualen Gründen. Was man da von sittlichen
+und journalistischen Notwendigkeiten sagt, ist nichts als
+Spiegelfechterei, um die Wahrheit zu verstecken. Wollte man
+hierüber einen Roman schreiben, so könnte dieser der
+sensationellste aller Kolportageromane werden, und die
+Hauptpersonen würden folgende sein: Der Hauptredakteur a. D.
+<tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D.
+Pauline Münchmeyer in Dresden, der Franziskanermönch
+<tt>Dr.</tt> Expeditus Schmidt in München, der aus der
+christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf
+Lebius in Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar
+Pöllmann in Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse
+Münchmeyer, <tt>Dr.</tt> Gerlach in Niederlößnitz
+bei Dresden. Dieser Roman würde für die Beleuchtung der
+gegenwärtigen Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein
+und auch über andere Verhältnisse, gesellschaftliche,
+geschäftliche, psychologische, überraschende
+Streiflichter werfen. Es würde da viel Schmutz, sehr viel
+Schmutz zu sehen sein, der nichts weniger als appetitlich ist,
+und so will ich, da ich ihn auch hier zu erwähnen und zu
+zeigen habe, mich bemühen, so schnell wie möglich
+über ihn hinwegzukommen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap08"></a>VIII.<br/>
+Meine Prozesse.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt in seiner Parabel „Der
+Schatten” zum Dichter: „Sie wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und
+schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie
+wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem
+weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches
+Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in
+Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern
+und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, <b>daß wir Andern das leben, was Ihr
+Dichter schreibt.</b> Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches
+wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn Ihr es seid;
+wir sind unsittlich, wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach Eurem
+Glauben oder Eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder
+leichtfertig, wie es die Weiber sind, die Ihr verherrlicht.”
+</p>
+
+<p>Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht
+ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die
+seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit
+größern, entweder schaffenden oder zerstörenden,
+reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten
+Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie
+behauptet, nämlich „Nicht Einzelwesen, Drama ist der
+Mensch”, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers
+unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur
+eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt bin,
+bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung bewußt,
+welche auf uns Schreibenden ruht, sobald wir zur Feder greifen.
+So oft ich dieses Letztere tue, tue ich es in der aufrichtigen
+Absicht, als Schaffender nur Gutes, niemals aber Böses zu
+schaffen. Man kann sich also denken, wie erstaunt ich war, als
+ich erfuhr, daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer
+„abgrundtief unsittliche” Bücher geschrieben haben solle.
+Der Ausdruck „abgrundtief unsittlich” ist von Cardauns, dessen
+Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den
+übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist
+dann Alles nicht nur erwiesen, sondern „zur Evidenz erwiesen”,
+nicht ausgesonnen, sondern „raffiniert ausgesonnen”, nicht
+entstellt, sondern „bis zur Unkenntlichkeit entstellt”. Darum
+genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, weil sie
+angeblich von mir waren, das einfache Wort „unsittlich” nicht,
+sondern es war ganz selbstverständlich, daß sie gleich
+„abgrundtief unsittlich” sein mußten.</p>
+
+<p>Die erste Spur von diesen meinen „Unsittlichkeiten” tauchte
+drüben in den Vereinigten Staaten auf. Kommerzienrat Pustet,
+welcher da drüben Filialen besitzt, schrieb mir von diesem
+Gerücht und wünschte, daß ich mich darüber
+äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, daß ich
+von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache untersuchen
+lassen werde, wenn es sein müsse sogar gerichtlich. Das
+Resultat werde ich ihm dann mitteilen. Damit war für ihn die
+Sache abgemacht. Er war ein Ehrenmann, ein Mann von Geist und
+Herz, dem es niemals eingefallen wäre, durch
+Hintertüren zu verkehren. Wir hatten einander gern. Auf ihn
+fällt ganz gewiß auch nicht die geringste Spur von
+Schuld an der unbeschreiblich schmutzigen und widerlich
+leidenschaftlichen Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus
+Amerika kam, hatte ich zunächst drüben zu
+recherchieren. Das erforderte lange Zeit, und es war mir
+unmöglich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte
+nur, daß sich das Gerücht auf meine
+Münchmeyerschen Romane bezog, doch fand ich Niemand, der
+imstande war, mir die Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in
+denen die Unsittlichkeit lag. Und auf ein bloßes, vages
+Gerücht hin alle fünf Romane, also ungefähr
+achthundert Druckbogen nach Dingen, die ich gar nicht kannte,
+mühsam durchzuforschen, dazu hatte ich keine
+überflüssige Zeit, und das war mir auch gar nicht
+zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich anzuklagen, der
+mußte die unsittlichen Stellen genau kennen und war
+verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf wartete ich. Es meldete
+sich aber Keiner, der es tat. Auch Pustet tat es nicht.
+Wahrscheinlich kannte er die angeblichen Unsittlichkeiten ebenso
+wenig als ich. Leider war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm
+meine Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste
+Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. Dieser
+hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend gekürzt, ohne
+mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe Korrekturen und
+Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll mich so kennen
+lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern und Schwächen, nicht
+aber wie der Redakteur mich zustutzt. Darum teilte ich Pustet
+mit, daß er von mir kein Manuskript mehr zu erwarten habe.
+Er versuchte, mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam
+er, der alte Herr, persönlich nach Radebeul. Das war
+rührend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann
+seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben
+negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die sich
+an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der Richtige,
+Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, daß es nie wieder
+geschehen solle, und daraufhin nahm ich meine Absage zurück.
+Man hat mir das von gewisser Seite bis heut noch nicht vergessen.
+Man drückt das folgendermaßen aus: „Heinrich Keiter
+hat Kotau vor Karl May machen müssen.” Ich besitze
+hierüber Zuschriften aus nicht gewöhnlichen
+Händen. Aber er trug selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe
+Heinrich Keiter geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne
+alle seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich
+damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging nicht anders.
+Ich mußte die Buchform meiner „Reiseerzählungen”
+nach dem Texte des „Hausschatzes” drucken lassen und durfte
+darum nicht zugeben, daß an meinen Manuskripten
+herumgeändert wurde.</p>
+
+<p>Später schrieb ich für Pustet meinen
+vierbändigen Roman „Im Reiche des silbernen Löwen”.
+Ich war grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da
+bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel des
+„Hausschatzes” geschickt, dessen Inhalt mich veranlaßte,
+meine damalige Absage zu wiederholen. Ich telegraphierte Pustet,
+daß ich mitten in der Arbeit aufhören müsse und
+kein Wort weiter für ihn schreiben werde. Er mußte mir
+sogar das in seinen Händen befindliche, noch ungedruckte
+Manuskript wieder senden, wofür ich ihm das darauf
+entfallende Honorar wiederschickte. Ich würde hierüber
+kein Wort verlieren, wenn mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings
+von sehr unmaßgeblicher Seite, mit Enthüllungen aus
+jener Zeit gedroht worden wäre. Ich habe darum die
+Gelegenheit wahrgenommen, hier die Wahrheit festzustellen. Und
+ich stelle zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn
+Kommerzienrat Pustet niemals persönlich gebrochen habe und
+eine aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er nach einer
+Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen
+Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat
+<tt>Dr.</tt> Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in
+München sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter
+des „Hausschatzes” zu werden. Ich habe ihm daraufhin den „Mir
+von Dschinnistan” geschrieben.</p>
+
+<p>Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der
+Cardaunsschen „abgrundtiefen Unsittlichkeit” vorausgeeilt und
+kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit auf Grund
+und Wurzel zu gehen. Der Grund heißt Münchmeyer, und
+die Wurzel heißt ebenso. Die hierher gehörigen
+Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange Kette,
+deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch innig
+ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist erwiesen. Einiges
+liegt noch in den Akten, um an das Tageslicht gezogen zu werden.
+Ich bin nicht gewillt, den laufenden Prozessen vorzugreifen, und
+werde also nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle
+Klarheit herrscht.</p>
+
+<p>Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine
+Vorstrafen kannte. Er wußte sogar Alles, was man
+hinzugelogen hatte. Er wünschte sehr, daß ich einen
+Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber
+entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und Bekannten
+meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern ganz unbefangen
+davon erzählt und meine Ansichten über Verbrecher und
+Verbrechen, Schuld, Strafe und Strafvollzug ausführlich
+dargelegt. Kein einziges Glied der Münchmeyerschen Familie
+darf behaupten, nicht davon gewußt zu haben. Auch die
+Arbeiter der Firma erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern,
+ebenso die mitarbeitenden Schriftsteller. „May ist bestraft; er
+hat gesessen,” das drang bald leiser, bald lauter, aber
+überall durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von
+plötzlichen „Enthüllungen” oder gar von meiner
+„Entlarvung” zu sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt,
+der lügt.</p>
+
+<p>Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz
+ausgesprochene geschäftliche Vorliebe grad für
+bestrafte Mitarbeiter hatte. Geht man die Schriftsteller und
+Schriftstellerinnen durch, die für ihn geschrieben haben, so
+bilden die Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von
+ihnen. Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm
+eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von dem er
+alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war vorbestraft.
+Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion brachte er mir einen
+Wiener Postbeamten, der sich an der Kasse vergriffen hatte, als
+Mitarbeiter. Als sich ähnliche Fälle wiederholten und
+ich ihn nach seinen Gründen fragte, antwortete er: „Mit
+einem Schriftsteller, der bestraft worden ist, kann man machen,
+was man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen
+verraten werden.” „Also auch ich?!” rief ich aus, erstaunt
+über diese Aufrichtigkeit. „Unsinn!” entgegnete er. „Mit
+Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde! Und Sie sind
+doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit sich machen
+läßt, was man will! Selbst wenn ich Sie nicht
+aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den
+Kürzern!” Er gab sich Mühe, das in mir erwachte
+Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz
+verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich
+kündigte und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion
+aufgab. Auch später, als ich nach sechs Jahren das
+„Waldröschen” für ihn zu schreiben begann, tauchte
+dieses Bedenken gegen ihn wieder in mir auf. Aber die
+Ausnahmestellung, die er mir persönlich und
+geschäftlich bei sich einräumte, das Ausnahmehonorar,
+welches er mir zahlte, und vor allen Dingen die Einwürfe,
+die mir meine Frau bei jeder Gelegenheit gegen mein
+Mißtrauen machte, das alles wirkte dahin, daß ich
+schließlich zu meinem früheren Vertrauen
+zurückkehrte.</p>
+
+<p>Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen keine
+Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte nicht mehr
+zurückbekam, habe ich bereits erwähnt. Ich konnte also
+nicht kontrollieren, ob der Druck mit meinem Originalmanuskript
+übereinstimmte. Doch war mir hier so bestimmt Ehrlichkeit
+versprochen worden, daß ich einen Betrug für
+ausgeschlossen hielt. Auch daß Münchmeyer später
+einmal behaupten könne, meine Romane mit allen Rechten nicht
+bloß bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten, sondern
+für immer erworben zu haben, erschien mir als
+unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine Briefe
+aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich miteinander
+ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte, und zweitens hatte
+ich auch noch einen andern vollgültigen Beweis in der Hand,
+daß er diese Rechte nicht für immer besaß. Er
+hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht, diese
+Rechte noch nachträglich zu erwerben. Er hatte das durch
+einen Revers getan, den er mir durch jenes vorbestrafte Faktotum
+Walter schickte und zur Unterschrift vorlegen ließ. Ich
+wies aber diesen außerordentlich pfiffigen Boten mit seinem
+Revers zurück. Dieser Walter war es auch, durch den ich auf
+meine Anfragen immer die schriftliche oder mündliche
+Versicherung bekam, daß die Zwanzigtausend noch nicht
+erreicht sei. Uebrigens hatte ich nicht die geringste Sorge,
+weder um meine Rechte noch um meine „feinen Gratifikationen”.
+Meine Rechte waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich
+jetzt in pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich
+glaubte, mehr als bloß zahlungsfähig waren. Daß
+er mit schlechtgehenden Romanen wieder verlor, was er an
+gutgehenden verdiente, und daß er sich auf
+Wechselreitereien eingelassen hatte, durch welche seine
+Kapitalkraft arg geschädigt wurde, davon wußte ich
+nichts. Ich war also überzeugt, ruhig warten zu können
+und gar keine Veranlassung zu haben, verfrühte und darum
+beleidigende Forderungen zu stellen. Uebrigens war meine Frau so
+vollständig gegen alles geschäftliche Drängen und
+Treiben, daß ich nun auch um den äußeren
+häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls ich gegen
+Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie wünschte.
+Auch behaupten die Kolportageverleger, daß es in ihrer
+Buchführung viel schwieriger sei und viel längere Zeit
+erfordere, als bei andern Verlegern, nachzuweisen, wieviel feste
+Abonnenten man habe. Es springen beständig welche ab, und es
+kommen beständig welche hinzu, darum hatte ich Geduld.</p>
+
+<p>Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger F. E.
+Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich übergab ihm den
+Buchverlag der bei Pustet in Regensburg erschienenen Werke und
+vereinbarte mit ihm, nach diesen dann auch die
+Münchmeyerschen herauszugeben. Er nahm die ersten sofort in
+Angriff, und sie gingen ausgezeichnet. Wir waren beide
+überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen nicht
+weniger Erfolg haben würden, stellten die letzteren aber bis
+zur Vollendung der Pustetschen Serie zurück. Jede der beiden
+Serien sollte dreißig Bände umfassen. Was daran
+fehlte, hatte ich noch hinzuzuschreiben. Das ergab für die
+Pustetsche Serie ungefähr zehn Bände, die ich noch zu
+liefern hatte. Das war eine Arbeit, die mir keine Zeit
+ließ, mich jetzt um meine Münchmeyerschen Sachen zu
+bekümmern. Darum mußte mich auch die unerwartete
+Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich gestorben
+sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen.
+Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als ich
+hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der
+Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt.</p>
+
+<p>Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline Münchmeyer
+schickte mir einen Boten, der den Auftrag hatte, mich
+auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein werde, ihr einen
+neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote war auch ein
+„Vorbestrafter”. Ich ließ ihn unverrichteter Sache wieder
+gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung besonders
+nachzudenken. Ich wußte damals nicht, was ich erst viel
+später erfuhr, nämlich daß es mit
+Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte.
+Man hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem Entschlusse
+gelangt, durch einen neuen Roman von Karl May die Lage zu
+verbessern. Ich hatte weder Zeit noch Lust, ihn zu schreiben,
+beschloß aber für den Fall, daß man den Versuch
+erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen einzutreten, um
+über die Erfolge meiner bisherigen Romane etwas Bestimmtes
+zu erfahren. Und die Wiederholung des Versuches kam. Frau
+Münchmeyer stellte sich selbst und persönlich bei uns
+ein. Sie besuchte uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar
+Vorausbezahlung des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum
+Walter und ließ Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den
+Bescheid, daß ich nicht eher etwas Neues liefern
+könne, als bis über das Alte volle Klarheit geschafft
+worden sei. Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der
+Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend
+müsse doch schon längst erreicht worden sein. Frau
+Münchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau
+zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen. Wir
+stellten uns ein. Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend
+erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht nur bei einem;
+nur müsse es erst noch genau berechnet werden, und das sei
+in der Kolportage so ungemein schwierig und zeitraubend. Ich
+möge mich also in Geduld fassen. Was meine Rechte betreffe,
+so fallen diese mir hiermit wieder zu, ich könne die Romane
+nun ganz für mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir
+meine Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken
+lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde mir an
+ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und sie vorher extra
+für mich in Leder binden lassen. Das geschah. Nach kurzer
+Zeit kamen die Bücher durch die Post; ich war wieder Herr
+meiner Werke -- -- -- so glaubte ich! Freilich war es mir
+unmöglich, sie sofort herauszugeben, weil die Pustetschen
+vorher zu erscheinen hatten. Ich legte die Bücher also
+für einstweilen zurück, ohne mich mit der Prüfung
+ihres Inhaltes befassen zu können. Ich hatte meinen Zweck
+erreicht, und von der Abfassung eines neuen Romanes war keine
+Rede mehr. Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich
+hören. Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß
+nun doch die „feinen Gratifikationen” fällig waren, deren
+Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich aber
+drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte das Geld
+nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht übergehen,
+daß meine Frau während dieser ganzen Zeit sich alle
+Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen Frau
+Münchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe für
+Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund der sonst
+unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte.</p>
+
+<p>Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach dem
+Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer
+ihr Geschäft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort einen
+Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane mit zu verkaufen.
+Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche dar und ging
+zunächst nach Oberägypten. Von dort nach Kairo
+zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich erfuhr,
+daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen sei; der
+Verkäufer <tt>[sic]</tt>
+heiße Fischer. Ich zögerte nicht, an diesen Herrn zu
+schreiben. Er antwortete mir im Kolportageton, daß er das
+Münchmeyersche Geschäft nur wegen der Romane von Karl
+May gekauft habe. Alles Andere sei nichts wert. Er werde diese
+meine Sachen so ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich,
+falls ich ihn daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser
+Ton fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr
+minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mußte diesem mir
+vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art
+geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit
+verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen
+Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu
+berichten. Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau
+an. Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn Tage,
+in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und telegrafierte, doch
+vergebens; es kam kein Bericht. Endlich erhielt ich einige
+Zeilen, in denen sie mir sagte, daß sie in Paris gewesen
+sei, aber weiter nichts. Als in Massaua, der Hauptstadt von
+Erythräa am roten Meere, mein arabischer Diener mir die Post
+brachte, quoll mir eine Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus
+denen ich, der gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat
+inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine
+Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner
+Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit derartigen
+Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf dieses
+Unternehmen aufmerksam werden mußte. Mein Name war genannt,
+obgleich ich diese Romane, nur einen ausgenommen, pseudonym
+geschrieben und Münchmeyer verpflichtet hatte, diese
+Pseudonymität auf keinen Fall zu brechen. Zugleich stellte
+sich heraus, daß mit den Romanen eine Umarbeitung
+vorgenommen werden sollte. Mir wurde himmelangst. Ich schrieb
+heim und beauftragte einen dortigen Freund, dem ich
+vollständig vertrauen konnte, sich einen Rechtsanwalt zu
+Hilfe zu nehmen und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu
+führen, wenn nötig sogar gerichtlich.</p>
+
+<p>Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der
+Besitzer der „Sächsischen Verbandstoffabrik” in Radebeul,
+die er gegründet hatte. Man wird bald sehen, warum ich
+für kurze Zeit bei ihm verweile. Er war
+außerordentlich glücklich verheiratet. Seine Familie
+bestand nur aus ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir
+waren so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du
+nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten. Aber
+außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu sagen, das
+brachte Plöhn nicht fertig. Er versicherte, daß ihm
+dies unmöglich sei. Frau Plöhn ist jetzt meine Frau. Es
+ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder gar
+Vorzügen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische.
+Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher gelesen.
+Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr ebenso unbekannt
+und gleichgültig wie meine Ziele und Ideale überhaupt.
+Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin von mir und
+besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis für
+all mein Hoffen, Wünschen und Wollen. Ihr Mann freute sich
+darüber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes Arbeiten,
+oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht hindurch, keine
+helfende Hand, kein warmer Blick, kein aufmunterndes Wort; ich
+stand innerlich allein, allein, allein, wie stets und allezeit.
+Das tat ihm wehe. Er versuchte, durch seine Frau auf die meinige
+einzuwirken, damit diese mir wenigstens die störende
+Korrespondenz abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu
+erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn
+eine große Freude sein. Ich gestattete es den beiden guten
+Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in der Hand von Frau
+Plöhn. Tausenden von Leserinnen und Lesern ist über der
+Unterschrift von „Emma May” geantwortet worden, ohne daß
+sie wußten, daß es nicht meine Frau, sondern eine
+schwesterliche Helferin war, die mir meine Last erleichterte. Sie
+arbeitete sich mehr und mehr in meine Gedankenwelt und meinen
+Briefwechsel ein, so daß ich ihr schließlich die
+ganze, umfangreiche Korrespondenz getrost überlassen konnte.
+Ihr Mann war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter,
+eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau, die
+gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich
+gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die
+nicht unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.</p>
+
+<p>Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit so
+kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und er tat
+es, so gut er konnte. Er übergab die prozessuale
+Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und
+benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich
+augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber nicht
+zögern werde, mich bei der beabsichtigten Vergewaltigung zu
+erwehren. Mehr konnte für den Augenblick nicht getan werden,
+weil es mir unmöglich war, meine Reise abzubrechen. Von
+meiner Frau bekam ich keine Nachricht. Es war ihr unmöglich,
+sich um so ernste, geschäftliche Angelegenheiten zu
+bekümmern. Plöhns aber schrieben, doch konnten mich
+diese Briefe erst in Padang auf der Insel Sumatra erreichen. Sie
+lauteten aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen
+Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in
+einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden
+Gerüchte über mich verbreitet, die teils
+lächerlich, teils gewissenlos waren. Man las in den
+Zeitungen, daß ich mich gar nicht im Orient befinde,
+sondern mich wegen einer bösartigen Krankheit im Jodbad
+Tölz, Oberbayern, versteckt habe. Hätte ich geahnt,
+daß das in dieser lügenhaften, gehässigen und
+böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt weitergehen werde, so
+würde ich meine Reise doch unterbrochen und schleunigst nach
+Hause zurückgekehrt sein. Hätte ich das getan, so
+wären mir alle die unmenschlichen Martern und Qualen, die
+ich während dieser langen Zeit ausgestanden habe, erspart
+geblieben. Leider aber wußte ich damals noch nicht, was mit
+meinen Romanen vorgegangen war und welche Leitgedanken im
+Münchmeyerschen Geschäft über mich kursiert hatten
+und heute noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der
+Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für
+nötig, als eine genaue Information, aus der sich die
+einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten. Ich schrieb
+also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten
+kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen
+würde. Sie kamen, aber sehr verspätet, weil Plöhn
+unterwegs krank geworden war. Was ich von ihnen erfuhr, lautete
+keineswegs günstig und klang außerdem sehr unbestimmt.
+Der Rechtsanwalt stand immer noch erst bei den Vorbereitungen.
+Fischer hatte erklärt, sich auf das Aeußerste wehren
+zu wollen; meine Romane habe er von Frau Münchmeyer gekauft;
+sie seien sein wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er
+machen könne, was er wolle. Die Zeitungen waren gegen mich
+eingenommen. Meine Münchmeyerschen Romane wurden als
+Schundromane bezeichnet. Ich sah ein, daß ein Prozeß
+mit Münchmeyers nicht zu umgehen war, und fragte meine Frau
+nach den für mich hierzu nötigen Dokumenten.</p>
+
+<p>Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers
+Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war für einen
+Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig,
+daß ich ihn glattweg gewinnen mußte. Diese Briefe
+waren nebst andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten
+Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner Abreise meine
+Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt ganz besonders
+aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der Briefe ganz besonders
+erklärt und sie aufgefordert, dafür zu sorgen,
+daß ja nicht das geringste Blättchen davon verloren
+gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen Dokumenten fragte,
+versicherte sie mir, daß sie noch genau so lägen, wie
+ich sie ihr übergeben habe. Kein Mensch habe sie
+berührt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete den sicher
+gewonnenen Prozeß. Als meine Frau mir diese Versicherung
+gab, stand Frau Plöhn dabei und hörte es. Sie sah sie
+groß an, sagte aber nichts. Das fiel mir damals nicht auf;
+später aber, als ich mich dieses großen, erstaunten,
+mißbilligenden Blickes erinnerte, wußte ich nur allzu
+gut, was er hatte sagen sollen. Meine Frau war nämlich eines
+Abends zu Frau Plöhn gekommen und hatte ihr mitgeteilt,
+daß sie soeben unsern Trauschein verbrannt habe, der
+Vorbedeutung wegen, die sich damit verbinde. Und einige Zeit
+später hatte sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt,
+daß sie nun auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten
+genommen und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern,
+daß ich Münchmeyers verklage. Frau Plöhn war
+hierüber entsetzt gewesen, hatte aber die vollendete
+Tatsache nicht zu ändern vermocht. Jetzt, als sie die
+Versicherung meiner Frau mit anhören mußte, daß
+die Briefe noch unberührt vorhanden seien, gab es in ihr den
+ersten Riß zu jener innern Scheidung, die erst dann auch
+äußerlich zu Tage trat, als nichts mehr verheimlicht
+werden konnte. Wir reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien,
+über Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause.
+Während dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen
+immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig
+unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen. Sie wurde
+schließlich zornig und verbat sich jede weitere
+Erwähnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster
+Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten -- -- --
+leer! Hierüber zur Verantwortung gezogen, erklärte sie,
+daß sie die Briefe allerdings verbrannt und vernichtet
+habe. Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers gewesen und
+sei es auch noch heute. Sie wisse zwar, daß ich recht habe,
+aber sie dulde nicht, daß ich Münchmeyers verklage.
+Darum habe sie die Papiere verbrannt. Man kann sich denken, wie
+mir zu Mute war, aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon
+jahrelang in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war
+still, nahm den Hut und ging.</p>
+
+<p>Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich immer
+zahlreicher und deutlicher geworden. Man beschuldigte mich, zu
+gleicher Zeit fromm und unsittlich geschrieben zu haben. Ich nahm
+die Romane her, die mir Frau Münchmeyer hatte einbinden
+lassen, und fand, daß man von meinen Originalmanuskripten
+abgewichen war und sie verändert hatte. Also darum hatte man
+die Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben!
+Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können! Das
+Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon
+benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung
+abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich wollte die
+Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern des Strafprozesses
+verfolgen, stieß dabei aber auf solchen Widerstand bei
+meiner Frau, daß ich darauf verzichtete. Ich befragte mich
+bei verschiedenen Rechtsanwälten, nicht nur in Dresden,
+sondern auch in Berlin und anderswo. Ich hätte so gern
+gleich direkt wegen der „abgrundtiefen Unsittlichkeiten”, die
+mir vorgeworfen wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig
+versichert, daß dies unmöglich sei. Eine Klage
+könne nicht auf ideale Dinge gerichtet, sondern müsse
+materiell begründet sein. Ich müsse vor allen Dingen
+beweisen, daß ich der rechtmäßige
+Eigentümer der betreffenden Romane sei, und also das Recht
+besitze, zu verklagen. Am Besten sei es, die Klage auf
+„Rechnungslegung” zu richten. Das geschah.</p>
+
+<p>Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des
+Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir
+meldete. Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn
+abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war eine
+hochinteressante, sowohl psychologisch als auch prozessual.
+Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er wisse, ich sei
+vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg am Rocken habe, der
+solle sich wohl sehr hüten, zu prozessieren, sonst
+könne die Sache sehr leicht ein anderes Ende nehmen, als man
+denke. Meine Romane seien jetzt sein Eigentum. Man habe sie schon
+früher verändert, und nun lasse er sie von Neuem
+umarbeiten, ganz so, wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn
+prozessiere, so könne das länger als zehn Jahre dauern;
+aber bis dahin sei ich längst kaput. Er sei aber gekommen,
+mir die Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich solle
+ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf meine Romane
+und liefere sie mir mit allen Rechten aus. Dann sei es mir
+leicht, die ganze Aufregung der Presse gegen mich mit einem
+einzigen Schlage zum Schweigen zu bringen. Er biete mir seine
+Hilfe dazu an. Er wisse mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze
+Münchmeyerei. Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter
+siebzigtausend Mark könne er nicht verzichten, denn er habe
+hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt.</p>
+
+<p>Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen
+Vorschlag nicht einging. Ich erklärte ihm, daß ich
+keinen Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei.
+Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten werde, ob
+gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe. Er rate mir zu dem
+Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich als Zeuge dienen
+könne, denn er sei mit dieser Frau keineswegs zufrieden,
+sondern stehe in immerwährendem Streit mit ihr. Hierauf
+entfernte er sich mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen
+in Acht zu nehmen.</p>
+
+<p>Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen. Aber meine
+Frau und, wohl infolgedessen, auch mein Rechtsanwalt bestimmten
+mich, hiervon abzusehen. So wurde also Fischer verklagt. Aber die
+Witwe schien keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel
+ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei und
+ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang mir, gegen
+Fischer eine einstweilige Verfügung zu erreichen, welche ihm
+verbot, meine Romane weiterzudrucken. Er durfte nur noch
+komplettieren. In dieser für ihn sehr heiklen Lage kam er
+mit meinem Rechtsanwalt zu sprechen und klagte über den
+Verlust, der ihm dadurch entstehe; dieser betrage schon
+vierzigtausend Mark. Wenn das nicht aufhöre, müsse er
+sich noch ganz anders wehren als bisher und mich durch die
+Veröffentlichung meiner Vorstrafen in allen Zeitungen vor
+ganz Deutschland kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese
+Drohung mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu
+begreifen und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu
+sondieren. Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir
+zustande, in einer separierten Weinstube, unter vier Augen. Da
+wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er während der
+Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers über mich und
+meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr den ganzen Feldzugsplan,
+von dem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. Es war ihm
+weisgemacht worden, ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus,
+weil ich als Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe.
+Das passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen,
+daß ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche
+das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput.
+Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor solchen
+Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso gut
+wie ich selbst. Was ich mit Münchmeyer über meine
+Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig. Münchmeyer
+sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwören habe. Und
+daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man zu
+sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe, die es
+gebe. Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung zu
+drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück.
+Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still. „Den haben
+wir in der Hand!”</p>
+
+<p>In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen, und daraufhin
+hatte er das Geschäft gekauft. So versicherte er mir.
+Daß meine Romane verändert worden seien, das wisse er.
+Nur wisse er nicht genau, von wem. Wahrscheinlich von Walter. Der
+habe ja weiter gar nichts Anderes als solche Sachen zu machen und
+dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar nicht
+schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur ein Wort zu
+ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so ist die
+„Unsittlichkeit” da, ohne die es bei solchen Romanen nun einmal
+nicht abgehen will. Ich könne diese Aenderungen sehr leicht
+nachweisen; ich brauche nur meine Originalmanuskripte
+vorzulegen.</p>
+
+<p>„Aber die sind ja verbrannt!” fiel ich ein.</p>
+
+<p>Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede. Er
+behauptete, sie seien noch da. Er könne sie mir verschaffen,
+aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen nicht, wo ich
+sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner einstweiligen
+Verfügung zugrunde richte. Er könne nur dann mein
+Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten, wenn ich diese
+Verfügung fallen lasse und mich mit ihm vergleiche.</p>
+
+<p>Diese Unterredung war für mich von unendlicher
+Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte mich, ob ich
+trauen dürfe. Waren die Originalmanuskripte wirklich noch
+da, so konnte ich allerdings alle gegen mich gerichteten
+Vorwürfe, wie Fischer gesagt hatte, mit einem Schlage
+verstummen machen. Aber er konnte mich täuschen wollen oder
+auch selbst getäuscht worden sein. Ich durfte nicht
+vorschnell entscheiden; ich mußte beobachten und
+überlegen, zumal diese Wendung meiner Angelegenheit in eine
+Zeit fiel, in der mich schwere, innerliche Kämpfe derart
+beschäftigten, daß ich für Anderes weder Zeit
+noch Raum zu finden vermochte. Das war die Zeit meiner
+Ehescheidung.</p>
+
+<p>Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen
+Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament sei. Wenn ich
+nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich diesen Schritt
+schon längst getan und nicht erst dann, als es meine
+Gesundheit, mein Leben und meine ganze innere und
+äußere Existenz zu retten galt. Man hat mir diesen
+Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr mit Unrecht.
+Katholische Kritiker, die anstatt auf sachlichem Gebiete zu
+bleiben, ihre Angriffe auf das persönliche
+hinüberspielten, haben mir in einem Atem vorgeworfen,
+daß ich Protestant sei und mich von meiner Frau habe
+scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil ich als Protestant
+gelte, hat kein Mensch das Recht, mir den zweiten Vorwurf zu
+machen. Für jeden nur einigermaßen anständigen
+Menschen ist die Ehescheidung eine Angelegenheit von
+selbstverständlichster Diskretion. Die meinige aber hat man
+in den Zeitungen herumgetragen, mit den widerlichsten Randglossen
+versehen und zu den ungeheuerlichsten Verdächtigungen
+ausgenutzt. Ich will das Alles hier übergehen, um meine
+Bemerkungen, falls ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer
+Stelle zu machen. Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern
+auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil
+sie ihr den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte,
+wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe bereits gesagt,
+daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten krank geworden
+sei. Er erholte sich nur scheinbar wieder. Das Uebel repetierte,
+nachdem er in die Heimat zurückgekehrt war. Ein Jahr
+später kam der Tod. Frau Plöhn brach fast zusammen.
+Wäre ihre Mutter nicht gewesen, so wäre sie ihrem Manne
+sicher nachgestorben. Glücklicherweise bot ihr auch die
+Korrespondenz, die sie für mich mit meinen Lesern
+führte, die seelische Erleichterung und Unterstützung,
+deren sie bedurfte. Sie besaß zwei Zinshäuser in
+Dresden, die sie gern gegen ein ihr angebotenes
+Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu dem Dorfe
+Niedersedlitz gehörte. Dorthin hatte Fischer seine
+Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung lag da. Frau
+Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung dieses
+Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun einmal in
+Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe, dies Fischer wissen
+zu lassen. Er lud uns nach seiner Privatwohnung ein, und es
+entspann sich da eine Verhandlung, welche am nächsten Tage
+zu einem Vergleiche führte.</p>
+
+<p>Ich will so kurz wie möglich sein. Fischer klagte
+darüber, daß er sich durch den Kauf des
+Münchmeyerschen Geschäftes zum „Schundverleger”
+degradiert habe; er versicherte, daß er sich heraussehne,
+und er behauptete, daß ich ihm dazu behilflich sein
+könne wie kein Anderer. Dieses Letztere war auch ich
+überzeugt. Er hatte die veränderten Romane erworben,
+ohne daß Frau Münchmeyer das Recht besaß, sie
+ihm zu verkaufen. Wenn er dafür sorgte, daß ich meine
+Originalmanuskripte zurückerhielt, konnte er die
+Schundarbeiten fallen lassen und an ihrer Statt meine Originale
+herausgeben; da war ihm und zugleich auch mir geholfen; er war
+kein Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich
+nichts Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke
+des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben, war ich
+überzeugt, daß aller Streit gehoben sei. Fischer
+bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß
+die unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane <b>nicht
+aus meiner Feder stammen, sondern von dritter Hand hineingetragen
+worden seien.</b></p>
+
+<p>Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als
+trügerisch. Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht
+bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich vernichtet.
+Es war ihm also unmöglich, sich aus einem
+„Schundverleger”, wie er sich in einem Briefe an mich
+bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er machte zwar
+den Versuch, auch ohne meine Originalmanuskripte zu einem
+Originalroman zu kommen, um den Schund dann fallenlassen zu
+können, aber ich mußte ihm dabei die Hilfe, die er von
+mir forderte, versagen. Er verlangte nämlich von mir,
+daß ich den Schund aus dem Gedächtnisse in seine
+frühere, einwandfreie Fassung zurückverändere; das
+aber war bei einer Fülle von ungefähr
+dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding der
+absolutesten Unmöglichkeit. Er bestand aber auf seinen <tt>[sic]</tt>
+Schein, auf unsern <tt>[sic]</tt> Vergleich, und obgleich er das nicht
+leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich doch Alles
+tun, was grad seinetwegen unmöglich war. Daraus ergab sich
+ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen, welches sich
+über seinen Tod hinaus erstreckte und erst von seinen Erben
+zum friedlichen Ende geführt worden ist. Diese sahen klarer
+als er, und sie waren ruhigen, unbefangenen Gemütes. Sie
+waren Fachleute, nämlich Rechtsanwälte, Kaufleute,
+Buchdruckerei- und Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu
+folgender Erklärung:</p>
+
+<p><b>„In einem zwischen Herrn Karl May und den Erben des Herrn
+Adalbert Fischer anhängig gewesenen Rechtsstreite haben die
+Fischerschen Erben erklärt, daß die im Verlage der
+Firma H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des
+Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit durch Einschiebungen
+und Abänderungen von dritter Hand eine derartige
+Veränderung erlitten haben, daß sie in ihrer jetzigen
+Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten
+können. Herr May ist zur Veröffentlichung dieser
+Erklärung ermächtigt worden.</b></p>
+
+<p><b>Dresden, im Oktober 1907.</b><br/>
+</p>
+
+<p>Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth
+verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert,
+Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred
+Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein,
+Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Elb. Leichtfertige Menschen haben
+behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern und
+unmündigen Personen abgegeben worden sei. Man sieht auch
+hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich kämpft. Für
+mich aber ist die Abteilung Fischer meines
+Münchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung Pauline
+Münchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr habe ich mich in
+Folgendem nun zuzuwenden.</p>
+
+<p>Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm, welches
+ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen, nämlich:</p>
+
+<p><b>„May ist vorbestraft. Er hat das zu verheimlichen. Wir
+haben ihn in der Hand. Zwei Zeilen genügen, so ist er still.
+Wenn er uns verklagt, so machen wir ihn durch
+Veröffentlichung seiner Vorstrafen in allen Zeitungen durch
+ganz Deutschland kaput. Was May mit Münchmeyer ausgemacht
+hat, ist gleichgültig. Hauptsache ist, wer den Eid bekommt.
+Und daß May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu
+sorgen wissen.”</b></p>
+
+<p>Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim
+geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den
+Akten festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun
+neunjährigen Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt
+worden. Von dem, was Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Gerlach im Namen
+seiner Klientin Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise
+behauptet oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen.
+Mich aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen
+hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig ist.
+Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte
+hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit neun
+Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür
+bestrafen lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz grad
+jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von ihm zu dulden,
+was sich kein Anderer jemals erlaubt. Von den Richtern wiederholt
+zurechtgewiesen und von andern Anwälten zur Rede gestellt,
+bleibt er dieser seiner Spezialität doch treu. Zur
+Ausführung des Münchmeyerschen Programms war es
+zunächst nötig, zu meiner Strafliste zu gelangen. Zu
+diesem Zweck wurde eine Beleidigungsklage fingiert, die man
+sofort zurücknahm, als der Zweck erreicht war. Von da an
+tauchten in den Zeitungen mehr oder weniger verblümte
+Notizen über meine Vergangenheit auf. „Ich weiß noch
+mehr!” schrieb der Eine; „Sie wissen wohl, was ich meine, Herr
+May?” fragte der Andere. Das „Kaputmachen” begann. Aber der
+<tt>Spiritus rector</tt>, der eigentliche Täter, blieb stets
+schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte stets
+durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit über seine
+Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein sehr
+umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er steht mit allen
+meinen literarischen Gegnern in inniger Beziehung, und wo in
+einem Blatt von mir die Rede ist, da pflegt ein Brief von ihm
+oder von einem seiner Vertrauten sich einzustellen. Und man
+glaubt ihm fast überall. Man glaubt ihm, wie Cardauns
+seinerzeit dem Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß
+ich die Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie
+im Druck erschienen sind.</p>
+
+<p>Dieser Herr <tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns ist von dem sehr
+dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der
+zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze
+bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders gewollt. Er
+steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er eigentlich nicht
+gehört. Er hat auch das gewollt. Sein niederschmetternder
+Stil, seine infallible Ausdrucksweise, seine „abgrundtiefen”
+oder „evidenten” Verdoppelungsworte haben Schule gemacht,
+besonders bei denen, welche mir Stricke drehen, um mich „aus der
+deutschen Kunst hinauszupeitschen.” Aber alles, was er in
+Vorträgen und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und
+zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule,
+an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus lauter
+vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, dessen Schnur
+niemand mehr halten will, es sei denn Herr Cardauns selbst. Es
+ist gewiß sehr viel blinder Glaube dazu nötig, gleich
+ihm zu denken, daß meine „Unsittlichkeiten” auch noch in
+anderer Weise bewiesen werden können, als nur durch
+Vorlegung meiner Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es
+nicht; auch Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht
+bewiesen werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen
+gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen
+Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber bis jetzt
+habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein einziges
+Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser Herr besitzt einen
+älteren Münchmeyerschen Druck und eine spätere
+Fischersche Ausgabe und hält den ersteren für
+gleichlautend mit meinem Originale. Es ist für mich aber
+wirklich unmöglich, daß einem „Haupt- oder
+Chefredakteur” solche Irrungen passieren können. Ich gebe
+ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in einem
+berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht und was
+für Schwindel da getrieben wird, aber das ist keine
+Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn, denn wenn er
+das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht gestatten,
+Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes zu ziehen,
+die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute ziehen darf. Die
+ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten Schundromane hatte Fischer
+nur den überlauten Trommel- und Paukenschlägen des
+Herrn Cardauns zu verdanken. Selbst der unfähigste Politikus
+weiß, daß man solche Dinge durch Schweigen
+tötet, nicht aber durch Gongs und Tamtams. Mir aber, der ich
+durch diese Tamtams, diese Vorträge und Zeitungsartikel
+erschlagen werden sollte, wurde es durch sie unmöglich
+gemacht, den Schund so, wie ich wollte, gänzlich aus der
+Welt zu schaffen. Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns
+meine Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich
+um die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben,
+welches man ihm nie vergessen wird. Er ist während der
+ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion gewesen, ob
+gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf die Wirkung
+gleich.</p>
+
+<p>Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende
+Champion für die Münchmeyersache ist der aus der
+christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Herr Rudolf
+Lebius in Charlottenburg. Ich gebe über ihn einen Auszug
+meines Schriftsatzes an die vierte Strafkammer des
+Königlichen Landgerichtes <tt>III</tt> in Berlin:</p>
+
+<p>„Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde am Gardasee
+von einer heimatlichen Postsendung erreicht, bei der sich auch
+eine Zuschrift eines gewissen Lebius befand, der sich in ganz
+überschwenglicher Weise als einen großen Kenner und
+Bewunderer meiner Werke bezeichnete und die Bitte aussprach, mich
+einmal besuchen zu dürfen. Diese Ueberschwänglichkeit
+erregte sofort meinen Verdacht. „Der will Geld, weiter nichts,”
+sagte ich mir. Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei
+und ihn also nicht empfangen könne. Hierauf schrieb er mir
+am 7. April 1904:</p>
+
+<p class="letter">
+„Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="letter">
+Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich Ihnen zu
+nähern, wovon die inliegende Karte ein Beweis ist.
+Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung herausgegeben, die
+großen Anklang findet. Können Sie mir vielleicht etwas
+für mein Blatt schreiben? Vielleicht etwas Biographisches,
+die Art, nach der Sie arbeiten, oder über derartige
+Einzelheiten, für die sich die deutsche May-Gemeinde
+interessiert. Ich würde Sie auch gern interviewen.</p>
+
+<p class="letter">
+<b>Mit vorzüglicher Verehrung</b></p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius,          <br/>
+Verleger und Herausgeber.”
+</p>
+
+<p>Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig
+aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er
+unterschrieb sich „mit vorzüglicher Verehrung.” Ich sagte
+mir wieder: „der will nur Geld.” Die Behauptung, daß
+seine neue Zeitung „großen Anklang finde”, entsprach der
+Wahrheit nicht. Ich sollte damit geködert werden. Man darf
+den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal wenn sie mit einer
+wenn auch noch so kleinen Zeitung bewaffnet sind, sonst
+rächen sie sich. Ich schrieb ihm also, daß er kommen
+dürfe, und er antwortete am 28. April:</p>
+
+<p class="letter">
+„Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben.
+Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern
+Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben, komme ich am
+Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen (Abfahrt 3,31).<br/>
+    <b>Mit großer Hochachtung und Verehrung</b></p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius.”  
+</p>
+
+<p>Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen. Ich duldete das
+nicht. Er wurde von meiner Frau, die ihn empfing, nur unter den
+Bedingung zu mir gelassen, daß absolut nichts
+veröffentlicht werde. Er gab erst ihr und dann auch mir sein
+Wort darauf. Er blieb zum Kaffee, und er blieb bis nach dem
+Abendessen. Er sprach sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich
+war absichtlich schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt
+nötig war. Ich traute ihm nicht und hatte, um später
+einen Schutzzeugen zu haben, zugleich mit ihm den
+Militärschriftsteller und Redakteur Max Dittrich eingeladen,
+der an meiner Stelle die Unterhaltung leitete.</p>
+
+<p>Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte. Er wurde
+um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich blieb. Er gab
+sich alle Mühe, mich und meine Frau davon zu
+überzeugen, daß er „ein ganzer Kerl” sei. So lautete
+sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er sprach
+unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten,
+seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit,
+seinen reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen
+als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger,
+Herdenführer und Volkstribun.</p>
+
+<p>Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren, geschah in einer
+Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen Menschen, der
+so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt ist, daß
+er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber
+lachen. Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden
+seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mußte von seiner
+Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis! Denn er
+brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er auf mich
+gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum offenbarte er
+uns in seiner Geldangst seine verborgensten Geschäfts- und
+Lebensgrundsätze. Er glaubte infolge des vielen Weines, uns
+dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch aber um so sicherer
+ab. Da ich mich hier kurz zu fassen habe, gebe ich von diesen
+seinen Grundsätzen nur die drei wichtigsten wieder.
+Nämlich:</p>
+
+<p class="letter">
+1.
+Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich kein
+Geld. Darum dürfen wir uns auch keine eigene Meinung
+gestatten. Wir wollen leben. Darum verkaufen wir uns. <b>Wer am
+meisten zahlt, der hat uns!</b>
+</p>
+
+<p class="letter">
+2.
+Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter und in
+seinem Leben. <b>Auch jeder Arbeitgeber, jeder Beamte, jeder
+Polizist, jeder Richter oder Staatsanwalt hat solches Werg an
+seinem Rocken.</b> Das muß man klug und heimlich zu
+erfahren suchen. Keine Mühe darf dabei verdrießen. Und
+ist es erforscht, so hat man gewonnenes Spiel. Man bringt in
+seinem Blatte eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt,
+daß man alles weiß, doch so, daß er nicht
+verklagen kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann mit ihm
+machen, was man will. Er gibt klein bei. In dieser Weise habe ich
+meinen Lesern schon außerordentlich viel genützt!
+</p>
+
+<p class="letter">
+3.
+Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in Schafe und
+Böcke, in Herren und Knechte, in Gebietende und Gehorchende.
+Wer aufhören will, Herdenmensch zu sein, <b>der hat das
+Herdengewissen bei Seite zu legen.</b> Wenn er das tut, dann
+laufen alle, die dieses Gewissen noch mit sich schleppen, hinter
+ihm her. Es ist ganz gleich, zu welcher Herde er gehören
+will. Er kann von einer zur anderen übertreten, kann
+wechseln. Das schadet ihm nichts. Nur hat er dafür zu
+sorgen, daß es mit der nötigen Wärme und
+Ueberzeugung geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die
+Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen nach!
+</p>
+
+<p>Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten,
+brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau war still
+vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den Ekel zu verwinden!
+Lebius bekam infolge dessen weder Geld noch sonst etwas von mir.
+Da sah er ein, daß diese beispiellose Selbstentlarvung
+nicht nur ganz umsonst gewesen sei, sondern daß er sich
+durch sie in unsere Hände geliefert hatte. Wir drei waren
+nun die gefährlichsten Menschen, die es für ihn gab.
+<b>Er durfte uns nie vor Gericht zu Worte kommen lassen,</b>
+sondern mußte alles tun, <b>uns als unglaubhafte,
+eidesunwürdige Personen hinzustellen.</b> Ich lege
+großen Wert darauf, dies ganz besonders zu betonen,
+denn</p>
+
+<p class="letter">
+<b>es ist der einzig richtige Schlüssel zu
+seinem ganzen späteren Verhalten, welches man ohne diesen
+Schlüssel wohl kaum begreifen könnte, weil der
+Haß dieses Mannes gegen uns drei fast unmenschlich
+erscheint.</b>
+</p>
+
+<p>Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich entfernte,
+beklagte ich mich absichtlich über die vielen Zuschriften,
+in denen man mich, den gar nicht reichen Mann, mit Bitten um Geld
+überschüttet, und tat dies in einer Weise, die jeden
+gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten mußte, mir mit
+ähnlichen Wünschen zu kommen. Schon gleich am
+nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:</p>
+
+<p class="right">
+„Dresden-A., den 3. 5. 04.  
+</p>
+
+<p class="letter">
+Sehr geehrter Herr Doktor!<br/>
+    Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen Empfang und
+die erwiesene Gastfreundschaft danke, bitte ich Sie, wenn Sie die
+Kunstausstellung besuchen oder sonst einmal nach Dresden kommen,
+bei uns zu Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.<br/>
+    In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen
+widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann ich nicht
+annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig für die Zeile, was wohl
+derselbe Preis sein wird, den Sie von anderen Blättern
+erhalten haben.<br/>
+    Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute noch
+einmal überdacht. Es will mir scheinen, als ob trotz des
+kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz noch erheblich
+gesteigert werden könnte. Meine Buchhändler- und
+Verlagserfahrungen haben mich gelehrt, daß der Wert einer
+richtig geleiteten Propaganda und direkten Reklame gar nicht
+überschätzt werden kann.<br/>
+    Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten Frau Gemahlin
+und Ihnen in <b>Verehrung</b> und <b>Dankbarkeit</b>
+ergebenst
+</p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius.”
+</p>
+
+<p>Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich „Doktor”
+titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches
+bedeutet hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat
+dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als Waffe gegen
+mich dienen!</p>
+
+<p>Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre
+über mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig, das
+Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort nach Radebeul
+geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich dafür zu
+verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das Werk in Verlag
+gebe. Er wurde ganz selbstverständlich mit dieser Bitte
+abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max Dittrich, daß ich
+niemals wieder mit ihm verkehren würde, wenn es ihm
+einfalle, diesem Manne die Broschüre zu überlassen.</p>
+
+<p>Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens
+zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine Photographie,
+die er mir entwendet hatte. Er durfte nie wiederkommen. Trotzdem
+hat er wiederholt behauptet, in meinem Hause vielfach verkehrt zu
+sein und mich sehr genau studiert zu haben.</p>
+
+<p>Am folgenden Tage schrieb er mir:</p>
+
+<p class="right">
+„Dresden-A., 12. 7. 04.<br/>
+Fürstenstraße 34.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Sehr geehrter Herr Doktor!<br/>
+    <b>Ich möchte sehr gern die Dittrichsche Broschüre
+verlegen und würde mir auch die größte Mühe
+geben, sie zu vertreiben.</b> Durch den Rücktritt von der
+„Sachsenstimme” -- offiziell scheide ich erst am 1. Oktober d.
+J. aus -- bin ich aber etwas kapitalschwach geworden.<br/>
+    <b>Würden Sie mir vielleicht ein auf drei Jahre
+laufendes, 5prozentiges Darlehen</b> gewähren? Ich zahle
+Ihnen die Schuld vielleicht schon in einem Jahre zurück.<br/>
+    <b>Als Dank dafür würde ich die Broschüre so
+lancieren, daß alle Welt von dem Buche spricht. Ich habe ja
+auf diesem Gebiete besonders große Erfahrung.</b><br/>
+    Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf ganz solider Basis.
+Nun heißt es arbeiten und zeigen, <b>daß man ein
+ganzer Kerl ist</b> usw. usw. Beste Empfehlung an Ihre Frau
+Gemahlin</p>
+
+<p class="right">
+Ihr Ihnen ergebener          <br/>
+Rudolf Lebius.”
+</p>
+
+<p>Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, daß jemand,
+der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht weitergehen
+könne, zumal ich Herrn Lebius <b>mit der Broschüre
+total abgewiesen hatte.</b> Aber am 8. August schrieb er trotzdem
+wieder:</p>
+
+<p class="letter">
+„Die „Sachsenstimme” ist am 4. d. zu vorteilhaften
+Bedingungen an mich allein übergegangen. Ich kann jetzt
+schalten und walten, wie ich will. Um mich von dem Drucker etwas
+unabhängig zu machen, <b>würde ich gern einige tausend
+Mark (3--6) auf ein halbes Jahr als Darlehen aufnehmen.</b> Ein
+Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jüdischen
+Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison bewiesen
+hat, in weitgehendem Maße unterstützten. Das
+Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. <b>Würden
+Sie mir das Darlehen gewähren? Zu Gegenleistungen bin ich
+gern bereit.</b> Die große Zahl von akademischen
+Mitarbeitern erhebt mein Blatt über die Mehrzahl der
+sächsischen Zeitungen. Wir können außerdem die
+Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300 oder mehr deutsche und
+österreichische Zeitungen versenden und den betreffenden
+Artikel blau anstreichen. So etwas wirkt unfehlbar. In Dresden
+lasse ich mein Blatt allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit
+vorzüglicher Hochachtung</p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius.”
+</p>
+
+<p>Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts
+besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte,
+daß er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß
+er überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar
+Honorar schuldig bleibe. Daß seine Zeitung eine solide
+Basis habe, war unwahr, ebenso die „große Zahl der
+akademischen Mitarbeiter” und Anderes. Dergleichen absichtliche
+Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt.
+Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam: „Sehr
+geehrter Herr . . . . Mit vorzüglicher Verehrung!” „Mit
+großer Hochachtung und Verehrung!” „Sehr geehrter Herr
+Doktor . . . . In Verehrung und Dankbarkeit.” Als er sah,
+daß diese Höflichkeiten nicht zogen, schrieb er nicht
+mehr an mich, sondern an Dittrich. So am 15. August 1904:</p>
+
+<p class="letter">
+„Werter Herr Dittrich!<br/>
+    Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent. <b>Mehr
+als 10 000 Mk. brauche ich nicht.</b> Ich würde aber auch
+mit weniger vorlieb nehmen. Das Honorar sende ich am 20. d. wie
+verabredet.<br/>
+    Können Sie nicht <tt>Dr.</tt> May 
+<b>b e a r b e i t e n, </b> daß er mir Geld
+vorschießt?<br/>
+    Freundlichen Gruß</p>
+
+<p class="right">
+R. Lebius.”
+</p>
+
+<p>Dann am 27. August:</p>
+
+<p class="letter">
+„Werter Herr Dittrich!<br/>
+    Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn <tt>Dr.</tt> Klenke,
+einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei dieser Gelegenheit gibt
+sie Ihnen Ihr Honorar. Sie haben meine schriftliche Zusage,
+daß ich Ihnen 1 Prozent von dem Gelde gebe, welches Sie mir
+von H. V. oder <tt>Dr.</tt> M. (May) vermitteln. Sie erhalten das
+Geld sofort . . . .<br/>
+    Freundlichen Gruß
+</p>
+
+<p class="right">
+Lebius.”
+</p>
+
+<p>Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar von 37 Mark
+45 Pfennigen schuldig, welches er trotz der Kleinheit dieses
+Betrages nicht bezahlen konnte. Es wurde ihm daraufhin ein
+Spiegel gerichtlich abgepfändet. Als er von Dittrich,
+anstatt der 10 000 Mark von mir, eine Mahnung um diese 37 Mark 45
+Pfennig bekam, schrieb er ihm am 3. September:</p>
+
+<p class="letter">
+„Geehrter Herr Dittrich!<br/>
+    Ich habe Herrn <tt>Dr.</tt> <tt>med.</tt> Klenke ersucht,
+Ihnen 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten mir
+gegenüber finde ich höchst sonderbar, um nicht zu sagen
+beleidigend.<br/>
+    Achtungsvoll
+</p>
+
+<p class="right">
+R. Lebius.”
+</p>
+
+<p>Diesem <tt>Dr.</tt> Klenke fiel es aber auch nicht ein, die
+Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in logischer
+Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer Postkarte folgende
+Drohung bei mir an:</p>
+
+<p class="letter">
+„Werter Herr!<br/>
+    Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der „Sachsenstimme”,
+erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel gegen Sie
+schreibt. Ich habe es im Lokal gerade gehört. Es warnt Sie
+ein Freund vor dem Manne.
+</p>
+
+<p class="right">
+B.”
+</p>
+
+<p>Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte war ich mir
+natürlich sofort im Klaren. Auch das Gutachten der
+<b>vereideten Sachverständigen</b> lautet dahin,
+<b>daß sie unbedingt von Lebius selbst geschrieben ist.</b>
+Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf diese
+Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde. Gab ich sie nicht,
+so waren mir nicht nur der jetzt angedrohte, sondern noch weitere
+Racheartikel sicher und auch noch anderes dazu, was mich in
+Besorgnis setzen mußte. Aber ich ließ auch jetzt
+nichts von mir hören und sah mit gutem Gewissen dem
+unvermeidlichen Artikel entgegen, der am 11. September 1904 in
+Nummer 33 des Lebiusschen Blattes, der „Sachsenstimme” erschien
+und die dreifache Ueberschrift hatte:<br/>
+<br/>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<b>„Mehr Licht über Karl May</b>
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>160 000 Mark Schriftstellereinkommen</b>
+</p>
+
+<p class="right">
+<b>Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller.”  </b>
+</p>
+
+<p>Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort gegeben,
+nichts zu veröffentlichen. Er war sogar nur unter diesem
+Versprechen bei uns hereingelassen worden, und nun
+veröffentlichte er doch, und zwar in welcher Weise und aus
+welchen Gründen! Er stellte alles auf den Kopf; er drehte
+alles um! Er legte uns alles, was ihm beliebte, in den Mund, und
+was wir wirklich gesagt hatten, das verschwieg er, um sich nicht
+zu blamieren. Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische
+Unsauberkeiten, Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das
+war nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach.
+Dieser Artikel in Nr. 33 der „Sachsenstimme” war so gehalten,
+daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich das Geld nun
+endlich noch gab. Und schon in Nr. 34 kam ein sehr deutlicher
+Wink, der mir sagte, was geschehen werde, falls ich mich nicht
+zum Zahlen bewegen lasse. Dieser Wink bestand in einer
+Münchmeyerschen Annonce, die ganze Bände zu mir sprach.
+Der Besitzer der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir
+gesagt: „Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen
+noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem „Verlorenen Sohn”
+fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren! Der wird so
+happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist, als
+Schriftsteller weiter zu existieren!” Und dieser „Verlorene
+Sohn” wurde jetzt in Nr. 34 der „Sachsenstimme” annonciert.
+Das war genau so, als ob mir mit Riesenbuchstaben geschrieben
+worden wäre: „Nun aber endlich Geld her, sonst geht es in
+diesem Tone weiter!” Der gefährlichste Erpresser ist der,
+welcher es in dieser raffinierten Weise anfängt, die noch
+deutlicher ist, als das gesprochene Wort, aber von keinem
+Staatsanwalt verfolgt werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts.
+Da kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein drittes und
+in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde mir die Verbindung des
+Herrn Lebius mit der Firma Münchmeyer schon deutlicher
+gezeigt, denn es wurde da gesagt, der Inhaber dieser Firma habe
+einen ganzen Haufen alter Briefe von mir in der Hand und
+könne also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn
+er nur wolle. In Wahrheit aber besaß er nicht einen
+einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau,
+daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen
+Programms, mich durch meine Vorstrafen „in den Zeitungen vor
+ganz Deutschland kaput zu machen”, übernommen hatte. Ich
+war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000 Mark ihn
+sofort zum Schweigen bringen würde, hätte mich aber vor
+mir selbst geschämt, ihm auch nur einen einzigen Pfennig zu
+geben.</p>
+
+<p>Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die Nr. 48 brachte
+die ohne alle Veranlassung frei aus der Luft niederfallende
+Verkündigung: „Die vier Jahre, die Herr Karl May in
+Waldheim verbüßte, waren nach unserer Information die
+Folge eines Einbruchdiebstahls in einem Uhrenladen.” Ich habe
+aber niemals einen Einbruch verübt. Man sieht, daß es
+nicht auf die Wahrheit ankam, sondern nur auf das
+„Kaputmachen”. Diese Nr. 48 erschien am
+Weihnachtsheiligenabend. Da hingen an den Fenstern der Dresdener
+Buchhandlungen Plakate aus, auf denen die „Sachsenstimme” mit
+den großen roten Buchstaben <b>„Die Vorstrafen Karl
+Mays”</b> angekündigt wurde. Einen schreienderen Beweis,
+daß es sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um
+die Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es
+wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des grausamen
+Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten des Herrn Lebius
+einzeln aufzuzählen. Ich will nur in Summa sagen, daß
+er in dieser Weise fortfuhr, bis er nach einiger Zeit aus Dresden
+verschwinden mußte. Ich habe die Unwahrheiten, die er in
+seinen Dresdener Artikeln über mich verbreitete,
+zusammengestellt, um sie gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer
+trotz der Kürze der Zeit nicht weniger als
+hundertzweiundvierzig. Mehr hat bisher wohl noch kein Mensch
+geleistet! Ich betone aber ausdrücklich, daß diese
+Aufstellung nicht etwa alles, sondern nur eine Auswahl
+enthält. Ich könnte diese Ziffer trotz ihrer Höhe
+gut verdoppeln. Ich habe lange dazu geschwiegen, bis es nicht
+mehr zum Aushalten war. Da mußte ich mich endlich wehren.
+Ich erstattete bei der Staatsanwaltschaft Anzeige wegen
+Erpressung. Ich legte seine Briefe bei. Auch die drohende Karte
+vom 7. September 1904. Die Sachverständigen erklärten,
+daß Lebius sie unbedingt geschrieben habe. Die
+erwähnte Behörde aber war der Ansicht, daß dies
+nicht zureiche, eine Untersuchung zu eröffnen. Und Lebius
+gab sich bei seinen Auskünften die größte
+Mühe, mich als einen Menschen hinzustellen, dem man nicht
+glauben dürfe. Das Meisterstück hat er dabei abgelegt,
+indem er der Königlichen Staatsanwaltschaft in Dresden
+berichtete, daß der Wirt des Hotels auf dem Berge Sinai in
+Dresden gewesen sei und sich sehr schlecht über mich
+ausgesprochen habe. Nun weiß aber Jedermann, daß es
+auf dem Berg Sinai bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben
+hat! Ich zeige damit wohl zur Genüge, was man von der
+Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann. Ich erhob
+zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog ich während der
+Verhandlung aus reinem Ekel vor dem Schmutz, in dem ich da waten
+sollte, zurück. Die andere brachte ihm in der ersten Instanz
+eine Geldstrafe von 30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er
+freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und einen
+Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne orientiert zu
+sein.</p>
+
+<p>Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen wie
+unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe. Gewiß
+wenig genug! Daß ich Berichterstattern Auskunft gab, wenn
+sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz von selbst. Es kann
+mir niemand zumuten, diesen Herren aus Angst vor Herrn Lebius die
+Unwahrheit zu sagen. Dennoch behauptet er noch heute, daß
+nicht ich von ihm, sondern er von mir verfolgt und angegriffen
+werde.</p>
+
+<p>Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer ganz
+bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten seine
+Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwähne da nur den
+Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch den er
+ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg. Ich schwieg
+selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen „Wahrheit” in
+Berlin einen geradezu empörenden Angriff gegen mich brachte,
+in dem er mich als „atavistischen Verbrecher” brandmarkte, der
+wegen „fortgesetzter Einbruchdiebstähle” fast ein
+Jahrzehnt im Gefängnis und Zuchthaus gesessen habe! Er
+behauptete da, daß ich eine schwere, chronische Krankheit
+durchgemacht habe, die „offenbar kulturhemmend” gewirkt habe.
+Hiermit hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk in
+Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich gezwungen, ihn
+dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem großen
+Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten hatte,
+die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem Zwecke mit meiner
+Frau nach Berlin. Wir entdeckten seine Wohnung. Wir hörten,
+daß er ein neues Blatt herausgab, der „Bund” genannt. Wir
+telefonierten ihm. Er bestellte uns nach Caf<tt>é</tt>
+Bauer. Wir folgten dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau
+und deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht. Er
+leugnete alles. Ich sagte ihm, daß ich sein neues Blatt
+sehen möchte. Das war ganz ehrlich und gut gemeint, ohne
+alle böse Absicht. Er aber begehrte sofort zornig auf und
+fragte drohend: „Haben Sie etwas vor? Dann gehe ich auf der
+Stelle von neuem gegen Sie los! Hier in Berlin gibt es über
+zwanzig Blätter wie die „Dresdener Rundschau”. Die stehen
+mir alle zu Gebote, wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das
+gar nicht lang!”</p>
+
+<p>Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder in
+den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu seiner Frau in
+ruhiger, freundlicher Weise, daß es die schönste
+Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu wirken und
+die Härten des Lebens zu mildern; dann entfernten wir
+uns.</p>
+
+<p>Das war am 2. oder 3. September. <b>Einen Monat
+später,</b> am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin;
+ich war verreist:</p>
+
+<p class="letter">
+Geehrter Herr!<br/>
+    Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei Ihnen
+einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen über
+einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden, machen könnten.
+Genannter Herr, ehemaliger Sozialdemokrat, hat gegen mich als den
+seinerzeit verantwortlich zeichnenden Redakteur des
+„Vorwärts” die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es
+wird vor Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als
+„Ehrenmann” zu kennzeichnen. Auf den Rat eines Dresdener
+Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an Sie, ob Sie mir
+über diesen Herrn vielleicht einige Auskunft geben
+könnten. Sollte dies der Fall sein, so sehe ich Ihrer
+Freundlichkeit sehr verbunden entgegen.<br/>
+    Mit größter Hochachtung
+</p>
+
+<p class="right">
+Carl Wermuth,          <br/>
+Redakteur des „Vorwärts”.
+</p>
+
+<p>Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf dessen
+Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht eingehen
+konnte. Am 5. April 1908, also</p>
+
+<p class="center">
+<b>ein volles halbes Jahr später,</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+erhielt ich von der Redaktion des „Vorwärts” eine weitere
+Zuschrift:
+</p>
+
+<p class="letter">
+<b>„Zu unserem Bedauern haben Sie es bisher unterlassen,
+sich</b> über die gegen Sie gerichteten Angriffe des Lebius
+<b>zu äußern</b> resp. <b>uns die notwendigen
+Beweismittel</b> der ehrenabschneiderischen Tätigkeit des
+Lebius in Bezug auf Ihre Person <b>zur Verfügung zu
+stellen.</b> Wie ich von meinem Kollegen Wermuth erfuhr, hat Ihre
+Frau mitgeteilt, daß Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden
+und <b>nicht in der Lage seien, uns mit dem gewünschten
+Material gegen Lebius zu versehen.</b> Ich hoffe, daß Sie
+inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind und nunmehr . .
+. .”</p>
+
+<p>Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen,
+<b>daß nicht ich Herrn Lebius verfolge, sondern er
+mich.</b> Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am
+Sedanstage, an ihn gemacht habe, um dem „Vorwärts”
+beizustehen. Hier beweise ich, daß ich damals von jener
+Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern
+daß der „Vorwärts” es mir erst einen Monat
+später mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten
+<b>noch gar keine Antwort bekommen hat!</b> Ich hatte also Herrn
+Lebius volle sechs Monate geschont, wo es mir doch durch die
+Sozialdemokratie so bequem und leicht gemacht worden war, mich an
+ihm zu rächen. <b>Daß ich ihn nicht verfolge, sondern
+von ihm fort und fort zur Notwehr gezwungen werde,</b> ist
+übrigens auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis
+heut umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit dieser
+Zeugenschaft für den „Vorwärts”-Redakteur hatte es
+damals folgende Bewandtnis:</p>
+
+<p>Lebius hatte den „Vorwärts” wegen Beleidigung verklagt,
+und der „Vorwärts” hatte mich, natürlich ohne erst
+viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das Gewissen des Lebius
+sagte ihm, daß er von diesem Zeugen wohl nicht viel
+freundliches zu erwarten habe. Ja, es kam ihm sogar der Gedanke,
+daß ich von dieser Zeugenschaft schon im
+Caf<tt>é</tt> Bauer gewußt habe. Das erzürnte
+ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach Radebeul, um mir
+zu drohen. Meine Frau wünschte diese Zusammenkunft in meinem
+Hause; aber darauf ging Frau Lebius nicht ein. Die beiden Frauen
+trafen sich im Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau
+Lebius uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und wie ich
+als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte ich vor Gericht
+erklären, daß er jene drohende Postkarte vom 7.
+September in Dresden nicht geschrieben habe. Tue ich das nicht,
+so müsse er den alten Kampf gegen mich von Neuem beginnen.
+Meine Frau lehnte das ganz entschieden ab, denn wir waren jetzt
+mehr als je überzeugt, daß er der Verfasser sei. Seine
+Frau kehrte also unverrichteter Sache nach Berlin
+zurück.</p>
+
+<p>Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß
+er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine
+Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge
+aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte. Da aber
+diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen
+war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des Verfassers
+nach sich zog, die Lebius von sich abwenden wollte, so sah er
+sich nach einem Strohmanne um, der ihn und Karl May noch nicht
+kannte und unerfahren, vertrauensselig und bedürftig genug
+war, sich für einige Hundert Mark <b>völlig
+ungeahnt</b> in die ganz sicher zu erwartende
+<b>Gefängnisstrafe stürzen zu lassen.</b> Er fand ihn
+in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus Basel, zog ihn in sein
+Netz und umspann ihn derart mit Selbstvergötterungs- und
+Lügenfäden, daß der junge, völlig ehrliche
+Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in den Dienst eines
+so bedeutenden, geistig, sozial und auch juristisch
+hervorragenden Mannes stellen zu dürfen.</p>
+
+<p>Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei
+außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er
+verschwieg anfänglich, daß es sich <b>nur</b> um eine
+Broschüre gegen <b>mich</b> handle. Er machte dem jungen
+Manne weis, daß er ein  w i s s e n s ch a f t l i c h e s 
+Werk über berühmte resp. berüchtigte Männer
+schreiben solle. Er nannte ihm die Namen derselben; darunter
+befand sich auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk
+machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten
+diese so, daß nach und nach alle diese „Berühmten und
+Berüchtigten” verschwanden und nur Karl May allein
+übrig blieb. Aus dem „wissenschaftlichen” Werke aber
+sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten
+Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag immer deutlicher.
+Er begann zu ahnen, daß er mit aller Liebenswürdigkeit
+in das Verderben geführt werden solle. Als er das Herrn
+Lebius zu verstehen gab, hielt dieser es für geraten, ihm
+den ganzen Zweck der Broschüre einzugestehen. Er gab
+folgendes zu:</p>
+
+<p><b>Lebius hat den Redakteur des „Vorwärts” wegen
+Beleidigung verklagt.</b></p>
+
+<p><b>Der „Vorwärts” hat Karl May als Zeugen gegen Lebius
+angegeben.</b></p>
+
+<p><b>Darum ist es für Lebius notwendig, Karl May kaput zu
+machen.</b></p>
+
+<p><b>Um das zu erreichen, gibt er die hier in Arbeit liegende
+Broschüre heraus.</b></p>
+
+<p><b>Der Termin, in dem Karl May als Zeuge verhört wird,
+findet anfangs April statt.</b></p>
+
+<p><b>Darum muß die Broschüre ganz unbedingt bis zum
+1. April fertig zum Versenden sein.</b></p>
+
+<p><b>Wenn die Broschüre erst später fertig wird, hat
+sie keinen Zweck; dann braucht man sie überhaupt gar nicht
+erst zu schreiben.</b></p>
+
+<p><b>Sie wird an die Zeitungen versandt, die darüber
+berichten. Das soll auf die Richter wirken.</b></p>
+
+<p><b>Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. Sobald dies
+geschieht, ist May als Zeuge kaput.</b></p>
+
+<p>Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden seine
+Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren.
+Als er diese äußerste und seiner Besorgnis,
+gerichtlich bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm
+folgendes vor:</p>
+
+<p><b>Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets mit
+einem Fuße im Gefängnisse.</b></p>
+
+<p><b>Bestraft zu sein ist für uns eine gute Reklame. Auch
+ich bin schon oft vorbestraft.</b></p>
+
+<p><b>Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht zu
+fürchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie dürfen
+schwören. May aber darf nicht schwören.</b></p>
+
+<p><b>May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm verboten, in
+einer Stadt zu wohnen. Darum wohnt er in Radebeul.</b></p>
+
+<p><b>I ch   b i n   e i n   g r o ß e s,  
+f o r e n s i s ch e s   T a l e n t.  W e n n   i ch  
+a n f a n g e   z u   s p r e ch e n,   s i n d   d i e  
+R i ch t e r   a l l e   m e i n!</b></p>
+
+<p><b>W e n n   m a n   i n   e i n e m   P r o z e s s e  
+st e ck t   u n d   m a n   s ch r e i b t   e i n e  
+s o l ch e   B r o s ch ü r e,   d a s   w i r k t  
+u n g e h e u e r   b e i   d e n   R i ch t e r n!</b></p>
+
+<p><b>Die Frau May hat mich mit Tränen in den Augen um Gnade
+für ihren Mann gebeten.</b></p>
+
+<p><b>May muß durch die Broschüre totgemacht werden.
+Alles übrige ist Beiwerk,  u m   d e n   w a h r e n  
+Z w e ck   z u   v e r s ch l e i e r n!</b></p>
+
+<p>Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren
+Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von
+dieser Sache zurückzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm
+zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese
+Broschüre zu mißbrauchen. Er richtete ganz dasselbe
+Verbot auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher aus
+diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber er kannte
+Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht. Die Broschüre
+erschien, und zwar genau am ersten April. Ihr Titel war:</p>
+
+<p class="center">
+<b> K a r l   M a y, <br/>
+ ein Verderber der deutschen Jugend</b><br/>
+von<br/>
+<b>F. W. Kahl-Basel.</b>
+</p>
+
+<p>Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß die
+Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter seinem
+Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte. Der von Lebius
+gefürchtete Termin, an dem ich als Zeuge vernommen werden
+sollte, hat nicht stattgefunden. Ob er den Herren Richtern die
+Broschüre dennoch vorgelegt hat oder nicht, ist mir
+unbekannt. Aber an die Zeitungen versandt hat er sie schleunigst,
+und zwar mit Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren
+verleumderischer Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur
+folgende Zeilen liest, die er an die „Neue Züricher
+Zeitung” schickte:</p>
+
+<p>„Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß er
+durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung untergrub und
+mich in den Bankrott trieb. Sobald ich in einer andern Stadt
+festen Fuß gefaßt hatte, erschien er wieder auf der
+Bildfläche, um dasselbe Manöver zu wiederholen. Dabei
+liebt er es, bevor er zu einem neuen Schlage gegen mich ausholt,
+mich jeweils in meiner Wohnung aufzusuchen und mit tränenden
+Augen um Frieden zu bitten.”</p>
+
+<p>Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier nicht zu
+sprechen. Ganz selbstverständlich waren meine Vorstrafen
+aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu. Das schickte er in
+alle Welt hinaus, um mich nach Münchmeyerschem Rezept
+„kaput” zu machen. Ich erlangte eine einstweilige
+Verfügung gegen sie. Sie durfte nicht weitergedruckt und
+weiterverarbeitet werden. Und ich erhob Privatanklage wegen
+Beleidigung gegen ihn. Diese Privatklage konnte nicht zur
+Verhandlung kommen, weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise,
+und deren waren weit über hundert, verloren hatte. Sie
+fanden sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder.
+Ich war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche
+der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle seine
+Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück,
+drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben, und
+versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das tat er durch
+seine Unterschrift. Es war mir unmöglich, einem solchen, vor
+Gericht gegebenen Versprechen nicht zu glauben. Und doch war es
+eine Untreue und Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er
+mir dieses Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders
+geben, als <b>in der Absicht, es nicht zu halten.</b> Er hatte
+sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung
+gesetzt. Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen,
+eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen
+Mann; die trachtete er, für sich auszunutzen. Er suchte sie
+in Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und zufrieden
+von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr gab, obgleich ich ihr
+nichts zu geben brauchte, weil sie die Alleinschuldige war. Auch
+hatte ich sie in jeder Weise reichlich ausgestattet. Da kam
+dieser Mann zu ihr und entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung,
+um daraus mit Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und
+Verdrehungen einen Strick für mich zu fertigen. Er versprach
+ihr ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts,
+gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und
+schrieb für seinen „Bund” vom 28. März 1909 einen
+Aufsatz unter der Ueberschrift „Ein spiritistisches
+Schreibmedium als Hauptzeuge der „Vorwärts”-Redaktion.”
+Mit diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau
+gemeint.</p>
+
+<p>Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da über
+mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und zwar mit
+raffinierter Benutzung und Bearbeitung der Bitterstoffe, die im
+Gemüte geschiedener Frauen vorhanden sind. Als das arme,
+unglückliche Weib das las, erschrak sie. Er schwieg also
+nicht! Er hatte nicht Wort gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach
+Berlin, um ihn zur Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort.
+Er übergab sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem
+früher gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm
+ihr Beistand wurde. Beide veranlaßten sie zunächst,
+auf ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie sodann,
+ihre Pretiosen zu versetzen, damit es „nach außen einen
+besseren Eindruck mache”. Das heißt doch wohl, damit man
+denken möge, daß ich es sei, der diese Frau in solche
+Armut und solches Elend gestürzt habe! Das hat Lebius in
+seinem Briefe an die Kammersängerin vom Scheidt, welcher den
+Gegenstand der vorliegenden Privatklage bildet, wörtlich
+eingestanden, und der Vorsitzende der ersten Instanz hat ihn
+gelobt, indem er öffentlich sagte: „Das ist sehr edel von
+Ihnen!”</p>
+
+<p>Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles Einkommen war
+und vor dem Nichts stand, eine Rente für das ganze Leben von
+monatlich 100 Mark versprochen, er, der wegen zwei oder drei Mark
+vergeblich ausgepfändet worden ist! Sie hat es ihm
+zunächst geglaubt; er aber hat sehr wohl gewußt,
+daß dieses Versprechen nicht rechtsverbindlich war. Nichts
+als Spiegelfechterei! Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben
+zu können. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur 200
+Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur geliehen, denn als
+er merkte, daß sie von ihm weg und wieder zu mir strebte,
+drohte er ihr, sie wegen dieser 200 Mark um 300 Mark zu
+verklagen.</p>
+
+<p>Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes
+Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen,
+wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge
+sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und
+versetzte? Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das
+Rachewerkzeug des Herrn Lebius wurde, daß er sie
+abrichtete, so über mich zu denken, zu sprechen und zu
+schreiben, wie es ihm beliebte, und daß sie ihm und seinem
+Schwager Medem in jeder Beziehung gänzlich in die Hand
+gegeben war. Denn als ich infolge des obigen Artikels im „Bund”
+gezwungen war, meine geschiedene Frau zu verklagen, machten
+Lebius und Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß
+Lebius für seine Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon
+hatte und sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren
+Zweck und Tragweite sie keine Ahnung besaß! Es kam vor,
+daß sie unter Tränen sich sträubte, einen
+derartigen Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber
+doch! Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich
+auf diesem Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn
+sie nicht vollständig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete
+sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte das arme,
+verführte Weib. Ich nahm den Strafantrag und den
+Beleidigungsprozeß gegen sie zurück. Und nun erfuhr
+ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius aus ihrer
+sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt worden war,
+um wirtschaftlich vernichtet und moralisch ausgebeutet resp.
+gegen mich ausgespielt zu werden. Er sagt in seinem Briefe,
+welcher den Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens
+bildet:</p>
+
+<p><b>„Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe ich allerdings im
+Hinblick auf meine gerichtliche Einigung mit May verlangt,
+daß Frau Emma erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt,
+weil das nach außen hin einen bessern Eindruck
+macht.”</b></p>
+
+<p>Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe, weil er
+mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat und weil er
+gerichtlich versprochen hat, mich nun für immer in Ruhe zu
+lassen, also darum, <b>„im Hinblick darauf”</b> mußte die
+Frau nun ihre Kleinodien versetzen, damit man <b>mich</b> als den
+Schurken bezeichne, durch den sie in solches Elend getrieben
+worden sei! Wie nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in
+dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und um ihre
+Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem seinem Briefe:
+„Ich habe auch durch meinen Syndikus Herrn Geheimrat Ueberhorst
+Schritte vorbereiten lassen, <b>um wieder zu meinem Gelde zu
+kommen!”</b> Gibt es hier überhaupt einen Ausdruck, durch
+den man imstande wäre, die Lebiussche Denk- und
+Handlungsweise erschöpfend zu charakterisieren?</p>
+
+<p>Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung
+vollständig ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder
+einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um
+seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz besondere
+taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene Frauen gegen ihre
+Männer auszuspielen. Das eklatanteste Beispiel hiervon ist
+der Fall „Max Dittrich”. Indem ich ihn hier kurz erwähne,
+bitte ich um <b>ganz besondere Aufmerksamkeit,</b> weil er
+für die Beurteilung des Herrn Lebius <b>von
+allergrößter Wichtigkeit ist.</b></p>
+
+<p>Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch bei mir
+machte, den Redakteur und Militärschriftsteller Max Dittrich
+als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen und Vorsicht, um
+gegen etwaige spätere Lügen und Schwindeleien des Herrn
+Lebius durch einen vollgültigen Zeugen geschützt zu
+sein. Herr Dittrich war damals vom Anfang bis zum Ende anwesend
+und hatte jedes von mir gesprochene Wort gehört. Einen
+solchen Zeugen zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer
+peinlicher, immer gefährlicher. Er beschloß darum,
+<b>ihn eidesunwürdig zu machen,</b> also ganz dasselbe, was
+er auch bei mir getan hat <b>und noch heute tut.</b> Es ist das,
+wie sich später zeigen wird, <b>ein persönlicher
+Trick</b> von ihm, den er <b>für unfehlbar</b> hält --
+-- -- eidesunwürdig machen!</p>
+
+<p>Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während seines
+Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder Polizist und
+Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken, hat eine Schuld auf
+sich, die er verheimlichen muß. Man muß das
+<b>entdecken</b> und <b>in die Zeitung bringen;</b> dann wird man
+Herrscher und als <b>„tüchtiger Kerl”</b> bekannt. So tat
+Herr Lebius auch hier. Die erste Frau Max Dittrichs war
+gestorben; von der zweiten Frau hatte er sich scheiden lassen;
+jetzt war er infolge eines Schiffbruchs, bei dem er nur
+gefährlich verletzt dem Tode entging, schwer nervenkrank
+geworden. Das gab ein hochinteressantes Material, aus dem sich
+jedenfalls etwas machen ließ! Herr Lebius ging also aus, um
+nach dem „Werg am Rocken”, nach der „heimlichen” Schuld und
+Sünde zu suchen. Er forschte überall, schriftlich,
+mündlich, persönlich. Er stellte sich überall ein,
+wo er glaubte, etwas erfahren zu können. Er scheute sich
+nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er schlich sich zu
+Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs Neffen und Nichte,
+sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die wieder verheiratet war und
+in glücklicher, stiller Ehe lebte. Er forschte sie aus, ohne
+daß sie ahnten, warum und wozu. Sie antworteten
+vertrauensvoll und unbefangen. Aber als er plötzlich zu
+ihrem Entsetzen die Worte „Gericht” und „Eid” fallen
+ließ, da fühlten sie die Krallen, in die sie geraten
+waren. Sie hatten nichts Böses sagen können und baten,
+sie aus dem Spiele zu lassen. Er versprach es ihnen. Besonders
+entsetzt über die Aussicht, in diesen Lebiusschen Schmutz
+verwickelt zu werden, war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger
+Mann war ein lieber, guter, aber in Beziehung auf die „Ehre”
+sehr streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in
+<b>solcher</b> Angelegenheit an Lebius’ Seite, das wäre
+unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie gewesen!
+Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu verwickeln, und er
+scheute sich nicht, es ihr hoch und heilig zu versprechen. Dann
+aber ging er schleunigst hin und brachte in Nummer 12 seiner
+„Sachsenstimme” einen Bericht, dem ich nur einige Punkte
+entnehme, die nicht einmal die schlimmsten sind,
+nämlich:</p>
+
+<p>„Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine Kinder, wohl
+aber zwei von seiner Stieftochter, bevor diese das 16. Lebensjahr
+erreichte.”</p>
+
+<p>„Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen
+ihres Mannes zu Tode.”</p>
+
+<p>„Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb Dittrich
+es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung
+unvermeidlich wurde.”</p>
+
+<p>„Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden Nichte seiner
+Frau unterhielt er ein mehrjähriges Verhältnis.”</p>
+
+<p>„Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen
+Mädchen an.”</p>
+
+<p>„Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau
+beobachten.”</p>
+
+<p>„Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich mit
+seiner Braut zusammen und hatte auch seine Tochter bei
+sich.”</p>
+
+<p>„Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen Nervenleidens
+Halbinvalide” usw.</p>
+
+<p>Man kann sich den Schreck der Verwandten denken, als sie das
+lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert wurden, weil Max
+Dittrich ganz selbstverständlich Herrn Lebius verklagte! Die
+Nichte mußte im Hause vernommen werden; sie lag krank. Die
+geschiedene Frau Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter
+und sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein
+absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe
+sei; sie werde das wohl kaum überleben. Dieser vortreffliche
+Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu auch ein
+menschliches Herz in der Brust und erledigte die Vernehmung in
+entsprechender humaner Weise.</p>
+
+<p>Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen Punkte
+alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl für jeden nur
+einigermaßen gebildeten und nicht verrohten Menschen die
+Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher Dinge
+<b>gesetzlich</b> resp. <b>preßmoralisch statthaft</b> sei.
+Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius,
+diese Frage mit einem „Nein!” beantworten wird. Das würde
+zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls genügen, ist
+aber noch lange nicht alles, denn wenn man Gelegenheit findet,
+die Akten Dittrich <tt>contra</tt> Lebius aufzuschlagen, so sieht
+man am Schlusse derselben Herrn Lebius in noch ganz anderer Weise
+beleuchtet. Er gesteht da nämlich ein, daß seine
+Verleumdungen gegen Max Dittrich</p>
+
+<p class="center">
+<b>nicht wahr gewesen seien,</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu
+tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, um diesen
+Herrn nun zu kennen.
+</p>
+
+<p>Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den anderen
+ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines Rowdyblattes
+heraus die Menschen niederknallt, so oft es ihm beliebt, das wird
+von der Strafgesetzgebung der Zukunft wohl ganz anders betrachtet
+und ganz anders behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt
+es, Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und
+menschheitsethische Instanzen, welche den Totschlag einer
+Menschen<b>seele</b> für wenigstens ebenso strafbar halten
+wie die Ermordung eines Menschen<b>körpers.</b></p>
+
+<p>Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten
+Anklagen in seiner „Sachsenstimme” gegen Max Dittrich
+geschleudert, und am 18. November darauf erklärte er in der
+zweiten Strafkammer des Königlichen Landgerichtes Dresden zu
+Protokoll:<br/>
+</p>
+
+<p><b>„Ich erkläre, daß ich die gegen den
+Privatkläger in der „Sachsenstimme” vom 27. März 1905
+erhobenen, beleidigenden Behauptungen</b></p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<b>hiermit zurücknehme und mein Bedauern über die
+gemachten Aeußerungen in der „Sachsenstimme”
+ausdrücke und den Privatkläger deshalb</b>
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! um Verzeihung bitte ! ! !</b>
+</p>
+
+<p>Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin Streit und
+Prozesse mit dem „Vorwärts” begann, gab dieser den
+Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen ihn an.
+Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten Trick, Zeugen durch
+die Presse unschädlich zu machen. Er veröffentlichte
+genau dasselbe wieder, was er damals über Dittrich
+veröffentlicht und dann vor dem Dresdener Landgericht</p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte. Dittrich
+war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu verklagen und auf jene
+Zurücknahme und Bitte um Verzeihung hinzuweisen. Was tat
+Lebius? Er erklärte in seinem an das Königliche
+Amtsgericht Charlottenburg gerichteten Schriftsatz vom 24.
+Dezember 1909, daß er damals jene Abbitte und jenes
+Eingeständnis der Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>„aus Gründen wirtschaftlicher Natur”</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+abgelegt habe. Seine Verhältnisse seien damals so
+bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen
+nach Dresden habe reisen können. Er selbst also ist es, der
+das folgende moralische Porträt von sich liefert:
+</p>
+
+<p><b>Lebius verleumdet den Militärschriftsteller Dittrich
+1905 in seinem Dresdener Blatte.</b></p>
+
+<p><b>Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener Landgericht,
+daß diese Verleumdungen erlogen seien, und bittet um
+Verzeihung.</b></p>
+
+<p><b>Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte jene von ihm
+als Lügen bezeichneten Verleumdungen als Wahrheiten
+wieder.</b></p>
+
+<p><b>Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an das
+Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals das Landgericht
+Dresden angelogen habe.</b></p>
+
+<p>Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht!
+Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch Ehr-
+und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als
+Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als
+Lüge bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf
+diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage;</p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! er hatte kein Geld ! ! !</b>
+</p>
+
+<p>Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für ihn
+vollständig genügender Grund, <b>Richter und
+Gerichtsämter zu belügen und sich als einen Charakter
+hinzustellen, dem kein vorsichtiger Mensch mehr etwas glauben
+kann!</b><br/>
+</p>
+
+<p>Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise von
+Lebius zu erzählen. Für meine heutigen Zwecke aber
+genügt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir die
+Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete, notiert,
+nicht alle, sondern nur die augenfälligsten. Es sind jetzt
+<b>über fünfhundert,</b> die ich ihm gerichtlich
+beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei Wochen vier
+Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich an diesen
+Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt man Hinrichtung!
+Und dabei legt er, wie bereits erwähnt, den
+größten Nachdruck immer darauf, daß ich ihn
+verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und
+fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe ich
+nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal beim Gericht
+Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen seinen ferneren Angriffen
+geschwiegen, bis er mich durch die angebliche Kahl-Broschüre
+zwang, mich zu verteidigen, weil ich <b>„vor den Richtern kaput
+gemacht” werden sollte.</b> Und selbst da habe ich ihm
+verziehen, habe mich mit ihm verglichen, habe gegen sein
+Versprechen, mich fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag
+zurückgezogen, obgleich der betreffende Richter sagte,
+daß Lebius <b>eine schwere Strafe</b> erleiden werde, falls
+es zur Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 <tt>B.</tt> 254
+08/34, gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen,
+daß Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich
+künftig in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich
+verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer
+Schmucksachen beraubte <b>und sie fast an den Bettelstab
+brachte.</b> Sie wurde von ihm zu gerichtlichen Schritten gegen
+mich verleitet, die man fast wahnsinnig nennen muß. Und
+dabei hatte er den Mut, in der ersten Instanz des vorliegenden
+Beleidigungsprozesses zu behaupten,</p>
+
+<p class="letter">
+<b>„daß er ihre Interessen vertreten habe und also den
+Schutz des &sect; 193 beanspruchen dürfe!”</b>
+</p>
+
+<p>Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen
+worden als diese! Lebius hat durch die Verführung der Frau
+Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen
+verfolgt, <b>die Interessen dieser armen Frau aber geradezu mit
+Füßen getreten.</b> Es ist unerhört, daß er
+dafür auch noch den Schutz des &sect; 193 verlangt!</p>
+
+<p>Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet worden,
+daß er ein Mensch sei, „der über Leichen geht.”
+Meine geschiedene Frau hat anstatt „Mensch” sogar ein anderes,
+äußerst schlimmes Wort gebraucht, ohne daß er es
+gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu belangen. Ob dieser
+Vorwurf wahr ist oder ob er zu viel sagt, das könnte ich mit
+vielen Beispielen belegen; ich will aber nur das eine bringen:
+Nach der in den Blätterberichten völlig korrumpierten
+Charlottenburger Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte
+der „Boston American” in Boston, Massachusetts, folgende ihm
+aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:</p>
+
+<p>„Autor frommer Bücher, ein Bandit. Berlin -- -- -- Herr
+Charles May, der Millionär, Philanthrop, Autor frommer
+Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit
+Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der Verüber
+vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend des
+südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine
+Räuberbande anführte, gebrandmarkt. <b>May brach
+zusammen und wurde unter den Schutz seiner Freunde gestellt, um
+zu verhindern, daß er Selbstmord begehe</b> usw.” Sich
+solche monströse Unwahrheiten aussinnen, um mich „kaput zu
+machen”, das ist doch wohl über Leichen gegangen. Oder
+nicht? Doch hiermit genug über diesen Herrn Lebius. Alles
+Andere gehört vor das Gericht, nicht aber hierher. Um meine
+Leser klar sehen zu lassen, ist nur noch zu konstatieren,
+daß der Münchmeyersche Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt>
+Gerlach auch sein Rechtsanwalt ist und daß Beide einander
+gegenseitig die weitgehendste Hilfe und Unterstützung
+leisten. Ich habe noch zwei äußerst interessante
+Münchmeyersche Champions zu erwähnen, die in Beziehung
+auf geistige Bedeutung zwar weder an Gerlach noch an Lebius
+kommen, aber als fromme, katholische Klosterbrüder mitten
+unter protestantischen oder gar aus der Kirche ausgetretenen
+Kolportageinteressenten doch einen frappierenden Eindruck
+machen.</p>
+
+<p>Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar
+Pöllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem
+Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden. Der
+hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als
+Professor. Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im
+„Stern der Jugend” gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei
+Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste hin
+und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren. Da
+stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht
+besaß, einen Professortitel zu führen. Er leistete mir
+folgende schriftliche Abbitte:</p>
+
+<p class="letter">
+„Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten
+Bezeichnungen „Professor” und „Jugendschriftsteller” auf
+Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an der
+Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau und Korrespondent
+der Jugendzeitschrift „Stern der Jugend” bin, erkläre ich
+hiermit der Wahrheit gemäß, daß ich die in
+genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25) enthaltene Notiz über
+Krankheitserscheinungen des Schriftstellers Karl May bedauere und
+die von ihm gerichtlich inkriminierten Worte in aller Form
+zurücknehme.<br/>
+    Seckau, den 20. Oktober 1904.</p>
+
+<p class="right">
+Pater Willibrord Beßler<br/>
+<tt>O.S.P.</tt>” <tt>[sic]</tt>
+</p>
+
+<p>Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich
+gerichtlich belangen muß! Der Abt scheint hier wie dort
+Ildefons Schober zu heißen. Ist es vielleicht derselbe?
+Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts,
+haben die Benediktiner mir meine „Reiseerzählungen” ohne
+mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen untersagte.
+Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein
+Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und verbreiten
+und mich doch so öffentlich beleidigen und verfolgen resp.
+mich und meine selben Werke in Acht und Bann erklären kann!
+Ich bemühe mich vergeblich, beides logisch zusammen zu
+bringen. Denn daß ich diesen Nachdruck unmöglich
+dulden konnte, versteht sich ganz von selbst! Uebrigens ist
+dieser Beuroner Pater derselbe, der mir „einen Strick drehen
+will, um mich damit aus dem Tempel der deutschen Kunst
+hinauszupeitschen”. Also, erst druckt man meine Bücher
+nach, ohne mich zu fragen, und dann peitscht man mich hinaus! In
+dieser Weise charakterisiert Pater Pöllmann seinen eigenen
+Orden, der sich doch wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere
+Literatur erworben hat, als daß er von einem seiner
+Angehörigen in dieser Weise beleumundet werden sollte!</p>
+
+<p>Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift
+„Ueber den Wassern” eine Reihe von Artikeln gegen mich
+geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener „Freistatt”
+geantwortet. Damit wären wir nun eigentlich mit einander
+fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und mir zu
+entscheiden. Aber während ich in meinen Antworten ganz
+selbstverständlich so sachlich und höflich wie
+möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen
+fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem Gang vor
+das Gericht zu bequemen haben wird. Und außerdem ist sein
+persönliches und literarisches Verhältnis zu Herrn
+Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem Münchmeyerschen
+Programm, mich in den Zeitungen „kaput zu machen”,
+festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius, Gerlach u. s. w. in
+Beziehung zu stehen; es sind ihm aber derartige Beziehungen ganz
+unschwer nachzuweisen. Hierüber ist Klarheit zu schaffen.
+Denn daß er in dieses „Kaputmachen” auf das
+Kräftigste mit eingegriffen hat, kann nicht einmal er selbst
+in Abrede stellen. Seine „Wasser”-Artikel werden sowohl im
+Lebius- als auch im Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das
+Eifrigste gegen mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge
+oder „Sachverständiger” benannt und wird als solcher in
+Berlin auszusagen haben.</p>
+
+<p>Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern
+Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht
+gutheißen kann. Ich muß mich fragen, ob es in dieser
+seiner Taktik liegt, das Leserpublikum irre zu führen.
+Zuerst erschienen von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben
+herab klingende Notizen darüber, daß ich es
+unterlassen habe, meine Drohung, ihn zu verklagen,
+auszuführen. Und nun sich herausstellt, daß ich dieses
+Versprechen doch gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich
+gesinnten Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine
+Beleidigungsklage bald hier bald dort zurückgewiesen worden
+sei und ich sämtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht
+fair, vielleicht sogar unwürdig. Es handelt sich hier um die
+Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den
+Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich
+in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen wurde das
+Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich jetzt nun
+zuständig bin. Darum fragt es sich, ob die Sache
+infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu verhandeln ist. Bis
+das entschieden ist, hat sie zu ruhen. Wer es anders darstellt,
+kann nur entweder unwissend oder böswillig sein. Von Kosten
+weiß ich kein Wort.</p>
+
+<p>Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage gegen
+Pater Expeditus Schmidt in München. Sie wurde in Dresden
+eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig verhandelt. Auch
+hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben worden, doch nicht
+von mir. Mir kann es sehr gleichgültig sein, an welchem Orte
+das Urteil gesprochen wird, denn meine Sache ist gerecht. Ich
+habe nicht nötig, spitzfindig zu erwägen, an welchem
+Orte, bei welchem Gerichte und in welchem Falle ich meinen
+Prozeß gewinne oder verliere. Ich habe mich nicht an solche
+Nebendinge zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre
+Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den
+Richtern.</p>
+
+<p>Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern
+förderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, die
+Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen Dingen hat es
+sich herausgestellt, daß die beiden Pater Schmidt und
+Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen und der Sache
+Münchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht in Verbindung mit dem
+Münchmeyerschen und Lebiusschen Rechtsanwalt. Ich werde die
+Beweise erbringen, und dann wird sich der Zusammenhang mit dem
+Münchmeyerschen Programm, mich „in allen Zeitungen vor ganz
+Deutschland kaput zu machen”, ganz von selbst ergeben. Um einen
+kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der Dinge zu
+ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem
+Artikel, den das „Wiener Montags-Journal” am 17. Oktober dieses
+Jahres brachte. Er lautet:
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>Karl May als Schriftsteller.</b><br/>
+(Eine Genugtuung.)
+</p>
+
+<p>Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die
+Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen
+Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung. Denn
+nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines
+Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und
+hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur
+Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausführliche
+Würdigung der so reichen Phantasie eines deutschen
+Romanziers eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das
+Wort zu einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den
+erfolgreichen Prozessen gegen seine hämischen und boshaften
+Widersacher, zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt
+uns:</p>
+
+<p>Die ganze sogenannte „Karl May-Hetze” ist auf Unwahrheiten
+aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist, daß ich
+Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen für
+unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten dieser
+Erzählungen sind im „Deutschen Hausschatz” erschienen, der
+doch gewiß niemals eine Knabenzeitung gewesen ist. Und den
+später erschienenen Bänden sieht jedes ehrliche Auge
+sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen Leuten
+verstanden werden können. Hiermit fallen alle Vorwürfe,
+die man mir als angeblichem „Jugendverderber” macht, in sich
+selbst zusammen. Wenn die Jugend meine Bücher trotzdem
+liest, und zwar sehr gerne, so beweist das doch nicht, daß
+ich sie für sie bestimmt habe, sondern daß die
+Jugendseele in ihnen findet, was ihr von andern vorenthalten
+wird.</p>
+
+<p>Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen meinen
+Reiseerzählungen schwindle. Wer das behauptet, ahnt
+gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner eigenen
+Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick eines Tertianers
+aus, zu erkennen, daß alles, was ich erzähle, nur mit
+den Wurzeln in das reale Leben greift, im übrigen aber nach
+Regionen strebt, die nicht alltäglich sind. Jeder Leser, der
+mich begreift, weiß, daß ich Länder und
+Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen
+existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der
+absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was anderen
+noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und
+beschreibe, kann dies nur für unwissende oder
+übelwollende Menschen ein Grund sein, zu behaupten,
+daß ich schwindle.</p>
+
+<p>Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser
+beleidigenden Weise über mich zu urteilen. Wer mich nicht
+begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine
+sehr ausgiebige sei. Erst als die größte aller
+Unwahrheiten, die es über mich gibt, verbreitet wurde,
+nämlich die, daß ich „abgrundtief unsittliche
+Schundromane” geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen
+Tone mit mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von einer
+Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es lag, sie zu
+verbreiten, um durch meinen Namen möglichst viel Geld zu
+verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns, dem damaligen
+Hauptredakteur der „Kölnischen Volkszeitung”, den Mann,
+der durch seine Veröffentlichungen für diese
+Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar unternahm, die
+sogenannten „Beweise” zu liefern, daß die betreffenden
+Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur aus meiner Feder
+stammen. Ganz selbstverständlich konnte der wahre,
+unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung der von mir
+geschriebenen Originalmanuskripte geführt werden. Jeder
+andere Beweis konnte nur durch absichtliche Täuschung oder
+Selbstbetrug ermöglicht sein und mußte sich
+schließlich zur Spiegelfechterei gestalten.</p>
+
+<p>Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns? Er
+brachte Behauptung über Behauptung. Er führte eine
+ganze Reihe von „inneren Gründen” an, hinter denen sich
+der Mangel an wirklichen Gründen versteckte. Er sprach von
+Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und
+dergleichen. Das Wiener „Neuigkeits-Weltblatt” weist ihm sogar
+die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege dafür,
+daß May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann mußte
+hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte in den
+Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal die
+Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir die
+Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten. Er machte
+mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere täuschten
+sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von selbst zur richtigen
+Einsicht kamen. Heute glauben nur noch Wenige seinen
+Ausführungen. Andere akzeptieren sie aus prozessualen und
+ähnlichen guten Gründen. Ob Pater Expeditus Schmidt und
+Pater Ansgar Pöllmann, meine beiden neuesten Gegner,
+wirklich an ihren Cardauns glauben, das weiß ich nicht; ich
+kann da nur vermuten. Was sie behaupten, gilt für mich noch
+lange nicht als Beweis. Aber sie fußen in allem, was sie
+gegen mich tun, auf altem Cardaun’schem Grund und Boden und
+scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich
+nächstens unter ihren und den Anschuldigungen ihrer
+Verbündeten zusammenbrechen werde.</p>
+
+<p>Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau
+Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten, von
+der Polizei konfiszierten „Venustempels”. Ferner der
+Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden, der nun schon
+seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im Felde liegt. Und
+endlich der wohlbekannte Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg,
+der aus der christlichen Kirche ausgetretene Sozialist, dem ich
+3000 bis 6000 Mark und dann sogar 10 000 Mark geben sollte,
+dafür wolle er mich in seinem Blatt loben und preisen. Ich
+gab ihm nichts. Da ging er zu Münchmeyers über und war
+seitdem der unermüdlichste meiner Gegner. Ich bemerke
+ausdrücklich, daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum
+Anwalt hat. Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser
+Münchmeyersche Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater
+von Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist,
+so ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin
+vollständig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns,
+Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat Gerlach,
+Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann. Diese alle
+sind jederzeit schußbereit. Sie leugnen zwar den
+gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren Prozessen
+gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und helfen
+einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen mich und bei der
+Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen für das
+Gericht. Der Ueberragendste von ihnen ist aber dieser
+Münchmeyersche Advokat, der alles und alle dirigiert, sogar
+die beiden Patres. Der unschädlichste und erfreulichste aber
+ist Herr Cardauns, der meines Wissens niemals zu dem
+Eingeständnis gebracht werden konnte, daß er meine
+Originalmanuskripte nicht besitze, kürzlich aber in Bonn in
+meiner Gegenwart vor dem beauftragten Richter als Zeuge zugeben
+mußte, daß er sie noch nie gesehen habe.</p>
+
+<p>Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf
+weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen wird, ist
+eine schon längst entschiedene Frage. Kein Kenner der
+Verhältnisse stellt sie mehr auf. -- --</p>
+
+<p>Radebeul-Dresden, Oktober 1910.</p>
+
+<p class="right">
+Karl May.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap09"></a>IX.<br/>
+Schluß.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Wie meine „Reiseerzählungen” nur Skizzen sind, so ist auch das vorliegende Werk
+nur Skizze. Es kann gar nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch
+nicht zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener Prozesse wie drohende
+Revolver auf mich gerichtet sind. Außerdem verhindern mich brutale
+Körperschmerzen, in der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang
+täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift
+und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules
+aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir nicht das
+Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins
+Wanken gekommen. Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden,
+hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahre ist mir
+der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich
+zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber
+unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu
+denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche,
+fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir
+die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß
+brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen
+und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben,
+sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil
+meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen.
+</p>
+
+<p>Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich,
+endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber
+doch eine ganz, ganz andere. Ich sagte bereits: Das Karl
+May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein
+Menschheitsproblem im Einzelnen. Aber während die meisten
+Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise
+gewisse Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es
+noch Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben
+zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im Einzelnen, sondern
+im Ganzen zu liefern. Die Vielen stellen Menschheitsteile, diese
+Wenigen aber stellen Menschheitsbilder dar. Die Vielen
+können ihren engen Kreis sauber halten; sie sind
+Dutzendmenschen; sie können sogar als Mustermenschen
+erscheinen. Den Wenigen aber ist die Tugend und die Sünde,
+die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem
+Verhältnisse wie dieser zugeteilt; sie können
+berühmte Feldherren oder rohe Mörder, große
+Diplomaten oder berüchtigte Schwindler, segensreiche
+Finanzgenies oder niedrige Taschendiebe, niemals aber
+Mustermenschen werden. Ihnen ist nicht das wohltuende Glück
+der unbewußten Mittelmäßigkeit beschieden. Ist
+das Leben mächtiger als sie, so werden sie zwischen Tugend
+und Laster, zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und
+Verzweiflung hin- und hergezerrt, bis sie über den Wolken
+zerstäuben oder in den Schluchten zerschellen. Sind sie
+stärker als das Leben und sind sie im Glücke geboren,
+so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen;
+kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und der
+Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es
+erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu
+überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher
+sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen
+lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die
+Augen für diese Welt zu schließen.</p>
+
+<p>Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von diesen
+Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch wenigstens
+verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. Das habe
+ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß
+ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu
+beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen
+tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um mich ebenso
+beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie
+die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die
+Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben.
+Ebenso bin ich überzeugt, daß es mir beschieden war,
+dabei den hartnäckigen Widerstand zu finden, der sich mir
+auch heute noch entgegenstellt, und daß ich mich nicht
+über ihn beschweren darf, weil ich ihn mir ebenso selbst
+bereitet habe, wie die Menschheit schneller vorwärtskommen
+würde, wenn sie endlich aufhören wollte, sich ihren
+eigenen Weg mit Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich
+keinen anderen, als nur mich selbst anklage.</p>
+
+<p>Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf
+gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so war
+dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern die immer noch
+nicht ganz überwundene Anima ist es gewesen, die es mir
+diktierte. So lange sich der Mensch im Niedrigen bewegt, und das
+mußte ich in dieser meiner Lebensbeschreibung doch mehr als
+reichlich tun, hat das Niedrige Macht über ihn, und ich
+durfte nicht unwahr sein; ich mußte so schreiben, wie das
+Milieu es mit sich brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und
+bessere, reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und
+freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft
+zurück, alles das, was mich verbittern will, zu
+überwinden.</p>
+
+<p>Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam Grund vorhanden.
+Ich spreche da nur von den letztvergangenen zehn Jahren und den
+Begleiterscheinungen des Münchmeyerprozesses. Dieser wurde
+von Seiten meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in
+einer Weise geführt, die ich vorher für
+vollständig unmöglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie
+weitgehender Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt
+schützt. Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter
+herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst Niemand
+erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des Paragraphen 193,
+denn er handelt im Interesse seines Klienten. Ich bringe eine
+Musterauswahl der Ausdrücke, die ich mir vom
+Münchmeyerischen Advokaten <tt>Dr.</tt> Gerlach gefallen
+lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner Eigenschaft als
+Anwalt bediente:</p>
+
+<p>Er beschuldigte mich „frecher Anzapfungen”, „unberechtigter
+Forderungen”, zahlreicher „Dreistigkeiten” und „faulen
+Zaubers”. Er nannte mich „raffiniert”, „frech”, „dreist”,
+„verleumderisch”, „pathologisch zur Unwahrheit reizend”,
+„Lügner”, „Lügenmay”, Renommist”,
+„Münchhausen”, „Aufschneider”, „Betrüger”,
+„Lump”, „Schwindler”, „Allerweltsschwindler”,
+„Einbrecher”, „Hochstabler” <tt>[sic]</tt>, „Zuchthäusler” usw. usw. Ich
+frage: Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die
+Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt?
+Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich ihrer
+schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr vor Gericht
+sind sie gestattet, denn ich habe diesen Anwalt auf sie hin wegen
+Beleidigung verklagt und bin abgewiesen worden. Aber noch mehr:
+Er erhob auf diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und
+diese wurde nicht zurückgewiesen. Der Richter ist hieran
+völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz verlangt
+es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen für die
+Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen waren,
+sagte dieser Anwalt zum Richter: „Aber es ist doch ganz
+unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie May, den
+Prozeß gewinnen kann!” „Das haben Sie abzuwarten,”
+antwortete ihm der Richter. Ich stand dabei und mußte mir
+die Beleidigung gefallen lassen, denn das Gesetz erlaubte sie
+ihm. Das ist nun fast zehn Jahre lang so gegangen und geht noch
+heut in diesem Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch
+stehender Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem
+Rechtsanwalt: „Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir
+eine Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May. Was
+muß dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er hätte
+getrost hinzufügen können: „Was leidet er noch, und
+was wird er noch weiter leiden!” Dieser Richter kannte meine
+Vorstrafen genau; er hatte die hierüber vorhandenen Akten
+studiert. Ich gewann trotzdem und trotz aller gegnerischen
+Schmähungen den Prozeß in sämtlichen Instanzen,
+gewiß ein laut sprechender Beweis, daß der deutsche
+Richter sich durch anwaltliche Invektiven nicht beeinflussen
+läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich sie doch und
+habe ich sie noch heut. Und sie wirken, wenn nicht auf das
+Urteil, so doch ganz bestimmt nach anderer Seite hin. Sie
+verrohen den Parteiverkehr und greifen aus dem Verhandlungszimmer
+hinaus in das öffentliche und hinein sogar in das private
+Leben. Man wird alle die beleidigenden Ausdrücke über
+mich, die ich oben angeführt habe, schon in den Zeitungen
+gelesen haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet
+sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die jeder
+übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen
+darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter
+führt als die Humanität. Er schreibt diese Roheiten in
+seine Schriftsätze und lanciert sie von da als
+beweiskräftiges Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder
+er schickt sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in
+gedruckter Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen,
+daß sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte
+einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder
+Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede
+Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu
+erschüttern oder wohl gar zu vernichten. „In den Zeitungen
+von ganz Deutschland kaput machen,” nennt man das. Und das
+Gesetz begünstigt dieses Treiben!</p>
+
+<p>Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes Beispiel
+nahe, welches nichts weniger als empfehlend für mich klingt.
+Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn ich der Allgemeinheit
+nützen will, nicht fragen darf, ob ich mir selbst etwa
+dadurch schade. Meine erste Frau hatte die Frau eines Dresdener
+Schriftstellers beleidigt, welcher von Münchmeyers aus
+wußte, daß ich vorbestraft bin. Er rächte sich
+dadurch, daß er mich bei einem deutschen Fürsten
+denunzierte und ihm mitteilte, daß seine Verwandten meine
+Bücher läsen und mich auch persönlich besuchten.
+Der Fürst antwortete durch Schweigen. Da kam eine zweite
+Denunziation, und nun war der Fürst gezwungen, sich nach
+Dresden zu wenden, um zu erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei.
+Er erhielt die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach
+Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu erkundigen. Er
+erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei, weshalb
+ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause bleibe, und daß
+ich in meinen Büchern über Länder schreibe, in
+denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was ich da berichte, sei
+nicht wahr. Infolge dessen steht in den Dresdener Polizeiakten
+über mich verzeichnet, daß ich einen unsoliden
+Lebenswandel führe und ein literarischer Hochstabler <tt>[sic]</tt> sei. Das wurde dem Fürsten
+mitgeteilt, und einer der betreffenden Verwandten erzählte
+es mir bei nächster Gelegenheit sehr ausführlich
+wieder. Er wußte sehr wohl, was an der Sache war, bat mich
+aber um Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber
+zu schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil
+ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den
+verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören. Jetzt aber
+werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht und
+von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet. Wie kommt ein aus
+der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat a. D. zu diesen geheimen
+Dresdener Polizeiakten? Das Gesetz gestattet es! Ganz
+selbstverständlich fühle ich mich nun nicht mehr zur
+Diskretion verpflichtet und werde darauf dringen, daß diese
+Akten revidiert und berichtigt werden.</p>
+
+<p>Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich wie auf
+Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig Jahren auf
+ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das ist so lange her,
+daß die betreffenden Gerichtsakten längst vernichtet
+worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt, daß solche
+Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer seien, und diese Dauer
+ist vorüber. Wer hat nun daran gedacht, daß auch bei
+der dortigen Polizei Notizen hierüber gemacht worden und
+vielleicht noch vorhanden sein können? Herr Lebius hat sie
+kürzlich veröffentlicht! Wie kommt ein Mann, wie er,
+nun auch zu den Leipziger Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt
+es!</p>
+
+<p>Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht. Sie
+sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn gar
+nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm!</p>
+
+<p>Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine
+prozessualen Verhältnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das, und
+wer ermöglicht es ihm? Das Gesetz und der
+Münchmeyersche Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige
+ist. Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand. Es ist
+sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene Frau in
+Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts
+veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum
+Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für
+sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke
+paßte. Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner
+reichen, persönlichen Erfahrung dafür, daß das
+Gesetz Dinge nicht nur erlaubt, sondern sogar begünstigt,
+die es eigentlich auf das strengste verbieten sollte. Dem steht
+selbst der rechtlichste und humanste Richter machtlos
+gegenüber, und das war es, woran ich dachte, als ich weiter
+oben sagte, daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt
+habe. Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren
+unfreiwillig da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen,
+denen es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung
+zurück zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und ich
+weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die,
+welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder
+niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit
+besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu
+ihnen hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht
+gezwungen, sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse.
+Ich will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen wagte,
+nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn sie sich
+nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren sind,
+außer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch engsten
+Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen mein
+Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. Will ihnen
+zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe fruchtet, wenn
+bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen zeigen, daß ein
+einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser eine, einzige
+Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten und die
+besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen Liebe und
+der Humanität mit einem Schlage zunichte zu machen. Ich will
+ihnen sagen, daß es eine Sünde von der Menschheit ist,
+ihre Mitschuld an der Schuld der Schuldigen zu verbergen.
+Daß es aber auch von diesen ein Fehler ist, zu
+verheimlichen, daß sie einst schuldig waren. Unser Leben,
+mein Leben, ihr Leben soll frei vor Gottes Auge liegen, besonders
+aber auch frei vor unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir
+nicht, und dann grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum
+wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und sehen wir
+das ein, so können wir uns selbst verzeihen, und wer sich
+selbst verzeihen darf, dem wird verziehen werden. Weg also mit
+der falschen Scham, und heraus mit der Offenheit! Nur das
+Geheimnis, in das wir uns hüllen, gibt jenem Paragraphen und
+jedem gewissenlosen Menschen die Macht, sich höher und
+besser zu dünken als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu
+sein!</p>
+
+<p>Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie alles
+Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur Skizze sein. Aber
+ich fühle das Bedürfnis, das, was Andere Böses an
+mir taten, für meine Mitmenschen in Gutes zu verwandeln. Ich
+werde es denjenigen, die gleiches Schicksal, wie ich, hatten,
+ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich
+diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind. Was
+nützt alle sogenannte „Gerechtigkeit”, alle sogenannte
+„Milde des Gerichtes”, alle sogenannte „Humanisierung des
+Strafvollzuges”, alle sogenannte „Fürsorge für
+entlassene Strafgefangene”, wenn es nur eines einzigen
+spitzfindigen Anwaltes oder eines einzigen fragwürdigen
+Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen
+Bestrebungen erwuchs, in einem einzigen Augenblicke zu
+vernichten? Wie kann man von dem Gefallenen verlangen, daß
+er wieder aufstehe und sich bessere, wenn man es
+unterläßt, auch die Verhältnisse, in die man ihn
+zurückversetzt, zu verbessern? Ist es eine Ermunterung
+für ihn, zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch,
+so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der
+Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen
+ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen?
+Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um
+gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen,
+sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei
+und stellt ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich
+von einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein
+„wissenschaftlichen” Gründen an diesen Pranger genagelt
+worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht einmal meinen
+Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagaphen zu
+dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man
+denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich
+in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches
+Lächeln zeigt, welches verrät, wie es eigentlich steht.
+Und da fühlt man mit den Hunderttausenden, die hierunter
+leiden, das brennende Bedürfnis, einmal alle die
+Paragraphen, an denen der gute Wille der Menschheit scheitert, an
+das Tageslicht zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen
+müssen, um durchschaut zu werden -- -- -- vor die
+Oeffentlichkeit, vor den Reichstag!</p>
+
+<p>Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es
+hat schon Einige gegeben, die als „entlassene Gefangene” ihre
+Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das
+war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen
+bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine
+Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige
+Menschenschicksale, die, auch im klassischen Sinne, wirkliche
+Schicksale sind. <b>Und das meinige ist ein solches.</b> Ich
+fühle mich verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den
+Dienst der Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das
+wird man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.</p>
+
+<p>Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die
+Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl May,
+sondern auch mit dem Menschen May befaßte und daß
+Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf den letzten
+Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das Eine war
+berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, Schinder- und
+Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen lassen
+mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld von dieser
+Qual und Marter zu befreien. Das war die Geisterschmiede meines
+Märchens, in der man auf mich losschlug, daß die
+Funken durch alle Zeitungen flogen. Sie fliegen sogar noch heut.
+Doch wird bald Ruhe werden. Die Zeit des Hammers ist
+vorüber; es kommt nur noch die Feile, und dann ist es gut.
+Daß all das Leid, welches über mich kam, auch meine
+andere, die schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen
+mußte, versteht sich ganz von selbst. Auch da gab es
+Schlacken, und zwar mehr als genug. Auch sie mußten
+herunter. Es flog der Ruß, der Schmutz, der Staub, der
+Hammerschlag. Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird
+ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne.</p>
+
+<p>Es war überhaupt ein großes, ein schweres und ein
+höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen. Nicht nur in
+meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern, in meiner
+Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner Ehe. Alles, was mich
+in die Schmiede und dem Schmerze in die Arme getrieben hatte,
+mußte weichen. An seine Stelle trat, was rein und ehrlich
+war und mit nach oben strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan,
+dem Land der Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und
+Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt
+werden konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen
+vorüber. Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes
+Wasser, irgend ein Beleidigungsprozeß, eine
+Staatsanwaltschaftsanzeige, doch auch das geht bald vorbei, und
+dann wird Ruhe und Friede um mich sein, so daß ich endlich,
+endlich Zeit und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches,
+an mein einziges und letztes „Werk” zu gehen.</p>
+
+<p>Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin ich
+voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine „Hetze”
+wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde steht, noch nie in
+der Literatur irgend eines Landes, eines Volkes gegeben. Das gab
+Zeitungsstürme, Stürme in den Gerichtssälen,
+Stürme im eigenen Hause und Stürme im eigenen Innern.
+Mein alter, treuer, guter Freund, der Körper, behauptet
+zwar, nicht länger mitmachen zu können, aber ich bin
+überzeugt, daß er doch wieder so bereitwillig und
+verständig wird, wie er immer gewesen ist. Er hat ertragen
+müssen, was eigentlich wohl nicht zu ertragen war.
+Zunächst sechs Jahre lang die drei Instanzen des ersten
+Münchmeyerprozesses mit allen Aufregungen und
+Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren. Sodann die
+zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung wegen Meineid
+und Verleitung dazu. Denn der Münchmeyersche Rechtsanwalt
+hatte, nachdem der Prozeß für ihn verloren war, mich
+und meine Zeugen beim Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt.
+Der Staatsanwalt war, nach seiner eigenen Aussage auf diese
+Anzeige eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen.
+Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz
+selbstverständlich damit, daß man weder mir noch
+meinen Zeugen etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch
+nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast noch
+schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten Lebiusangriffe.
+Eine doppelseitige Lungenentzündung, die mich monatelang
+zwischen Tod und Leben schweben ließ. Die Beschuldigungen,
+welche meine geschiedene Frau auf mich, meine jetzige Frau und
+ihre Mutter wälzte und mit denen sie uns in schwere Strafe
+bringen wollte. Die Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann
+wegen dieser Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben
+ließ. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in Berlin
+wiederholt. Glücklicher Weise hatte diese geschiedene Frau
+Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete, während des
+Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten und ohne all mein Zutun
+freiwillig erzählt und eingestanden, so daß sie zu
+diesem späteren Leugnen nur verführt sein konnte. Die
+Vorlegung dieser Beweise zeigte alle Anklagen gegen mich als
+Lügen. Ferner der Antrag des Lebius an die
+Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Sein
+Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich verfolgen zu lassen. Die
+zahllosen Artikel gegen mich in seinem Blatte, der „Bund”.
+Seine Flugblätter mit den gräßlichsten
+Unwahrheiten, welche die Runde durch Deutschland, Oesterreich,
+Schweiz, Italien, Frankreich, England, Nord- und Südamerika
+machten. Da beschuldigte er mich sogar, meinen Schwiegervater
+erwürgt zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit.
+Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des
+Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier
+Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich wegen
+Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren Zuchthaus
+bestraft wird. Man sieht, daß man zu den
+alleräußersten Mitteln greift, mich „kaput zu
+machen”! Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den
+Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und Lebenskraft zu
+verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum jeder fähig ist.
+Ich habe es ertragen, ohne mich zur Selbsthilfe reizen zu lassen,
+weil ich keinen Augenblick lang an Gott und seiner Liebe zu
+zweifeln vermag und weil mir in dieser überschweren Zeit ein
+Wesen zur Seite gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende
+Seele mich wie auf Engelsflügeln über alles Leid erhob,
+dem ich verfallen sollte, nämlich meine jetzige Frau. Wenn
+man berechtigt gewesen ist, Bücher über das Thema „die
+Bestie im Weibe” zu schreiben, so könnte ich mich wohl
+verpflichtet fühlen, demgegenüber ein Buch zu
+veröffentlichen, welches den Titel „Der Himmel im Weibe”
+führt.</p>
+
+<p>Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine Quelle alles
+menschlich Reinen, menschlich Edeln und menschlich Ewigen ist,
+läßt sich in Beziehung auf das Erdenleid Alles
+erlangen und in Beziehung auf die noch vor mir liegende Arbeit
+Alles leisten, was menschenmöglich ist. Ich bin nicht mehr
+so fürchterlich allein. Ich habe nicht mehr immer nur aus
+mir selbst herauszuschöpfen, sondern es hat sich mir ein
+köstlich reiches seelisches Leben zugesellt, durch dessen
+Einfluß sich Alles, was in mir zum guten Ziele führt,
+verdoppelt. Körperlich schwer leidend, bin ich geistig
+frisch und seelisch wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der
+Jugendzeit. Ich bin nicht töricht genug, mir zu
+verheimlichen, daß man mich als einen Ausgestoßenen
+betrachtet, ausgestoßen aus Kirche, Gesellschaft und
+Literatur. Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich
+für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten halt; der
+Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer
+heimlich Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig
+bringen, sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen sie
+die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als
+gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe
+nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft
+gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen
+war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten Leute,
+meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das Innenleben
+aneinander so vollauf genug, daß wir es gar nicht fertig
+bringen, uns nach „Gesellschaft” zu sehnen. Und was meine
+literarische Ausstoßung betrifft, so kann ich mich auch mit
+ihr zufrieden geben. Den Weg, auf dem ich mich befinde, ist noch
+kein Anderer gegangen; ich wäre also auch ohne den
+Haß, den man auf mich richtet, gezwungen, ein Einsamer zu
+sein. Auch bin ich überzeugt, daß später, wenn
+man mich und das, was ich will, erst richtig kennen gelernt hat,
+sich Manche, vielleicht sogar Viele von dem großen Haufen
+absondern werden, um sich mir zuzugesellen. Alte Wege können
+höchstens zu alten, toten Schätzen führen. Wer
+aber nach neuen, lebendigen Schätzen sucht, der soll auch
+neue, nicht alte Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das
+Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch ihren Wert
+oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. Taugen sie etwas, so
+werden sie bleiben, ganz gleich, ob man sie gegenwärtig lobt
+oder tadelt. Taugen sie nichts, so werden sie verschwinden, ganz
+gleich, ob man sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die
+Hauptsache ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert
+bestimmt, bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er
+literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann
+auch nur den geringsten Einfluß darauf haben. Das klingt
+stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind
+Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen auf
+Späteres. Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles,
+durch was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man
+jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man
+will.</p>
+
+<p>Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung
+auf die Münchmeyerromane übrig. Einer meiner
+erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem
+weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in
+unsittliche verwandeln könne; das würde eine
+Riesenarbeit sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint
+so glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines
+Schundverlages unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der
+Zeit und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben,
+so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und
+der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman
+umzuändern! Zweitens erfordert eine solche Umänderung
+keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner anzunehmen
+scheint. Die Einfügung von einigen Worten genügt
+vollständig, einen „moralischen” Druckbogen in einen
+„unmoralischen” zu verwandeln. Drittens sind Kräfte mehr
+als genug für solche Umarbeitungen vorhanden, und sie
+besitzen eine so erstaunliche Routine darin, daß selbst der
+Kenner sich über die Masse, die sie bewältigen,
+wundert. Ich habe hierüber Beweise erbracht und werde auch
+noch weitere bringen. Das oft erwähnte Faktotum Walther
+saß bei Münchmeyers täglich von früh bis
+abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann die Korrektur
+zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen bekam. Was erst
+Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen
+Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben
+mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und
+gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Münchmeyers
+Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß
+bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand
+ganze Kapitel verändert hat. Ein anderer Zeuge hat
+beschworen, Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er
+an meinen Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme,
+ohne es mir sagen zu dürfen. Ich brauche hier wohl nicht
+noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen,
+anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich
+absolut die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren
+Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa die
+dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man es zumutet,
+sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu der damaligen
+Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden.
+Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf von meinem
+Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir versichern, ganz
+genau sagen zu können, wo die Fälschung beginnt und wo
+sie endet.</p>
+
+<p>Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick meiner
+Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam zu machen, den
+man anwendet, um meine den höhern Kreisen angehörenden
+Leser gegen mich zu empören. Da wird zum Beispiel an
+auffälliger Stelle gesagt, daß ich in hervorragender
+Gesellschaft in Dresden verkehre und daß ich mir
+überhaupt die größte Mühe gebe, mit
+hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein Wort,
+kein Buchstabe wahr. Bin ich „Hans für mich”, so
+fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser
+Beziehung weiter nichts, als „Hans für mich” zu bleiben.
+Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis liefern
+wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich
+aufgedrängt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet,
+daß ich an „Höfen” verkehre. Das ist erst recht
+nicht wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit,
+die zu irgend einem „Hofe” gehört, meine Bücher liest
+und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad ich
+der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich „bei Hofe
+verkehre”. Es kann diesen Behauptungen, die pure Erfindungen
+sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich den betreffenden
+Kreisen als indiskret oder gar als Lügner zu kennzeichnen
+und mich selbst da zu schädigen, wohin ich absolut nicht
+gehöre. -- -- --<br/>
+-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --</p>
+
+<p>Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang
+zurück, auf mein altes, liebes Märchen von „Sitara”,
+von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, so wird man
+dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen, und zwar als die
+greifbarste, die es gibt. Es ist die Aufgabe des begonnenen,
+gegenwärtigen Jahrhunderts, unsere ungeübten Augen
+für die große, erhabene Symbolik des alltäglichen
+Lebens zu schärfen und uns zu der beglückenden und
+erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß es höhere und
+unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als diejenigen, mit denen
+der Werk- und Wochentag uns beschäftigt. Die Skizzen, die
+ich zeichnete und veröffentlichte, sollen der Vorbereitung
+zu dieser Erkenntnis dienen. Darum sind sie symbolisch
+geschrieben und, um verstanden zu werden, nur bildlich zu nehmen.
+Man möchte sich eigentlich darüber wundern, daß
+dies dem gewöhnlichen Leser so schwer zu fallen scheint. Es
+ist doch wohl keine allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines
+Gleichnisses irgend etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das
+Land der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das
+Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine, so kann es
+doch keiner geradezu akademischen Bildung bedürfen,
+einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise von Ardistan nach
+Dschinnistan beschreibe. Der Leser hat sich einfach aus seiner
+Alltagswelt in meine Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch
+wohl auch nicht schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu
+verlassen, um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.</p>
+
+<p>Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, so will ich
+durch meine Erzählungen das Innere meiner Leser vom
+äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken klingen
+hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem
+Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil
+der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt. So
+leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich zu nehmen, so leicht
+ist es auch, meine Bücher zu verstehen und ihren Inhalt zu
+begreifen. Ich will, daß meine Leser das Leben nicht
+länger als ein nur materielles Dasein betrachten. Diese
+Anschauung ist für sie ein Gefängnis, über dessen
+Mauern sie nicht hinaus in das von der Sonne beschienene freie,
+weite Land zu schauen vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber
+will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie
+ich mich selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen,
+seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im
+Gefängnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze
+der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich, der zu mir in
+die Zelle trat. Da durfte mich niemand berühren. Da war es
+keinem erlaubt, den Werdegang meines inneren Menschen zu
+stören. Kein Schurke hatte Macht über mich. Was ich
+besaß und was ich erwarb, das war mein sicheres,
+unantastbares Eigentum, bis ich -- -- entlassen wurde,
+länger nicht! Denn mit dieser Entlassung verlor ich meine
+Freiheit und meine Menschenrechte. Was andere, die nur materiell
+zu reden wissen, als Freiheit bezeichnen, das ist für mich
+ein Gefängnis, ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in
+dem ich nun schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet
+habe, ohne, außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen
+Menschen zu finden, mit dem ich hätte sprechen können
+wie damals mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten.
+Ich lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für
+Andere. Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich mir
+sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit mir machen, was
+ihm beliebte, denn überall fand er einen Anwalt, der seine
+Sache führte. Ein Jeder durfte mich verdächtigen, mich
+beleidigen, auf mich einschlagen, denn überall gab es einen
+Paragraphen, der ihn schützte. Ich mußte um meines
+Eigentums willen sechs Jahre lang prozessieren, und als ich den
+Prozeß gewonnen hatte, bekam ich noch lange nichts und
+wurde wegen Meineides zweiundzwanzig Monate lang in
+Voruntersuchung genommen. Nun prozessiere ich schon fast zehn
+Jahre lang und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will es
+nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein Züchtling
+gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern darf,
+wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich mit einem jener
+Paragraphen zu bewaffnen, welche die Ideale aller „schneidigen”
+Anwälte sind. Jawohl, ich bin Gefangener, Zuchthäusler,
+noch immer! Ein Dutzend Prozesse haben mich festgehalten, damit
+ich ja nicht entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir
+wollte, aber keines bekam, hat sich als Zuchtmeister
+gebärdet und auf mich eingeschlagen. Ich habe das Beste
+aller derer, für die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und
+äußeres Heil, ihr gegenwärtiges und ihr
+zukünftiges Glück. Was gab man mir für diesen
+meinen guten Willen? Verachtung, Spott und Hohn! Als ich
+Zuchthäusler war, da war ich keiner. Und nun ich aber keiner
+bin, da bin ich einer. Warum?</p>
+
+<p>Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe?
+Ist für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht
+selbst die Hölle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die
+Hölle, wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer,
+wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn ich
+symbolisch von meiner „Geisterschmiede” erzähle, deren
+fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden
+haben werde. Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es
+mußte so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu
+tragen und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen und
+durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit zu
+verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne meine Schuld.
+Und was andere gezwungen an mir taten, das trage ich nicht nach.
+Ich bitte nur um das Eine: Laßt mir endlich, endlich Zeit,
+mit dieser Arbeit zu beginnen!
+</p>
+
+<hr />
+
+<p class="poem">
+Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag<br/>
+    Soll Feierabend sein im heil’gen Alter.<br/>
+Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,<br/>
+    Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.<br/>
+Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt;<br/>
+    Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,<br/>
+Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,<br/>
+    So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.<br/>
+<br/>
+Nach meines Lebens schwerem Leidenstag<br/>
+    Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände.<br/>
+Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,<br/>
+    Das führe er in mir zum frohen Ende.<br/>
+Ich hab’ die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,<br/>
+    Gewißlich nicht allein für mich getragen,<br/>
+Doch was dafür sich irdisch in mir regt,<br/>
+    Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.<br/>
+<br/>
+Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag<br/>
+    Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,<br/>
+Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,<br/>
+    Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen.<br/>
+Ich juble auf. Des Kerkers Schloß erklirrt;<br/>
+    Ich werde endlich, endlich nun entlassen.<br/>
+Ade! Und wer sich weiter in mir irrt,<br/>
+    Der mag getrost mich auch noch weiter hassen!
+</p>
+
+<p class="center">
+E n d e.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div>
+</body>
+</html>
+
+
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
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+status under the laws that apply to them.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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+**The Project Gutenberg Etext of Mein Leben und Streben, by Karl May**
+
+This book is written in German.
+
+
+Copyright laws are changing all over the world, be sure to check
+the copyright laws for your country before posting these files!!
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+We encourage you to keep this file on your own disk, keeping an
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+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
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+**Etexts Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*These Etexts Prepared By Hundreds of Volunteers and Donations*
+
+Information on contacting Project Gutenberg to get Etexts, and
+further information is included below. We need your donations.
+
+
+Title: Mein Leben und Streben
+
+Author: Karl May
+
+August, 2001 [Etext #2779]
+
+
+**The Project Gutenberg Etext of Mein Leben und Streben, by Karl May**
+******This file should be named 2779-8.txt or 2779-8.zip******
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+
+Project Gutenberg Etexts are usually created from multiple editions,
+all of which are in the Public Domain in the United States, unless a
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+
+(Karl May's autobiography, 1st edition of 1910)
+
+We are now trying to release all our books one month in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
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+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so. To be sure you have an
+up to date first edition [xxxxx10x.xxx] please check file sizes
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+look at the file size will have to do, but we will try to see a
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+
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+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
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+projected audience is one hundred million readers. If our value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour this year as we release thirty-six text
+files per month, or 432 more Etexts in 1999 for a total of 2000+
+If these reach just 10% of the computerized population, then the
+total should reach over 200 billion Etexts given away this year.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away One Trillion Etext
+Files by December 31, 2001. [10,000 x 100,000,000 = 1 Trillion]
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only ~5% of the present number of computer users.
+
+At our revised rates of production, we will reach only one-third
+of that goal by the end of 2001, or about 3,333 Etexts unless we
+manage to get some real funding; currently our funding is mostly
+from Michael Hart's salary at Carnegie-Mellon University, and an
+assortment of sporadic gifts; this salary is only good for a few
+more years, so we are looking for something to replace it, as we
+don't want Project Gutenberg to be so dependent on one person.
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+ [*] The etext, when displayed, is clearly readable, and
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+ University" within the 60 days following each
+ date you prepare (or were legally required to prepare)
+ your annual (or equivalent periodic) tax return.
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+WHAT IF YOU *WANT* TO SEND MONEY EVEN IF YOU DON'T HAVE TO?
+The Project gratefully accepts contributions in money, time,
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+Association / Carnegie-Mellon University".
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+*END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END*
+
+
+
+
+
+Mein Leben und Streben
+
+Selbstbiographie von Karl May
+
+Band I
+
+Freiburg i. Br.
+Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld
+
+
+Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.
+
+
+
+Wenn dich die Welt aus ihren Toren stt,
+ So gehe ruhig fort, und la das Klagen.
+Sie hat durch die Verstoung dich erlst
+ Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen.
+
+ (Karl May "Im Reiche des silbernen Lwen")
+
+
+
+ Inhalt.
+
+ _____
+
+
+ I. Das Mrchen von Sitara
+ II. Meine Kindheit
+ III. Keine Jugend
+ IV. Seminar- und Lehrerzeit
+ V. Im Abgrunde
+ VI. Bei der Kolportage
+ VII. Meine Werke
+VIII. Meine Prozesse
+ IX. Schlu
+
+ _________
+
+
+ I.
+ Das Mrchen von Sitara.
+
+ _____
+
+Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden
+Weges nach der Sonne geht und dann in derselben
+Richtung noch drei Monate lang ber die Sonne
+hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara
+heit. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet
+eben "Stern".
+
+ Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel
+gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein
+Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst
+und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um
+sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um
+die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr
+oder weniger. Seine Oberflche besteht zu einem Teile
+aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber whrend
+man auf der Erde bekanntlich fnf Erd- oder Weltteile
+zhlt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel
+einfacherer Weise gegliedert. Es hngt zusammen. Es
+bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen,
+der in ein sehr tiefgelegenes, smpfereiches Niederland
+und ein der Sonne khn entgegenstrebendes Hochland
+zerfllt, welche beide durch einen schmleren, steil
+aufwrtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden
+sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen
+und reienden Tieren reich und allen von Meer zu
+Meer dahinbrausenden Strmen preisgegeben. Man
+nennt es Ardistan. Ard heit Erde, Scholle, niedriger
+Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im
+geistlosen Schmutz und Staub, das rcksichtslose Trachten
+nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen
+Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehrt oder nicht
+gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat
+der niedrigen, selbstschtigen Daseinsformen und, was sich
+auf seine hheren Bewohner bezieht, das Land der
+_Gewalt-_und_Egoismusmenschen._ Das Hochland
+hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schn im
+Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur
+und Produkten des menschlichen Fleies, ein Garten Eden,
+ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni
+heit Genius, wohlttiger Geist, segensreiches unirdisches
+Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb
+nach Hherem, das Wohlgefallen am geistigen und
+seelischen Aufwrtssteigen, das fleiige Trachten nach Allem,
+was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die
+Freude am Glcke des Nchsten, an der Wohlfahrt aller
+derer, welche der Liebe und der Hilfe bedrfen. Dschinnistan
+ist also das Territorium der wie die Berge aufwrtsstrebenden
+Humanitt und Nchstenliebe, das einst verheiene
+Land der _Edelmenschen._
+
+ Tief unten herrscht ber Ardistan ein Geschlecht von
+finster denkenden, selbstschtigen Tyrannen, deren oberstes
+Gesetz in strenger Krze lautet: "D u s o l l st d e r T e u f e l
+d e i n e s N ch st e n s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t
+z u m E n g e l w e r d e st!" Und hoch oben regierte schon
+seit undenklicher Zeit ber Dschinnistan eine Dynastie
+groherziger, echt kniglich denkender Frsten, deren oberstes
+Gesetz in beglckender Krze lautet: "D u s o l l st d e r
+E n g e l d e i n e s N ch st e n s e i n, d a m i t d u n i ch t d i r
+s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!"
+
+ Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der
+Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Brger und eine jede
+Brgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und
+ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer
+Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glck und Sonnenschein,
+dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische
+Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer
+nach Befreiung aus dem Elende dieser Hlle! Ist es
+da ein Wunder, da da unten im Tieflande eine immer
+grer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand?
+Da die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen
+sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlsen
+suchen? Millionen und Abermillionen fhlen sich in den
+Smpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen
+gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie
+wrden in der reinen Luft von Dschinistan nicht
+existieren knnen. Das sind nicht etwa nur die Aermsten
+und Geringsten, sondern grad auch die Mchtigsten, die
+Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Phariser,
+die Snder brauchen, um gerecht erscheinen zu knnen,
+die Vielbesitzenden, denen arme Leute ntig sind, um
+ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter
+haben mssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen
+Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die
+Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von
+ihnen ausgebeutet zu werden. Was wrde aus allen
+diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht
+mehr gbe? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste
+verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem
+Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schrfsten
+Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande
+der Nchstenliebe und der Humanitt, nach Dschinnistan
+zu flchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht
+durch. Er wird ergriffen und nach der "Geisterschmiede"
+geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden,
+bis er sich vom Schmerz gezwungen fhlt, Abbitte leistend
+in das verhate Joch zurckzukehren.
+
+ Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Mrdistan,
+jener steil aufwrtssteigende Urwaldstreifen, durch
+dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle
+und beschwerliche Weg nach oben geht. Mrd ist
+ein persisches Wort; es bedeutet "Mann". Mrdistan
+ist das Zwischenland, in welches sich nur "Mnner"
+wagen drfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde.
+Der gefhrlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten
+Gebietes ist der "Wald von Kulub". Kulub ist ein
+arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen
+Wortes "Herz". Also in den Tiefen des Herzens lauern
+die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen
+hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen
+will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist
+jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in "Babel und
+Bibel," Seite 78 heit:
+
+ "Zu Mrdistan, im Walde von Kulub,
+ Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.
+ Da schmieden Geister?"
+
+ "Nein, man schmiedet sie!
+ Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
+ Wenn Wetter leuchten, Trnenfluten strzen.
+ Der Ha wirft sich in grimmiger Lust auf sie.
+ Der Neid schlgt tief ins Fleisch die Krallen ein.
+ Die Reue schwitzt und jammert am Geblse.
+ Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
+ Im ruigen Gesicht, die Hand am Hammer.
+ Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
+ Man stt dich in den Brand; die Blge knarren.
+ Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
+ Und Alles, was du hast und was du bist,
+ Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
+ Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
+ Gedanken und Gefhle, Alles, Alles
+ Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
+ Bis in die weie Glut -- -- --"
+
+ "Allah, Allah!"
+ "Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!
+ Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
+ Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
+ Und mu dann wieder eingeschmolzen werden.
+ Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,
+ Die in der Faust der Parakleten funkelt.
+ Sei also still!
+
+ Man reit dich aus dem Feuer -- --
+ Man wirft dich auf den Ambo -- -- hlt dich fest.
+ Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.
+ Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
+ Er spuckt sich in die Fuste, greift dann zu.
+ Hebt beiderhndig hoch den Riesenhammer -- -- --
+ Die Schlge fallen. Jeder ist ein Mord,
+ Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
+ Die Fetzen fliegen hei nach allen Seiten.
+ Dein Ich wird dnner, kleiner, immer kleiner,
+ Und dennoch mut du wieder in das Feuer -- --
+ Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied
+ Den Geist erkennt, der aus der Hllenqual
+ Und aus dem Dunst von Ru und Hammerschlag
+ Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlchelt.
+ Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
+ Die kreischt und knirscht und frit von dir hinweg
+ Was noch -- -- --"
+
+ "Halt ein! Es ist genug!"
+ "Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
+ Der schraubt sich tief -- -- --"
+ "Sei still! Um Gottes willen!"
+ u. s. w. u. s. w.
+
+ So also sieht es in Mrdistan aus, und so also
+geht es im Innern der "Geisterschmiede von Kulub" zu!
+Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage,
+da die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren
+werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel
+und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glck
+hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan
+geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme
+Seele aber, welche einem Teufel in die Hnde fllt, wird
+von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes
+Elend geschleudert, je hher die Aufgabe ist, die
+ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie
+soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei
+Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten
+einen mglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu
+machen. Alles Struben und Aufbumen hilft nichts;
+der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn
+es ihm gelnge, aus Ardistan zu entkommen, so wrde
+er doch in Mrdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede
+geschleppt, um so lange gefoltert und geqult
+zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu
+widerstreben.
+
+ Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen
+nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so
+gro und so unerschpflich, da sie selbst die strkste Pein
+der Geisterschmiede ertrgt und dem Schmiede und seinen
+Gesellen "aus dem Dunst von Ru und Hammerschlag
+ruhig dankbar froh entgegenlchelt". Einer solchen
+Himmelstochter kann selbst dieser grte Schmerz nichts
+anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht
+vom Feuer vernichtet, sondern gelutert und gesthlt. Und
+sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der
+Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an
+ihr, was nach Ardistan gehrt. Darum kann weder
+Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei
+des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen,
+wo jeder Mensch der Engel seines Nchsten
+ist. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ II.
+ Meine Kindheit.
+
+ _____
+
+Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein
+Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein
+Vater war ein armer Weber. Meine Grovter waren
+beide tdlich verunglckt. Der Vater meiner Mutter
+daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war
+zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot
+zu holen. Die Nacht berraschte ihn. Er kam im tiefen
+Schneegestber vom Wege ab und strzte in die damals
+steile Schlucht des "Krhenholzes", aus der er sich nicht
+herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht.
+Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als
+der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und
+auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht fr mich und
+die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine
+verhngnisvolle Zeit gewesen.
+
+ Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem
+damals sehr rmlichen und kleinen, erzgebirgischen
+Weberstdtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas greren
+Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen:
+mein Vater, meine Mutter, die beiden Gromtter, vier
+Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter
+meiner Mutter scheuerte fr die Leute und spann Watte.
+Es kam vor, da sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag
+verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei
+Dreierbrtchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie
+uerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren,
+unter uns fnf Kinder. Sie war eine gute, fleiige,
+schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie
+man sagte, aus Altersschwche. Die eigentliche Ursache
+ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwrtig
+diskret als "Unterernhrung" zu bezeichnen pflegt. Ueber
+meine andere Gromutter, die Mutter meines Vaters,
+habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser
+Stelle. Meine Mutter war eine Mrtyrerin, eine Heilige,
+immer still, unendlich fleiig, trotz unserer eigenen Armut
+stets opferbereit fr andere, vielleicht noch rmere Leute.
+Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem
+Mund gehrt. Sie war ein Segen fr jeden, mit dem
+sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen fr uns, ihre
+Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch
+erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln
+emsig rhrend, beim kleinen, qualmenden Oellmpchen
+sa und sich unbeachtet whnte, da kam es vor, da
+ihr eine Trne in das Auge trat und, um schneller, als
+sie gekommen war, zu verschwinden, ihr ber die Wange
+lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die
+Leidesspur sofort verwischt.
+
+ Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die
+eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll
+Ueberma im Zorn, unfhig, sich zu beherrschen. Er
+besa hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt
+geblieben waren, der groen Armut wegen. Er hatte
+nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleie flieend
+lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besa zu allem,
+was ntig war, ein angeborenes Geschick. Was seine
+Augen sahen, das machten seine Hnde nach. Obgleich
+nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose
+selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen.
+Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig
+brachte, das hatte Schick und war gar nicht so bel.
+Als ich eine Geige haben mute und er kein Geld auch
+zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem
+fehlte es zwar ein wenig an schner Schweifung und
+Eleganz, aber er gengte vollstndig, seine Bestimmung zu
+erfllen. Vater war gern fleiig, doch befand sich sein
+Flei stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn
+Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die brigen
+vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren.
+Whrend dieser zehn angestrengten Stunden war nicht
+mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand
+durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu
+erzrnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein
+dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen
+hinterlie, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte
+"birkene Hans", vor dem wir Kinder uns besonders
+scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Zchtigung
+im groen "Ofentopfe" einzuweichen, um ihn elastischer
+und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die
+zehn Stunden vorber waren, so hatten wir nichts mehr
+zu befrchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere
+Seele lchelte uns an. Er konnte dann geradezu
+herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten
+und friedlichsten Augenblicken das Gefhl, da wir auf
+vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment
+einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man
+den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht
+mehr konnte. Unsere lteste Schwester, ein hochbegabtes,
+liebes, heiteres, fleiiges Mdchen, wurde sogar noch als
+Braut mit Ohrfeigen gezchtigt, weil sie von einem
+Spaziergange mit ihrem Brutigam etwas spter nach Hause
+kam, als ihr erlaubt worden war.
+
+ Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine
+ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe
+dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa
+um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu
+verteidigen, sondern ich bin der Meinung, da durch die
+Art und Weise, in der man mich umstrmt, jede Antwort
+und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich
+schreibe dieses Buch auch nicht fr meine Freunde, denn
+die kennen, verstehen und begreifen mich, so da ich nicht
+erst ntig habe, ihnen Aufklrung ber mich zu geben.
+Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n,
+um ber mich klar zu werden und mir ber das, was
+ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft
+abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber
+ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch
+gar nicht einfllt, mir ihre Snden einzugestehen, sondern
+ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was
+diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird fr mich
+magebend sein. Es sind fr mich also nicht gewhnliche,
+sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden
+Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur fr
+dieses, sondern auch fr jenes Leben, an das ich glaube
+und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte,
+verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich
+einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir
+wahrlich, wahrlich gleichgltig sein, was man in diesem
+oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich
+lege es in ganz andere, in die richtigen Hnde, nmlich
+in die Hnde des Geschickes, der Alles wissenden
+Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern
+nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da lt sich
+nichts verschweigen und nichts beschnigen. Da mu man
+Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und
+wie es ist, erscheine es auch noch so piettlos und tue
+es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck "Karl
+May-Problem" erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an
+und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner
+von allen denen lsen, welche meine Bcher nicht gelesen
+oder nicht begriffen haben und trotzdem ber sie urteilen.
+Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem,
+aus dem groen, alles umfassenden Plural in den Singular,
+in die einzelne Individualitt transponiert. Und
+genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu lsen ist, ist
+auch das Karl May-Problem zu lsen, anders nicht!
+Wer sich unfhig zeigt, das Karl May-Rtsel in
+befriedigender, humaner Weise zu lsen, der mag um Gottes
+Willen die schwachen Hnde und die unzureichenden Gedanken
+davon lassen, ber sich selbst hinaus zu greifen und
+sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der
+Schlssel zu all diesen Rtseln ist lngst vorhanden. Die
+christliche Kirche nennt ihn "Erbsnde". Die Vorvter
+und Vormtter kennen, heit, die Kinder und Enkel
+begreifen, und nur der Humanitt, der wahren
+edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der
+Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die
+Nachkommen wahr und ehrlich sein zu knnen. Den
+Einflu der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das
+Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links
+eine Erlsung fr beide Teile, und so habe auch ich die
+meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit
+waren, mag man dies fr unkindlich halten oder nicht.
+Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen
+meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher
+aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige
+zu tun. -- --
+
+ Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten
+Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene
+Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter
+Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein
+dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein
+ganzes Schock Fnfzigpfenniger, und im fnften und
+letzten fanden sich zehn alte Schafhuselsechser, zehn
+Achtgroschenstcke, fnf Gulden und vier Taler vor. Das
+war ja ein Vermgen! Das erschien der Armut fast
+wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei
+schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafr
+aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben
+unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern
+Husern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt.
+Gromutter, die Mutter meines Vaters, zog in das
+Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und
+die Haustr gab. Dahinter lag ein Raum mit einer
+alten Wscherolle, die fr zwei Pfennige pro Stunde an
+andere Leute vermietet wurde. Es gab glckliche Sonnabende,
+an denen diese Rolle zehn, zwlf, ja sogar vierzehn
+Pfennige einbrachte. Das frderte die Wohlhabenheit
+ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern
+mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad.
+Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von
+Musen und einigen greren Nagetieren, die eigentlich
+im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen,
+uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war
+er immer leer. Einmal standen einige Scke Kartoffeln
+darin, die gehrten aber nicht uns, sondern einem
+Nachbar, der keinen Keller hatte. Gromutter meinte, da
+es viel besser wre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln
+uns gehrten. Der Hof war grad so gro, da wir fnf
+Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoen.
+Hieran grenzte der Garten, in dem es einen
+Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen
+Wassertmpel gab, den wir als "Teich" bezeichneten. Der
+Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir
+uns erkltet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn
+wenn das Eine sich erkltete, fingen auch alle Andern
+an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der
+Apfelbaum blhte immer sehr schn und sehr reichlich; da wir
+aber nur zu wohl wuten, da die Aepfel gleich nach
+der Blte am besten schmecken, so war er meist schon
+Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren
+uns heilig. Gromutter a sie gar zu gern. Sie wurden
+tglich gezhlt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu
+vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr
+davon, als uns eigentlich zustand. Was den "Teich"
+betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht
+mit Fischen, sondern mit Frschen. Die kannten wir alle
+einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so
+zwischen zehn und fnfzehn. Wir ftterten sie mit
+Regenwrmern, Fliegen, Kfern und allerlei andern guten
+Dingen, die wir aus gastronomischen oder sthetischen
+Grnden nicht selbst genieen konnten, und sie waren uns
+auch herzlich dankbar dafr. Sie kannten uns. Sie
+kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen nherten.
+Einige lieen sich sogar ergreifen und streicheln. Der
+eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir
+am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr
+ber ihre Zither freuen als wir ber unsere Frsche.
+Wir wuten ganz genau, welcher es war, der sich hren
+le [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie
+gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so
+sprangen wir aus den Federn und ffneten die Fenster,
+um mitzuquaken, bis Mutter oder Gromutter kam und
+uns dahin zurckbrachte, wohin wir jetzt gehrten. Leider
+aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Stdtchen,
+um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen.
+Der hatte berall etwas auszusetzen. Dieser
+ebenso sonderbare wie gefhllose Mann schlug, als er
+unsern Garten und unsern schnen Tmpel sah, die Hnde
+ber dem Kopf zusammen und erklrte, da dieser Pest-
+und Cholerapfuhl sofort verschwinden msse. Am nchsten
+Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn
+Stadtrichters Layritz des Inhaltes, da binnen jetzt und
+drei Tagen der Tmpel auszufllen und die Froschkolonie
+zu tten sei, bei fnfzehn "Guten Groschen" Strafe.
+Wir Kinder waren emprt. Unsere Frsche umbringen!
+Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen
+wre, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und
+was wir beschlossen, wurde ausgefhrt. Der Tmpel
+wurde so weit ausgeschpft, da wir die Frsche fassen
+konnten. Sie wurden in den groen Deckelkorb getan
+und dann hinaus hinter das Schiehaus nach dem groen
+Zechenteich getragen, Gromutter voran, wir hinterher.
+Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost,
+gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer
+dabei laut geworden, wieviel Trnen dabei geflossen und
+wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten
+Bezirksarzt gefllt worden sind, das ist jetzt, nach ber
+sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch wei
+ich noch ganz bestimmt, da Gromutter, um dem ungeheuern
+Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung
+gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn
+Jahren ein dreimal greres Haus mit einem fnfmal
+greren Garten erben, in dem es einen zehnmal greren
+Teich mit zwanzigmal greren Frschen gebe. Das
+brachte in unserer Stimmung eine ebenso pltzliche wie
+angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der
+Gromutter und dem leeren Deckelkorb vergngt nach
+Hause.
+
+ Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind
+war und schon laufen konnte. Ich war weder blind
+geboren noch mit irgendeinem vererbten krperlichen Fehler
+behaftet. Vater und Mutter waren durchaus krftige,
+gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals
+krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu
+zeihen, ist eine Bswilligkeit, die ich mir unbedingt
+verbitten mu. Da ich kurz nach der Geburt sehr schwer
+erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre
+siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der
+rein rtlichen Verhltnisse, der Armut, des Unverstandes
+und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer
+fiel. Sobald ich in die Hand eines tchtigen Arztes kam,
+kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein
+hchst krftiger und widerstandsfhiger Junge, der stark
+genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch
+ehe ich ber mich selbst berichte, habe ich noch fr einige
+Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste
+Kindheit verlebte.
+
+ Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm
+stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen.
+Hieraus ergab sich, da wir eben nur mietfrei wohnten,
+und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam,
+Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem malos
+war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleie,
+seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung
+der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein
+konnte, weiter zu sparen und das Huschen von Schulden
+frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu
+glaubte, pltzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch
+an, jetzt zu einer andern Lebensfhrung bergehen zu
+drfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben
+lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun
+ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu
+etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und
+mehr lohnte als die Weberei. Whrend er, nicht schlafen
+knnend, im Bette lag und darber nachdachte, was zu
+ergreifen sei, hrte er die Ratten ber sich im leeren
+Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte
+sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem
+Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschlu,
+die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er
+wollte Taubenhndler werden, obgleich er von diesem
+Fache nicht das geringste verstand. Er hatte gehrt,
+da da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der
+Meinung, da er auch ohne die ntigen Sonderkenntnisse
+genug Intelligenz besitze, jeden Hndler zu berlisten.
+Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft.
+
+ Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten
+zu bewerkstelligen. Mutter mute einen ihrer Beutel
+opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben.
+Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen,
+welches wir Kinder an ihnen fanden. Am
+meisten Vergngen machte es uns, wenn wir beobachteten,
+wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider vernderten.
+Vater hatte zwei Paar sehr teure "Blaustriche" gekauft.
+Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte,
+wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige
+Tage spter lagen die blauen Federn am Boden: sie
+waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die
+kostbaren "Blaustriche" entpuppten sich als ganz wertlose
+Feldweilinge. Vater erwarb einen sehr schnen, jungen,
+grauen Trommeltuberich fr einen Taler fnfzehn gute
+Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, da der
+Tuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem
+Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und
+hnliche Flle mehrten sich. Die Folge davon war, da
+Mutter noch einen dritten Beutel opfern mute, um den
+Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich
+gab sich auch Vater groe Mhe. Er feierte nicht. Er
+besuchte alle Markte, alle Gasthfe und Schankwirtschaften,
+um zu kaufen oder Kufer zu finden. Bald kaufte er
+Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er "halb geschenkt"
+erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem
+Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er
+brachte immerfort Kse, Eier und Butter heim, die wir
+gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich
+die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde
+sie nur mit Mhe und Verlusten wieder los. Dieses
+unstte [sic], unntzliche Leben frderte nicht, sondern fra das
+Glck des Hauses; es fra sogar auch noch die brigen
+Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie
+hrmte sich und hielt still, bis es Snde gewesen wre,
+weiter zu tragen. Da fate sie einen Entschlu und ging
+zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle
+viel, viel vernnftiger als damals gegen unsere Frsche
+zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm,
+da sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor
+allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten
+msse. Sie verriet ihm, da sie auer den bisher
+erwhnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne
+noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr
+Stadtrichter solle doch die Gte haben, ihr zu
+sagen, wie sie dieses Geld anlegen knne, um sich und
+ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor.
+Er ffnete ihn und zhlte. Es waren sechzig harte,
+blanke, wohlgeputzte Taler. Darob groes Erstaunen!
+Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte
+er: "Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind
+eine brave Frau, und ich stehe fr Sie ein. Unsere
+Hebamme ist alt; wir brauchen eine jngere. Sie gehen
+nach Dresden und werden fr dieses Ihr Geld Hebamme.
+Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten
+Zensur zurck, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich
+Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren
+Zensur, so knnen wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber
+gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort
+einmal zu mir kommen; ich htte mit ihm zu reden!"
+
+ Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie
+kam mit der ersten Zensur zurck, und der Herr
+Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt.
+Whrend ihrer Abwesenheit fhrte Vater mit Gromutter
+das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit
+fr uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir
+Kinder lagen alle krank. Gromutter tat fast ber
+Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der
+Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen
+unfrmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen,
+Nase, Mund und Kinn waren vollstndig verschwunden.
+Der Arzt mute durch Messerschnitte nach den Lippen
+suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflen
+zu knnen. Sie lebt heute noch, ist die heiterste
+von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man
+sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten
+hat, als er nach dem Mund suchte.
+
+ Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam,
+noch nicht ganz vorber, mir aber brachte ihr Aufenthalt
+in Dresden groes Glck. Sie hatte sich durch
+ihren Flei und ihr stilles, tiefernstes Wesen das
+Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase
+erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten
+und seelisch doch so regsamen Knaben erzhlt. Sie war
+aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um
+von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah
+nun jetzt, und zwar mit ganz berraschendem Erfolge.
+Ich lernte sehen und kehrte, auch im brigen
+gesundend, heim. Aber das Alles hatte groe, groe
+Opfer gefordert, freilich nur fr unsere armen
+Verhltnisse gro. Wir muten um all der ntigen Ausgaben
+willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von
+dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Ntigste
+zu decken. Wir zogen zur Miete. -- --
+
+ Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung
+den tiefsten und grten Einflu auf meine Entwicklung
+ausgebt hat. Whrend die Mutter unserer Mutter in
+Hohenstein geboren war und darum von uns die "Hohensteiner
+Gromutter" genannt wurde, stammte die Mutter
+meines Vaters aus Ernsttal und mute sich darum als
+"Ernsttaler Gromutter" bezeichnen lassen. Diese Letztere
+war ein ganz eigenartiges, tiefgrndiges, edles und, fast
+mchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir
+von Jugend auf ein herzliebes, beglckendes Rtsel,
+aus dessen Tiefen ich schpfen durfte, ohne es jemals
+ausschpfen zu knnen. Woher hatte sie das Alles?
+Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die
+heutige Psychologie wei, was das zu bedeuten hat. Sie
+war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide
+aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich
+nach Erlsung sehnenden Augen an. Und wer in der
+richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der
+hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich
+nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie
+war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter
+frh verloren und einen Vater zu ernhren, der weder
+stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele
+Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt
+und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu
+Trnen rhrender Aufopferung. Die Armut erlaubte
+ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube
+zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte
+alle Grber, und sie bedachte fr sich und ihren Vater
+nur den einen Weg, aus ihrer drftigen Sterbekammer
+im Sarge nach dem Kirchhofe hinber. Sie hatte einen
+Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber
+sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater
+gehren, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte
+nichts, aber er wartete und blieb ihr treu.
+
+ Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste
+mit noch lteren Bchern. Das waren in Leder gebundene
+Erbstcke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich
+als auch weltlich. Es ging die Sage, da es in der
+Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte
+und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese
+Bcher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten
+lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends,
+nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifrckchen *)
+_______
+ *) Kleines Oellmpchen.
+
+angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den
+Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die
+Bcher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer
+wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken
+fanden, die besser, schner und auch richtiger zu sein
+schienen als die frheren. Am meisten gelesen wurde
+ein ziemlich groer und schon sehr abgegriffener Band,
+dessen Titel lautete:
+
+ Der Hakawati
+
+ d.i.
+
+der Mrchenerzhler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,
+Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,
+explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung
+und Figrlich seyn
+
+ von
+ Christianus Kretzschmann
+ der aus Germania war.
+ Gedruckt von Wilhelmus Candidus
+ A. D: M. D. C. V.
+
+ *
+ * *
+
+ Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller
+orientalischer Mrchen, die sich bisher in keiner andern
+Mrchensammlung befanden. Gromutter kannte diese
+Mrchen alle. Sie erzhlte sie gewhnlich wrtlich
+gleichlautend; aber in gewissen Fllen, in denen sie es fr
+ntig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen,
+aus denen zu ersehen war, da sie den Geist dessen, was
+sie erzhlte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken lie.
+Ihr Lieblingsmrchen war das Mrchen von Sitara;
+es wurde spter auch das meinige, weil es die Geographie
+und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein
+ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.
+
+ Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstrzen.
+Die Pflege war so anstrengend, da auch die Tochter
+dem Tode nahe kam, doch berstand sie es. Nach
+verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und
+fhrte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glcklich!
+Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder
+wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester,
+welche spter einen schweren Fall tat und an den Folgen
+desselben verkrppelte. Man sieht, da es an
+Heimsuchungen, oder sagen wir Prfungen, bei uns nicht
+fehlte. Und ebenso sieht man, da ich nichts verschweige.
+Es darf nicht meine Absicht sein, das Hliche schn zu
+malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes
+trat jenes unglckliche Weihnachtsereignis ein, welches
+ich bereits erzhlte. Der brave junge Mann strzte des
+Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und
+erfror. Gromutter hatte mit ihren beiden Kindern an
+den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach
+langer Zeit der Qual, da und in welch schrecklicher
+Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf
+kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der
+napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles
+verwstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs;
+der Hunger wtete. Ein armer Handwerksbursche kam,
+um zu betteln. Gromutter konnte ihm nichts geben.
+Sie hatte fr sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen
+Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte
+ihn. Er ging fort und kam nach ber einer Stunde
+wieder. Er schttete vor ihr aus, was er bekommen
+hatte, Stcke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrbe,
+einen kleinen, sehr ehrwrdigen Kse, eine Dte [sic] Mehl,
+eine Dte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges
+Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich
+ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen;
+Einer aber kennt ihn gewi und wird es ihm nicht
+vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere
+Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberfrster, den man
+als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die
+Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl
+Kinder hinterlassen. Er wnschte Gromutter zur Fhrung
+seiner Wirtschaft zu haben. Sie htte in dieser
+Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklrte aber, sich
+von ihren eigenen Kindern unmglich trennen zu knnen,
+selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, htte. Der
+brave Mann besann sich nicht lange. Er erklrte ihr,
+es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm en;
+sie wrden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht
+ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der
+hchsten Not!
+
+ Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause
+tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten
+und erstarkten in der besseren Ernhrung. Der Oberfrster
+sah, wie Gromutter sich abmhte, ihm dankbar zu sein
+und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast
+ber ihre Kraft, fhlte sich aber wohl dabei. Er
+beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, da
+er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewhrte,
+was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und
+eigentlich stolz. Er a mit seiner Schwiegermutter allein.
+Gromutter war nur Dienstbote, doch a sie nicht in der
+Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber
+nach lngerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges
+Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer
+Beziehung an. Er erleichterte ihr die groe Arbeitslast,
+erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends
+aus ihren Bchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann
+auch in seine eigenen Bcher zu schauen. Wie gern sie
+das tat! Und er hatte so gute, so ntzliche Bcher!
+
+ Den Kindern wurde in vernnftiger Weise Freiheit
+gewhrt. Sie tollten im Walde herum und holten sich
+krftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May
+war der jngste und kleinste von allen, aber er tat wacker
+mit. Und er pate auf; er lernte und merkte. Er wollte
+Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er
+noch nicht kannte. Bald wute er die Namen aller Pflanzen,
+aller Raupen und Wrmer, aller Kfer und Schmetterlinge,
+die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren
+Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen
+zu lernen. Diese Wibegierde erwarb ihm die besondere
+Zuneigung des Oberfrsters, der sich sogar herbeilie,
+den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich mu das
+erwhnen, um Spteres erklrlich zu machen. Der nachherige
+Rckfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen
+Jugendzeit in die frhere Not und Erbrmlichkeit konnte
+auf den Knaben doch nicht glcklich wirken.
+
+ In dieser Zeit war es, da Gromutter whrend
+des Mittagessens pltzlich vom Stuhle fiel und tot zu
+Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der
+Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag;
+Gromutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber
+sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal
+die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider.
+Sie sah und hrte alles, das Weinen, das Jammern
+um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen
+wurde. Sie sah und hrte den Tischler, welcher kam,
+um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde
+sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am
+Begrbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die
+Leichentrger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit
+der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der
+Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual!
+Drei Tage und drei Nchte lang hatte sie sich alle mgliche
+Mhe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen,
+da sie noch lebe -- -- vergeblich! Jetzt kam der letzte
+Augenblick, an dem noch Rettung mglich war. Hatte
+man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung
+mehr. Sie erzhlte spter, da sie sich in ihrer
+frchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mhe
+gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln,
+als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten
+Male zu ergreifen. So tat auch das jngste Mdchen
+des Oberfrsters, welches besonders sehr an Gromutter
+gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus:
+"Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!"
+Und richtig, man sah, da die scheinbar Verstorbene
+ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd
+ffnete und schlo. Von einem Begrbnisse konnte nun
+selbstverstndlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden
+andere Aerzte geholt; Gromutter war gerettet. Aber
+von da an war ihre Lebensfhrung noch ernster und
+erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was
+sie in jenen unvergelichen drei Tagen auf der Schwelle
+zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte.
+Es mu schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist
+ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen
+zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot
+gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten
+wirklichen Tod nur fr Schein und suchte jahrelang
+nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklren und
+zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich
+es zu verdanken, da ich berhaupt nur an das Leben
+glaube, nicht aber an den Tod.
+
+ Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz
+berwunden, als Gromutter infolge der Versetzung und
+Wiederverheiratung des Oberfrsters mit ihren beiden
+Kindern in ihre frheren Verhltnisse zurckgestoen wurde.
+Sie kehrte nach Ernsttal zurck und hatte nun wieder
+jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein
+braver Mann, der Vogel hie und auch Weber war,
+hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie
+msse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie
+ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen;
+war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe.
+Er starb und hinterlie ihr alles, was er besessen hatte,
+die Armut und den Ruf eines braven, fleiigen Mannes.
+Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr
+Mdchen zu einer Nhterin und ihren Knaben zu einem
+Weber, der ihn von frh bis abends am Spulrad
+beschftigte. Denn da der Junge nun weiter nichts als
+nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz
+von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich whrend
+seines Aufenthaltes im Forsthause vollstndig vergangen;
+er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist
+gewi erklrlich, da er spter, nachdem er in dieses
+ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die
+Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus
+zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als
+Jngling seine Pflicht. Er war fleiig und wurde ein
+tchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und
+Akkuratesse zeigte, da jeder Unternehmer ihn gern fr
+sich arbeiten lie. In seinen Freistunden aber strich er
+durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die
+Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberfrster
+erworben hatte Darum machte es ihm groe Freude,
+da sich unter der oben erwhnten Erbschaft unserer
+Mutter auch einige alte, hochinteressante Bcher befanden,
+deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschftigungen
+von groem Nutzen war. Ich denke da besonders an
+einen groen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten
+zhlte und folgenden Titel hatte:
+
+ Krutterbuch
+
+De hochgelehrten vnnd weltberhmten Herrn Dr. Petri
+Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen schnen
+newen Figuren / auch ntzlichen Artzeneyen / vnnd andern
+guten Stcken / zum dritten Mal auss sondern Flei
+gemehret vnnd verferdigt /
+
+ Durch
+ Joachimum Camerarium,
+ der lblichen Reichsstatt Nrnberg Medicum, Doct.
+
+Sampt dreien wohlgeordneten ntzlichen Registern der
+Krutter lateinische und deutsche Namen / vund dann
+die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt.
+Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund
+Brennfen.
+
+ Mit besonderem Rm. Kais. Majest. Priviligio,
+ in keinerley Format nachzudrucken.
+ Gedruckt zu Franckfurt am Mayn
+ M. D. C.
+
+ *
+ * *
+
+ Es verstand sich ganz von selbst, da Vater dieses
+Buch sofort hernahm und fleiig durchstudierte. Es
+enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die
+Namen der Pflanzen oft auch franzsisch, englisch, russisch,
+bhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was
+spter besonders mir ganz auerordentlich vorwrts half.
+Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses kstlichen
+Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel
+mehr zu dem, was er bereits wute. Nicht nur die
+Kenntnis der Gewchse an sich, sondern auch ihrer
+ernhrenden und technischen Eigenschaften und ihrer
+Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen
+geprft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen
+versehen, welche sagten, wie diese Prfungen ausgefallen
+waren. Dieses Buch wurde mir spter eine Quelle der
+reinsten, ntzlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen,
+da Vater mich dabei vortrefflich untersttzte.
+
+ Ein anderes dieser Bcher war eine Sammlung
+biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit
+der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso
+wie das Kruterbuch, noch heut. Es enthlt sehr viele
+und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das
+erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem
+elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt
+ist nicht mehr vorhanden. Darum wei ich nicht,
+wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk
+stammt. Es war Gromutters Hilfsbuch, wenn sie uns
+die biblischen Geschichten erzhlte. Jede dieser
+Erzhlungen war fr uns ein Hochgenu, und damit komme
+ich auf den grten Vorzug, den Gromutter fr uns
+Kinder hatte, nmlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu
+erzhlen.
+
+ Gromutter erzhlte eigentlich nicht, sondern sie
+schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch
+der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit
+auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhrten, so
+hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, da
+sie das, was sie erzhlte, ganz nur fr ihn allein
+erzhlte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der
+Bibel oder aus ihrer reichen Mrchenwelt berichten, stets
+ergab sich am Schlu der innige Zusammenhang zwischen
+Himmel und Erde, der Sieg des Guten ber das Bse
+und die Mahnung, da Alles auf Erden nur ein Gleichnis
+sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im
+niedrigen sondern nur im hheren Leben liege. Ich bin
+berzeugt, da sie das nicht bewut und in klarer
+Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern
+es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht
+bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man
+ihn weder kennt noch beobachtet. Gromutter war eine
+arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von
+Gottes Gnaden und darum eine Mrchenerzhlerin, die
+aus der Flle dessen, was sie erzhlte, Gestalten schuf,
+die nicht nur im Mrchen, sondern auch in Wahrheit
+lebten.
+
+ In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Mrchen
+von Sitara, sondern das Mrchen "von der verloren
+gegangenen und vergessenen Menschenseele" auf. Sie tat
+mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen
+blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Fr mich
+enthielt diese Erzhlung die volle Wahrheit. Aber erst
+nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich
+mit dem Innern des Menschen eingehend beschftigt
+hatte, erkannte ich, da die Kenntnis der Menschenseele
+in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und da
+alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns
+diese Kenntnis zurckzubringen. Ich habe in meiner
+Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und
+in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um
+nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene
+gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm
+Gromutter mich auf ihren Scho, kte mich auf die
+Stirn und sagte: "Sei still, mein Junge! Grme dich
+nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!"
+"Wo?" fragte ich. "Hier, bei mir", antwortete sie.
+"Du bist diese Seele, du!" "Aber ich bin doch nicht
+verloren," warf ich ein. "Natrlich bist du verloren. Man
+hat dich herabgeworfen in das rmste, schmutzigste Ardistan.
+Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich
+vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen." -- Ich
+begriff das damals nicht; ich verstand es erst spter,
+viel, viel spter. Eigentlich war in dieser meiner frhen
+Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als
+Seele. Ich sah nichts. Es gab fr mich weder
+Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch
+Ortsvernderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstnde
+wohl fhlen, hren, auch riechen; aber das gengte
+nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte
+sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein
+Tisch aussieht, das wute ich nicht; ich konnte mir nur
+innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war
+seelisch. Wenn jemand sprach, hrte ich nicht seinen
+Krper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeueres,
+sondern sein Inneres trat mir nher. Es gab fr mich
+nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben,
+auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf
+den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir
+und anderen. Das ist der Schlssel zu meinen Bchern.
+Das ist die Erklrung zu allem, was man an mir lobt,
+und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind
+gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine
+so tief gegrndete und so mchtige Innenwelt besa, da
+sie selbst dann, als er sehend wurde, fr lebenslang seine
+ganze Auenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles
+hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich
+schrieb, und nur der besitzt die Fhigkeit, mich zu
+kritisieren, _sonst_keiner!_
+
+ Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den
+Eltern, sondern bei Gromutter. Sie war mein alles.
+Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin,
+mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte.
+Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das
+kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverstndlich
+hnlich. Was sie mir erzhlte, das erzhlte ich ihr wieder
+und fgte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet
+und teils erschaute. Ich erzhlte es den Geschwistern
+und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu
+ihnen konnte. Ich erzhlte in Gromutters Tone, mit
+ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang
+altklug und berzeugte. Es verlieh mir den Nimbus
+eines ber sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So
+kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhren, und ich wre
+vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben
+worden, wenn Gromutter nicht so sehr bescheiden, wahr
+und klug gewesen wre, da, wo ich in Gefahr stand,
+einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit
+gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grbeln als
+andere Kinder. Da kann es leicht klger erscheinen, als
+es ist. Leider besa Vater nicht diese kluge Bescheidenheit
+der Gromutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit
+der Mutter. Er sprach sehr gern und bertrieb,
+wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und
+was er sagte. So kam es, da ich dem Schicksal, dem
+ich hier entging, spter doch noch verfiel, dem entsetzlichen
+Schicksal, totgelobt zu werden.
+
+ Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon
+derart entwickelt und in seinen spteren Grundzgen
+festgelegt, da selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor
+meinen Augen ffnete, nicht die Macht besa, den Schwerpunkt,
+der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen.
+Ich blieb ein Kind fr alle Zeit, ein um so greres
+Kind, je grer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem
+die Seele derart die Oberhand besa und noch heute
+besitzt, da keine Rcksicht auf die Auenwelt und auf
+das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas
+zu unterlassen, was ich fr seelisch richtig befunden habe.
+Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung
+gemacht, da es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir.
+Es handelt am liebsten nicht aus uerlichen Grnden,
+sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus.
+Die grten und schnsten Taten der Nation wurden
+aus ihrem Innern heraus geboren. Und wre der Geist
+eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch,
+so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines
+Volkes den Stoff zu einem groen, nationalen Drama
+aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war.
+Und grnden wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von
+Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-,
+Schler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil
+von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir
+Bcher whlen, deren Bedrfnis nur in unserm Pedantismus
+und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den
+Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese
+Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit.
+Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch
+heut. Darum wei ich, da man dem Volke und der Jugend
+keine Tugendmusterbcher in die Hand geben darf, weil es
+eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der
+Leser will Wahrheit, will Natur. Er hat die sittlichen
+Haubenstcke, die immer genauso stehen, wie man sie
+stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur
+das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralitt
+angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers
+besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen,
+die in jeder Lage so beraus kstlich einwandfrei handeln,
+da man sie unbedingt berdrssig wird, sondern seine
+grte Kunst besteht darin, da er von seinen Figuren
+getrost die Fehler und Dummheiten machen lt, vor
+denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist
+tausendmal besser, er lt seine Romanfiguren zugrunde
+gehen, als da der ergrimmte Knabe hingeht, um das
+Bse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach
+geschehen mute, nun seinerseits aus dem Buche in das
+Leben zu bertragen. Hier liegt die Achse, um die sich
+unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat.
+Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie
+stoen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und
+packend, so wird man Positives erreichen.
+
+ Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten
+wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand.
+Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder.
+Gegen Abend versammelten sich die lteren Schulknaben
+unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzhlen.
+Das war eine hchst exklusive Gesellschaft. Es durfte
+nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so
+machte man keinen "Summs"; der wurde fortgeprgelt und
+kehrte gewi nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich
+bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst
+fnf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und
+vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch
+niemals dagewesen! Das hatte ich der Gromutter und
+ihren Erzhlungen zu verdanken! Zunchst verhielt ich
+mich still und machte den Zuhrer, bis ich alle Erzhlungen
+kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir
+das nicht bel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen
+gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde
+von Allen geschont. Dann aber, als das vorber war,
+wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Mrchen,
+eine andere Geschichte, eine andere Erzhlung. Das war
+viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar
+mit Vergngen. Gromutter arbeitete mit. Was ich
+in der Dmmerstunde zu erzhlen hatte, das arbeiteten
+wir am frhen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe
+aen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor
+kam, wohlvorbereitet. Unser schnes Buch "Der Hakawati"
+gab Stoff fr lange Zeit. Hierzu kam, da dieser Stoff
+sich mit der Zeit ganz auerordentlich vermehrte, doch
+freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die
+sehr einfache und sehr natrliche Folge davon, da ich
+nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch
+den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare
+Welt der Farben, Formen, Krper und Flchen zu bersetzen
+hatte. Dadurch entstanden unzhlige Variationen
+und Vervielfltigungen, die ich nur dadurch, da ich sie
+erzhlte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte.
+
+ Inzwischen hatte Vater es erreicht, da ich in die
+Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten
+Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme
+sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch
+als Lokalschulinspektor sehr gern erfllte, und mit dem
+Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wchentlich
+zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen,
+und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von
+dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen
+und schreiben, denn Vater und Gromutter halfen dabei,
+und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit
+gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen.
+Es sollte sich nmlich an mir erfllen, was sich an ihm
+nicht erfllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick
+in bessere und menschlichere Verhltnisse tun drfen. Und
+er mute immer daran denken, da es unter unsern
+Vorfahren bedeutende Mnner gegeben hatte, von denen wir,
+ihre Nachkommen, sagen muten, da wir ihrer nicht
+wrdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber
+von den Verhltnissen gewaltsam niedergehalten worden.
+Das krnkte und das rgerte ihn. Fr sich hatte er mit
+diesen Verhltnissen abgeschlossen. Er mute bleiben,
+was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber
+er bertrug seine Wnsche und Hoffnungen und alles
+Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles
+Mgliche zu tun und nichts zu versumen, aus mir den
+Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt
+gewesen war. Das kann man gewi nur lblich von ihm
+nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche
+Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was fr
+mich gut und glcklich war. Das konnte er nur mit
+guten und glcklichen Mitteln erreichen. Leider aber mu
+ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, da meine
+"Kindheit" jetzt, mit dem fnften Jahre, zu Ende war.
+Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum
+Sehen ffnete. Was diese armen Augen von da an bis
+heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit,
+Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual
+am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende
+peinigt. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ III
+ Keine Jugend.
+
+ _____
+
+Du liebe, schne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe
+ich dich gesehen, wie oft mich ber dich gefreut! Bei
+Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht.
+Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen.
+Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum
+Neid habe ich berhaupt keinen Platz in mir; aber wehe
+hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem
+Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten,
+kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz,
+und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wrme.
+Aber Liebe mu sein, selbst im allerrmsten Leben, und
+wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der
+Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen.
+Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und
+kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts
+bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm
+und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der
+immer nur Empfangende!
+
+ Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem
+man sich ber mich befindet, gleich von vornherein
+aufzuklren. Man hlt mich nmlich fr sehr reich, sogar
+fr einen Millionr; das bin ich aber nicht. Ich hatte
+bisher nur mein "gutes Auskommen," weiter nichts.
+Selbst hiermit wird es hchst wahrscheinlich zu Ende sein,
+denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich mssen
+endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will.
+Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, da ich
+genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nmlich
+als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut
+aber nichts. Das ist rein uerlich. Das kann an
+meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts
+ndern.
+
+ Die Lge, da ich Millionr sei, da mein Einkommen
+180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten,
+sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer
+Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt,
+diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des
+Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wute
+sehr wohl, was er tat, als er seine Lge in die Zeitungen
+lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und
+allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die frheren
+Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber
+seit man mich im Besitz von Millionen whnt, geht man
+geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor.
+Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner
+Kritiker spielt diese Geldgehssigkeit eine Rolle. Es
+berhrt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen
+Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem
+ordinren Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein
+schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines
+Kapital als eisernen Bestand fr meine Reisen, weiter
+nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts brig.
+Das reicht grad aus fr meinen bescheidenen Haushalt
+und fr die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen
+Prozessen zu bringen habe. Frher konnte ich meinem
+Herzen Genge tun und gegen arme Menschen, besonders
+gegen arme Leser meiner Bcher, mildttig sein. Das
+hat nun aufgehrt. Zwar werde ich infolge jener
+raffinierten Millionenlge jetzt mehr als je mit Zuschriften
+gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich
+kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich
+abweisen mu, fhlt sich enttuscht und wird zum Feinde.
+Ich konstatiere, da jene Gewissenlosigkeit, mich als einen
+steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr
+geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen
+Feindseligkeiten zusammengenommen.
+
+ Nach dieser Abschweifung, die ich fr ntig hielt,
+nun wieder zurck zur "Jugend" dieses angeblichen
+"Millionrs", der nach ganz anderen Schtzen strebt als alle
+die, welche ihn auszubeuten trachten.
+
+ Es waren damals schlimme Zeiten, zumal fr die
+armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat
+liegt. Dem gegenwrtigen Wohlstande ist es fast unmglich,
+sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange
+der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte.
+Arbeitslosigkeit, Miwuchs, Teuerung und Revolution,
+diese vier Worte erklren Alles. Es mangelte uns an
+fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft
+gehrt. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt
+"Zur Stadt Glauchau", des Mittags die Kartoffelschalen
+aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch
+daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir
+gingen nach der "roten Mhle" und lieen uns einige
+Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um
+irgend etwas Nahrungsmittelhnliches daraus zu machen.
+Wir pflckten von den Schutthaufen Melde, von den
+Rainen Otterzungen und von den Zunen wilden Lattich,
+um das zu kochen und mit ihm den Magen zu fllen.
+Die Bltter der Melde fhlen sich fettig an. Das ergab
+beim Kochen zwei oder drei kleine Fettuglein, die
+auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie
+delikat uns das erschien! Glcklicherweise gab es unter
+den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch
+einige wenige Strumpfwirker, deren Geschft nicht ganz
+zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so
+auerordentlich billige weie Handschuhe, die man den Leichen
+anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter,
+solche Leichenhandschuhe zum Nhen zu bekommen. Da
+saen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von frh
+bis abends spt und stichelten darauf los. Mutter nhte
+die Daumen, denn das war schwer, Gromutter die Lngen
+mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die
+Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleiig waren, hatten
+wir alle zusammen am Schlu der Woche elf oder sogar
+auch zwlf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital!
+Dafr gab es fr fnf Pfennig Runkelrbensyrup, auf
+fnf Dreierbrtchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft
+zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung
+fr die verflossene und Anregung fr die kommende
+Woche.
+
+ Whrend wir in dieser Weise fleiig daheim arbeiteten,
+hatte Vater ebenso fleiig auswrts zu tun; leider
+aber war seine Arbeit mehr ehrend als nhrend. Es
+galt nmlich, den Knig Friedrich August und die ganze
+schsische Regierung vor dem Untergange zu retten.
+Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der
+Knig sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande
+gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen;
+aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon
+zurck, und zwar aus den vortrefflichsten Grnden;
+es war nmlich zu gefhrlich! Die lautesten Schreier hatten
+sich zusammengetan und einen Bckerladen gestrmt. Da
+kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie
+fhlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer
+und Mrtyrer gro und mchtig, aber ihre Frauen wollten
+von solchem Heldentum nichts wissen; sie strubten sich
+mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie
+gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen
+die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten;
+sie drohten; sie baten. Ruhige, vernnftige Mnner gesellten
+sich zu ihnen. Der alte, ehrwrdige Pastor Schmidt
+hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch.
+Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und
+warnte vor den schrecklichen Folgen der Emprung; der
+Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am groen
+Kirchentor erzhlten sich die Jungens in der Abenddmmerung
+nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden
+und ganz besonders vom Schafott, welches derart
+beschrieben wurde, da Jedermann, der es hrte, sich
+mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es,
+da die Stimmung sich ganz grndlich nderte. Von
+der Absetzung des Knigs war keine Rede mehr. Im
+Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als
+ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht
+mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschtzen. Man
+hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise
+dies am besten geschehe, und da allberall vom Kampf
+und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es
+sich ganz von selbst, da auch wir Jungens uns nicht nur
+in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische
+Gewnder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten.
+Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu
+und hatte keine Zeit; ich mute Handschuhe nhen. Aber
+die anderen Buben und Mdels standen berall an den
+Ecken und Winkeln herum, erzhlten einander, was sie
+daheim bei den Eltern gehrt hatten, und hielten hchst
+wichtige Beratungen ber die beste Art und Weise, die
+Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben.
+Besonders ber eine alte, bse Frau war man emprt.
+Die war an Allem schuld. Sie hie die Anarchie und
+wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in
+die Stdte, um die Huser niederzureien und die Scheunen
+anzubrennen; so eine Bestie! Glcklicherweise waren
+unsere Vter lauter Helden, von denen keiner sich vor
+irgend Jemand frchtete, auch nicht vor dieser ruppigen
+Anarchie. Man beschlo die allgemeine Bewaffnung fr
+Knig und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit
+alten Zeiten eine Schtzen- und eine Gardekompagnie.
+Die erstere scho nach einem hlzernen Vogel, die letzere [sic]
+nach einer hlzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen
+sollten noch zwei oder drei andere gegrndet werden,
+besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum
+Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus,
+da es in unserem Stdtchen eine ganz ungewhnliche
+Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt
+waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man
+wollte keinen von ihnen missen. Man zhlte sie. Es
+waren dreiunddreiig. Das stimmte sehr gut und rechnete
+sich glatt aus, nmlich: Man brauchte pro Kompagnie
+je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen
+Leutnant; wenn man zu den Schtzen und der Garde noch
+neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa
+elf, und alle dreiunddreiig Offiziere waren unter Dach
+und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgefhrt, wobei
+die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverstndlich
+nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor,
+Herr Strumpfwirkermeister Lser, der beim Militr
+gestanden und darum alle dreiunddreiig Offiziere
+einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn
+je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute knnten
+im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es
+bei dem, was beschlossen worden war.
+
+ Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie.
+Er bekam einen Sbel und eine Signalpfeife.
+Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete
+nach hherem. Darum beschlo er, sobald er ausexerziert
+war, sich ganz heimlich, ohne da irgend Jemand etwas
+davon bemerkte, im "hheren Kommando" einzuben. Und
+da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde
+ich einstweilen vom Handschuhnhen dispensiert und wanderte
+mit ihm tagtglich hinaus in den Wald, wo auf einer
+rings von Bschen und Bumen umgebenen Wiese unsere
+geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war
+bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General;
+ich aber war die schsische Armee. Ich wurde erst als
+"Zug", dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf
+wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division.
+Ich mute bald reiten, bald laufen, bald vor und bald
+zurck, bald nach rechts und bald nach links, bald
+angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den
+Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber
+ich war noch so jung und klein, und so kann man sich
+bei dem jhen Temperamente meines Generals wohl
+denken, da es mir nicht mglich war, mich in so kurzer
+Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur
+vollzhligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die
+Strenge der militrischen Disziplin an mir erfahren zu
+haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu
+stolz dazu. Eine schsische Armee, welche weint, die gibt
+es nicht! Auch lie der Lohn nicht auf sich warten.
+Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu
+mir: "Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir
+eine Trommel. Du sollst Tambour werden!" Wie das
+mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich
+der Ueberzeugung war, alle diese Pffe, Ste, Hiebe und
+Katzenkpfe nur zum Wohle und zur Rettung des Knigs
+von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben!
+Wenn er das wte!
+
+ Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort.
+Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein
+war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut
+gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin
+spter, als ich etwas grer war, doch auch noch als Knabe,
+Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde
+diese Trommel noch einmal zu erwhnen haben. Die elf
+Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast
+tglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil
+es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten
+und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute
+nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor.
+Es gab auch an andern Orten "Knigsretter". Die standen
+miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald
+der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen
+und fr den Knig alles zu wagen, unter Umstnden sogar
+das Leben. Und eines schnen Tages kam er, dieser Befehl.
+Die Signalhrner erklangen; die Trommeln wirbelten.
+Aus allen Tren strmten die Helden, um sich auf
+dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister
+Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd
+geborgt und sa da mitten drauf. Es war keine leichte
+Sache fr ihn, zwischen dem Kommandanten, dem
+Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn
+der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau
+Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre
+Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt.
+Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch
+gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man
+war berhaupt nur begeistert. Keine Spur von
+Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bedrfnis, von Frau und
+Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel,
+dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr
+Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch
+der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe
+der einzelnen Hauptleute: "Achtung -- -- Augen
+rechts, rrrricht't euch -- -- Augen grrrade aus -- --
+G'wehr bei Fu -- -- G'wehr auf -- -- G'wehr prsentiert
+-- -- G'wehr ber -- -- Rrrrechts um -- --
+Vorwrts marsch!" Voran der Herr Adjutant auf dem
+geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem
+trkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der
+Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schtzen,
+die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so
+marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts
+zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche
+vorber, dem wir damals unsere Frsche anvertrauten,
+nach Wstenbrand, um ber Chemnitz und Freiberg nach
+der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehriger
+marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das
+Weichbild des Stdtchens das Geleit zu geben. Ich aber
+stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn
+Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustr,
+dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester
+des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine
+Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen
+Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glhend;
+sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle
+meine Wege, die ich fr sie tat, nur mit angefaulten
+Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem
+Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu
+rauchen, das Stck zu zwei Pfennige. Die mute ich
+ihm vom Krmer holen, weil er sich schmte, so billige
+selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die
+Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch
+er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig
+begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er:
+
+ "Es ist doch etwas Groes, etwas Edles um solche
+Begeisterung fr Gott, fr Knig und Vaterland!"
+
+ "Aber was bringt sie ein?" fragte die Frau
+Kantorin.
+
+ "Das Glck bringt sie ein, das wirkliche, das wahre
+Glck!"
+
+ Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte
+es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da
+stand ein Franzpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder
+und dachte ber das nach, was der Herr Kantor gesagt
+hatte. Also Gott, Knig und Vaterland, in diesen Worten
+liegt das wahre Glck; das wollte und mute ich mir
+merken! Spter hat dann das Leben an diesen drei
+Worten herumgemodelt und herumgemeielt; aber mgen
+sich die Formen verndert haben, das innere Wesen ist
+geblieben.
+
+ Von allen, die heut ausgezogen waren, um groe
+Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul
+zurck. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten
+bergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als
+Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld brig habe,
+das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder
+gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der
+Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, da er mit
+seinen Plattfen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein
+Naturfehler, den er nicht ndern knne. Als es dunkel
+geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche
+aus triftigen Grnden entlassen worden waren und die
+die Nachricht brachten, da unser Armeekorps hinter
+Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic]
+geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften.
+Gegen Morgen kam die berraschende, aber ganz und gar
+nicht traurige Kunde, da man aus Freiburg [sic] die Weisung
+erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar
+nicht gebraucht, denn die Preuen seien in Dresden
+eingerckt und so stehe fr den Knig und die Regierung
+nicht das Geringste mehr zu befrchten. Man kann sich
+wohl denken, da es heut nun keine Schule und keinerlei
+Arbeit gab. Auch ich emprte mich gegen das Handschuhflicken.
+Ich ri einfach aus und gesellte mich den wackeren
+Buben und Mdels zu, welche elf Kompagnieen bilden
+und ihren heimkehrenden Vtern entgegen ziehen sollten.
+Dieser Plan wurde ausgefhrt. Wir kampierten bei den
+Wstenbrnder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten
+kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag
+den Schiehausberg hinab, wo unsere verwaisten
+Frauen und Mtter standen, um uns alle, Gro und Klein,
+teils gerhrt, teils lachend in Empfang zu nehmen.
+
+ Warum ich das alles so ausfhrlich erzhle? Des
+tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich
+habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen
+meines Schicksals zusammengeflossen sind. Da ich trotz
+allem, was spter geschah, niemals auch nur einen einzigen
+Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann,
+wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze
+schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen
+verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber
+auch in diesen kleinen Ereignissen der frhen Jugend, die
+alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten.
+Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors
+vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern
+zu Geist und Seele geworden sind.
+
+ Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine
+ruhigen, frheren Bahnen zurck. Ich nhte wieder
+Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule
+gengte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als
+das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine
+Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltnenden,
+umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr
+Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell
+treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenber mutig. So
+kam es, da mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli
+bertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte
+fr teure Kirchenstcke keine Mittel brig. Der Herr
+Kantor mute sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo
+das nicht angngig war, da komponierte er selbst. Und
+er war Komponist! Und zwar was fr einer! Aber er
+stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Drfchen Mittelbach,
+von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch
+das Musikstudium frmlich hindurchgehungert und, bis er
+Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und
+blaue Leinenhosen kleiden knnen und sah einen Taler fr
+ein Vermgen an, von dem man wochenlang leben konnte.
+Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht.
+Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war
+mit allem zufrieden. Ein ganz vorzglicher Orgel-, Klavier-
+und Violinspieler, konnte er auch die komponistische
+Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und htte
+es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen knnen, wenn
+ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen
+wre. Jedermann wute: Wo in Sachsen und den
+angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde,
+da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal,
+um sie kennenzulernen und einmal spielen zu knnen.
+Das war die einzige Freude, die er sich gnnte. Denn
+mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu
+fehlte ihm auer der Beherztheit besonders auch die
+Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein
+wohlhabendes Mdchen gewesen war und darum in der
+Ehe als zweiunddreiigfiger "Prinzipal" ertnte, whrend
+dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften
+"Vox humana" zugebilligt wurde. Sie besa mit ihrem
+Bruder gemeinsam einige Obstgrten, deren Ertrgnisse
+mit der uersten Genauigkeit verwertet wurden, und
+da ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und
+Birnen bekam, das habe ich bereits erwhnt. Sie wute
+das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Knigreich
+verschenke. Fr den unendlich hohen Wert ihres Mannes,
+sowohl als Mensch wie auch als Knstler, hatte sie nicht
+das geringste Verstndnis. Sie war an ihre Grten und
+er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges
+Dasein und seine seelischen Bedrfnisse bekmmerte sie sich
+nicht. Sie ffnete keines seiner Bcher, und seine vielen
+Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren,
+tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen.
+Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur
+an die Papiermhle verkauft, ohne da ich dies
+verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein
+tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, fr
+das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu
+sein, welches nur in niederen Lften atmet und selbst den
+begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Hhen
+kommen lt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor
+konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine
+ungemeine Fgsamkeit besa und hierzu eine Gutmtigkeit,
+die niemals vergessen konnte, da er ein armer Teufel,
+die Friederike aber ein reiches Mdchen und auerdem
+die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.
+
+ Spter gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht.
+Ich habe bereits gesagt, da Vater den Bogen
+zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz
+selbstverstndlich gratis, denn die Eltern waren zu arm,
+ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike
+gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde
+in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube
+gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe
+finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und
+wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr
+Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus:
+"Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine
+Frau Friederike hlt es nicht aus; sie hat Migrne".
+Manchmal hie es auch "sie hat Vapeurs". Was das
+war, wute ich nicht, doch hielt ich es fr eine Steigerung
+von dem, was ich auch nicht wute, nmlich von der
+Migrne. Aber da sich das immer nur dann einstellte,
+wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht
+gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus,
+da er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit
+es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die
+Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das
+in der spteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt
+noch nicht.
+
+ Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte,
+so auch in dem, was er meine "Erziehung" nannte.
+Notabene mich "erzog" er; um die Schwestern bekmmerte
+er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf
+gesetzt, da ich im Leben das erreichen werde, was von
+ihm nicht zu erreichen war, nmlich nicht nur eine
+glcklichere, sondern auch eine geistig hhere Lebensstellung.
+Denn das mu ich ihm nachrhmen, da ihm zwar der
+Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nchsten
+stand, da er aber den hheren Wert auf die krftige
+Entwickelung der geistigen Persnlichkeit setzte. Er fhlte
+das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten
+auszudrcken vermochte. Ich sollte ein gebildeter,
+womglich ein hochgebildeter Mann werden, der fr das
+allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies
+war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad
+in diesen, sondern in andern Worten uerte. Man sieht,
+er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit
+von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er
+wnschte, und war vollstndig berzeugt, es erreichen zu
+knnen. Leider aber war er sich ber die Wege, auf
+denen, und ber die Mittel, durch welche dieses Ziel zu
+erreichen war, nicht klar, und er unterschtzte die gewaltigen
+Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war
+zu jedem, selbst zum grten Opfer bereit, aber er bedachte
+nicht, da selbst das allergrte Opfer eines armen Teufels
+dem Widerstande der Verhltnisse gegenber kein Gramm,
+kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte
+keine Ahnung davon, da ein ganz anderer Mann als er
+dazu gehrte, mit leitender Hand derartigen Zielen
+zuzusteuern. Er war der Ansicht, da ich vor allen Dingen
+so viel wie mglich, so schnell wie mglich zu lernen habe,
+und hiernach wurde mit grter Energie gehandelt.
+
+ Ich war mit fnf Jahren in die Schule gekommen,
+aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das
+Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei
+Jahre ltere Schwester ein. Dann wurden die Schulbcher
+lterer Knaben gekauft. Ich mute daheim die
+Aufgaben lsen, die ihnen in der Schule gestellt waren.
+So wurde ich sehr bald klassenfremd, fr so ein kleines,
+weiches Menschenkind ein groes, psychologisches Uebel,
+von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich
+glaube, da sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was
+fr ein groer Fehler da begangen wurde. Sie gingen
+von der anspruchslosen Erwgung aus, da ein Knabe,
+den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz
+einfach und trotz seiner Jugend in die nchst hhere Klasse
+zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder
+weniger mit meinem Vater befreundet, und so drckte
+sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darber zu,
+da ich als acht- oder neunjhriger Knabe schon bei den
+elf- und zwlfjhrigen sa. In Beziehung auf meine
+geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule
+freilich nicht viel gehrte, war dies allerdings wohl richtig;
+seelisch aber bedeutete es einen groen, schmerzlichen
+Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, da
+ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig
+und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in
+die ich meinem Alter nach noch nicht gehrte, fr meinen
+kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern
+Seite meiner Seele genommen. Ich sa nicht unter
+Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und
+schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen
+Bedrfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war
+gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde
+von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche
+hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen
+ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht ber
+dieses nur scheinbar winzige, hchst unwichtige Knabenschicksal
+zu lcheln. Der Erzieher, der sich im Reiche der
+Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen
+Augenblick zgern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder
+erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will
+festen Boden unter den Fen haben, den es ja nicht
+verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen.
+Das, was man als "Jugend" bezeichnet, habe ich nie gehabt.
+Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund
+ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste
+Folge davon ist, da ich selbst noch heut, im hohen Alter,
+in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd.
+Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie
+verstanden, und so ist es gekommen, da um meine Person
+sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich
+ganz unmglich zu unterschreiben vermag.
+
+ Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte,
+beschrnkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und
+auf die Schularbeiten. Er holte allen mglichen
+sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl
+befhigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen
+zu knnen. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich
+mute es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, da
+ich es dadurch besser behalten knne. Was hatte ich da
+alles durchzumachen! Alte Gebetbcher, Rechenbcher,
+Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich
+kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus
+dem Jahre 1802, ber 500 Seiten stark, mute ich ganz
+abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprgen. Die
+stimmten natrlich lngst nicht mehr! Ich sa ganze
+Tage und halbe Nchte lang, um mir dieses wste, unntige
+Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verftterung
+und Ueberftterung sondergleichen. Ich wre
+hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich
+mein Krper nicht trotz der uerst schmalen Kost so
+beraus krftig entwickelt htte, da er selbst solche
+Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab
+auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte
+nmlich keinen Spaziergang und keinen Weg ber Land
+zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran
+nur eine Bedingung zu knpfen, nmlich die, da kein
+Augenblick der Schulzeit dabei versumt wurde. Die
+Spaziergnge durch Wald und Hain waren wegen seiner
+reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber
+es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und
+bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer
+Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr
+Kmmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schtzenhauptmann
+Lippold und andere, um Kegel zu schieben
+oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und
+ich mit, denn ich mute. Er meinte, ich gehre zu ihm.
+Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen,
+weil ich da ohne Aufsicht sei. Da ich bei ihm, in der
+Gesellschaft erwachsener Mnner, gewi auch nicht besser
+aufgehoben war, dafr hatte er kein Verstndnis. Ich
+konnte da Dinge hren, und Beobachtungen machen, welche
+der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens
+war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft
+auerordentlich mig. Ich habe ihn niemals betrunken
+gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmiges
+Quantum ein Glas einfaches Bier fr sieben Pfennige
+und ein Glas Kmmel oder Doppelwacholder fr sechs
+Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei
+besonderen Veranlassungen teilte er ein Stckchen Kuchen
+fr sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals
+gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen
+mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der
+sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens
+muten doch wissen, da ich da selbst auf erlaubten und
+vollstndig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber
+sehr aufmerksamer Zuhrer in Dinge und Verhltnisse
+eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen
+hatten. Ich wurde nicht frhreif, denn dieses
+Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen,
+und davon bekam ich nichts zu hren, sondern etwas noch
+viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit
+herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt,
+auf dem meine Fe das Gefhl haben muten, als ob
+sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann
+fhlte, wenn ich zu Gromutter kam und bei ihr mich
+in mein liebes, liebes Mrchenreich flchten konnte! Freilich
+war ich viel zu jung, um einzusehen, da dieses Reich
+sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Fr
+mich hatte es keine Fe; es schwebte; es konnte mir
+erst spter, wenn ich mich zum Verstndnis emporgearbeitet
+hatte, die Sttze bieten, die mir so ntig war.
+
+ Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte,
+die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es
+gab Theater. Zwar nur ein ganz gewhnliches, armseliges
+Puppentheater, aber doch Theater. Das war im
+Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz
+zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die
+Hlfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Gromutter
+hinzugehen. Das kostete fnfzehn Pfennige fr uns beide.
+Es wurde gegeben: "Das Mllerrschen oder die Schlacht
+bei Jena." Meine Augen brannten; ich glhte innerlich.
+Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten fr mich.
+Sie sprachen; sie liebten und haten; sie duldeten; sie
+faten groe, khne Entschlsse; sie opferten sich auf
+Knig und fr Vaterland. Das war es ja, was der
+Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein
+Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren,
+mute Gromutter mir beschreiben, wie die Puppen
+bewegt werden.
+
+ "An einem Holzkreuze," erklrte sie mir. "Von diesem
+Holzkreuze, gehen die Fden hernieder, die an die Glieder
+der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man
+oben das Kreuz bewegt."
+
+ "Aber sie sprechen doch!" sagte ich.
+
+ "Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den
+Hnden hlt, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen
+Leben."
+
+ "Wie meinst du das?"
+
+ "Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber
+verstehen lernen."
+
+ Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten,
+nochmals zu gehen. Es wurde gespielt "Doktor Faust
+oder Gott, Mensch und Teufel." Es wre ein resultatloses
+Beginnen, den Eindruck, den dieses Stck auf mich
+machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der
+Gthesche Faust, sondern der Faust des uralten
+Volksstckes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie
+eines groen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch
+etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten
+Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei
+um Erlsung aus der Qual und Angst des Erdenlebens.
+Ich hrte, ich fhlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit,
+obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war,
+damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Gthesche Faust
+htte mir, dem Kinde, gar nichts sagen knnen; er sagt
+mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er
+der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen;
+aber diese Puppen sprachen laut, fast berlaut, und was
+sie sagten, das war gro, unendlich gro, weil es so
+einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann
+zu Gott zurckkehren darf, wenn er den Menschen mit
+sich bringt! Und die Fden, diese Fden; die alle nach
+oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles,
+alles, was sich da unten bewegt, das hngt am Kreuz,
+am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht
+an diesem Kreuze hngt, ist berflssig, ist bewegungslos,
+ist fr den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren
+Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber
+Gromutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht
+so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah,
+das begann ich doch zu ahnen. Ich mute als Kurrendaner
+Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und
+ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals
+einen dieser Gottesdienste versumt zu haben. Aber ich
+bin aufrichtig genug, zu sagen, da ich trotz aller
+Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich
+tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen
+habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem
+Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als
+eine Sttte erschienen, durch deren Tor nichts dringen
+soll, was unsauber, hlich oder unheilig ist. Als ich
+den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstck
+ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das
+sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen
+Menschheit gewesen, und ein groer, berhmter deutscher
+Dichter, Wolfgang Goethe geheien, habe daraus ein herrliches
+Kunstwerk gemacht, welches nicht fr Puppen, sondern
+fr lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich
+schnell ein: "Herr Kantor, ich will auch so ein groer
+Dichter werden, der nicht fr Puppen, sondern nur fr
+lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?"
+Da sah er mich sehr lange und unter einem fast
+mitleidigen Lcheln an und antwortete: "Fange es an, wie
+du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen
+sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst."
+Diesen Bescheid habe ich freilich erst spter verstehen lernen;
+aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr
+bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch
+und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und
+geblieben, und der Gedanke, da die meisten Menschen nur
+Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern
+bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen
+Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein
+Mensch, ein Frst des Geistes oder ein Frst der Waffen,
+das Kreuz, von dem die Fden herunterhngen, in den
+Hnden hlt, um das Volk der Menschen zu beeinflussen,
+das ist niemals sofort, sondern immer nur erst spter an
+den Folgen zu ersehen.
+
+ Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stcke kennen, die
+nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern fr das
+Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt,
+an dem ich auf meine Trommel zurckzukommen habe.
+Es lie sich eine Schauspielertruppe fr einige Zeit in
+Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein
+Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise
+waren mehr als mig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter
+Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter
+Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser
+Billigkeit blieb tglich ber die Hlfte der Sitze leer.
+Die "Knstler" fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor
+wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht
+mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser
+Retter war -- -- -- ich. Er hatte beim Spazierengehen
+meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide
+berieten. Das Resultat war, da Vater schleunigst nach
+Hause kam und zu mir sagte: "Karl, hole deine Trommel
+herunter; wir mssen sie putzen!" "Wozu?" fragte ich.
+"Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal
+ber die ganze Bhne herumzutrommeln". "Wer ist
+die Preziosa?" "Eine junge, schne Zigeunerin, die
+eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den
+Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurck und findet
+ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke
+Knpfe und einen Hut mit weier Feder. Das zieht
+Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das
+"Haus" voll, so gibt der Herr Direktor dir fnf
+Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts.
+Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe."
+
+ Es versteht sich ganz von selbst, da ich in Wonne
+schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke
+Knpfe! Weie Feder! Dreimal um die ganze Bhne
+herum! Fnf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden
+Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel
+sehr pnktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich
+gefiel smtlichen Knstlerinnen und Knstlern. Die Frau
+Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor
+lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein
+schnelles Begriffsvermgen. Meine Rolle sei aber auch sehr
+leicht. Vielleicht tte ich es fr vierzig Pfennige; schon mit
+dreiig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen.
+Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig
+herunter, denn er hatte meinen knstlerischen Wert erkannt
+und lie nicht mit sich handeln. Ich hatte fr die fnfzig
+Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem groen Zigeunerumzug
+voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse,
+die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenber in der
+jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten
+Schlovogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand
+emporhob, so war dies das Zeichen fr mich, meinen Marsch
+sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen
+Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden.
+Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren.
+Die blanken Knpfe bekam ich gleich nach der Probe mit.
+Mutter mute sie mir anflicken. Es waren ber dreiig
+Stck; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste.
+Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut
+mit der weien Feder. Der wurde als Reklame zum
+Fenster hinausgehngt und hat seine Wirkung getan. Ich
+hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung
+einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin
+strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum
+war schon jetzt derart gefllt, da schnell ganz vorn
+noch einige "Logen" eingerichtet wurden mit dem Preise
+von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch
+verkauft. Vater, Mutter und Gromutter hatten
+Freipltze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein
+hchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte
+sich so allgemein verbreitet, da die Frau Direktorin sich
+bewogen fhlte, mir meine fnf Neugroschen schon ehe
+der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche
+zu stecken. Das erhhte meine Sicherheit und meine
+knstlerische Begeisterung bedeutend.
+
+ Und nun waren sie da, die groen, erhabenen Augenblicke
+meines ersten Bhnendebts. Der erste Akt spielte
+in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich sa in
+der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der
+Bhne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich
+schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging
+nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara
+und noch irgend wer standen auf der Bhne. In der
+gegenberliegenden Kulisse lehnte der Schlovogt Pedro,
+der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit
+einem so energischen Schritte kommen, da er glaubte,
+ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium.
+Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren.
+Ich aber nahm das ganz selbstverstndlich fr das
+verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter
+mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und
+marschierte hinaus, rund um die Bhne herum. Don
+Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz
+starr. "Lausbub!" schrie mir der Schlovogt zu, als ich
+an ihm vorberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus,
+um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon
+war ich an ihm vorber. Aus allen Kulissen winkte
+man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber
+bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nmlich
+dreimal rund um die Bhne herum. "Lausbub!" brllte
+der Schlovogt, als ich zum zweiten Mal an ihm
+vorberkam, und zwar tat er das so laut, da es trotz des
+Trommelwirbels auch hinaus- und ber den ganzen Zuschauerraum
+schallte. Lautes Gelchter antwortete von dorther;
+ich aber begann meine dritte Runde. "Bravo, bravo!"
+erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich
+Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der
+den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, fate
+meine beiden Arme, so da ich stehenbleiben und die
+Trommelschlegel ruhen lassen mute und donnerte mich an:
+
+ "Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte
+doch auf!
+
+ "Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!"
+rief man im Zuschauerraum lachend.
+
+ "Ja, weiter, immer weiter!" antwortete auch ich, indem
+ich mich von ihm losri. "Die Zigeuner haben zu kommen!
+Raus mit der Bande, raus mit der Bande!"
+
+ "Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!"
+schrie, brllte und johlte das Publikum.
+
+ Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel
+von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch
+nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter,
+und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst
+der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu
+meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das
+Publikum nicht zufrieden. Es rief: "Heraus mit der
+Bande, heraus!" und wir muten den Umzug von neuem
+beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schlu
+des Aktes mute ich noch zweimal heraus. War das
+ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr
+zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor lie
+mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf,
+die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der
+Vorstellung halten sollte. Fr den Fall, da ich meine Sache
+gut machen wrde, versprach er mir noch weitere fnfzig
+Pfennige. Das wirkte uerst anregend auf mein
+Gedchtnis. Als das Stck zu Ende war und der Beifall
+zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal
+trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe
+die "hohen Herrschaften" zu bitten, sich noch nicht gleich
+zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und
+von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts
+zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, bermorgen und
+auch fernerhin unmglich abgegeben werden knnten. Als
+Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles
+hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache
+folgende Fassung gegeben: "Also rrrrein mit der Hand
+in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!"
+
+ Das wurde nicht etwa bel-, sondern mit gutwilligem
+Lachen entgegengenommen und hatte den gewnschten
+Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der
+hohen Direktion als auch diejenigen aller brigen
+Knstlerinnen und Knstler, das meinige nicht ausgeschlossen,
+denn ich bekam nicht nur meine weiteren fnf Neugroschen,
+sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches fr den
+ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt.
+Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar fr Stcke,
+in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab
+es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche
+Gefahr fr die Zuhrerschaft, denn als der Herr Direktor
+sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei
+dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zrtlichen
+Liebesszenen so ngstlich aus seinen Stcken streiche,
+antwortete er: "Teils aus moralischem Pflichtgefhl und teils
+aus kluger Erwgung. Unsere erste und einzige Liebhaberin
+ist zu alt und auch zu hlich fr solche Rollen."
+
+ In den Stcken, die ich da besuchte, forschte ich nach
+dem Kreuz und nach den Fden, an denen die Puppen
+hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb
+einer spteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht
+gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen
+herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr hufig,
+obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten,
+sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken
+sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich
+jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand
+ich nichts davon und lie mir von der leeren, hohlen
+Oberflchlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere
+grere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche
+Stcke schrieben, die auf die Bhne gegeben wurden,
+kamen mir wie Gtter vor. Wre ich ein so bevorzugter
+Mensch, so wrde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen
+erzhlen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Mrchen,
+von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede
+von Kulub, von der Erlsung aus der Erdenqual und
+allen anderen, hnlichen Dingen! Man sieht, ich befand
+mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich
+aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch
+mir so ntig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in
+die ich nicht gehrte, weil sie nur von auserwhlten
+Mnnern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch
+Anderes kam hinzu.
+
+ Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgem
+war ich evangelisch-lutherisch getauft worden,
+geno evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und
+wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war,
+evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer
+Stellungnahme gegen Andersglubige fhrte das keineswegs.
+Wir hielten uns weder fr besser noch fr berufener als
+sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher
+Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche
+seines Kirchenamtes religisen Ha zu sen. Unsere
+Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am
+meisten ankam, nmlich Vater, Mutter und Gromutter,
+die waren alle drei ursprnglich tief religis aber von
+jener angeborenen, nicht angelehrten Religiositt, die sich
+in keinen Streit einlt und einem jeden vor allen Dingen
+die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das,
+so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ
+erweisen. Ich hrte einst den Herrn Pastor mit dem
+Herrn Rektor ber religise Differenzen sprechen. Da
+sagte der erstere: "Ein Eiferer ist niemals ein guter
+Diplomat." Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits
+gesagt, da ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal
+in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies
+gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe tglich gebetet,
+in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut.
+Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang
+beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit,
+Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut
+noch unerschtterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.
+
+ Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus
+gehabt, und zwar nicht nur zum religisen. Eine jede
+Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles,
+Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige
+religise Gebruche, an denen ich mich als Knabe zu
+beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck.
+Der eine dieser Gebruche war folgender: Die Konfirmanden,
+welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren,
+beteiligten sich am darauf folgenden grnen Donnerstag
+zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen
+Kommunion. Nur whrend dieser einen Abendmalsdarreichung,
+sonst whrend des ganzen Jahres nicht,
+standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu
+beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun.
+Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock,
+Bffchen [sic] und weies Halstuch. Sie standen zwischen
+dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten
+und hielten schwarze, goldgernderte Schutztcher
+empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen
+Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende
+gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere
+Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese
+frommen, gottesglubigen Augenblicke vor dem Altare
+wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.
+
+ Ein anderer dieser Gebruche war der, da am
+ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres whrend des
+Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die
+Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias
+Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies
+ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehrte
+Mut dazu, und es kam nicht selten vor, da der Organist
+dem kleinen Snger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn
+vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe
+diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde
+sie von mir hrte, so wirkt sie noch heute in mir
+fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise
+meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen
+den Zeilen meiner Bcher. Wer als kleiner Schulknabe
+auf der Kanzel gestanden und mit frhlich erhobener
+Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat,
+da ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens
+kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich
+nicht absolut dagegen strubt, jener Stern von Bethlehem
+durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn
+alle andern Sterne verlschen.
+
+ Wer nicht gewhnt ist, tiefer zu blicken, der wird
+jetzt wahrscheinlich sagen, da ich auch hier wieder auf
+einen der Punkte gestoen sei, an denen mir ein fester
+Halt nach dem andern unter den Fen hinweggenommen
+wurde, so da ich schlielich seelisch ganz nur in der Luft
+zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der
+Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr
+viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der
+Richtung nach der Erde zu, dafr aber ein Tau, stark
+und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter
+mir der Abgrund sich ffnen sollte, dem ich, wie
+Fatalisten behaupten wrden, von allem Anfang verfallen
+war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen
+beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten
+Jugend, in welcher die Smpfe lagen und heut noch
+liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen,
+durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen,
+endlosen Qual geworden ist.
+
+ Dieser Abgrund heit, damit ich ihn gleich beim
+richtigen Namen nenne -- -- Lektre. Ich bin ihn nicht
+etwa hinabgestrzt, pltzlich, jhlings und unerwartet,
+sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt,
+langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand
+meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie
+ich, wohin dieser Weg uns fhrte. Meine erste Lektre
+bildeten die Mrchen, das Kruterbuch und die Bilderbibel
+mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf
+folgten die verschiedenen Schulbcher der Vergangenheit
+und Gegenwart, die es im Stdtchen gab. Dann alle
+mglichen anderen Bcher, die Vater sich zusammenborgte.
+Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer
+Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als
+Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum
+letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt
+das fr gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm
+da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, da ich,
+wenn auch nur scheinbar, mig stand. Und er war
+gegen alle Beteiligung an den "Unarten" anderer Knaben.
+Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie
+andern anzupreisen. Ich mute stets zu Hause sein, um
+zu schreiben, zu lesen und zu "lernen"! Von dem
+Handschuhnhen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn
+er ausging, brachte mir das keine Erlsung, sondern er
+nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf
+dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah,
+wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun
+zu drfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte,
+war dies hchst gefhrlich. Sa ich dann betrbt oder
+gar mit heimlichen Trnen bei meinem Buche, so kam
+es vor, da Mutter mich leise zur Tr hinaussteckte und
+erbarmend sagte: "So geh schnell ein bichen hinaus;
+aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlgt er
+dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!" O, diese
+Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da
+wissen will, wie und was ich noch heut ber sie denke, der
+schlage in meinen "Himmelsgedanken" das Gedicht auf Seite
+105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine
+Gromutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh
+herausgewachsen ist, jener orientalischen Knigstochter, die
+fr mich und meine Leser als "Menschheitsseele" gilt.
+
+ Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal
+von Bchern jeden Genres in Privathnden befand,
+zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon
+abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen
+Quellen um. Es gab deren drei, nmlich die Bibliotheken
+des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des
+Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier
+als der Vernnftigste von allen. Er sagte, Bcher zur
+Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bcher zum
+Lernen, und fr diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu
+jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er
+meinte, fr mich als Kurrendaner sei es sehr ntzlich, den
+lateinischen Text unserer Kirchengesnge in die deutsche
+Sprache bersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine
+lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte,
+doch auf dem nchsten Blatte stand zu lesen:
+
+ "Ein buer [sic] lernen mu,
+ Wenn er will werden dominus,
+ Lernt er aber mit Verdru,
+ So wird er ein asinus!"
+
+ Vater war ganz entzckt ber diesen Vierzeiler und
+meinte, ich solle nur ja dafr sorgen, da ich kein asinus,
+sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleiig
+lateinisch lernen!
+
+ Bald darauf faten einige Ernsttaler Familien den
+Entschlu, im nchsten Jahre nach Amerika auszuwandern.
+Darum sollten ihre Kinder whrend dieser Frist so viel
+wie mglich englisch lernen. Da verstand es sich ganz
+von selbst, da ich mitzutun hatte! Und sodann geriet
+auf irgend eine, ich wei nicht mehr, welche Weise ein
+Buch in unsern Besitz, welches franzsische Freimaurerlieder
+mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre
+1782 in Berlin gedruckt und "Seiner Kniglichen Hoheit,
+Friedrich Wilhelm, Prinz von Preuen" gewidmet.
+Darum mute es gut und von sehr hohem Werte sein!
+Der Titel lautete: "Chansons maonniques", und zu der
+Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige
+Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:
+
+ "Nons vnrous de l'Arabie
+ La sage et noble antiquit,
+ Et la clbre Confrairie [sic]
+ Transmise la postrit".
+
+ Das Wort "Freimaurerlieder" reizte ganz besonders.
+Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei
+eindringen zu knnen! Glcklicherweise erteilte der Herr
+Rektor fr Privatschler auch franzsischen Unterricht.
+Er gestattete mir, in diesem "Zirkle" einzutreten, und so
+kam es, da ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen
+und Franzsischen zugleich zu befassen hatte.
+
+ Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bcherverleihen
+weniger zurckhaltend als der Herr Kantor.
+Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besa hunderte
+von geographischen und ethnographischen Werken, die er
+meinem Vater alle fr mich zur Verfgung stellte. Ich
+fiel ber diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und
+der gute Herr freute sich darber, ohne irgendein doch
+so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf
+eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern
+mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung
+zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten,
+als vielmehr in den Bchern aus, die er besa. Zu derselben
+Zeit ffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek.
+Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern
+nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine
+mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich
+schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir
+zunchst alle seine Trakttchen zu lesen gab und hierzu
+dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften
+von Redenbacher und andern guten Menschen fgte. So
+kam es, da ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung
+der islamitischen Wohlttigkeit vor mir liegen hatte
+und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht,
+in welchem ber das offensichtliche Nachlassen der
+christlichen Barmherzigkeit bittere Klage gefhrt wurde. In
+der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland
+und alle jene "Groen" kennen, welche der Wissenschaft
+mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek
+des zweiten alle jene andern "Groen", denen die religise
+Offenbarung himmelhoch ber jedem wissenschaftlichen
+Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein
+Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge;
+aber noch viel trichter als ich waren die, welche mich
+in diese Konflikte fallen und sinken lieen, ohne zu wissen,
+was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen
+Bchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein;
+mir aber mute es zum Gifte werden.
+
+ Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche
+Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mute bezahlt werden,
+und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise
+zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Fr eine Hohensteiner
+Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder
+Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine
+Uebung besa, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich
+Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche
+Qualen! Und was habe ich noch auerdem dafr geopfert!
+Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und
+heizbarer, so da er zur Sommer- und zur Winterszeit und
+bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde
+tglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie
+Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag.
+Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis
+zur spten Abendstunde. Der Haupttag aber war der
+Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes,
+an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre
+Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkufe zu machen und --
+last not least -- eine Partie Kegel zu schieben. Aus
+dieser einen aber wurden fnf, wurden zehn, wurden
+zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, da ich
+mich von Mittags zwlf Uhr an bis nach Mitternacht
+zu schinden hatte, ohne auch nur fnf Minuten ausruhen
+zu knnen. Zur Strkung bekam ich des Nachmittags
+und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes,
+zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, da ein
+mitleidiger Kegler, welcher sah, da ich kaum mehr konnte,
+mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister
+anzuregen. Ich habe mich ob dieser bermigen
+Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie
+notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der
+Betrag, den ich da wchentlich zusammenbrachte, war gar
+nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum
+und auerdem fr jedes Honneur, welches geschoben wurde,
+einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern
+frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz
+eine doppelte oder dreifache Hhe. Es hat Montage
+gegeben, an denen ich ber zwanzig Groschen nach Hause
+brachte, dafr aber vor Mdigkeit die Treppe zu unserer
+Wohnung mehr hinaufstrzte als hinaufstieg.
+
+ Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung?
+Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde
+zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel
+Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen,
+da es sich hier nicht um Leute handelte, welche
+das kannten, was man unter Rcksicht oder gar Zartgefhl
+versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge
+kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was
+ich da alles zu hren bekam! Der langgestreckte, zugebaute
+Kegelschub wirkte wie ein Hrrohr. Jedes Wort, welches
+da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich
+heraus zu mir. Alles, was Gromutter und Mutter
+in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr
+Rektor auch, das emprte sich gegen das, was ich hier
+zu hren bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift
+dabei. Es gab da nicht jene krftige, kerngesunde
+Frhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben,
+sondern es handelte sich um Leute, welche aus der
+brustttenden Atmosphre ihres Webstuhles direkt in die
+Schnapswirtschaft kamen, um sich fr einige Stunden
+ein Vergngen vorzutuschen, welches aber nichts weniger
+als ein Vergngen war, fr mich jedenfalls eine Qual,
+krperlich sowohl als auch seelisch.
+
+ Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch
+viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und hnliche
+bse Sachen, nmlich eine Leihbibliothek, und zwar
+was fr eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich
+und uerlich geradezu ruppige, uerst gefhrliche
+Bchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte
+sich auerordentlich, denn sie war die einzige, die es in
+den beiden Stdtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts.
+Die einzige Vernderung, die sie erlitt, war die, da die
+Einbnde immer schmutziger und die Bltter immer schmieriger
+und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde
+von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen,
+und ich mu der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner
+Schande gestehen, da auch ich, nachdem ich einmal
+gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bnden steckte,
+gnzlich verfiel. Was fr ein Teufel das war, mgen
+einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der
+Ruberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo
+Sallini, der edle Ruberhauptmann. Himlo Himlini,
+der wohlttige Ruberhauptmann. Die Ruberhhle auf
+dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswrdige [sic] Bandit.
+Die schne Ruberbraut oder das Opfer des ungerechten
+Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der
+Gesetze. Bruno von Lweneck, der Pfaffenvertilger. Hans
+von Hunsrck oder der Raubritter als Beschtzer der
+Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von
+Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am
+Hochgericht. Der Knig als Mrder. Die Snden des
+Erzbischofs u. s. w. u. s. w.
+
+ Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine
+Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bcher,
+einstweilen darin zu lesen. Spter sagte er mir, ich knne
+sie alle lesen, ohne dafr bezahlen zu mssen. Und ich las
+sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch!
+Ich nahm sie mit nach Haus. Ich sa ganze Nchte
+lang, glhenden Auges ber sie gebeugt. Vater hatte
+nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht,
+die gar wohl verpflichtet gewesen wren, mich zu warnen.
+Sie wuten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl
+daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte
+nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir
+zusammenbrach. Da die wenigen Sttzen, die ich, der
+seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun
+auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nmlich mein
+Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.
+
+ Die Psychologie ist gegenwrtig in einer Umwandlung
+begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und
+Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide
+auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede
+nachzuweisen. Man behauptet, da der Mensch nicht
+Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem
+anschlieen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst
+im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine
+kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln.
+Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen
+war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur
+das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon
+gehabt, aber was fr eine Wirkung! Es war zu einem
+kleinen, monstrs dicken, wasserkpfigen Ungeheuer
+aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja
+vielleicht auergewhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu
+einer unartikulierten geistigen Migestalt verwandelt, die
+nichts Wirkliches besa als nur ihre Hilflosigkeit. Und
+seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach
+oben nur an dem erwhnten starken, unzerreibaren Tau
+und wurde nach unten nur dadurch an der Erde
+festgehalten, da ich fr Knig und Vaterland, Gesetz und
+Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle
+Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an
+denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet
+hatten, den schwer bedrngten Monarchen Sachsens und
+seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun
+aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar
+durch die Lektre dieser schndlichen Leihbibliothek. Alle
+die Ruberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen
+ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren,
+das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch
+ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden.
+Sie besaen wahre Frmmigkeit, glhende Vaterlandsliebe,
+eine grenzenlose Wohlttigkeit und warfen sich
+zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrckten und
+Bedrngten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung
+und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Mnner
+aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der
+Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor
+allen Dingen die Flle des Lebens, der Ttigkeit, der
+Bewegung, die in diesen Bchern herrschte! Auf jeder Seite
+geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend
+eine groe, schwere, khne Tat, die man zu bewundern
+hatte. Was dagegen war in all den Bchern geschehen,
+die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Trakttchen
+des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden
+Jugendschriften? Und was geschah in den sonst
+ganz guten und brauchbaren Bchern des Herrn Rektors?
+Da waren groe, weite und ferne Lnder beschrieben,
+aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde
+Menschen und Vlker geschildert; aber sie bewegten sich
+nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie,
+nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte.
+Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen
+standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch
+kein Teufel da, das Kreuz mit den Fden in die Hand
+zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es
+gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt
+verlangt, nmlich der Leser. Und auf den kommt doch alles
+an, weil er allein es ist, fr den die Bcher geschrieben
+werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder
+Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet fr sie den Tod.
+Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser
+Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten
+und Bedrfnisse dessen, der so ein Buch in die Hnde nimmt!
+Kaum fhlt er whrend des Lesens einen Wunsch, so
+wird dieser auch schon erfllt. Und welche bewundernswerte,
+unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder
+gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Ruberhauptmann
+sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder bse
+Mensch, jeder Snder, mag er zehnmal Knig, Feldherr,
+Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft.
+Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist gttliche
+Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel ber die Herrlichkeit
+und Unumstlichkeit der gttlichen und der menschlichen
+Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht!
+Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den
+Rinaldo Rinaldini geschrieben!
+
+ Das Schlimmste an dieser Lektre war, da sie in
+meine sptere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner
+Seele festsetzte, fr immer festgehalten wurde. Hierzu kam
+die mir angeborene Naivitt, die ich selbst heute noch in
+hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da
+las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit.
+Nur Gromutter schttelte den Kopf, und zwar je lnger,
+desto mehr; sie wurde aber von uns andern berstimmt.
+Es war uns in unserer Armut ein Hochgenu, von "edlen"
+Menschen zu lesen, die immerfort Reichtmer verschenkten.
+Da sie diese Reichtmer vorher andern abgestohlen und
+abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das
+nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedrftige Menschen durch
+so einen Ruberhauptmann untersttzt und gerettet worden
+seien, so freuten wir uns darber und bildeten uns ein,
+wie schn es wre, wenn so ein Himlo Himlini pltzlich
+hier bei uns zur Tr hereintrte, zehntausend blanke Taler
+auf den Tisch zhlte und dabei sagte; "Das ist fr euren
+Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der
+Theaterstcke schreibt!" Das letztere war mir nmlich,
+seit ich den "Faust" gesehen hatte, zum Ideal geworden.
+
+ Ich mu bekennen, da ich diese verderblichen Bcher
+nicht nur las, sondern auch vorlas, nmlich zunchst
+meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen
+Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist
+gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine
+einzige solche Scharteke herbeifhren kann. Alles Positive
+geht verloren, und schlielich bleibt nur die traurige
+Negation zurck. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen
+verndern sich; die Lge wird zur Wahrheit, die
+Wahrheit zur Lge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung
+zwischen gut und bs wird immer unzuverlssiger!
+das fhrt schlielich zur Bewunderung der verbotenen Tat,
+die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht
+etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern
+es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum uersten
+Verbrechertum.
+
+ Das war zur Zeit, als bestimmt werden mute, was
+nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich
+wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf
+die Universitt. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle
+Mittel. Ich mute mit meinen Wnschen weit herunter
+und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu
+waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der
+Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem
+Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm
+verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann.
+Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen
+knnen, aber er versumte keinen Kirchgang, sprach gern
+von Humanitt und Nchstenliebe und war unser
+Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns
+einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten,
+recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar
+keinen Pfennig unntz ausgab, so bedurften wir nur eines
+Zuschusses von fnf bis zehn Talern pro Jahr. Das
+hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber
+wir glaubten, da es stimme. Meine Eltern hatten nie
+auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu
+Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum
+Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete
+die Hnde und lie sich ihr Anliegen vortragen. Sie
+schilderte ihm alles und bat, uns fnf Taler zu borgen,
+nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten,
+also wenn ich die Aufnahmeprfung bestanden haben
+wrde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit.
+Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: "Meine
+liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie
+sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott,
+den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen
+hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch
+Kinder wie Sie und mu fr sie sorgen. Ich kann Ihnen
+also die fnf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost
+nach Hause, und beten Sie recht fleiig, so wird sich ganz
+gewi zur rechten Zeit jemand finden, der sie brig hat
+und sie Ihnen gibt!"
+
+ Das war abends. Ich sa da und las in einem
+Ruberbuche. Da kam Mutter heim und erzhlte, was
+Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus
+Emprung ber solche Art der Frmmigkeit, als ber die
+Abweisung selbst. Vater sa lange Zeit still; dann stand
+er auf und ging. Unter der Tr aber sagte er: "Einen
+solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf
+das Seminar, und wenn ich mir die Hnde blutig arbeiten
+soll!" Als er fort war, saen wir andern noch
+lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen.
+Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf
+Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch,
+in dem ich gelesen hatte, fhrte den Titel "Die
+Ruberhhle an der Sierra Morena oder der Engel aller
+Bedrngten." Als Vater nach Hause gekommen und dann
+eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich
+aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich
+einen Zettel: "Ihr sollt euch nicht die Hnde blutig
+arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!" Diesen
+Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stckchen
+trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von
+meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, ffnete die
+Tr, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf,
+aber leise, leise, damit ja niemand es hre, und ging dann
+gedmpften Schrittes den Marktplatz hinab und die
+Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der ber
+Lichtenstein nach Zwickau fhrte, nach Spanien zu, nach
+Spanien, dem Lande der edlen Ruber, der Helfer aus
+der Not. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ IV.
+ Seminar- und Lehrerzeit.
+
+ _____
+
+Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und
+in ihren Frchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst
+heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist,
+und aus der Atmosphre, in der sie atmet. Pflanze ist in
+dieser Beziehung auch der Mensch. Krperlich ist er freilich
+nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt
+er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese
+in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch fr das,
+was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Mae
+verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf
+anzurechnen, wrde ebenso falsch sein wie die Behauptung,
+da er alle seine Vorzge nur allein sich selbst verdanke.
+Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphre
+eines "Gewordenen" genau kennt und richtig zu
+beurteilen wei, ist imstande, einigermaen nachzuweisen,
+welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen
+Verhltnissen und welche Teile aus dem rein persnlichen
+Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der
+grten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen
+Teufel, den die Verhltnisse zur Verletzung der Gesetze
+fhrten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch
+noch die ganze, schwere Last dieser Verhltnisse mit
+aufzubrden. Es gibt leider auch heute mehr als genug
+Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch
+begehen, ohne zu ahnen, da sie selbst es sind, die, wenn
+es hier Gesetze gbe, mit verantwortlich gemacht werden
+mten. Und gewhnlich sind es nicht etwa die
+Fernstehenden, sondern grad die lieben "Nchsten", welche
+Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die
+Einflsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen
+mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld,
+die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.
+
+ Wenn ich es hier unternehme, die Verhltnisse, aus
+denen ich erwuchs, einer ungefrbten Prfung zu unterwerfen,
+so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend
+welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf
+andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut
+sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein
+mu, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche
+Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau
+zu untersuchen.
+
+ Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe
+bei einander liegende Stdtchen, da sie stellenweise ihre
+Gchen wie die Finger zweier gefalteter Hnde zwischen
+einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der
+Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen
+Werke zunchst unter Schellingschem Einflusse entstanden,
+dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus
+zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt.
+Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und
+Publizist Plitz, dessen Bibliothek ber 30 000 Bnde
+zhlte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es
+hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal
+zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrcken
+pflegt, "das erste Licht der Welt erblickte". Die
+ersten und ltesten Eindrcke meiner Kindheit sind
+diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur
+in materieller, sondern auch in anderer Beziehung.
+Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige
+Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der
+Brgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen
+Nachtwchter, aber die Bewohner hatten sich reihum an
+der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschftigung
+bildete die Weberei. Der Verdienst war krglich, ja oft
+berkrglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es
+wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine
+Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und
+Krbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung
+zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden
+Mnnern begegnen, welche Baumstmme nach Hause trugen,
+die noch whrend der Nacht zu Feuerholz zersgt und
+zerhackt werden muten, damit, wenn die Haussuchung
+kam, nichts gefunden werden knne. Es galt fr die
+armen Weber, fleiig zu sein, um den Hunger abzuwehren.
+Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein
+"Stck zu Markte". Fr jeden Fehler, der sich zeigte,
+gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar
+mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann
+wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der
+Heiterkeit und -- -- -- dem Schnaps gewidmet. Man
+fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum.
+Bulle ist Abkrzung von Bouteille. In einigen Familien
+sang man dazu, aber was fr Lieder oft! In andern
+regierte die Karte. Da wurde "gelumpt", "geschafkopft"
+oder gar "getippt". Das letztere ist ein verbotenes
+Glcksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte.
+Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging
+von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch whrend
+der Sonntagsausgnge und berhaupt bei jedem
+Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen.
+Da sa man im Grnen und trank. Schnaps war
+berall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man
+betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm
+seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz
+von selbst verstnde.
+
+ Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, ber
+die der Alkohol keine Macht besa, aber die waren in
+ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden
+Stdtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien,
+die man hher schtzte als andere, in Ernsttal aber nicht.
+Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch
+gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt,
+dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaen,
+sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war
+die ganze Lebensfhrung berhaupt eine ungemein niedrige
+und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt,
+die man jetzt kaum mehr fr mglich hlt. Im persnlichen
+Verkehr waren Spitznamen oft gebruchlicher als
+die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel,
+welches ich da anfhre, diene der Name Wolf. Es gab
+einen Weikopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf,
+einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter
+Wlfe. Die Huser waren klein, die Gassen
+eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen
+und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast
+zur Unmglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben. Und
+da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen
+Nachbar im Sacke. Man wute alles, aber man schwieg.
+Nur zuweilen, wenn man es fr ntig hielt, lie man
+ein Wrtchen fallen, und das war genug. Man kam
+dadurch zur immerwhrenden, aber stillen Hechelei [sic], zur
+niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmtigen Sarkasmus,
+welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das
+war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne da
+man es beachtete. Das tzte; das wirkte wie Gift. So
+hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein
+lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte,
+verbotenes, ja sogar falsches, betrgerisches Kartenspiel
+zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um
+sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen
+Karten zu ben. Sie etablierten sich in einer vor der
+Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer
+aus, um Opfer einzufangen. Da sa man nchtelang
+und spielte um hohe Einstze. Mancher kam da mit
+vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben
+war im Stdtchen wohlbekannt. Man erzhlte sich von
+jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man
+sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich
+darber, anstatt da man diese Betrgereien verwarf.
+Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen
+Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete,
+man rhmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das
+geringste von allem, was man von ihnen wute. Da
+hierdurch eigentlich das ganze Stdtchen an dem Betruge
+gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und
+da jedermann, der von diesen Gaunereien wute, sich,
+streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das
+leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt htte,
+da dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen
+Tiefstand bedeute, der wre wohl ausgelacht worden, oder
+gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefhl war
+irregefhrt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man
+die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der
+alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bnde man
+verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden
+Stdtchen gab. Ich habe niemals gehrt, da der
+Brgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener
+Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen lie, um
+ihn zu verwarnen, und von dem bsen Beispiele, welches der
+ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete
+es. Man ging schweigend darber hinweg. Die Jugend
+aber, die das alles mit ansah und mit anhrte, mute
+den Eindruck gewinnen, da diese Betrgereien
+bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und
+so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde
+einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf
+geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat
+oder nicht?
+
+ Zwei eigenartige Gewchse dieses Sumpfes waren
+die beiden Namen "Batzendorf" und die "Lgenschmiede".
+Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte sddeutsche
+und schweizer Scheidemnze, Batzen genannt, zurck.
+Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder
+Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux,
+aber ein Jux, der hufig zum Ausarten kam. Batzendorf
+hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen
+Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles
+aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das
+allerkleinste Huschen Ernsttals, das der alten
+Gemsehndlerin Dore Wendelbrck, wurde zum Batzendorfer
+Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf,
+den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert
+und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie
+zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin
+zum Meisterhaus war Dorfnachtwchter. Sie mute die
+Stunden ansagen und tuten. Jede Behrde und jede
+Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel-
+und zum Schotenwchter, auch das alles in das Komische
+gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da
+kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten
+Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgefhrt zu
+werden: Taufen fnfzigjhriger Suglinge, Verheiratung
+zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne
+Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, ffentliche Prfung
+eines neuen Bandwurmmittels und hnliche tolle, oft
+sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz
+war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor
+war noch lter und glaubte von allem das Beste. Er
+sagte immer: "Nur nicht bertreiben, nur nicht bertreiben!"
+Damit glaubte er, seiner Pflicht gengt zu haben.
+Der Herr Kantor schttelte den Kopf. Er war zu bescheiden,
+ffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber
+unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu
+warnen: "Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen
+Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut fr Sie und auch nicht
+gut fr den Karl. Was man da treibt, ist alles weiter
+nichts als Persiflage, Ironie, Verhhnung und
+Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand
+rhren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu
+sehen noch zu hren bekommen!"
+
+ Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses "Batzendorf",
+in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine
+ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille,
+heimliche, doch um so bsere Wirkung gehabt. Da lockerten
+sich "die Bande frommer Scheu". Da gab es wchentlich
+etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten
+der Erwachsenen mit riesigem Interesse und hhnten
+und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewut
+zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer
+Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung
+kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber
+einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war
+eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen
+sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein gefhrt
+und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin
+stecken lassen mssen. Dem Unbegabten schadet das weniger;
+in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem
+Innern Dimensionen an, die spter, wenn sie zutage
+treten, nicht mehr einzudmmen sind.
+
+ Die "Lgenschmiede" war etwas neueren Datums.
+Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine
+Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache
+selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in
+Ernsttal einige jngere Leute, welche auerordentlich
+satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswrdige
+Menschen, htten sie in andern, greren Verhltnissen
+durch diese Begabung ihr Glck machen knnen,
+so aber blieben sie unten in den kleinen Verhltnissen
+hangen und konnten also auch nur Kleinliches und
+Gewhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war
+wirklich schade um sie!
+
+ Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und
+Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die
+Khnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und
+Mittel fr Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschft
+zu errichten, aber natrlich mit Restauration,
+denn ohne diese wre es ganz unmglich gegangen. Diese
+Restauration hatte zunchst keinen besonderen Namen;
+aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar
+ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lgenschmiede
+und ihren Besitzer, den Wirt, den Lgenschmied.
+Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgsten
+sa allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer
+konnte fters dort verkehren, ohne da er etwas davon
+bemerkte. Aber pltzlich brach es ber ihn los, pltzlich,
+ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu
+widerstehen war. Er wurde "gemacht", wie man es
+nannte. Man hatte seine schwchste Seite und seinen
+strksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine
+wohlausgedachte Lge auf, die er glauben mute, er
+mochte wollen oder nicht. An dieser Lge blamierte er
+sich, mochte er sich noch so sehr dagegen struben und
+mochte er zehnmal und hundertmal klger sein, als alle
+die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen.
+Diese Lgenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende
+von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder,
+dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgsten
+anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog
+beschmt von dannen.
+
+ Gewhnliche Gste kaufte man sich billig. Verlangte
+einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte
+er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er
+einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm
+Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner
+weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn
+Jeder wute, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere
+Gste hatten keine so gewhnlichen Witze zu befrchten.
+Die lie man warten. "Der mu erst noch reif werden,"
+pflegte der Lgenschmied zu sagen. Und Jeder wurde
+reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob
+studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig.
+Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem
+Einschlag aus dem Gewhnlichen heraus. Einem Gast,
+der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier
+sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm.
+Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bckermeister.
+Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und
+rasierte ihn, ohne da einer der Anwesenden eine Miene
+dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann
+vergngt von dannen, vollstndig blau im Gesicht. Er
+konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe
+dafr, da er in der Lgenschmiede behauptet hatte, er sei
+gescheiter als alle, ihn knne niemand foppen. Einem
+andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut'
+Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglckt. Er sei einem
+Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten
+Bein in das Rderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen
+das Bein unterhalb des Knies abnehmen mssen.
+Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam
+aber sehr bald lachend und mit seinem vollstndig
+gesunden Bruder zurck. Auch die Herren von der
+Behrde verkehrten sehr gern in der Lgenschmiede, doch
+nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet
+wuten. Sie lieen sich auch einen Ulk gefallen,
+und oft hatte der Lgenschmied es nur ihrem Einflusse
+zu verdanken, da seine oft zu weitgehenden Witze ohne
+unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete,
+wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach
+und nach aus. Die Witze wurden gewhnlicher; sie
+verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein
+Jeder, der die Lgenschmiede betrat, glaubte, Lgen
+machen und Unwahrheiten prsentieren zu drfen. Der
+Geist ging aus. Was frher wirklicher Humor, wirkliche
+Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen
+war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit,
+zur Unwahrheit, zur Flschung, zur unvorsichtigen
+Klatscherei und Lge. Die Lgenschmiede ist jetzt
+verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht.
+Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten
+Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch
+heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und
+zwar ein unter hellem Grn und winkenden Blumen
+verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter
+ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten
+Umkreise rund ber das Land gegangen, und leider,
+leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer
+darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages
+leiden mssen. Da meine Gegner es wagen konnten,
+den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit
+bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln
+und mich sogar als Marktweiberbandit und Ruberhauptmann
+durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum
+grten Teil durch die Lgenschmiede ermglicht, deren
+Stammgste gar nicht bedachten, was sie an mir
+begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen
+ber meine angeblichen Abenteuer und Missetaten
+traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurck
+und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich ber
+jene Falschspielergesellschaft, ber "Batzendorf" und ber
+die "Lgenschmiede" zu berichten hatte, sind nur einige
+kurze Einblicke in die damaligen Verhltnisse meiner
+Vaterstadt. Ich knnte diese Einblicke noch beraus
+erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, da es wirklich
+und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in
+den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen,
+will dies aber gern und mit Vergngen unterlassen,
+weil ich krzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel
+sich dort verndert hat. Ich hatte meine Vaterstadt
+schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner
+meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde,
+sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttuscht.
+Das meine ich nicht uerlich, sondern innerlich.
+Ich habe der Stdte und Orte genug gesehen; da
+kann mich nichts berraschen und auch nichts enttuschen.
+Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden
+Menschen zunchst und vor allen Dingen seine Seele
+kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden
+Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals
+war zwar noch die alte; das sah ich sofort;
+aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie
+hatte ein anderes, besseres und wrdigeres Aussehen
+bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang
+beobachten zu knnen, und darf wohl sagen, da mir
+diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand
+Intelligenz, wo es frher keine gegeben hatte. Ich
+begegnete einem regen Rechtsgefhl, welches nicht so leicht wie
+frher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn,
+mehr Zusammenhangsgefhl. Ja, die materiellen Verhltnisse
+zeigten berall schon einen Aufblick hinauf in
+das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich
+gehoben und zeigte die Fhigkeit, sich auch fernerhin und
+zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten,
+aus denen in Wirklichkeit "Etwas geworden" war. Das
+war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte.
+Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter
+mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern
+die Zge sprachen von Einsicht und Fhigkeit, von
+gesunder Klugheit und berlegsamer Urteilskraft. War
+dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von auen her?
+Gewi nicht ausschlielich, obwohl nicht abgeleugnet werden
+kann, da fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend,
+strkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe
+aufrichtig, da ich seit jenem Besuche und seit jenen
+Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere
+und von Herzen wnsche, da der jetzt so deutlich sichtbare
+Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder
+sein mge. Der Beweis ist erbracht, da die alten Zeiten
+vorber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit
+jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit
+dem Erfolg kommt auch der Segen.
+
+ Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun
+zu mir selbst zurckkehren und zu jener Morgenfrhe, in
+der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln
+spanischen Ruberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube
+ja nicht, da dies eine "verrckte" Idee gewesen sei. Ich
+war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch
+kindlich, aber doch schon wohlgebt. Der Fehler lag
+daran, da ich infolge des verschlungenen Leseschundes den
+Roman fr das Leben hielt und darum das Leben nun
+einfach als Roman behandelte. Die berreiche Phantasie,
+mit der mich die Natur begabte, machte die Mglichkeit
+dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.
+
+ Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag.
+In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von
+uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich
+auf und veranlaten mich, zu bleiben. Inzwischen
+hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen.
+Vater wute, nach welcher Richtung hin Spanien liegt.
+Er dachte sofort an die erwhnten Verwandten und
+machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort
+anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saen wir
+rund um den Tisch, und ich erzhlte in aller
+Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum.
+Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute.
+Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie
+waren ber mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei
+einem Ruberhauptmann suchen! Sie wuten sich zunchst
+keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten,
+und da war es wie eine Erlsung fr sie, als sie meinen
+Vater hereintreten sahen. Er, der jhzornige, leicht
+berhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewhnlich.
+Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges
+Wort des Zornes. Er drckte mich an sich und sagte:
+"Mach so Etwas niemals wieder, niemals!" Dann ging
+er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.
+
+ Der Weg betrug fnf Stunden. Wir sind in dieser
+Zeit still nebeneinander hergegangen; er fhrte mich an
+der Hand. Nie habe ich deutlicher gefhlt wie damals,
+wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom
+Leben wnschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich.
+Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches
+Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und
+er? Was mochten das wohl fr Gedanken sein, die jetzt
+in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach
+Hause kamen, mute ich mich niederlegen, denn ich kleiner
+Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und auerordentlich
+mde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde
+nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und
+das Lesen jener verderblichen Romane hrte auf. Als
+dann die Zeit gekommen war, stellte sich die ntige Hilfe
+ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden
+zu mssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort fr
+mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau,
+ein, und dieser gewhrte mir eine Untersttzung
+von fnfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man fr
+mich fr hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu
+Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand
+ich die Aufnahmeprfung fr das Proseminar zu
+Waldenburg und wurde dort interniert.
+
+ Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist!
+Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden!
+Nur? Wie falsch! Es gibt keinen hheren Stand als
+den Lehrerstand, und ich dachte, fhlte und lebte mich
+derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, da mir
+Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich
+stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde,
+hoch ber sie hinausragend, hob sich das ber
+alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem
+ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war:
+Stcke fr das Theater schreiben! Ueber das Thema
+Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer
+nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz
+gewi, vorausgesetzt freilich, da die Gabe dazu nicht
+fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die
+grne Mtze trug! Wie stolz auch meine Eltern und
+Geschwister! Gromutter drckte mich an sich und bat:
+
+ "Denk immer an unser Mrchen! Jetzt bist du
+noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan.
+Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen.
+Kehre dich niemals an die, welche dich zurckhalten
+wollen!"
+
+ "Und die Geisterschmiede?" fragte ich. "Mu ich
+da hinein?"
+
+ "Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,"
+antwortete sie. "Bist du es aber nicht wert, so wird
+dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen."
+
+ "Ich will aber hinein; ich will!" rief ich mutig aus.
+
+ Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und
+sagte lchelnd:
+
+ "Das steht bei Gott. Vergi ihn nicht! Vergi
+ihn nie in deinem Leben!"
+
+ Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, mu aber,
+falls ich ehrlich sein will, eingestehen, da mir das
+niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen,
+da ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben
+zu ringen gehabt htte. Die Ueberzeugung, da es einen
+Gott gebe, der auch ber mich wachen und mich nie verlassen
+werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste,
+unveruerliche Ingredienz meiner Persnlichkeit gewesen,
+und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst
+anrechnen, da ich diesem meinem lichten, schnen
+Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz
+ohne alle innere Strung ist es auch bei mir nicht
+abgegangen; aber diese Strung kam von auen her und
+wurde nicht in der Weise aufgenommen, da sie sich htte
+festsetzen knnen. Sie hatte ihre Ursache in der ganz
+besonderen Art, in welcher die Theologie und der
+Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab
+tglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder
+Schler unweigerlich teilnehmen mute. Das war ganz
+richtig. Wir wurden sonn- und feiertglich in corpore
+in die Kirche gefhrt. Das war ebenso richtig. Es gab
+auerdem bestimmte Feierlichkeiten fr Missions- und
+hnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend.
+Und es gab fr smtliche Seminarklassen einen
+wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in
+Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz
+selbstverstndlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht,
+nmlich grad das, was in allen religisen Dingen die
+Hauptsache ist; nmlich es gab keine Liebe, keine Milde,
+keine Demut, keine Vershnlichkeit. Der Unterricht war
+kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie.
+Anstatt zu beglcken, zu begeistern, stie er ab. Die
+Religionsstunden waren diejenigen Stunden, fr welche
+man sich am allerwenigsten zu erwrmen vermochte.
+Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwlf
+erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu
+Jahr in genau denselben Abstzen und genau denselben
+Worten und Ausdrcken gefhrt. Was es am heutigen
+Datum gab, das gab es im nchsten Jahre an demselben
+Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte
+Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und
+das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder
+einzelne Gedanke gehrte in sein bestimmtes Dutzend und
+durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen
+lassen. Das lie keine Spur von Wrme aufkommen;
+das ttete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen
+Mitschlern keinen einzigen gekannt, der jemals ein
+sympathisches Wort ber diese Art des Religionsunterrichts
+gesagt htte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so
+religis gewesen wre, aus freien Stcken einmal die
+Hnde zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und
+bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch
+heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar
+habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lcheln meiner
+Mitschler frchtete.
+
+ Ich htte gern ber diese religisen Verhltnisse
+geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe
+habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren
+und ueren Werdegang von Einflu war. Dieses
+Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar
+vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem,
+die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und
+wie gottverlassen man sich da fhlte! Die Andern nahmen
+das gar nicht etwa als ein Unglck hin; sie waren gleichgltig;
+ich aber mit meiner religisen Liebesbedrftigkeit
+fhlte mich erkltet und zog mich in mich selbst zurck.
+Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr
+als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder,
+als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den
+Verhltnissen, teils aber auch an mir selbst.
+
+ Ich wute viel mehr als meine Mitschler. Das
+darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei
+zu fallen. Denn was ich wute, das war eben nichts
+weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete
+Anhufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten
+Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich
+mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren
+Vielwisserei etwas merken lie, sah man mich staunend an
+und lchelte darber. Man fhlte instinktiv heraus, da
+ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei.
+Die andern, meist Lehrershne, hatten zwar nicht so viel
+gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert
+und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedchtnisses,
+stets bereit, benutzt zu werden. Ich fhlte,
+da ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und strubte
+mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine
+stille und fleiige Hauptarbeit war, vor allen Dingen
+Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das
+ging leider nicht so schnell, wie ich es wnschte. Das,
+was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war
+wie ein mhsames Graben durch einen Schneehaufen
+hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und
+dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht
+beseitigen lassen wollte. Nmlich den Gegensatz zwischen
+meiner auerordentlich fruchtbaren Phantasie und der
+Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen
+Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als
+da ich eingesehen htte, woher diese Trockenheit kam.
+Man lehrte nmlich weniger das, was zu lernen war,
+als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen
+hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das
+begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns
+lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit
+des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fgte
+man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen,
+deren Fleisch dann spter hinzuzufgen war. Bei mir
+aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich
+hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt,
+aber keinen einzigen tragenden, sttzenden
+Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste
+Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig
+besa, eine Qualle, die weder innerlich noch uerlich
+einen Halt besa und darum auch keinen Ort, an dem
+sie sich daheim zu fhlen vermochte. Und das Schlimmste
+hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war
+nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von
+den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das
+begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fhlte mich
+umso unglcklicher dabei, als ich mit keinem Menschen
+davon sprechen konnte, ohne mich dadurch blozustellen.
+Grad die Trockenheit und, ich mu wohl sagen, die
+Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche
+mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung fhrte. Ich
+fand fr die Skelette, die uns geboten wurden, damit
+wir sie beleben mchten, kein gesundes Fleisch in mir.
+Alles, was ich zusammenfgte und was ich mir innerlich
+aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde hlich,
+wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor
+mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner
+seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu subern, zu
+reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in
+Anspruch nehmen zu mssen, die es ja auch gar nicht
+gab. Ich htte mich wohl gern einem unserer Lehrer
+anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt,
+so unnahbar, und vor allen Dingen, das fhlte ich heraus,
+keiner von ihnen htte mich verstanden; sie waren keine
+Psychologen. Sie htten mich befremdet angesehen und
+einfach stehen lassen.
+
+ Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang
+nach geistiger Bettigung. Ich lernte sehr leicht und
+hatte demzufolge viel Zeit brig. So dichtete ich im
+Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich
+erbrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was
+ich schrieb, das sollte keine Schlerarbeit werden, sondern
+etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was
+schrieb ich da? Ganz selbstverstndlich eine
+Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverstndlich, um gedruckt
+zu werden! Von wem? Ganz selbstverstndlich von der
+"Gartenlaube", die vor einigen Jahren gegrndet worden
+war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war
+ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein.
+Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete,
+bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb
+ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren
+Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein
+Manuskript zurck, um es an eine andere Redaktion zu
+senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst
+geschrieben, vier groe Quartseiten lang. Ich war fern
+davon, dies so zu schtzen, wie es zu schtzen war. Er
+kanzelte mich zunchst ganz tchtig herunter, so da ich
+mich wirklich aufrichtig schmte, denn er zhlte mir hchst
+gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natrlich ohne
+es zu ahnen, in der Erzhlung begangen hatte. Gegen
+den Schlu hin milderten sich die Vorwrfe, und am
+Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergngt die
+Hand und sagte mir, da er nicht bermig entsetzt
+sein werde, wenn sich nach vier oder fnf Jahren wieder
+eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte.
+Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die
+Schuld, sondern die Verhltnisse gestatteten es nicht. Das
+war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen
+habe. Damals freilich hielt ich es fr einen absoluten
+Mierfolg und fhlte mich sehr unglcklich darber.
+Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar
+in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in
+dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal
+berfiel, aus welchem meine Gegner so berklingendes
+Kapital geschlagen haben.
+
+ Es herrschte im Seminar der Gebrauch, da die
+Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von
+jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende
+als "Wochner" bezeichnet. Auerdem gab es in der ersten
+Klasse einen "Ordnungswochner" und in der zweiten einen
+"Lichtwochner", welch letzterer die Beleuchtung der
+Klassenzimmer zu bersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah
+damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines
+niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde.
+Der Lichtwochner hatte tglich die Suberung der alten,
+wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die
+Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten
+zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach
+weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder
+anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren
+allgemein als wertlos anzusehen.
+
+ Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe,
+Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese
+Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem
+Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage
+vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wsche
+abzuholen und das wenige Gepck, welches ich mit in die
+Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es
+Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach
+Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch
+jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen
+der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut
+daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst.
+Mutter pflegte, wie selbst die rmsten Leute, fr das
+Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das
+hatte sie heuer kaum erschwingen knnen. Aber bescheert [sic]
+werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld
+dazu. Es gab keine Lichter fr den Weihnachtsleuchter.
+Sogar die hlzernen Engel der kleineren Schwestern sollten
+ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehrten drei kleine
+Lichte, das Stck fr fnf oder sechs Pfennige; aber
+wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren
+Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu
+fgen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das
+Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich
+soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt
+hatte. "Knnte man denn nicht daraus einige
+Pfenniglichte machen?" fragte sie. "Ganz leicht,"
+antwortete ich. "Man braucht dazu eine Papierrhre und
+einen Docht, weiter nichts. Aber brennen wrde es schlecht,
+denn dieses Zeug ist nur noch hchstens fr Schmiere zu
+gebrauchen." "Wenn auch, wenn auch! Wir htten doch
+eine Art von Licht fr die drei Engel. Wem gehrt
+dieser Abfall?" "Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn
+zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder
+nicht, ist seine Sache." "Also wre es wohl nicht
+gestohlen, wenn wir uns ein bichen davon mit nach Hause
+nhmen?" "Gestohlen. Lcherlich! Fllt keinem
+Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige
+wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus
+machen wir drei kleine Weihnachtslichte."
+
+ Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer
+Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse,
+also eine Klasse ber mir. Es widerstrebt mir, seinen
+Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser
+wackere Mitschler sah alles mit an. Er warnte mich
+nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging
+fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor
+kam in eigener Person, den "Diebstahl" zu untersuchen.
+Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab
+den "Raub", den ich begangen hatte, zurck. Ich dachte
+wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen
+"infernalischen Charakter" und rief die Lehrerkonferenz
+zusammen, ber mich und meine Strafe zu entscheiden.
+Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkndet.
+Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte
+gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der
+Schwester -- -- -- in die heiligen Christferien -- --
+-- ohne Talg fr die Weihnachtsengel -- -- -- es waren
+das sehr trbe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe
+wohl berhaupt schon gesagt, da grad Weihnacht fr
+mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen
+sei. An diesen Weihnachtstagen lschten heilige Flammen
+in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich
+lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern
+unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die
+unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Trken
+und Heiden verfahren wrden.
+
+ Glcklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus
+und ffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete,
+verstndiger und humaner als die Seminardirektion. Ich
+erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen
+Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen.
+Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite,
+und bestand nach zurckgelegter erster Klasse das Lehrerexamen,
+worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt,
+bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine
+Fabrikschule, deren Schler ausschlielich aus ziemlich
+erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine
+Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu,
+der Wahrheit gem, als ob ich mich nicht mit mir selbst,
+sondern mit einer andern, mir fremden Person beschftigte.
+
+ Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurck.
+Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, fr unsere
+Verhltnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich
+als Lehrer nicht mehr wie als Schler herumlaufen
+konnte, eine wenn auch noch so bescheidene
+Ausstattung an Wsche und andern notwendigen Dingen.
+Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mute es
+auf mein Konto nehmen; das heit, ich borgte es mir,
+um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen.
+Da hie es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen,
+ehe er ausgegeben wurde! Ich beschrnkte mich auf das
+Aeuerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht
+absolut notwendig war. Ich besa nicht einmal eine Uhr,
+die doch fr einen Lehrer, der sich nach Minuten zu
+richten hat, fast unentbehrlich ist.
+
+ Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden
+war, hatte kontraktlich fr Logis fr mich zu sorgen. Er
+machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besa
+auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher
+beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert;
+er mute mit mir teilen. Hierdurch verlor er
+seine Selbstndigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte
+ihn an allen Ecken und Enden, und so lt es sich gar
+wohl begreifen, da ich ihm nicht sonderlich willkommen
+war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine
+Weise von dieser Strung zu befreien. Im brigen kam
+ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm mglichst gefllig
+und behandelte ihn, da ich sah, da er das wnschte,
+als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete
+ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand
+sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue
+Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr
+brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand.
+Sie hatte einen Wert von hchstens zwanzig Mark. Er
+bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besa; ich lehnte
+aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so
+sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch
+in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen
+hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag,
+seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu
+stecken, da ich doch zur Pnktlichkeit verpflichtet sei. Ich
+ging darauf ein und war ihm dankbar dafr. In der
+ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule
+zurckkehrte, sofort an den Nagel zurck. Spter unterblieb
+das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der
+Tasche, denn eine so auffllige Betonung, da sie nicht
+mir gehre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lcherlich
+vor. Schlielich nahm ich sie sogar auf Ausgngen
+mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr,
+an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder
+gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er
+duldete mich notgedrungen und lie es mich zuweilen
+absichtlich merken, da ihm die Teilung seiner Wohnung
+nicht behage.
+
+ Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, da ich
+die Feiertage bei den Eltern zubringen wrde, und
+verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schlu der Schule
+gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung
+zurckzukehren. Als die letzte Schulstunde vorber war, fuhr
+ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar
+nicht weit. Die Uhr zurckzulassen, daran hatte ich in
+meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; da
+sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr
+gleichgltig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern
+Absicht bewut. Dieser Abend bei den Eltern war ein
+so glcklicher. Ich hatte die Schlerzeit hinter mir; ich
+besa ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum
+Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir
+begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten.
+Dabei sprach ich ber meine Zukunft, ber meine Ideale,
+die fr mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen.
+Der Vater schwrmte mit. Die Mutter war stillglcklich.
+Gromutters alte, treue Augen strahlten. Als wir
+endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit
+wach im Bette und hielt Rechenschaft ber mich. Meine
+innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich
+bewut. Ich sah die Abgrnde hinter mir ghnen, vor
+mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer
+und mhevoll, aber vllig frei zu sein: Schriftsteller
+werden; Groes leisten, aber vorher Groes lernen! Alle
+inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten
+Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz
+fr Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen
+Gedanken schlief ich ein, und als ich frh erwachte, war
+der Vormittag schon fast vorber, und ich mute nach
+dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine
+Einkufe zur Bescherung fr die Schwestern zu machen.
+Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich
+der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er
+mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur
+Polizei, wo man eine Befragung fr mich habe. Ich
+ging mit, vollstndig ahnungslos. Ich wurde zunchst
+in die Wohnstube gefhrt, nicht in das Bureau. Da sa
+eine Frau und nhte. Wessen Frau, darber bitte ich,
+schweigen zu drfen. Sie war eine gute Bekannte meiner
+Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit
+angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich
+niederzusetzen, und ging fr kurze Zeit hinaus, seine
+Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig
+zu fragen:
+
+ "Sie sind arretiert! Wissen Sie das?"
+
+ "Nein," antwortete ich, tdlich erschrocken.
+"Warum?"
+
+ "Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr
+gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet,
+bekommen Sie Gefngnis und werden als Lehrer
+abgesetzt!"
+
+ Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefhl,
+als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf
+geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine
+Gedanken vor dem Einschlafen, und nun pltzlich Absetzung
+und Gefngnis!
+
+ "Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur
+geborgt!" stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.
+
+ "Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben
+Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht
+sehen! Schnell, schnell!"
+
+ Meine Bestrzung war unbeschreiblich. Ein einziger
+klarer, ruhiger Gedanke htte mich gerettet, aber er blieb
+aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und
+die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand
+vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber.
+Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern
+im Anzuge, wohin sie nicht gehrte, und kaum war dies
+geschehen, so kehrte der Gendarm zurck, um mich
+abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so
+kurz wie mglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz
+der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man
+nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die
+Lge, anstatt da sie mich rettete; das tut sie ja immer;
+ich war ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz
+vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die
+Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schlo und
+Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefngnis verurteilt.
+Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich
+zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel,
+zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine
+Zuflucht nahm, das wei ich nicht zu sagen. Jene Tage
+sind aus meinem Gedchtnisse entschwunden, vollstndig
+entschwunden. Ich mchte aus wichtigen psychologischen
+Grnden gern Alles so offen und ausfhrlich wie mglich
+erzhlen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge
+ganz eigenartiger, seelischer Zustnde, ber die ich
+im nchsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner
+Erinnerung ausgestrichen ist. Ich wei nur, da ich
+mich vollstndig verloren hatte und da ich mich dann
+in der Pflege der Eltern und besonders der Gromutter
+wiederfand. Als ich mich mhsam erholt hatte und wieder
+krftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz
+gegangen, um mein beschdigtes Gedchtnis wieder
+aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten
+vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik,
+noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle,
+an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber pltzlich
+stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter.
+Er kam mir auf der Strae entgegen und hielt den
+Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich
+sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, da ich ganz
+anders aussehe als frher, so auerordentlich leidend.
+Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen.
+So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt.
+Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben
+zu haben! Ich sah ihn gro an. Mir meine Karriere
+verdorben? Htte das berhaupt Jemand gekonnt?
+Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will,
+gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden
+als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es
+ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu
+bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das
+auch noch heut. Ich lie den Mann mitten auf der
+Strae stehen und entfernte mich, ohne ihm einen
+Vorwurf zu machen.
+
+ Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich
+damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser
+Darstellung gesagt, da die Abgrnde hinter mir lagen, vor
+mir aber keine, und da ich die Absicht hegte, Groes zu
+leisten, vorher aber Groes zu lernen. Das Erstere war
+falsch. Die Abgrnde lagen ganz im Gegenteile nicht
+hinter mir, sondern vor mir. Und das Groe, was ich
+zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgrnde
+zu strzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei
+hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurckzufallen. Dies ist die
+schwerste Aufgabe, die es fr einen Sterblichen gibt, und
+ich glaube, ich habe sie gelst. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ V.
+ Im Abgrunde.
+
+ _____
+
+Ich komme nun zu der Zeit, welche fr mich und fr jeden
+Menschenfreund die schrecklichste, fr den Psychologen
+aber die interessanteste ist. Es liegt mir in der schreibenden
+Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung
+jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Frbung
+zu geben, welche am besten geeignet wre, das, was damals
+in mir vorgegangen ist, fr den Fachmann begreiflich
+zu machen; aber ich schreibe hier nicht fr den seelenkundigen
+Spezialisten, sondern fr die Welt, in der meine
+Bcher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche,
+Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde infolge
+dessen alle Fachausdrcke vermeiden und lieber einen
+bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der
+nicht allgemein verstndlich ist.
+
+ Die im letzten Kapitel erzhlte Begebenheit hatte wie
+ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag ber den
+Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht.
+Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder
+auf, doch nur uerlich; innerlich blieb ich in dumpfer
+Betubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Da es
+grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung
+verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete,
+ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein
+Rechtsmittel ergriffen habe, das wei ich nicht. Ich wei
+nur noch, da ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte,
+zwei andere Mnner mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene.
+Man schien mich also fr ungefhrlich zu
+halten, sonst htte man mich nicht mit Personen
+zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren. Der Eine
+war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier. Weshalb
+sie in Untersuchung saen, das kmmerte mich nicht. Sie
+zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mhe, mich aus
+dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich
+befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich verlie die
+Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben
+Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging
+heim, zu den Eltern.
+
+ Weder dem Vater noch der Mutter noch der Gromutter
+noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwrfe
+zu machen. Und das war geradezu entsetzlich! Als ich
+damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien
+wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen,
+ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrben, und es
+war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen!
+Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir
+nicht; die htte ich zu jeder Zeit erhalten knnen. Nun
+da es so stand, handelte es sich fr mich darum, nicht
+erst seitwrts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und fr
+immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende
+die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten
+Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen,
+lernen, lernen! Am Groen, Schnen, Edlen mich
+emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt
+als Bhne kennen lernen, und die Menschheit, die sich
+auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren,
+arbeitsreichen Lebens fr die andere Bhne schreiben, fr das
+Theater, um dort die Rtsel zu lsen, die mich schon seit
+frhester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar
+fhlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff!
+
+ Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang
+war nicht etwa ein klarer, kurz und bndig sich
+aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das
+strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab
+nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah,
+als grad der heutige Tag mich sehen lie. Diese Nacht
+war nicht ganz dunkel; sie hatte Dmmerlicht. Und
+sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch
+auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank.
+Ich besa die Fhigkeit zu jedem logischen Schlusse,
+zur Lsung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte
+den schrfsten Einblick in alles, was auer mir lag; aber
+sobald es sich mir nherte, um zu mir in Beziehung zu
+treten, hrte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande,
+mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich
+selbst zu fhren und zu lenken. Nur zuweilen kam ein
+Augenblick, der mir die Fhigkeit brachte, zu wissen, was
+ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis
+zum nchsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich
+ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem
+Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen
+Zustandes geistig sehr wohl bewut, besa aber nicht
+die Macht, ihn zu ndern oder gar zu berwinden. Es
+bildete sich bei mir das Bewutsein heraus, da ich kein
+Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persnlichkeit,
+ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen,
+sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab
+es verschiedene, handelnde Persnlichkeiten, die sich bald
+gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander
+unterschieden.
+
+ Da war zunchst ich selbst, nmlich ich, der ich das
+Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war
+und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es
+besa groe Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte
+alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets
+nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel,
+einer jener reinen, beglckenden Gestalten aus Gromutters
+Mrchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lchelte,
+wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam
+war. Die dritte Gestalt, natrlich nicht krperliche, sondern
+seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, hlich,
+hhnisch, abstoend, stets finster und drohend; anders habe
+ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehrt.
+Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hrte sie auch; sie
+sprach. Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nchte
+lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute,
+sondern stets nur das, was bs und ungesetzlich war.
+Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst
+jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie
+einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt
+und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut
+und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal
+gesehen htte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte
+auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf,
+aus dem Kegelschub oder aus der Lgenschmiede. Heut
+sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der
+Raubritter Kuno von der Eulenburg und bermorgen
+wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem
+Talgpapiere stand.
+
+ Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit
+einem Male, sondern nach und nach. Es vergingen viele,
+viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten,
+da ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das
+Gedchtnis festhalten konnte. Und da begann ich zu
+begreifen, um was es sich eigentlich handelte. Was sich in
+jedem Menschen vollzieht, ohne da er es bemerkt oder
+auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah
+und hrte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade?
+Oder war ich verrckt? Dann aber jedenfalls nicht geistig,
+sondern seelisch verrckt, denn ich machte diese Beobachtungen
+mit einer Objektivitt und Kaltbltigkeit, als ob es sich
+nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir
+vollstndig fremden Menschen handle. Und ich lebte das
+gewhnliche, alltgliche Leben ganz so, wie jede gesunde
+Person es lebt, die von derartigen psychologischen
+Vorgngen nicht angefochten wird. Es kehrte mir die Kraft
+und der Wille zum Leben zurck. Ich arbeitete. Ich
+gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich
+dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine
+Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte,
+einzuben und auszufhren. Es leben noch heut Mitglieder
+dieser Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins,
+mit dem ich ffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend.
+Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst
+Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten". Ich hatte
+nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende
+Humoresken sind uerst selten und werden hoch bezahlt.
+Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere.
+Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich
+entwickelte. Aber diese Freude wurde in der grausamsten
+Weise durch eine andere Entwicklung vergllt, die sich
+zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern
+vollzog. Die Spaltung dort griff weiter um sich. Jede
+Empfindung, jedes Gefhl schien Form annehmen zu
+wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen,
+mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren
+wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mute sie
+hren. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es frher
+auer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die
+helle und die dunkle, so jetzt auer mir zwei Gruppen.
+Und je lnger es dauerte, da sie sich von einander
+unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie. Es kmpften
+da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander:
+Gromutters helle, lichte Bibel- und Mrchengestalten
+gegen die schmutzigen Dmonen jener unglckseligen Hohensteiner
+Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die
+bererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren
+wurde, gegen die beglckenden Ideen des Hochlandes,
+nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten
+Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden
+Wnsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft
+schaute, die Lge gegen die Wahrheit, das Laster gegen
+die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die
+Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat,
+um zum Edelmenschen zu werden.
+
+ Solche innere Kmpfe hat jeder denkende Mensch,
+der vorwrts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es
+Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten.
+Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich
+zu sichtbaren und hrbaren Gestalten verdichtet. Ich sah
+sie bei geschlossenen Augen, und ich hrte sie, bei Tag und
+bei Nacht; sie strten mich aus der Arbeit; sie weckten
+mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mchtiger
+als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen
+Widerstand. In gewhnlichen Stunden herrschte Ruhe
+in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu
+arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede
+wollte die Arbeit so, wie sie es wnschte. Auch kam
+es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen
+eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte
+ich ohne Streit und Strung vollenden. Bei einer ernsten
+Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen fr
+und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich
+regelmig nach, da Gott nicht mit sich spotten lt,
+sondern genauso straft, wie man sndigt. Hiergegen
+emprten sich gewisse Gestalten in mir. Den grten
+Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten
+oder meiner Lektre noch hhere Linien bestieg. Wenn
+ich mir ein religis oder ethisch oder sthetisch hohes
+Thema stellte, emprte sich die dunkle Gestalt in mir mit
+aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz
+unaussprechlich sind. Um zu zeigen, in welcher Weise
+das vor sich ging und was fr Qualen das waren, will
+ich ein erluterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag
+erhalten, eine Parodie von "des Sngers Fluch"
+von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die Parodie bekam
+den Titel "des Schneiders Fluch". Ein Schneider
+verfluchte einen Schuster, sein bauflliges Huschen und
+winziges Grtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbsche
+standen. Bei der Verfluchung des Huschens kam es
+zu folgenden Zeilen:
+
+ "Die Hypotheken lauern
+ Schon heut auf euern Sturz.
+ Ihr hrts, verruchte Mauern,
+ Ich mach' es mit euch kurz!"
+
+Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestrt zu
+sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste
+Emprung in mir. Nur die lichte Gestalt verschwand;
+sie trauerte, denn mein Knnen reichte zu Besserem und
+Edlerem aus. Einige Zeit spter hatte ich ein Lehrgedicht
+zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen
+gegenwrtig sind:
+
+ "Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,
+ Das euer Heiland euch gelehrt
+ Und es in euren eig'nen Landen
+ Befolgt und mit Gehorsam ehrt,
+ Dann einet sich zu einem Strome
+ Die Menschheit all von nah und fern
+ Und kniet anbetend in dem Dome
+ Der Schpfung vor dem einen Herrn.
+ Dann wird der Glaube triumphieren,
+ Der einen Gott und Vater kennt;
+ Die Namen sinken, und es fhren
+ Die Wege all zum Firmament."
+
+ Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu
+diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat
+eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lcheln
+der lichten Gestalt, und hundert schne, edle Gedanken
+eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden. Ich griff
+zur Feder. Da aber war es pltzlich, als ob ein schwarzer
+Vorhang in mir niederfalle. Die Klarheit war vorber;
+die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf,
+hhnisch lachend, und berall, durch mein ganzes inneres
+Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen "des
+Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
+Fluch u. s. w.!" So klang es stunden- und stundenlang
+in mir fort, endlos, unaufhrlich und ohne die geringste
+Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich,
+wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir,
+sondern grad vor meinem uern Ohr ertnten. Ich
+gab mir alle Mhe, sie zum Schweigen zu bringen, doch
+war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und
+zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich
+aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam,
+auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich
+Schweigen ein. Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen,
+halten mute, so griff ich bald wieder zur Feder.
+Sofort erklang der Stimmenchor von neuem "des
+Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!" und als ich
+trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte,
+kamen die lautgebrllten Stze hinzu "Die Hypotheken
+lauern, die Hypotheken lauern; ihr hrts, verruchte
+Mauern, ihr hrts, verruchte Mauern!" Das ging den
+ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann
+noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hrte
+es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt.
+Jeder Andere htte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber
+nicht. Ich blieb kaltbltig und beobachtete mich. Ich
+setzte es trotz aller Gegenwehr durch, da mein Gedicht
+zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber derartige Siege
+hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann
+innerlich zusammen.
+
+ Leider erstreckte sich diese gewaltttige Verhinderung
+meiner guten Vorstze nicht nur auf meine Studien und
+Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch
+auf meine Lebensfhrung, auf mein alltgliches Tun.
+Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs
+Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge
+unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht htte,
+die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir
+einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich
+sah sie nicht; ich sah nur die finstere, hhnische
+Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner
+Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie
+beeinfluten mich. Und wenn ich mich dagegen strubte,
+so wurden sie lauter, um mich zu betuben und so zu
+ermden, da ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die
+Hauptsache war, da ich mich rchen sollte, rchen an
+dem Eigentmer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur
+um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rchen an
+der Polizei, rchen an dem Richter, rchen am Staate,
+an der Menschheit, berhaupt an jedermann! Ich war
+ein Mustermensch, wei, rein und unschuldig wie ein
+Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft,
+um mein Lebensglck. Wodurch? Dadurch, da
+ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nmlich ein
+Verbrecher.
+
+ Das war es, was die Versucher in meinem Innern
+von mir forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte,
+so weit meine Krfte reichten. Ich gab allem, was ich
+damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine
+ethische, eine streng gesetzliche, eine knigstreue Tendenz.
+Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst
+zur Sttze. Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist
+mir das geworden! Wenn ich nicht tat, was diese lauten
+Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit
+Hohngelchter, mit Flchen und Verwnschungen berschttet,
+nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und
+ganze Nchte lang. Ich bin, um diesen Stimmen zu
+entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen
+und das Schneegestber gelaufen. Es hat mich
+fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat
+fort, um mich zu retten, kein Mensch wute, wohin, doch
+es zog mich wieder und immer wieder zurck. Niemand
+erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar
+bermenschlich ich kmpfte, weder Vater noch Mutter noch
+Gromutter noch eine der Schwestern. Und noch viel
+weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man htte mich
+ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach fr
+bergeschnappt erklrt. Ob irgend Jemand an meiner Stelle
+das ausgehalten htte, da wei ich nicht, ich glaube es
+aber kaum. Ich war sowohl krperlich als auch geistig
+ein krftiger, sogar ein sehr krftiger Mensch, aber ich
+wurde dennoch mder und mder. Es kamen zunchst
+Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollstndig
+dunkel in mir wurde; da wute ich kaum oder oft auch
+gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte
+Gestalt in mir vollstndig verschwunden. Das dunkle
+Wesen fhrte mich an der Hand. Es ging immerfort
+am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun,
+was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur
+noch wie im Traum. Htte ich den Eltern oder doch
+wenigstens Gromutter gesagt, wie es um mich stand, so
+wre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewilich
+unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat,
+sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit
+fhrte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte,
+Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne
+zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu
+bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es
+wahrscheinlich auch schon damals nicht gewut. Denn fr mich
+ist es sicher und gewi, da ich ganz unmglich bei klarem
+Bewutsein gehandelt haben kann. Ich wei von der
+darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr,
+weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich
+auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich
+habe bis jetzt geglaubt, da die Strafe vier Jahre
+Gefngnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierber
+in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darber
+gewesen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist, da
+der Abgrund nicht vergeblich fr mich offengestanden hatte.
+Ich war hinabgestrzt; ich wurde in das Landesgefngnis
+Zwickau eingeliefert.
+
+ Ehe ich mich ber diese meine Detentien verbreite,
+habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche
+Anschauungen zu wenden, die sich gegen Alles, was mit dem
+Strafvollzug zusammenhngt, richten und mit denen nun
+doch endlich einmal aufgerumt werden sollte. Ich habe
+manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber
+unberechtigter Erbitterung drohen hren, da er nach seiner
+Entlassung ein Buch ber seine Gefangenschaft schreiben
+werde, um die ebenso schweren wie unzhligen Mngel
+unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzuges aufzudecken.
+Ein verstndiger Mann lchelt ber solche Drohungen,
+die zwar ausgesprochen, aber nur hchst selten ausgefhrt
+werden. Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefhl
+besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu
+haben. Es fllt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur
+wenige wuten, nun, da es berstanden ist, an die volle
+Oeffentlichkeit zu bringen. Er schweigt also. Und das
+ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewi
+beweisen wrde, da unter tausend Gefangenen kaum einer
+ist, der ber sich und seine Bestrafung unbefangen und
+sachgem zu urteilen vermag. Ich aber glaube, mich
+zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet
+zu haben; ich halte mein Urteil fr wohlerwogen und
+richtig und fhle mich verpflichtet, hier folgende Punkte
+festzustellen:
+
+ Die Zeiten, in denen die Gefngnisse als "Verbrecherschulen"
+bezeichnet werden durften, sind lngst vorber.
+In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch
+und nicht weniger human als in der Freiheit zu.
+
+ Das, was man einst als "Verbrecherwelt" brandmarkte,
+gibt es nicht mehr. Die Bewohnerschaft der
+heutigen Strafhuser rekrutiert sich aus allen Stnden
+des Volkes. Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und
+Intelligenz aus denselben Prozentstzen zusammen wie die
+der "Unbestraften".
+
+ An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld.
+Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu "ent"-schuldigen.
+
+ Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses
+Satzes wohlbewut. Ich habe keinen einzigen Richter
+kennen gelernt, auch unter denen, welche gegen mich
+entschieden, dem ich einen Vorwurf machen knnte. Die
+zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich frmlich
+zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen
+zu machen, und ich mu sagen, da ich alle diese
+Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur
+hochachten kann. Ich habe sogar den Fall erlebt, da ein
+Dresdener Richter mir recht gab, obwohl alle seine
+Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in
+diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung
+und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand
+dies erweckt, das wei nur der, der Gleiches wie
+ich erlebte.
+
+ In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe
+auszusprechen. Ich habe whrend meiner Gefangenschaft
+nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher
+kennen gelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit
+und Humanitt Grund zu irgend einem Tadel gegeben
+htte. Ich behaupte sogar, da die Aufseher die Strenge
+des Dienstes viel strker empfinden als der Gefangene
+selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Gte, eine
+Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmglich
+gewesen wre. Das Gefngnis ist kein Konzerthaus und
+kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Sttte, in
+welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen
+hat. Derjenige Detinierte, der so verstndig ist, sich dies
+zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle
+mgliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war,
+vergessen zu machen. Es gab Beamte, die ich herzlich
+lieb gewann, und ich bin vollstndig berzeugt, da ihre
+Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur
+vorgetuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war.
+
+ Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres
+Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns
+wnschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch
+nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die
+Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, nmlich in der
+Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der trichten
+Selbstgerechtigkeit des lieben Nchsten, in gewissen, allzu tief
+eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch
+in unserer sogenannten, hochgepriesenen "Kriminalpsychologie",
+an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht
+aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger
+der, um den es sich hier eigentlich handelt, nmlich der
+sogenannte -- -- -- Verbrecher.
+
+ Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue
+Straftaten und neue Rckflle flieen, obgleich doch sonst
+alles mgliche geschieht, diese trben Wasser einzudmmen
+und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll ich
+sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der
+letzten, der "Kriminalpsychologie", beginnen, so liegen vor
+mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, uerst
+strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen
+dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der
+Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet
+sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung
+und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu
+lenken. Er hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er
+wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung
+handelt, oft genannt und wrde ein Segen auf diesem
+Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das
+wieder zerstrte, was er als Vorkmpfer der Humanitt
+aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen Namen,
+denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die
+Sache an. Als Menschenfreund im hchsten Grade
+beachtenswert, kann er als "Seelenforscher" in fast noch
+hherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem
+er seine ffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen
+versucht, lt er sich so weit hinreien, Personen,
+die vor dreiig und noch mehr Jahren bestraft worden
+sind, nun aber sich in mhsam errungener, ffentlicher
+Stellung befinden, mit in seine "psychiatrischen"
+Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart
+kenntlich zu machen, da jedermann wei, wen er meint.
+Von einem Rechtsanwalt hierber zur Rede gestellt,
+antwortete er, da er als Wissenschaftler hierzu berechtigt
+sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube.
+Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knpfen.
+Aber selbst wenn es wahr wre, da es einen solchen
+Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt,
+einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene,
+sonstige Humanitt zu handeln und Menschen, die ihm
+nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem
+Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem
+Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser
+Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es fr
+den Reichstag hchste Zeit, ihn einer ernsten Prfung zu
+unterwerfen. Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag
+er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das
+Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, da die
+Herren Kriminalpsychologen ihn ffentlich an den
+wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewi nicht
+darber wundern, da die Kriminalistik keine Neigung
+zur Besserung zeigt. Ich werde im Verlaufe meiner
+Darstellungen auf diesen Punkt zurckkommen mssen.
+
+ Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft,
+so brauche ich hier nur auf die vllige Schutzlosigkeit der
+Vorbestraften gewissen Rechtsanwlten gegenber
+hinzuweisen. Der grte Schurke kann durch seinen Anwalt
+in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er
+verderben will; das wird dann verffentlicht, und der
+arme Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein
+Ehrenmann, aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht,
+den B. zu vernichten. Er braucht ihn blo zu beleidigen
+und sich von ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann
+als Beschuldigter, da die Strafakten des Klgers vorgelegt
+werden. Das geschieht. Sie werden in ffentlicher
+Verhandlung vorgelesen. A. bekommt zehn Mark
+Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die frhere Verachtung
+und in das frhere Elend zurckgeworfen und wird nun
+darauf schwren, da fr den einmal Bestraften alle Vorstze,
+sich zu "bessern", nutzlos sind. Wenn er nun rckfllig
+wird, ist es gewi kein Wunder. Es gibt leider
+nicht wenige Rechtsanwlte, welche ganz ohne Bedenken
+zu dem hchst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die
+in sachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persnlich
+gehssiger, rcksichtsloser Weise zu fhren. Auch ich selbst
+habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer
+gesehen, da unsere Richter sich durch derartigen Schmutz
+niemals beeinflussen lassen. Ich bin berzeugt, da gerade
+diese Herren es mit Freuden begren wrden, wenn
+endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kmen,
+durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken
+ermglicht ist, lngst Vergangenes und lngst Geshntes
+wieder aufzudecken. Dann wrde die bedeutende Zahl der
+sogenannten Erbitterungsrckflle wohl bald in Wegfall
+kommen.
+
+ Da ich die trichte Selbstgerechtigkeit des "lieben
+Nchsten" anfhrte, geschah mit vollstem Rechte. Sie ist
+und bleibt die Hauptursache der Mistnde, die hier zu
+besprechen sind. Ich will keineswegs behaupten, da dies
+auf einem ethischen Mangel beruht. Ich meine vielmehr,
+es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen
+haben, da man sie gar nicht mehr als Vorurteile
+erkennt, sondern fr Wahrheiten hlt, an denen niemand
+zu rtteln vermag. Der "Verbrecher" war einst vogelfrei;
+er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf ihn ein;
+ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche
+Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem
+andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und
+aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger
+Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von
+seiner Seite einer ungewhnlichen Seelenruhe und einer
+seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer
+weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurckwerfen
+zu lassen. Die grte Gefahr fr ihn liegt darin,
+da ihm von dem lieben Nchsten das Ehrgefhl nach
+und nach abgestumpft oder gar gettet wird. Lt er es
+so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik
+gibt ihr entweder erbittertes oder vollstndig gleichgltig
+gewordenes Opfer nie wieder her. Dies wird und kann
+gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso
+unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird,
+da jeder bestrafte Mensch fr die ganze Zeit seines
+Lebens als "Verbrecher" zu betrachten sei. Krzlich kam
+in Charlottenburg der Fall vor, da jemand, der vor
+ber vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem
+aber gut gefhrt hatte, von einem belwollenden Menschen
+als "geborener Verbrecher" bezeichnet wurde. Der
+Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde
+freigesprochen. Heit das nicht, einen armen Menschen, der
+sich mit uerster Willenskraft aus dem Abgrund
+emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewhrt hat, mit
+brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --
+
+ Da unten lag auch ich. Indem ich hierber weiter
+berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der
+Weise zu tun, wie aufregungsbedrftige, sensationslsterne
+Leser es wnschen. Es ist mehr als genug, wenn man
+solche Dinge nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie
+zum zweitenmale zu erleben, indem man sie fr andere
+niederschreibt, so besitzt man gewi die Berechtigung, sich
+so kurz wie mglich zu fassen. Von dieser Berechtigung
+mache ich hiermit Gebrauch.
+
+ Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt
+eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer
+hflich ist, sich den Hausgesetzen fgt und nicht dummer
+Weise immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie ber
+Hrte zu klagen haben. Was die Beschftigung betrifft,
+die man fr mich auswhlte, so wurde ich der Schreibstube
+zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie frsorglich
+die Verhltnisse der Gefangenen von der Direktion
+bercksichtigt werden. Leider aber hatte diese Frsoge in
+meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nmlich ich
+versagte als Schreiber so vollstndig, da ich als
+unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener
+das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte
+ich nicht fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, da es
+mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben msse,
+denn schreiben mute ich doch knnen! Ich wurde Gegenstand
+besonderer Beachtung. Man gab mir andere Arbeit,
+und zwar die anstndigste Handarbeit, die man hatte.
+Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde
+Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und
+Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese Riege bestand mit mir
+aus vier Personen, nmlich einem Kaufmann aus Prag,
+einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte war, das
+konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. Diese
+drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten
+schon seit lngerer Zeit zusammen, standen bei den
+Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle
+mgliche Mhe, mir die Lehrzeit und berhaupt die schwere
+Zeit so leicht wie mglich zu machen. Nie ist ein
+unschnes oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen.
+Unser Arbeitssaal fate siebzig bis achtzig Menschen. Ich
+habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen
+Verhalten an die Behauptung erinnert htte, da das
+Gefngnis die hohe Schule der Verbrecher sei. Im
+Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt bemht, einen
+mglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und
+Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer Plne
+fr die Zukunft habe ich whrend meiner ganzen
+Gefangenschaft niemals etwas gehrt. Htte irgend einer
+gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wre er, wenn nicht
+angezeigt, so doch auf das energischste zurckgewiesen
+worden.
+
+ Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt
+wurde, dieser Visitation hie Ghler. Ich nenne
+seinen Namen mit groer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er
+hatte mich zu beobachten und kam, obwohl er von Psychologie
+nicht das geringste verstand, nur infolge seiner
+Humanitt und seiner reichen Erfahrung meinem inneren
+Wesen derart auf die Spur, da seine Berichte ber mich,
+wie sich spter herausstellte, die Wahrheit fast erreichten.
+Er hatte, wie wohl alle diese Aufseher, frher beim
+Militr gestanden, und zwar bei der Kapelle, als erster
+Pistonblser. Darum war ihm das Musik- und Blserkorps
+der Gefangenen anvertraut. Er gab des Sonntags
+in den Visitationen und Gefngnishfen Konzerte,
+die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei Kirchenmusik
+die Snger mit seiner Instrumentalmusik zu begleiten.
+Leider aber besa weder er noch der Katechet,
+dem das Kirchenkorps unterstand, die ntigen theoretischen
+Kenntnisse, die Stcke, welche gegeben werden sollten, fr
+die vorhandenen Krfte umzuarbeiten oder, wie der
+fachmnnische Ausdruck heit, zu arrangieren. Darum hatten
+beide Herren schon lngst nach einem Gefangenen gesucht,
+der diese Lcke auszufllen vermochte; es war aber keiner
+vorhanden gewesen.
+
+ Jetzt nun kam der Aufseher Ghler infolge seiner
+Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich
+in sein Blserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das
+vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei
+der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte
+er mich, und ich sagte ganz selbstverstndlich auch nicht
+nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur
+das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den
+Hnden gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit.
+Der Aufseher freute sich darber. Er freute sich noch
+mehr, als er erfuhr, da ich Kompositionslehre getrieben
+habe und Musikstcke arrangieren knne. Er meldete das
+sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die
+Kirchensnger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl
+des Blser- als auch des Kirchenkorps und beschftigte
+mich damit, die vorhandenen Musikstcke durchzusehen und
+neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenauffhrungen
+bekamen von jetzt an ein ganz anderes Geprge.
+
+ Ich mu erwhnen, da diese musikalischen Arbeiten
+nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs
+von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder
+Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden
+will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum
+ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es
+liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen
+Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit fr
+meine kompositionelle Beschftigung brig, die ich nicht
+aufgab, auch als ich aus der Visitation der
+Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir nmlich
+mein inniger Wusch erfllt, isoliert zu werden.
+
+ Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine
+Zelle fr mich allein zu bekommen; die Erfllung dieses
+Wunsches war aber nicht angngig gewesen. Erst nun,
+da man ber mich zu einem psychologisch abgeschlossenen
+Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und
+unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors
+desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr
+pflichtbewuter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber
+ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch
+nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch
+bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, da ich zur Zeit
+meiner Einlieferung vollstndig unfhig gewesen war,
+Schreiber zu sein, nun aber fr fhig gehalten wurde,
+eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche groe geistige Um-
+und Einsicht erforderte und die hchste Vertrauensstelle
+war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor
+war nmlich neben seiner Direktion des Isolierhauses
+noch beruflich schriftstellerisch ttig. Diese seine Ttigkeit
+bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und
+auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges
+berhaupt. Er schrieb die hierauf bezglichen Berichte
+und stand mit allen hervorragenden Mnnern des
+Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe
+war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre
+Zuverlssigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu
+vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen.
+Das war an und fr sich eine sehr schwere, anstrengende
+und scheinbar langweilige Beschftigung mit leblosem
+Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen
+und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen,
+ihnen Sprache zu verleihen, das war im hchsten Grade
+interessant, und ich darf wohl sagen, da ich da viel, sehr
+viel gelernt habe und da mich diese Arbeiten in stiller,
+einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie
+viel weiter vorwrts gebracht haben, als ich ohne
+diese Gefangenschaft jemals gekommen wre. Da mir
+hierzu nur die besten und zuverlssigsten Unterlagen zu
+Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir
+da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da
+in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und
+Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie
+keine Augen dafr haben. Ich habe da erkannt, da
+Gromutters Mrchen die Wahrheit sagt, da es ein
+Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland
+und ein ethisches Tiefland, und da die Hauptbewegung,
+an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von
+oben nach unten geht, sondern von unten nach oben,
+empor, empor zur Befreiung von der Snde, hinauf,
+hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir
+von grtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst
+befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von
+denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle
+vernommen. Ich habe mit ihnen gekmpft und sie stets zum
+Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurck; sie lieen
+sich wieder hren, doch in immer lngern Zwischenrumen,
+bis ich endlich annehmen konnte, da sie ganz und fr
+immer stumm geworden seien.
+
+ Auerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen
+zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand
+mir offen. Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa
+nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren
+alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese kstlichen,
+inhaltsreichen Bcher nicht nur gelesen, sondern studiert
+und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur
+die Werke der Anstaltsbibliotheken, die mir zur
+Verfgung standen, sondern man zeigte sich auch gern
+bereit, mir solche von auswrts zugngig zu machen. Es
+war mir ein unwiderstehliches Bedrfnis, die Ruhe und
+Ungestrtheit der Zelle so viel wie mglich fr mein
+geistiges Vorwrtskommen auszunutzen, und die Beamten
+hatten ihre Freude daran, mir hierzu in jeder, den
+Anstaltsgesetzen nicht widersprechenden Weise behilflich zu sein.
+So verwandelte sich fr mich die Strafzeit in eine
+Studienzeit, zu der mir grere Sammlung und grere
+Vertiefungsmglichkeit geboten war, als ein Hochschler
+jemals in der Freiheit findet. Ich werde ber diesen groen,
+unschtzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft mir brachte,
+noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz
+besonders dankbar dafr, da es mir nicht verboten war,
+mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch
+den eigentlichen Grund zu meinen spteren Reisearbeiten
+zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten
+sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes
+Genre bilden sollen. Doch ist es fr jetzt nicht
+meine Absicht, mich ber diese meine Studien zu verbreiten,
+sondern ich habe mich hier allein und ganz besonders
+mit dem Umstand zu befassen, da die mir anvertraute
+Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit
+zu hchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen
+gab, unter deren Einflu meine schriftstellerische
+Ttigkeit sich zu der gestaltete, die sie geworden ist.
+
+ Wenn ich behaupte, da ich die literarischen Bedrfnisse,
+oder sagen wir, die Lesebedrfnisse der Volksseele
+kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst
+zu nehmen. Man soll nicht sagen, da jeder
+Volksbibliothekar und jeder Leihbibliothekar genau dieselben
+Erfahrungen machen knne, denn das ist nicht wahr.
+Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind
+zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann
+das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedrfnisse
+werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um. Die
+uere Persnlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre
+Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. Und diese
+ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung
+erkannt und gepackt werden mu, wenn der menschlich
+groe, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll,
+moralische Erhebung und Festigung, Ausshnung zwischen
+der Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die
+sich beide aneinander versndigten. Dieses Hervortreten
+der innern Persnlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme,
+in der Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene
+hat whrend seiner Detention auf alle seine leiblichen
+Sonderrechte zu verzichten. In leiblicher Beziehung
+ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine
+Nummer, die in den Bchern eingetragen wird und bei
+der man ihn auch nennt. Um so krftiger, ja ungestmer
+tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich,
+ihre Rechte und Bedrfnisse geltend zu machen. Der
+Leib ist gezwungen, sich in die Gefngniskleidung und
+Gefngniskost zu fgen. Wehe, wenn man den Fehler
+begeht, den gleichen Zwang auch auf die Seele ausben
+zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem
+Gefngniskleide, und sie verlangt mit Heihunger nach einer
+Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um
+sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu
+befreien. Man glaube mir, kein Strfling wnscht das
+Bse fr sich; sie alle wnschen das Gute. Im tiefsten
+Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur krperlich
+sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar
+Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, hungrige
+Seele sich gut kleiden und gut nhren, nmlich gut im
+ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den
+sonntglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen
+Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten?
+Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefhrten? Man
+beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle
+aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei
+derartig gegebenen Verhltnissen nur die Bibliothek sein.
+Der Gefangene, der sich so fhrt, da ihm das Lesen
+nicht verboten werden mu, bekommt pro Woche ein Buch.
+Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang die seelische
+Kost fr den nach Nahrung Schmachtenden. Er darf
+sich das Buch nicht whlen; er mu nehmen, was er
+bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glck, kann
+ihm zum Unglck werden, kann ihm Belehrung oder Strafe
+sein, kann ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen,
+ihn aber auch empren und verhrten. Einer meiner
+Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre
+lang weiter nichts als alte "Frauendorfer Bltter" zu
+lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau,
+die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen
+bringen konnten. Er trug es in steigender Erbitterung,
+bis ich die Bibliothek berkam [sic] und ihm Passenderes gab.
+Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias
+Gotthelfs Erzhlungen derart auer sich gebracht,
+da er nahe daran stand, wegen Ungebhr bestraft zu
+werden. Das letzte, was er hatte lesen mssen, hatte
+den Titel gehabt "Wie fnf Mdchen im Branntwein
+jmmerlich umkommen." Als ich ihm einen Band von
+Edmund Hfer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermgen
+geschenkt htte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister
+war einer langen Reihe von Erbauungsbchern
+zum Opfer gefallen. Er schwor mir wtend zu, da es
+schon um dieser Bcher willen keinen Herrgott geben
+knne. Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht;
+die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien
+aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut bankrott und
+verdienten wenigstens dieselbe Gefngnisstrafe wie er.
+
+ Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich
+zunchst meine Bibliothek und sodann auch die Bedrfnisse
+ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit
+ernsten und schwierigen psychologischen Erwgungen
+verbunden und fhrte zu dem betrbenden Schluresultate,
+da eigentlich solche Bcher, wie wir sie brauchten,
+nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht
+nur in unserer Gefngnisbibliothek, sie fehlten auch
+berhaupt in der Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit,
+an die Trakttchen, die ich da gelesen und an den Schund,
+der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich
+verglich. Da dmmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind
+nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht
+eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht
+Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar
+nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu
+fhlbar vorhanden sind? Ist es nur fr die Bewohner der
+Strafanstalt der Leib, der gebndigt werden mu, damit
+der hhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur
+Geltung kommen mge? Mu nicht berhaupt bei allen
+Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige
+gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit
+gewinnende Seele sich zum hchsten irdischen Ideale, zur
+Edelmenschlichkeit, erheben knne? Und sind es nicht die
+Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher
+Tiefe zu solcher Hhe fhren sollen? Die Literatur, der
+auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene,
+mit angehre!
+
+ Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich
+zu Betrachtungen und Schlssen, die scheinbar hchst
+seltsam, im Grunde genommen aber ganz natrlich waren.
+Es wurde zwischen meinen vier engen Wnden hell; sie
+weiteten sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich
+erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen
+Zusammenhnge zwischen dem Kleinsten und dem Grten,
+dem Krperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und
+dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen.
+Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben,
+alten Mrchen meiner Gromutter in ihrer tiefen
+Bedeutung zu begreifen. Ich lag nchtelang wach und
+dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten,
+verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht
+und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan
+empor. Ich stellte mir vor, die verloren gegangene
+Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden
+kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. Dieses
+Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur
+hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der
+Menschheitsqual, bei der Trberkost des verlorenen Sohnes
+unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann,
+das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen
+und festhalten zu knnen. Es wohnte und lebte in mir.
+Aber nicht nur da, sondern auch auerhalb, allberall, in
+jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als
+Groes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine
+Marah Durimeh, die groe, herrliche Menschheitsseele,
+der ich die Gestalt meiner geliebten Gromutter gab. Da
+tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir
+auf, jener geheimnisvolle "Bewahrer der groen Medizin",
+den meine Leser im dreiunddreiigsten meiner Bnde
+kennen gelernt haben. Und da wurde auch der Gedanke
+"Winnetou" geboren. Wohlverstanden, nur der Gedanke,
+nicht aber er selbst, den ich erst spter fand. Damals
+habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek
+und alle andern, die mir zugngig wurden -- fast
+verschlungen, htte ich beinahe gesagt; aber das wrde nicht
+wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort fr Wort
+zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit
+in mir aufgenommen, die hchst wahrscheinlich nicht
+allzu hufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit
+einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben,
+meine Seligkeit davon abhnge, mir innerlich klar zu
+werden. Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen
+Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit
+zurck und holte den alten, khnen Wunsch hervor, "ein
+Mrchenerzhler zu werden, wie du, Gromutter bist."
+Ich befand mich ja an einem der grten und reichsten
+Fundorte alles dessen, was da zu erzhlen war, im
+Gefngnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was
+drauen in der Freiheit so leicht und so dnn vorberfliet,
+da man es nicht ergreifen und noch viel weniger
+betrachten kann. Und da erheben sich die Gegenstze, die
+drauen sich wie auf ebener Flche vermischen, so bergeshoch,
+da in dieser Vergrerung Alles offenbar wird,
+was anderwrts in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich
+hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen,
+hochgelehrten Werke ber Psychologie, besonders ber
+Kriminalpsychologie. Fast jede Zeile war mir eingeprgt. Sie
+enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Rtseln und
+Problemen. Die Praxis aber lag rund um mich her, in
+ebenso klarer wie erschtternder Aufrichtigkeit. Welch ein
+Unterschied zwischen beiden? Wo war die Wahrheit zu
+suchen? In den aufgeschlagenen Bchern oder in der
+aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft
+ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft
+irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege
+fhren ber den Irrtum zur Wahrheit; dort mssen sie
+sich treffen. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet,
+das knnen wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen
+Auge vergnnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge
+des -- -- Mrchens. Darum will ich Mrchenerzhler
+sein, nichts Anderes als Mrchenerzhler, ganz so, wie
+Gromutter es war! Ich brauche nur die Augen zu
+ffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und
+Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach
+Erlsung trachtenden Mrchen. In jeder Zelle eins und
+auf jedem Arbeitsschemel eins. Lauter schlafende
+Dornrschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und
+Liebe wachgekt zu werden. Lauter in Fesseln schmachtende
+Seelen, in alten Schlssern, die in Gefngnisse
+umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen
+Humanitt von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel
+geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens
+und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen
+Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse
+und Mrchen erzhlen, in denen tief verborgen die
+Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu
+erschauen vermag. Ich will Licht schpfen aus dem Dunkel
+meines Gefngnislebens. Ich will die Strafe, die mich
+getroffen hat, in Freiheit fr andere verwandeln. Ich
+will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein
+groes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind,
+verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es
+schlielich kein "Verbrechen" mehr und keine "Verbrecher"
+gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke.
+
+ Aber kein Mensch darf ahnen, da das, was ich erzhle,
+nur Gleichnisse und nur Mrchen sind, denn wte
+man das, so wrde ich nie erreichen, was ich zu erreichen
+gedenke. Ich mu selbst zum Mrchen werden, ich selbst,
+mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine Khnheit
+sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was aber
+liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es
+sich um groe, riesig emporstrebende Fragen der ganzen
+Menschheit handelt? An dem winzigen Schickslchen eines
+verachteten Gefangenen, der fr die Gesellschaft schon so
+und berhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise,
+in der man ber das "Verbrechen" denkt und spricht,
+nicht baldigst ndert!
+
+ Das war ein Gedanke, der mir ganz pltzlich kam,
+sich aber tief einnistete und mich nicht wieder verlie.
+Er gewann Macht ber mich; er wurde gro. Er nahm
+endlich meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb,
+weil er in sich die Erfllung alles dessen barg, was schon
+von meiner Kindheit an Wunsch und Hoffnung in
+mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen Gedanken; ich
+erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn aus. Er
+hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide identisch.
+Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte eine lange,
+lange Zeit, und es gingen noch trbere und noch schwerere
+Tage dahin, als die gegenwrtigen waren, ehe ich meinen
+Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, da
+an ihm nichts mehr zu ndern war. Ich nahm mir vor,
+zunchst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen
+Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen
+Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, da ich
+mich absolut nur auf gottesglubigem Boden bewege.
+Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches
+im allgemeinsten Interesse steht und die grte Eindrucksfhigkeit
+besitzt, nmlich zur Reiseerzhlung. Diesen Erzhlungen
+wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht
+absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse
+und nur Mrchen sein, allerdings auerordentlich
+vielsagende Gleichnisse und Mrchen. Trotzdem aber waren
+Reisen wnschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen
+Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten
+sich zu bewegen hatten. Vor allem galt es, sich
+tchtig vorzubereiten, Erdkunde, Vlkerkunde, Sprachkunde
+treiben. Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen
+Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat
+zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gem
+behaupten, da Alles, was ich erzhle, Selbsterlebtes und
+Miterlebtes sei. Aber ich mute diese Sujets hinaus
+in ferne Lnder und zu fernen Vlkern versetzen, um ihnen
+diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen
+Kleidung nicht besitzen. In die Prrie oder unter Palmen
+versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder
+von den Schneestrmen des Wilden Westens umtobt, in
+Gefahren schwebend, welche das strkste Mitgefhl der
+Lesenden erwecken, so und nicht anders muten alle meine
+Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen
+wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu hatte ich in
+allen den Lndern, die zu beschreiben waren, wenigstens
+theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europer
+es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, schwer
+und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und
+dazu war der stille ungestrte Gefngnisraum, in dem
+ich lebte, grad so die richtige Stelle.
+
+ Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische
+Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch
+die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung
+gegeben. Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu
+beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den
+Gelehrten hchstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen
+betrachtet. So eine himmlische Wahrheit steigt an den
+Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus
+zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden.
+Sie wird berall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein,
+aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation
+besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu
+Stadt, von Land zu Land, ohne erhrt und aufgenommen
+zu werden. Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder
+himmelan und kehrt zu dem zurck, von dem sie ausgegangen
+ist. Sie klagt ihm weinend ihr Leid. Er aber
+lchelt mild und spricht: "Weine nicht! Geh' wieder
+zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, dessen
+Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn,
+dich in das Gewand des Mrchens zu kleiden, und versuche
+dann dein Heil noch einmal!" Sie gehorcht. Der
+Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie. Sie
+beginnt ihren Gang als Mrchen nun von Neuem, und
+wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen. Man ffnet ihr
+die Tren und die Herzen. Man lauscht mit Andacht
+ihren Worten; man glaubt an sie. Man bittet sie, zu
+bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber mu
+weiter, immer weiter, um zu erfllen, was ihr aufgetragen
+worden ist. Doch geht sie nur als Mrchen; als Wahrheit
+aber bleibt sie zurck. Und wenn man sie auch nicht
+sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, fr alle
+Folgezeiten.
+
+ So, das ist das Mrchen! Aber nicht das Kindermrchen,
+sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Mrchen,
+trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die
+hchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm
+wohnenden Seele gem. Und einer jener Dichter, zu
+denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen,
+wollte ich sein! Ich wei gar wohl, welche Khnheit
+des war. Doch gestehe ich es, ohne mich zu frchten.
+Die Wahrheit ist so verhat und das Mrchen so
+verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander.
+Das Mrchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen,
+ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe
+dringt. Wie man behauptet, da das Mrchen nur fr
+Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller",
+der nur fr unerwachsene Buben schreibe. Kurz,
+ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, da ich so
+verwegen gewesen bin, nur ein Mrchen- und
+Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein "Leben
+und Streben" schon an und fr sich selbst einem Mrchen,
+und sind es doch fast unzhlige Fabeln und Mrchen, mit
+denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet
+worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so
+glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Mrchen
+glaubt. Aber, wie jedes echte Mrchen doch endlich
+einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur
+Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt,
+das wird man morgen glauben lernen.
+
+ Also alle meine Reiseerzhlungen, die ich zu schreiben
+beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie
+sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberflche lag.
+Ich wollte Neues, Beglckendes bringen, ohne meine Leser
+mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu
+verwickeln. Und was ich zu sagen hatte, das mute ich
+suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Tren
+legen, weil man Alles, was man so billig bekommt, liegen
+zu lassen pflegt und nur das zu schtzen wei, was man
+sich mhsam zu erringen hat. Es wre ein unverzeihlicher
+Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, da
+meine Reiseerzhlungen bildlich zu nehmen seien. Man
+htte mich einfach nicht gelesen, und Alles, was ich lsen
+wollte, wre Fabel und Mrchen geblieben. Der Leser
+mute ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete
+es dann als wohlerrungen und hielt es fr das Leben
+fest.
+
+ Aber was war denn eigentlich das, was ich geben
+wollte? Das war vielerlei und nichts Alltgliches. Ich
+wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrtsel
+lsen. Man lache mich aus; aber ich habe es
+gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter
+versuchen. Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein
+Anderer wissen. Es mag bei der Ausfhrung dann wohl
+mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender
+Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen. Ich
+wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur
+Verffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft
+worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das
+nicht noch lcherlicher als das Vorhergehende? Mag man
+es dafr halten; ich aber habe an hundert und wieder
+hundert unglcklichen Menschen gesehen, da sie nur darum
+in das Unglck geraten waren und nur darum darin
+stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen
+der ganzen irdischen Schpfung, vollstndig vernachlssigt
+worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete
+Lieblingskind, die Seele das zurckgesetzte, hungernde
+und frierende Aschenbrdel. Fr den Geist sind
+alle Schulen da, von der A-B-C-Schtzen-Schule bis
+hinauf zur Universitt, fr die Seele aber keine einzige.
+Fr den Geist werden Millionen Bcher geschrieben,
+wie viele fr die Seele? Dem Menschengeiste werden
+tausend und abertausend Denkmler gesetzt; wo stehen
+die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu
+verherrlichen? Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der
+fr die Seele schreibt, ganz nur fr sie allein, mag man
+darber lcheln oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum
+werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch
+verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was
+ich mir vorgenommen habe.
+
+ Das war eigentlich genug fr einen Menschen; aber
+ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr.
+Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen;
+ich war fr mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch
+ber uns lag die Erlsung, lag die Edelmenschlichkeit,
+nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war
+aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen
+erteilt; nur da wir, die wir um so viel tiefer lagerten
+als die Andern, weit mehr und weit mhsamer aufzusteigen
+hatten als sie. Aus der Tiefe zur Hhe, aus Ardistan
+nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum
+Edelmenschen empor. Wie das geschehen msse, wollte ich
+an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und
+an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde fr
+diese meine besonderen Zwecke in zwei Hlften, in eine
+amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt
+die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische.
+An diese beiden Rassen wollte ich meine Mrchen, meine
+Gedanken und Erluterungen knpfen. Darum galt es,
+mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen
+und den Indianerdialekten zu beschftigen. Der unwandelbare
+Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube
+an den "groen, guten Geist" der Andern harmonierte mit
+meinem eigenen, unerschtterlichen Gottesglauben. In
+Amerika sollte eine mnnliche und in Asien eine weibliche
+Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches
+Wollen emporzuranken htten. Die eine ist mein
+Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen
+soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne
+und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten
+Hhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten
+hat sie sich das Treiben der Wste bis nach dem
+hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben.
+Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel "durch
+die Wste." Die Hauptperson aller dieser Erzhlungen
+sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein
+beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen
+Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Fr Amerika
+sollte er Old Shatterhand, fr den Orient aber Kara
+Ben Nemsi heien, denn da er ein Deutscher zu sein
+hatte, verstand sich ganz von selbst. Er mute als selbst
+erzhlend, also als "Icherzhler" dargestellt werden.
+Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination.
+Doch, wenn dieses "Ich" auch nicht selbst existiert,
+so soll doch Alles, was von ihm erzhlt wird, aus der
+Wirklichkeit geschpft sein und zur Wirklichkeit werden.
+Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi,
+also dieses "Ich" ist als jene groe Menschheitsfrage
+gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er
+durch das Paradies ging um zu fragen: "Adam, d. i.
+Mensch, wo bist Du?" "Edelmensch, wo bist Du?" Ich
+sehe nur gefallene, niedrige Menschen!" Diese Menschheitsfrage
+ist seitdem durch alle Zeiten und alle Lnder des
+Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat
+aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat Gewaltmenschen
+gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander
+bekmpften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen
+Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich
+und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, da ein Jeder
+Engel seines Nchsten zu sein habe, um nicht an sich
+selbst zum Teufel zu werden. Einmal aber mu und
+wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, da auf
+die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglckende
+Antwort erfolgt: "hier bin ich. Ich bin der erste
+Edelmensch, und Andere werden mir folgen!" So geht
+auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch
+die Lnder, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo
+er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches
+Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginre
+Old Shatterhand, dieser imaginre Kara Ben Nemsi,
+dieses imaginre "Ich" hat nicht imaginr zu bleiben,
+sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in
+meinem Leser, der innerlich Alles miterlebt und darum
+gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. In
+dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lsung der groen
+Aufgabe bei, da sich der Gewaltmensch, also der niedrige
+Mensch, zum Edelmenschen entwickeln knne.
+
+ Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fhlte
+ich gar wohl, da ich mich durch ihre Ausfhrung einer
+Gefahr aussetzen wrde, die fr mich keine geringe war.
+Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand
+und dieses "Ich" also nicht begriff? Wenn man glaubte,
+ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, da ein
+Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte,
+zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden,
+mich als Lgner und Schwindler bezeichnen wrde? Ja,
+das lag allerdings in der Mglichkeit, aber fr wahrscheinlich
+hielt ich es nicht. Ich hatte dieses "Ich," also
+diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit
+allen Vorzgen auszustatten, zu denen es die Menschheit
+im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat.
+Mein Held mute die hchste Intelligenz, die tiefste
+Herzensbildung und die grte Geschicklichkeit in allen
+Leibesbungen besitzen. Da sich das in der Wirklichkeit
+nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte,
+das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn
+ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreiig bis
+vierzig Bnden schrieb, so war doch gewi anzunehmen,
+da kein vernnftiger Mann auf die Idee kommen werde,
+da ein einziger Mensch das Alles erlebt haben knne.
+Nein! Der Vorwurf, da ich ein Lgner und Schwindler
+sei, war, wenigstens fr denkende Leute, vollstndig
+ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar
+fest berzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht
+selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu
+knnen, da ich den Inhalt dieser Erzhlungen selbst
+erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen
+Leben oder doch aus meiner nchsten Nhe stammte. Ich
+hielt es fr gar nicht schwer, sondern sogar fr sehr leicht
+und vor allen Dingen auch fr interessant, sich vorzustellen,
+da Karl May diese Reiseerzhlungen zwar niederschreibt,
+sie aber so verfat, als ob sie nicht aus seinem eigenen
+Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginren "Ich",
+also von der groen Menschheitsfrage, diktiert worden
+seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald
+die Folge zeigen.
+
+ Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische
+und teils in orientalische Gewnder zu kleiden, fhrte mich
+ganz selbstverstndlich zu tiefem Mitgefhle fr die Schicksale
+der betreffenden Vlkerschaften. Der als unaufhaltsam
+bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich
+ununterbrochen zu beschftigen. Und ber die Undankbarkeit
+des Abendlandes gegenber dem Morgenlande, dem es
+doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt,
+machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl
+der Menschheit will, da zwischen beiden Friede ist, nicht
+lnger Ausbeutung und Blutvergieen. Ich nahm mir
+vor, dies in meinen Bchern immerfort zu betonen und
+in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und fr die
+Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen
+ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut,
+dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden
+erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt,
+dies zu glauben.
+
+ Und nun die Hauptfrage: Fr wen sollten meine
+Bcher geschrieben sein? Ganz selbstverstndlich fr das Volk,
+fr das ganze Volk, nicht nur fr einzelne Teile desselben,
+fr einzelne Stnde, fr einzelne Altersklassen. Vor allen
+Dingen nicht etwa allein fr die Jugend! Auf diese
+letztere Versicherung habe ich das grte Gewicht und
+den schrfsten Ton zu legen. Wre es meine Absicht
+gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen,
+so htte ich ganz notwendigerweise auf die Ausfhrung
+aller meiner Plne und auf die Erreichung aller meiner
+Ideale fr immer verzichten mssen. Und dies zu tun,
+ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die
+Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die
+erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich
+das Volk immer fort und fort ergnzt, sondern sie ist
+es, die im Aufwrtsstreben der Menschheit den Alten
+und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern
+Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo's zu
+besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet,
+so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur
+ein Teil dessen sein, was ich fr das Volk als Ganzes
+schrieb. Wenn ich sage, da ich fr das Volk schreiben
+wollte, so meine ich damit, fr den Menschen berhaupt,
+mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht
+jedes meiner Bcher ist fr jeden Menschen. Und doch
+auch wieder ist es fr jeden Menschen, aber nach und
+nach, je nachdem er sich vorwrts entwickelt, je nachdem
+er lter und erfahrener wird, je nachdem er fhig
+geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen.
+Meine Bcher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten.
+Er soll sie als Knabe, als Jngling, als Mann, als
+Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer
+Hhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit
+Ueberlegung und Bedacht. Wer meine Bcher verschlingt,
+und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht
+schade; auf alle Flle aber ist es noch mehr schade um sie!
+Wer sie mibraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern
+sich selbst zur Verantwortung ziehen. Ich erinnere da
+an das Rauchen, an das Essen und Trinken. Rauchen
+ist ein Genu. Essen und Trinken ist unerllich. Aber
+jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was
+einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, wrde
+nicht nur tricht, sondern sogar schdlich sein. Eine gute,
+interessante Lektre soll man genieen, aber nicht wie ein
+Haifisch verschlingen! Da meine Bcher nur Gleichnisse
+und Mrchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst,
+da man reiflich ber sie nachdenken soll und da sie
+nur in die Hnde von Leuten gehren, die nicht nur
+nachdenken knnen, sondern auch nachdenken wollen.
+
+ Als ich damals diese Gedanken erwog und meine
+Plne fate, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben
+und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch
+nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als
+Knstler zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller
+mu doch zugleich auch Knstler sein. Ich hielt mich
+noch nicht einmal fr einen znftigen Lehrling, sondern
+nur erst fr einen auerhalb der Zunft herumtastenden
+Anfnger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht.
+Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende
+Plne! Wenn ich diese Plne berschaute, so htte mir
+eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehrten jedenfalls
+mehrere arbeitsreiche, ungestrte, glckliche Menschenleben
+dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch,
+also knstlerisch zu bewltigen. Aber es wurde mir doch
+nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei. Ich fragte
+mich: Mu man denn Schriftsteller sein, und mu man
+denn Knstler sein, um solche Sachen schreiben zu drfen?
+Wer will und kann es Einem verbieten? Machen wir es
+ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir
+es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht,
+was es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Knstler
+mich als "Kollegen" gelten lassen wrden, das mute
+mir damals gleichgltig sein. Zwar, meinen individuellen
+Stolz besa ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von
+Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber
+diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer
+Leute, besonders der Fachgenossen. Knstler zu sein,
+dnkte mich das Allerhchste auf Erden, und es lebte tief
+in meinem Herzen der heie Wunsch, diese Hhe zu erreichen,
+und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor
+meinem Tode sein. Jener Kindheitsabend, an dem ich
+den "Faust" zu sehen bekam, stand noch unvergessen in
+meiner Seele, und die Vorstze, die ich an ihn geschlossen
+hatte, besaen noch ganz denselben Willen und dieselbe
+Macht ber mich wie vorher. Fr das Theater schreiben!
+Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt wird, wie
+der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem
+Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des
+niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengre.
+Um so Etwas schreiben zu knnen, mu man Knstler
+sein, und zwar echter, wahrer Knstler. Aber was ich
+nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes
+als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und
+so blieb mir weiter nichts brig, als alle meine Wnsche,
+die sich darauf bezogen, als Literat ein Knstler, und
+zwar ein wahrer, wertvoller Knstler sein zu drfen, fr
+lange, lange Jahre zurckzustellen und bis dahin zu bleiben,
+was ich eben war, nmlich ein unznftiger Anfnger, der
+nicht die geringste Prtentien [sic] besa, ein Zunftgenosse zu
+werden. Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und
+einsam gestanden hatte, so war ich schon damals berzeugt,
+da auch mein Weg als Literat ein einsamer sein
+und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. Was ich
+suchte, fand sich nicht im alltglichen Leben. Was ich
+wollte, war etwas dem gewhnlichen Menschen vollstndig
+Fernliegendes. Und was ich fr richtig hielt, das war
+hchst wahrscheinlich fr andere Leute das Falsche.
+Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es mir
+nahe, ganz fr mich zu bleiben und keinen wertvolleren
+Menschen mit mir zu belstigen. In Beziehung auf
+Kunst war ich nicht sachverstndig. Vielleicht hatten die
+andern recht; ich konnte irren. Fr alle Flle aber hielt
+mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach
+vollendeter Reife, ein groes, schnes Dichterwerk zu
+schaffen, eine Symphonie erlsender Gedanken, in der
+ich mich erkhne, Licht aus meiner Finsternis zu schpfen,
+Glck aus meinem Unglck, Freude aus meiner Qual.
+Dies fr spter, wenn mir der Tod einst seinen ersten
+Wink erteilt. Fr jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu
+lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es
+nicht milinge. Jetzt Mrchen und Gleichnisse geben,
+um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit
+und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Bhne
+zu bringen!
+
+ Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstcke
+wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern
+lange Erzhlungen, in denen viele Personen handelnd
+auftreten. Und ihre Zahl ist gro; sie sollen eine
+ganze Reihe von Bnden fllen und das Material fr
+jene sptere groe Aufgabe bilden, mit der ich meine
+Ttigkeit beschlieen will. Sie knnen also keine
+sorgfltig ausgefhrten Gemlde sein, sondern nur
+Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorbungen, Etuden, an
+welche nicht der Mastab gelegt werden darf, der nur
+fr ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will
+und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern
+meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und
+Alabasterbrchen die Blcke fr sptere Kunstwerke zu brechen,
+deren Form ich hchstens andeuten kann, weil mir die
+Zeit zur Ausfhrung nicht zur Verfgung steht. Diese
+Andeutung gebe ich eben in Mrchen, die meinen
+erzhlenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte
+bilden, um welche sich das Interesse des Lesers
+konzentriert. Die knstlerische Kritik braucht sich also mit
+meinen Reiseerzhlungen nicht zu befassen, weil es gar
+nicht meine Absicht ist, ihnen eine knstlerische Form oder
+gar Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen,
+schlichten Arm- oder Furingen der Araberinnen zu
+gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne
+Ringe. Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit.
+Der Maler, welcher flchtige Skizzen zeichnet, um ein
+groes Gemlde vorzubereiten, wrde sich gewi ber
+den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben
+Mastab legen wollte, den er dann spter an das
+Gemlde zu legen hat.
+
+ Soviel ber die Plne, welche damals in mir entstanden
+und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf
+den heutigen Tag. Sie kamen nicht pltzlich, und sie
+kamen nicht in gesellschaftlicher Flle, sondern langsam,
+einer nach dem andern. Und sie reiften nicht eilig aus,
+sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir
+von dem einen Punkt bis zum nchsten klar geworden
+war. Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu. Ich
+legte mir eine Art von Buchhaltung ber diese Plne
+und ihre Ausfhrung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben
+und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde
+in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert.
+Ich stellte sogar ein Verzeichnis ber die Titel und den
+Inhalt aller Reiseerzhlungen auf, die ich bringen wollte.
+Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen
+gegangen, aber es hat mir doch viel gentzt, und ich
+zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir
+entstanden. Auch schriftstellerte ich fleiig; ich schrieb
+Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung mglichst
+viel Stoff zur Verffentlichung zu haben. Kurz, ich war
+begeistert fr mein Vorhaben und fhlte mich, obgleich
+ich Gefangener war, unendlich glcklich in der Aussicht
+auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine
+ganz gewhnliche zu werden versprach.
+
+ Das Schicksal schien mit meinen Vorstzen einverstanden
+zu sein. Es spendete mir, als ob es mich fr
+alles Leid entschdigen wolle, eine reiche, hochwillkommene
+Gabe: Ich wurde begnadigt. Die Direktion hatte fr
+mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein
+volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam. Ich stand
+in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein
+Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rckweg in das
+Leben glttete und mich aller polizeilichen Scherereien
+berhob. Der Kenner wei, was das bedeutet!
+
+ Es war ein schner, warmer Sonnentag, als ich die
+Anstalt verlie, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand
+mit meinen Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach
+Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr
+zu benachrichtigen. Wie freute ich mich auf das
+Wiedersehen. Angst vor Vorwrfen brauchte ich nicht zu
+haben; dies war ja schon lngst durch Briefe geordnet.
+Ich wute, da ich willkommen sei und da man mir
+mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten freute
+ich mich auf Gromutter. Wie mute sie sich gegrmt
+und gehrmt haben! Und wie gern wrde sie mir ihre
+alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie entzckt
+wrde sie ber meine Plne sein! Wie sehr wrde sie
+mir helfen, sie auszudenken und so tief wie mglich
+auszuschpfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also
+genau denselben Weg, den ich damals als Knabe
+gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es
+lt sich denken, was fr Gedanken mich auf diesem Weg
+begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem
+Vater den Vorsatz gefat, ihn nie wieder durch Derartiges
+zu betrben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten!
+Sollte ich heut etwa hnliche Vorstze fassen, fr deren
+Erfllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewhr zu
+leisten vermag? Das "Mrchen von Sitara" tauchte
+vor mir auf. Gehrte ich vielleicht zu denen, auf deren
+Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um
+sie in das Elend zu schleudern, so da sie verloren gehen?
+Alles Struben und Aufbumen hilft nichts; sie sind dem
+Untergange geweiht. Gilt das auch mir?
+
+ Meine Gedanken wurden trber und trber, je mehr
+ich mich der Heimat nherte. Es war, als ob mir von
+dort aus bse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe
+Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mute mir
+Mhe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Hhe
+aus schaute ich ber das Stdtchen hin. Da schlngelten
+sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft
+gegangen war, in heiem Kampfe mit jenen frchterlichen
+inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch
+in einem fort die Worte "des Schneiders Fluch,
+des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch" zuriefen.
+Und was war das? Indem ich hieran dachte, hrte ich
+ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie
+erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu nhern, "des
+Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
+Fluch!" Sollte und wollte sich das etwa wiederholen?
+Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte
+von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die
+Hhe hinab, durch das Stdtchen hindurch, nach Hause,
+nach Hause, nach Hause!
+
+ Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern
+wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg
+die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf
+nach dem Bodenraume, wo Gromutter sich immer am
+liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunchst zu ihr und
+dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich
+die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber
+war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben
+Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schlssel
+abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich
+eilte hinab in die Wohnstube. Da saen die Eltern. Die
+Schwestern fehlten. Das war Zartgefhl. Sie hatten
+gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grte gar nicht und
+fragte, wo Gromutter sei. "Tot -- -- -- gestorben!"
+lautete die Antwort. "Wann?" "Schon voriges Jahr."
+Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme
+auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir
+verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft
+nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut
+gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war
+nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so
+hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!
+
+ Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob,
+um die Eltern nun zu gren. Sie erschraken. Sie
+sagten mir spter, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen
+als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu.
+Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich
+so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als
+der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar
+die grte Mhe, aber ich konnte den Schlag, der mich
+soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich
+wollte nur von Gromutter wissen, jetzt weiter nichts, und
+man erzhlte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen,
+aber niemals ein Wort, welches mich htte krnken mssen,
+wenn ich dabeigewesen wre. Und sie hatte nie geklagt
+oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, da
+ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen
+Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden.
+Nun sei sie berzeugt, da ich durch die Geisterschmiede
+msse, um alle irdischen Qualen ber mich ergehen zu lassen.
+Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen,
+was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic]
+erzwingen. Je nher sie dem Tode kam, desto
+ausschlielicher lebte sie nur noch ihrer Mrchenwelt und
+desto ausschlielicher sprach sie nur noch von mir. An
+einem der letzten Tage erzhlte sie, da der lngst
+verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei.
+Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Huser
+stieen aneinander. Da habe sich pltzlich im Dunkel
+die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden,
+aber nicht in einem gewhnlichen Licht, sondern von einem,
+welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet,
+sei der Herr Kantor erschienen. Er haben genauso
+ausgesehn wie damals, als er noch lebte. Er sei langsam
+bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lchelnd
+gegrt, wie es immer seine Art und Weise war, und
+dann gesagt, da sie sich ja nicht um mich sorgen solle;
+ich knne wohl strzen wie jeder Andere, nicht aber liegen
+bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche
+ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten nickte er ihr
+wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er
+gekommen war, nach der Mauerlcke zurck. Sie schlo
+sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder
+dunkel.
+
+ Als sie das erzhlt hatte, war es gewesen, als ob
+ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes
+auf ihrem Gesicht zurckgeblieben sei, und es lag auch
+noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte
+und nicht mehr atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein
+friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht
+friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von
+ihm erzhlte. Es tauchten Vorwrfe in mir auf, aber
+keine Vorwrfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern
+Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich,
+sondern Vorwrfe viel wesentlicherer, viel kompakterer
+Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hrte, was
+sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das
+waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen,
+die nicht die geringste Identitt mit mir zu besitzen schienen
+und doch identisch waren. Welch ein Rtsel! Aber welch
+ein ungewhnliches, furchtbar bengstigendes Rtsel! Sie
+glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten
+von frher her, mit denen ich -- -- -- mein Gott, kaum
+hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so,
+wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem
+Innern zu sehen und zu hren. Ich vernahm ihre Stimmen
+so deutlich, als ob sie vor mir stnden und an Stelle
+der Eltern und Geschwister mit mir sprchen. Und sie
+blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir
+schlafen. Aber sie schliefen nicht und lieen auch mich nicht
+schlafen. Es begann das frhere Elend, die frhere
+Marter, der frhere Kampf mit unbegreiflichen Mchten,
+die um so gefhrlicher waren, als ich absolut nicht entdecken
+konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie
+schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner
+Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewutsein kam.
+Und doch konnten sie ganz unmglich zu mir gehren,
+weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von
+meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit
+abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines
+Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter
+mir lag. Diese Stimmen aber waren bemht, mich mit
+aller Gewalt in die Vergangenheit zurckzuzerren. Sie
+verlangten wie frher, da ich mich rchen solle. Nun
+erst recht mich rchen, fr die im Gefngnis verlorene,
+kstliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich
+aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts,
+gar nichts hre. Das war aber selbst bei der grten
+Kraftaufwendung nicht lnger als hchstens nur einige
+Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige
+Verleger, um mit ihnen ber die Herausgabe der im Gefngnisse
+geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei
+stellte es sich heraus, da whrend dieser meiner
+Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten,
+je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder
+um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder
+nherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort
+sehaft seien und nur dann ber mich herfallen knnten,
+wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden.
+Ich beschlo hierauf die Probe zu machen. Ich kassierte
+meine Honorare ein und machte eine lngere Auslandsreise.
+Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses
+Werkes zu erzhlen, in welchem meinen Reisen und ihren
+Ergebnissen ein grerer Raum gewidmet werden soll,
+als ich ihnen hier gewhren knnte. Whrend dieser
+Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde
+vollstndig frei von ihnen. Dafr aber stellte sich ein
+ganz ungewhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat
+zurckzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker
+Trieb; das fhlte ich gar wohl, aber er wurde so stark,
+da ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte.
+Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so strzte sich
+Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die
+Anfechtungen begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt
+den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft
+Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, da
+ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich fhlte, da ich,
+falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein hchst
+gefhrlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene
+Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal
+anzukmpfen.
+
+ Ich halte es hier fr ntig, zu konstatieren, da ich
+meinen Zustand keineswegs fr pathologisch hielt. Alle
+meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl
+krperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen.
+Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser
+Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewi nicht
+von innen heraus erzeugt, sondern von auen her an
+mich herangetreten. Ich arbeitete fleiig, fast Tag und
+Nacht, wie ich berhaupt an der Arbeit stets meine grte
+Freude gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern.
+Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern
+wohnte, die sich jetzt auch besser standen als frher. Ich
+htte vollstndig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts
+verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was
+ich schon frher beschrieben habe. Wenn ich etwas Gewhnliches
+schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung
+ein. Sobald ich mir aber ein hheres Thema stellte,
+eine geistig, religis oder ethisch wertvollere Aufgabe,
+wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen emprten
+und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu
+bringen, da sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten,
+bldesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen.
+Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. Hierzu
+gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem
+Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt;
+ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist
+mir angeboren; ich geniee ihn hchstens als Arznei.
+Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt,
+und auch fr Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung,
+welche man empfinden mu, um ein Trinker zu werden.
+Jetzt aber fhlte ich seltsamer Weise stets groen Durst,
+wenn ich auf meinen Spaziergngen an einem Wirtshause
+vorberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht
+mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder
+hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat
+es aber nicht. Vater tat es. Er konnte sein Glas einfaches
+Bier und sein Schnppschen [sic] nicht gut entbehren.
+Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das
+war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa
+schwer, o nein. Ich erzhle es nur des psychologischen
+Interesses wegen, weil es mir hchst sonderbar erscheint,
+da dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir
+sonst vollstndig fremde Durst nach Spirituosen immer
+nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in
+mir hatten, sonst aber nie!
+
+ Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Gromutter
+meine Arbeitsplne vorzulegen; nun war sie tot. Ich
+sprach hierber also mit den Eltern und Geschwistern.
+Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer
+Art sozialer Mauserung begriffen und darum fr mich
+nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb.
+Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein
+ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir
+nur die Mutter. Sie sa des Abends mit ihrem Strickstrumpf
+still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte
+ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder
+beschftigte. Sie hrte mir ruhig zu. Sie nickte
+einverstanden. Sie lchelte ermutigend. Sie sagte ein liebes,
+trstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch
+sie verstand mich nicht. Sie fhlte nur; sie ahnte. Und
+sie wnschte von ganzem Herzen, da Alles so werden
+mchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie
+fest und unerschtterlich ich an meine Zukunft glaubte,
+da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter
+sein kann, deren Kind noch so glcklich ist, sich auf Gott,
+auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu drfen.
+Ich aber fhlte mich einsam, einsam wie immer. Denn
+auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen,
+der mich htte verstehen wollen oder gar verstehen knnen.
+Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich
+so schwer Angefochtenen im hchsten Grade gefhrlich.
+Nichts war mir ntiger als verstndnisvolle Geselligkeit.
+Aber ich stand, wenn auch nicht uerlich, so doch innerlich
+stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen
+wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben.
+Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich
+nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie
+keine inneren, sondern uerliche waren, doch ebenso wenig
+mit den Hnden gefat werden konnten.
+
+ Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt
+in andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson.
+Man hatte sie gern. Man teilte ihr Alles
+mit, ohne da man sie um Verschwiegenheit zu bitten
+brauchte. Sie erfuhr Alles, was im Stdtchen und in
+der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo einen Einbruch
+gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Tter war
+entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise
+ausgefhrt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich
+von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene
+gesetzt. Ich hrte gar nicht hin, als man es erzhlte,
+bemerkte aber nach einiger Zeit, da Mutter noch ernster
+als gewhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet
+zu sein, so eigentmlich mitleidig betrachtete. Ich
+blieb anfnglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem
+Grunde fragen zu mssen. Sie wollte nicht antworten;
+ich bat aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein
+Gercht, ein unfabares Gercht, da ich jener Einbrecher
+sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen
+Gefangenen? Ich lachte uerlich dazu, innerlich aber war
+ich emprt, und es gab einige schwere Nchte. Es brllte
+vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die
+Stimmen schrien mir zu: "Wehre dich, wie du willst,
+wir geben dich nicht los! Du gehrst zu uns! Wir
+zwingen dich, dich zu rchen! Du bist vor der Welt ein
+Schurke und mut ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe
+haben willst!" So klang es bei Nacht. Wenn ich am
+Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte
+nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater gesagt.
+Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu
+nehmen. Sie konnten fr mich eintreten. Sie wuten
+ja genau, da ich in den betreffenden Zeiten nicht aus
+dem Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles
+im Vertrauen gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum
+gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich
+zu wehren. Aber es kam schlimmer. Die heimatliche
+Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit Vertrauenszeugnis
+entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen.
+Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich
+mit mir zu beschftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche
+vor, deren Tter ganz unbedingt mit einer gewissen
+Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies
+auf mich deuten zu mssen. Das war zu derselben Zeit,
+in der sich die schon erwhnte "Lgenschmiede" zu bilden
+begann. Neue Gerchte kursierten, romantisch
+ausgeschmckt. Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter
+der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der
+Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich
+sehen lie; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute
+man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein
+guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt
+hatte und auch jetzt noch an mir hing. Der war sprichwrtlich
+unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig. Er hielt
+grob sein fr Menschenpflicht. Der konnte es nicht
+lnger aushalten. Er kam zu mir und erzhlte mir auf
+Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich
+im Schwange ging. Das war so dumm und doch so emprend,
+so leichtsinnig und gewissenlos, so -- -- so -- --
+so -- -- so -- -- -- ich fand keine Worte, dem armen,
+wohlmeinenden Menschen fr seine schmerzhafte Aufrichtigkeit
+zu danken. Aber als er mein Gesicht sah, machte er
+sich so schnell wie mglich von dannen.
+
+ Das war ein schwerer, ein unglckseliger Tag. Es
+trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und
+kam spt abends todmde heim und legte mich nieder, ohne
+gegessen zu haben. Trotz der Mdigkeit fand ich keinen
+Schlaf. Zehn, fnfzig, ja hundert Stimmen verhhnten
+mich in meinem Innern mit unaufhrlichem Gelchter.
+Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in
+die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar
+nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus
+mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran
+der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der
+mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von
+Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Hnden, und hierauf
+die Raubritter, Ruber, Mnche, Nonnen, Geister und
+Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das
+verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab.
+Das schrie und jubelte und hhnte, da mir die Ohren
+gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern
+eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte
+mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie
+mich fest, und da lieen sie mich nicht wieder hinab. Da
+klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter
+kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten.
+Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen
+Tag, die ganze nchste Nacht; dann brach ich zusammen
+und schlief ein. Wo, das wei ich nicht. Es war auf
+einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden
+Roggenfeldern. Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht,
+und der Gewitterregen flo in Strmen herab. Ich eilte
+fort und kam an ein Rbenfeld. Ich hatte Hunger und
+zog eine Rbe heraus. Mit der kam ich in den Wald,
+kroch unter die dicht bewachsenen Bume und a. Hierauf
+schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; ich wachte
+immer wieder auf. Die Stimmen weckten mich. Sie hhnten
+unaufhrlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest
+Rben, Rben, Rben!" Als der Morgen anbrach, holte
+ich mir eine zweite Rbe, kehrte in den Wald zurck und
+a. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und lie
+mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden.
+Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe. Ich
+fand einen langen, wenn auch nur oberflchlichen Schlaf,
+whrend dessen Dauer ich mich immer von einer Seite
+auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern
+geqult wurde, die mir vorspiegelten, da ich bald
+ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus
+Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser
+Schlaf ermdete mich nur noch mehr, statt da er mich
+strkte. Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach,
+und verlie den Wald. Indem ich unter den Bumen
+hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm
+stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das
+war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich
+wute nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer
+zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt
+vorkam. Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte
+in die Glut. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war
+in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch!
+Der war nicht da drben beim Feuer, sondern hier bei
+mir. Der hllte mich ein, und der drang mir in die Seele.
+Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und
+Augen und Gesichtszge bekamen und sich in mir bewegten.
+Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst spter, viel
+spter klar ber die Entstehung solcher innerer Schreckgebilde
+geworden. Damals war ich es noch nicht, und so
+konnten sie die entsetzliche Wirkung uern, gegen welche
+meine auf das Aeuerste angespannten Nerven keine
+Widerstandskraft mehr besaen. Ich fiel in mir zusammen, wie
+das brennende Haus da drben zusammenfiel, als die
+Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich
+erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war
+auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollstndig dumm.
+Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm
+und Hcksel umhllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich
+suchte auch gar nicht danach. Ich wankte beim Gehen.
+Ich lief irr. Ich torkelte weiter, bis ich endlich
+einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die Strae,
+auf der ich mich befand, vorberfhrte. Ich lehnte mich
+an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war
+wohl unmnnlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu
+verhindern. Diese Trnen waren keine erlsenden. Sie
+brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine
+Augen zu reinigen und zu strken. Ich sah pltzlich, da
+es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er
+war mir ebenso vertraut wie die Strae, an der er lag;
+heut aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.
+
+ Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab,
+ber den Markt hinber und ffnete leise die Tr unseres
+Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der
+Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne
+Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am
+Faden zieht. Nach einiger Zeit ffnete sich die
+Schlafkammertr. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig
+aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah,
+erschrak sie. Sie zog die Kammertr schnell hinter sich
+zu und sagte aufgeregt, aber leise:
+
+ "Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen
+sehen?"
+
+ "Nein," antwortete ich.
+
+ "Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort!
+Nach Amerika hinber! Da man dich nicht erwischt!
+Wenn man dich wieder einsperrt, das berlebe ich nicht!"
+
+ "Fort? Warum?" fragte ich.
+
+ "Was hast du getan; was hast du getan! Dieses
+Feuer, dieses Feuer!"
+
+ "Was ist es mit dem Feuer?"
+
+ "Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im
+Walde -- -- auf dem Felde -- -- und gestern auch bei
+dem Haus, bevor es niederbrannte!"
+
+ Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!
+
+ "Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!" stotterte ich. "Glaubst
+du etwa, da -- -- --"
+
+ "Ja, ich glaube es; ich mu es glauben, und Vater
+auch," unterbrach sie mich. "Alle Leute sagen es!"
+
+ Sie stie das hastig hervor. Sie weinte nicht, und
+sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer
+Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:
+
+ "Um Gottes willen, la dich nicht erwischen, vor
+allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh!
+Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht
+sagen, da du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du
+bist; ich darf dich nicht lnger sehen! Geh also, geh!
+Wenn es verjhrt ist, kommst du wieder!"
+
+ Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich
+berhrt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von
+mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden
+Hnden nach dem Kopfe. Ich fhlte da ganz deutlich
+die dicke Lehm- und Hckselschicht. Dieser Mensch, der
+da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene
+Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in
+seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein
+Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!
+
+ Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den
+Kleiderschrank zu ffnen und einen andern, saubern Anzug
+anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die
+Erinnerung lt mich im Stich. Ich war wieder krank
+wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die
+inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich
+vollstndig. Wenn ich mir Mhe gebe, mich auf jene Zeit
+zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fnfzig
+Jahren irgend ein Theaterstck gesehen hat und nach
+dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu
+Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten.
+Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich,
+da ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und
+was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten
+gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten.
+Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen
+unglaublich. Man beschuldigte mich, einen
+Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres
+Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt! Anderes
+ist schon glaublicher und Einiges direkt erwiesen. Man
+hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen war,
+da transportierte man mich als "hoffentlichen Tter" hin.
+Das war eine hochinteressante Zeit fr die Habitus der
+Ernsttaler Lgenschmiede. Da wurde fast tglich Neues
+erzhlt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte.
+Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Mrchen
+kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung
+hin zu sndigen. Das war selbst fr einen uerlich
+und innerlich Gefangenen zuviel. Ich zerbrach
+whrend eines Transportes meine Fesseln und verschwand.
+Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in dem
+ich von meinen Reisen erzhle, ausfhrlich zu berichten.
+Fr jetzt ist nur dasselbe wie frher zu erwhnen, nmlich,
+da ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich
+von der Heimat entfernte, da mich drauen in der Ferne
+ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und da
+ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich
+der Gegend meines Geburtsortes nherte. Gibt es
+Jemand, der das zu ergrnden vermag? Ich folgte teils
+jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig
+zurck, und zwar um meiner guten Plne und um meiner
+Zukunft willen. Hatte ich gesndigt; so hatte ich zu ben;
+das verstand sich ganz von selbst. Und bevor diese Bue
+nicht erledigt war, konnte es fr mich keine ersprieliche
+Arbeit und keine Zukunft geben. Ich kehrte also nach
+fnf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu
+stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig
+gewesen wre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten,
+die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun,
+was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war,
+da ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde.
+Das verschrfte meine Lage derart, da ich die Strenge
+des Richters, der mein Urteil fllte, vollstndig begreife.
+Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt zu begreifen,
+der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt
+wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet,
+und zwar in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein,
+bei dieser billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben
+zu knnen oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm
+nicht mehr als Alles, was ntig ist, um eine solche
+Aufgabe auch nur einigermaen zu lsen. Ich htte gar
+wohl leugnen knnen, gab aber Alles, dessen man mich
+beschuldigte, glattweg zu. Das tat ich, um die Sache
+um jeden Preis los zu werden und so wenig wie mglich
+Zeitverlust zu erleiden. Dieser Advokat war unfhig, mich
+oder berhaupt ein nicht ganz alltgliches Seelenleben
+zu begreifen. Das Urteil lautete auf 4 Jahre Zuchthaus
+und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So schwer es mir fllt,
+dies fr die Oeffentlichkeit niederzuschreiben, ich kann mich
+nicht davon entbinden; es mu so sein. Nicht mich bedaure
+ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister,
+welch erstere mir noch im Grabe leid tun, da
+ihr Sohn, auf den sie so groe, vielleicht nicht ganz
+unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche
+Grausamkeit der Tatsachen und Verhltnisse gezwungen
+ist, derartige Gestndnisse zu machen.
+
+ Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir
+vorgeworfen werden, hier aufzuzhlen. Mein Henker,
+Schinder und Abdecker zu sein, berlasse ich jener
+abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an
+das Kreuz geschlagen und whrend dieser Zeit keinen
+Augenblick lang aufgehrt hat, immer neue Qualen fr
+mich zu ersinnen. Sie mag in diesen Fkalienstoffen
+weiterwhlen, zum Entzcken aller jener niedern Lebewesen,
+denen diese Stoffe Lebensbedingungen sind. Und
+ebensowenig bin ich gewillt, mit dieser meiner jetzigen
+Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich habe schlicht
+und einfach ber sie zu berichten, die Wahrheit zu sagen
+und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen Abgrund,
+der aber ganz und gar kein Abgrund ist, fr immer Valet
+zu sagen.
+
+ Meine Strafe war schwer und lang, und der auf
+zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir
+bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen.
+Ich war also auf strenge Behandlung gefat. Sie war
+ernst, aber sie tat nicht weh. Eine Anstaltsdirektion
+handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen
+zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte
+sich fgt. Nun, ich fgte mich! Freilich wurde fr dieses
+Mal auf meinen Stand keine Rcksicht genommen. Man
+teilte mich derjenigen Beschftigung zu, in der grad
+Arbeiter gebraucht wurden. Ich wurde Zigarrenmacher.
+Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete es mir. Ich
+habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke
+noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rhrung an
+sie zurck, welche man stillen, nicht grausamen Leidenssttten
+schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie
+war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak
+kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der
+billigsten bis zur teuersten. Das tgliche Pensum war
+nicht zu hoch gestellt. Es kam auf die Sorte, auf den
+guten Willen und auf die Geschicklichkeit an. Als ich
+einmal eingebt war, brachte ich mein Pensum spielend
+fertig und hatte auch noch stunden- und halbe Tage lang
+brige Zeit. Diese Zeit fr mich verwenden zu drfen,
+war mein innigster Wunsch, und der wurde mir eher,
+viel eher erfllt, als ich es fr mglich hielt.
+
+ Ich betone hier ein fr allemal, da es fr mich keinen
+Zufall gibt. Das wei ein jeder meiner Leser. Fr
+mich gibt es nur eine Fgung. So auch in diesem Falle.
+Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische
+und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet
+(Anstaltslehrer) fungierte whrend des katholischen
+Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der
+Zeit so mit neuen Pflichten und vieler Arbeit berbrdet
+worden, da er fr das Orgelspiel einen Stellvertreter
+suchen mute, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen
+die Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch
+noch die Orgel bernehmen konnte. Die Direktion billigte
+ihm zu, sich einen Vertreter unter den Gefangenen zu
+suchen. Er tat es. Es gab eine ganze Anzahl bestrafter
+Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden geprft.
+Warum keiner von ihnen genommen wurde, das wei
+ich nicht. Sie waren alle lnger da, als ich, hatten
+also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches
+zur Bekleidung einer solchen Stelle gehrt. Ich aber war
+mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte
+der zuknftigen Polizeiaufsicht unmglich entgehen und
+hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, da ich trotzdem
+Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache fr mich,
+keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der
+Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile
+mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen.
+Einige Tage spter kam auch der katholische Geistliche.
+Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne da er sich
+ber den Grund seines Besuches uerte. Aber am
+nchsten Tage wurde ich in die Kirche gefhrt, an die
+Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und mute spielen.
+Die Herren Beamten saen unten im Schiff der Kirche
+so, da ich sie nicht sah. Bei mir war nur der Katechet,
+der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die Prfung
+und mute vor dem Direktor erscheinen, der mir erffnete,
+da ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr
+gut zu fhren habe, um dieses Vertrauens wrdig zu
+sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel
+fr mich und mein Innenleben entwickelte.
+
+ Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer
+katholischen Kirche! Das brachte mir zunchst einige
+Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebude. Man
+konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen!
+Aber es brachte mir noch mehr, nmlich Achtung und
+diejenige Rcksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf
+gewisse Aeuerlichkeiten strebte. Der Aufseher unserer
+Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr
+wohlgefiel; als er im Meldebuch las, da ich katholischer
+Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle,
+um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten
+ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als
+evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen.
+Da sah er mich gro an und sagte:
+
+ "Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mut
+du -- -- -- hm, da mssen Sie sehr musikalisch sein!"
+
+ Die Gefangenen werden natrlich "Du" genannt;
+von jetzt an aber sagte er "Sie", und Andere taten ihm
+das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem
+sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere
+folgerte. Bald stellte sich zu meiner freudigen
+Ueberraschung heraus, da mein Aufseher der Dirigent des
+Blserkorps war. Ich erzhlte ihm von meiner
+musikalischen Beschftigung in Zwickau. Da brachte er mir
+schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen.
+Ich bestand auch diese Prfung, und von nun an war
+dafr gesorgt, da ich nicht verhindert wurde, in meiner
+freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher
+ist mir ein lieber, vterlicher Freund gewesen, und
+wir haben, als er spter pensioniert war und nach Dresden
+zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit
+einander verkehrt.
+
+ Der katholische Katechet hie Kochta. Er war nur
+Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein
+Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und
+von einer so reichen erzieherischen, psychologischen
+Erfahrung, da das, was er meinte, einen viel greren Wert
+fr mich besa, als ganze Ste von gelehrten Bchern.
+Nie sprach er ber konfessionelle Dinge mit mir. Er
+hielt mich fr einen Protestanten und machte nicht den
+geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung
+einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich
+zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem
+Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen mute, das
+wute ich bereits oder konnte es in anderer Weise
+erfahren. Mir war das schne Verhltnis heilig, das
+nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne da
+sich strende Gegenstze in das rein menschliche Wohlwollen
+schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst,
+ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die Religion
+zwischen uns vollstndig unberhrt und konnte also umso
+direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein
+Schweigen war so beredt, denn es lie seine Taten sprechen,
+und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen
+Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das
+Kleinste gro zu nehmen wei.
+
+ Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt
+lernte ich sie kennen. Was fr Orgel- und sonstige
+Musikstcke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt,
+Musikverstndnis zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache
+Katechet gab mir Nsse zu knacken, die mir sehr zu schaffen
+machten. Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst
+jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das
+allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt.
+
+ Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn
+eine besondere Feststellung in Beziehung auf die
+Orgelbegleitung ntig war. Er sprach nur das Allerntigste,
+ber Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat
+war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen
+beginne. Solche Sonnenmenschen sind selten, und doch mte
+eigentlich jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn
+der Laie ist nur allzusehr geneigt, die Kirche so zu
+betrachten und zu beurteilen, wie ihre Priester sich zu ihm
+stellen. Ueber den Unterschied zwischen dem protestantischen
+und dem katholischen Gottesdienst gehe ich hinweg, aber
+jeder vernnftige Mensch wird es fr ganz naturgem
+und selbstverstndlich halten, da ich nicht vier Jahre
+lang an dem letzteren teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm
+beteiligt sein konnte, ohne von ihm beeinflut zu werden.
+Wir sind doch keine Steine, von denen alles Weiche
+abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, wenn
+der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste
+waren ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine
+unendliche Dankbarkeit fr diese Wrme und diese Gte in
+mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf
+fr mich hatte, als alles Andere gegen mich war. Ich
+habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde
+sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm mssen doch die
+Menschen innerlich sein, welche behaupten, da ich katholisiere!
+Es ist ganz unmglich, da sie die Menschenseele und die
+in ihr liegenden Heiligtmer kennen. Uebrigens habe
+ich ber den katholischen Glauben gar nichts geschrieben,
+ber den mohammedanischen aber ganze Bnde. Der
+Vorwurf, da ich islamitisiere, erscheint also viel berechtigter,
+als der, da ich katholisiere. Warum macht man mir
+diesen nicht? Die Madonna ist von hundert protestantischen
+Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtern,
+sogar von Goethe, behandelt worden. Warum sagt man
+von diesen nicht, da sie katholisieren? Ich habe der
+katholischen Kirche fr die hochsinnige Gastfreundlichkeit,
+die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre lang erwies,
+durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich fr
+meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich
+der religisen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des
+Geldes wegen! Ich wiederhole: Wie arm mssen diese
+Menschen sein, wie unendlich arm! -- --
+
+ Ich mu konstatieren, da diese vier Jahre der
+ungestrten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich
+sehr, sehr weit vorwrts gebracht haben. Es stand mir
+jedes Buch zur Verfgung, das ich fr meine Studien
+brauchte. Ich stellte meine Arbeitsplne fertig und
+begann dann mit der Ausfhrung derselben. Ich schrieb
+Manuskripte. Sobald eines fertig war, schickte ich es heim.
+Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern.
+Ich schrieb diesen nicht direkt, weil sie jetzt noch
+nicht erfahren sollten, da der Verfasser der Erzhlungen,
+die sie druckten, ein Gefangener sei. Einer aber erfuhr
+es doch, weil er persnlich zu den Eltern kam. Das war
+der spter noch viel zu erwhnende Kolportagebuchhndler
+H. G. Mnchmeyer in Dresden. Er war Zimmergesell
+gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das
+Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In
+dieser Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal
+und lernte in einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd
+kennen, die er heiratete. Das fesselte ihn an die
+Gegend. Er wurde da bekannt und erfuhr auch von mir.
+Was er da Tolles hrte, schien ihm auerordentlich passend
+fr seine Kolportage. Er suchte meinen Vater auf und
+machte sich vertraut mit ihm. So kamen ihm meine
+Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war ihm
+zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, da es ihn, wie er
+sagte, entzckte. Er bat, es drucken zu drfen, und
+bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und
+legte das Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht.
+Er schob es zurck und forderte ihn auf, es mir persnlich
+zu geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Mnchmeyer
+sehr gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann,
+den er gebrauchen knne; er werde mich nach meiner
+Heimkehr aufsuchen und alles Nhere mit mir besprechen.
+
+ Dies erzhle und stelle ich fr einstweilen fest. Es ist
+fr manches Folgende von groer Wichtigkeit, zu wissen,
+da Mnchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, wie sie
+in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles
+gehrt hatte, was hinzugelogen worden war.
+
+ Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich
+Ruhe, vollstndige Ruhe. In den ersten vier Wochen der
+letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, da die
+dunklen Gestalten mich innerlich geqult und mit Zurufen
+belstigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehrt
+und war schlielich still geworden, ohne sich wieder zu
+regen. Wenn ich hierber nachdachte, ohne auf psychologische
+Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht,
+da diese Gebilde nur solange Einflu besitzen, wie man
+in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber
+die letzteren berwunden, dann mssen die Schreckbilder
+schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der
+Katechet war derselben Meinung. Ich hatte ihm von
+meinen inneren Anfechtungen nichts erzhlt, wie ich in
+rein persnlichen und familiren Dingen berhaupt nie
+einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen
+fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte,
+aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal
+kam ich im Verlauf des Gesprches darauf, von meinen
+dunklen Gestalten und ihren qulenden Stimmen zu sprechen;
+aber ich tat so, als ob ich von einem Andern sprche, nicht
+von mir selbst. Da lchelte er. Er wute gar wohl, wen
+ich meinte. Am nchsten Tage brachte er mir ein kleines
+Buch, dessen Titel lautete: "Die sogenannte Spaltung des
+menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung
+berhaupt." Ich las es. Wie kstlich es war! Welche
+Aufklrung es gab! Nun wute ich auf einmal, woran
+ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese
+Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu frchten! Spter,
+als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der
+Freude entsprechend, die ich darber empfand. Da fragte
+er mich:
+
+ "Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie
+erzhlten?"
+
+ "Ja," antwortete ich.
+
+ "Haben Sie alles verstanden?"
+
+ "Nein, noch nicht."
+
+ "Dieses hier?"
+
+ Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: "Wer
+an diesen schweren Anfechtungen leidet, der hte sich vor
+der Stelle, an der er geboren wurde. Er wohne niemals
+lngere Zeit dort. Und vor allen Dingen, wenn er einmal
+heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem
+Orte!"
+
+ "Nein, das verstehe ich noch nicht," gestand ich ein.
+
+ "Ich auch nicht," gab er zu. "Aber denken Sie
+darber nach!"
+
+ Dieses Nachdenken, welches er mir riet, fhrte mich
+zu keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein
+psychologische Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende
+Lehrerin, und diese Erfahrung mute ich machen, ehe
+ich es begriff, leider, leider! -- -- --
+
+ _________
+
+
+ VI.
+ Bei der Kolportage.
+
+ _____
+
+Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war
+ein strmischer Frhlingstag, es regnete und schneite.
+Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal
+nicht ein, mir Vorwrfe zu machen. Er hatte meine
+Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig
+gelernt. Er wute nun, da er in Beziehung auf meine
+Zukunft nichts mehr zu befrchten hatte. Er kam bei
+dieser Gelegenheit auch auf Mnchmeyer zu sprechen und
+darauf, da dieser mich aufsuchen wolle.
+
+ "Das wird vergeblich sein," sagte ich. "Dieser Mann
+will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter
+nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt
+wahrscheinlich, da ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man
+ber mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken,
+der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber
+vernichten wrde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere
+Zwecke und Ziele!"
+
+ Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt
+angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er
+nach dem nchsten Dorf hinber, auf ein alleinstehendes,
+neugebautes Haus und fragte mich:
+
+ "Kennst du das dort?"
+
+ "Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?"
+
+ "Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es
+heraus, wer es angezndet hat. Es wurde mit dem Tter
+sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus
+gekommen als du. Mutter wird es dir erzhlen."
+
+ "O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte
+sie, da sie hierber schweigen soll!"
+
+ Noch an demselben Abend erfuhr ich, da der Ortswachtmeister
+in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf
+er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre
+lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er
+kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in
+die Brust, da man es wirklich keinem in dieser Weise
+behandelten Menschen belnehmen kann, wenn er dadurch
+rckfllig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein
+Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich tglich zu melden habe.
+Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der
+Tasche, um mir eine Vorlesung ber meine Pflichten zu
+halten. Ich sagte kein Wort, sondern ffnete die Tr und
+gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht
+sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Brgermeister und
+machte kurzen Proze. Ich forderte einen Auslandspa,
+und als mir die Auskunft wurde, da dies nicht so ohne
+weiteres mglich sei, war ich schon am nchsten Tage ohne
+Pa unterwegs.
+
+ Im Zuge sa ich in einem sonst leeren Coup. Es
+ging ber die Grenze. Da begann es pltzlich in mir
+laut zu wten und zu toben, zu schreien und zu brllen
+wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte
+mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von
+Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen
+das kam. Frher htte es mich entsetzt; heut aber lie
+es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht
+hergeben wollten, hatten ihre Macht ber mich verloren.
+Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach
+ganz von selber still werden.
+
+ Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der
+zweite Band berichten. Inzwischen kam Mnchmeyer, um
+nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er
+das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim.
+Ungefhr dreiviertel Jahre spter erschien er wieder, und
+zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal
+fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine
+"Geographischen Predigten" zu schreiben und in Druck zu
+geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann
+auch Kolporteur geworden. Das Geschft war bisher gut
+gegangen, sogar auerordentlich gut; nun aber stand es in
+Gefahr, ganz pltzlich zusammenzubrechen. Man brauchte
+einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das
+war mir unbegreiflich, weil ich mit Mnchmeyer noch nie
+etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu
+tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte.
+Er erklrte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr
+beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so
+trefflicher Weise, da ich beide nicht kurzer Hand
+abwies, sondern sie aussprechen lie. Aber als sie das
+getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, obgleich ich es
+nie fr mglich gehalten htte, da ich jemals zu der
+"Kolportage" in irgend eine Geschftsbeziehung treten
+knne.
+
+ Mnchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden
+Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was
+er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er
+sprach von einem sogenannten "Schwarzen Buch" mit lauter
+Verbrechergeschichten, von einem sogenannten "Venustempel",
+der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen
+Werken gleicher Art. Fr heut aber handle es sich
+um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel "Der
+Beobachter an der Elbe" herausgebe. Grnder und
+Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender
+Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter,
+tatkrftiger, aber in geschftlicher Beziehung hchst
+gefhrlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm berworfen, sei
+pltzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle
+Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz hnliches
+Blatt wie den "Beobachter an der Elbe" herausgeben,
+um ihn tot zu machen. "Wenn ich nicht sofort einen
+anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen ber ist
+und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!"
+schlo Mnchmeyer seinen Bericht.
+
+ "Aber wie kommen Sie da grad auf mich?" erkundigte
+ich mich. "Ich bin weder Redakteur noch in irgend
+einer Weise bewhrt!"
+
+ "Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel
+von Ihnen gehrt und, vor allen Dingen, ich habe Ihre
+Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der,
+den ich brauche!"
+
+ "Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur
+Kolportage wird mich niemand bringen!"
+
+ "Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch
+Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?"
+
+ Ich erklrte ihm meine Plne. Da fing er Feuer;
+er begeisterte sich fr sie. Er gehrte zu jenen Leuten,
+die gern vom Hohen schwrmen, aber doch vom
+Niedrigen leben.
+
+ "Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!" rief er
+aus. "Und das knnen Sie Alles bei mir erreichen, am
+besten und schnellsten bei mir!"
+
+ "Wieso?"
+
+ "Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen
+diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!"
+
+ "Das wre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr
+,Beobachter an der Elbe' nicht gefllt? Ich kenne ihn
+ja nicht."
+
+ "So lassen wir ihn eingehen, und Sie grnden ein
+neues Blatt an seiner Stelle!"
+
+ "Was fr eines?"
+
+ "Ganz nach Ihrem Belieben, wie es fr Ihre Zwecke
+pat!"
+
+ Ich gestehe, da er mich durch dieses Versprechen schon
+mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine
+Plne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fgte noch
+weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht
+machte, auf seine Wnsche einzugehen. Hierzu kamen meine
+eigenen Erwgungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet
+die prchtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die
+Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher
+Gehrige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte
+fr mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde
+mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den [sic]
+Mnchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend,
+aber es flossen mir ja auerdem derartige Honorare zu,
+da ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war
+gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljhrige Kndigung
+an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es
+mir nicht gefiel.
+
+ "Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!" forderte er
+mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzhlte.
+
+ "Wann htte ich anzutreten?" fragte ich.
+
+ "Sptestens bermorgen. Es eilt. Dieser Freytag
+darf uns nicht vorauskommen."
+
+ "Aber Sie wissen doch, da ich bestraft bin!"
+
+ "Ich wei Alles. Das tut aber nichts."
+
+ "Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!"
+
+ "Das habe ich nicht gewut; aber auch das tut
+nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der
+Allerliebste! Schlagen Sie ein!"
+
+ Das klang gradezu rhrend. Er hielt mir die Hand
+hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab
+ich ihm den Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.
+
+ Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunchst
+ein mbliertes Logis, doch stellte mir Mnchmeyer sehr
+bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur
+Verfgung, und ich kaufte mir die Mbel dazu. Ich fand
+den Verlag ganz ungemein hlich. Das "Schwarze Buch"
+war geradezu emprend verbrecherisch. Der "Venustempel"
+zeigte sich als ein scheuliches, auf die niedrigste
+Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften
+Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden
+Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke fr
+Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die
+mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte
+und Bilder lagen berall umher. Die Arbeiter und
+Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Tchter
+Mnchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter,
+lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau
+Mnchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: "Was
+denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine
+Masse Geld!" Ich nahm mir vor, dies msse entweder
+anders werden oder ich wrde ohne Kndigung wieder
+fortgehen. Was den "Beobachter an der Elbe" betrifft,
+dessen Redaktion ich bernommen hatte, so sah ich gleich
+mit dem ersten Blick, da er verschwinden msse.
+Mnchmeyer war so vernnftig, dies zuzugeben. Wir lieen
+das Blatt eingehen, und ich grndete drei andere an
+seiner Stelle, nmlich zwei anstndige Unterhaltungsbltter,
+welche "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden"
+betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt
+fr Berg-, Htten- und Eisenarbeiter, dem ich die
+Ueberschrift "Schacht und Htte" gab. Diese drei Bltter
+waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedrfnisse
+der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Huser
+und Herzen zu bringen. In Beziehung auf "Schacht und
+Htte" bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die
+groen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafr
+zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedrfnis
+war, so erzielte ich Erfolge, ber die ich selbst erstaunte.
+Unsere Bltter stiegen so, da Mnchmeyer mir zu Weihnachten
+ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab
+sich alle Mhe, hatte zwar anfnglich auch Erfolg, mute
+sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen.
+
+ In dieser Zeit der Entwicklung war es, da Mnchmeyer
+von auswrtigen Behrden wegen der Verbreitung
+des "Venustempels" angezeigt wurde. Verfasser dieses
+Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag,
+der nur deshalb mit Mnchmeyer gebrochen hatte, weil
+dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht
+partizipieren lie. Das Buch enthielt eine lstern
+geschriebene Abteilung ber "die Prostitution", die zu
+Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde
+Mnchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher,
+das wei ich nicht, da eine Haussuchung nach dem "Venustempel"
+stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte
+Rhrigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhten.
+Jedermann, dem man traute, mute helfen; mir aber
+sagte man kein Wort; man schmte sich. Es lagen
+Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte
+ganze Ste, die bis zur Decke reichten, hinter andern
+Werken. Man fllte den Lift damit aus. Man benutzte
+jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der
+gefhrdeten Bcher in die Privatwohnungen und verbarg
+sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell
+und gelang so gut, da die Polizei, als sie sich einstellte,
+kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange
+hat man sich im Mnchmeyerschen Hause des Schnippchens
+gerhmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener
+Behrde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst spter,
+viel spter hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines
+Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund
+heraus, nicht aber wieder hinunter!
+
+ Ich darf wohl sagen, da ich in jener Zeit fleiig
+gewesen bin und mir ehrliche Mhe gegeben habe, die
+Mnchmeyersche Kolportage in einen anstndigen Verlag
+zu verwandeln. Mnchmeyer befreundete sich so mit mir,
+da wir wie Brder verkehrten. Das war mir ganz lieb,
+so lange er tat, was ich fr richtig hielt. Ich begann
+gleich in den ersten Nummern der drei neugegrndeten
+Bltter mit der Ausfhrung meiner literarischen Plne.
+Ich habe bereits gesagt, da ich in dieser Beziehung mein
+Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhlften, nmlich
+auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten
+wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das "Deutsche
+Familienblatt" fr die Indianer und die "Feierstunden"
+fr den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort
+mit "Winnetou", nannte ihn aber einem anderen
+Indianerdialekt gem einstweilen noch In-nu-woh. Ich war
+berzeugt, da diese beiden Bltter eine Zukunft htten,
+und ich bildete mir ein, fr eine ganze Reihe von
+Jahrgngen Redakteur bleiben zu knnen. Da gab es Raum
+und Zeit genug fr das, was ich wollte. Ganz
+selbstverstndlich schrieb ich auch fr andere Firmen, die ich
+wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich
+bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten,
+weit ausschauenden Absichten ganz pltzlich ein unerwartetes
+Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt
+war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine
+Anerkennung, eine Frderung bedeuten. Man machte mir
+nmlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag,
+die Schwester der Frau Mnchmeyer zu heiraten. Man
+lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden
+ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Mnchmeyers
+wohnen und bekam vom Vater der Frau Mnchmeyer
+die Brderschaft angetragen. Das bewirkte grad
+das Gegenteil. Ich sagte "nein" und kndigte, denn
+nun verstand es sich ganz von selbst, da ich nicht bleiben
+konnte, zumal es um diese Zeit war, da ich ber jenen
+Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte,
+das Nhere erfuhr. Nun hatten meine Plne einstweilen
+zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das
+Vierteljahr vorber war, zog ich von Mnchmeyers fort, doch
+nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage
+tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei,
+schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann
+auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berhrend, wurde
+ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und
+erfuhr, da Freytag, der Verfasser, und Mnchmeyer, der
+Verleger des "Venustempels", wegen dieses Schandwerkes
+krzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir
+verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses
+Venustempels hineingeheiratet zu haben!
+
+ Nach der Heimkehr von der soeben erwhnten Reise
+hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in
+Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte
+einige Tage bei ihr und lernte da ein Mdchen kennen,
+welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte.
+Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, da
+ich die sonderbare Eigentmlichkeit besitze, die Menschen
+mehr seelisch als krperlich vor mir zu sehen. Ob das
+ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich
+entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es
+nicht selten vor, da ich eine hliche Person schn und
+eine schne hlich finde. Die interessantesten Wesen
+sind mir die, deren seelische Gestalt mir rtselhaft
+erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren
+Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich
+an, selbst wenn sie abstoend wirken; ich kann nichts
+dafr. Und mit dem Mdchen, von dem ich hier spreche,
+hatte es noch eine andere, ganz eigentmliche Bewandtnis.
+Nmlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in
+Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort
+nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wsche zu holen.
+Auf dem Rckwege kam ich ber den Hohensteiner Markt.
+Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem
+Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden
+sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhndler
+und oben eine von fremdher zugezogene Persnlichkeit,
+die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg
+oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es
+war bekannt, da er noch weit mehr konnte als das. Sein
+Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man fr
+das schnste Mdchen der beiden Stdte hielt; das wute
+ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich
+stehen. Zwei Frauen, die auch zuhren und zusehen
+wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu,
+die war vom Dorfe, sie fragte, was das fr eine
+Leiche sei.
+
+ "Pollmers Tochter," antwortete eine der beiden ersten
+Frauen.
+
+ "Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn
+die gestorben?"
+
+ "An ihrem eigenen Kinde. Besser wre es, dieses
+wre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an
+dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das
+bringt Jedermann nur Unheil."
+
+ "Was ist denn der Vater?"
+
+ "Der? Es hat ja keinen!"
+
+ "Du lieber Gott! Auch das noch? Da wre es
+freilich besser, der Nickel knnte gleich mitbegraben
+werden!"
+
+ Jetzt hrte der Gesang auf. Man brachte den Sarg
+heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen
+Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person,
+welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind,
+der "Nickel", der seine eigene Mutter gettet hatte und
+Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem
+nichts. Was wei ein vierzehnjhriger Junge von den
+Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der
+Leichenzug an mir vorber war, und ich meinen Weg
+fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich spter noch
+oft beschftigte, nmlich die Frage, warum man sich vor
+einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an
+dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen mu. Ich
+glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an
+das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fhlte eine
+Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegrbnis
+und an den unglckseligen "Nickel" dachte. Sobald ich
+spter ber den Hohensteiner Markt kam, schaute ich
+ganz unwillkrlich nach dem betreffenden Fenster in der
+Oberstube des Mehlhndlerhauses. Nach Verlauf einer
+Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes,
+eines Mdchens, herausschauen. Ich blieb fr einen
+Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es
+war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes
+noch etwas Frchterliches an sich. Spter begegnete ich
+einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen
+Manne, der ein ungefhr zwlfjhriges Mdchen
+an der Hand fhrte. Das war der alte Pollmer mit
+seinem "Nickel". Der Alte sah sehr ernst, das Kind
+aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar
+nichts an sich, was verriet, "da seine Mutter an ihm
+gestorben war". Dann habe ich es noch verschiedene
+Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang
+aufgeschossen, beraus schmal, ganz uninteressant, ein
+vollstndig gleichgltiges Wesen. Nie htte ich gedacht, da
+dieses Mdchen jemals in meinem Leben eine wenn auch
+nur unbedeutende Rolle spielen knne. Und nun ich jetzt
+bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer
+Freundinnen einige junge Mdchen vorgestellt, unter
+denen sich auch ein "Frulein Pollmer" befand. Das
+war der "Nickel"; aber er sah ganz anders aus als
+frher. Er sa so still und bescheiden am Tisch,
+beschftigte sich sehr eifrig mit einer Hkelei und sprach
+fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht
+errtete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen,
+geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort ber
+die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwgend, gar
+nicht wie bei andern Mdchen, die Alles grad so
+herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge luft. Das gefiel
+mir sehr. Ich erfuhr, da ihr Grovater, nmlich
+Pollmer, meine "Geographischen Predigten" gelesen hatte
+und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr.
+Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden.
+Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur
+von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der
+Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder
+Niederland, ob Wste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich
+nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich
+deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land
+kennen zu lernen. Da sie nicht aus einer wohlhabenden
+oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht
+verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer
+Webersohn und eigentlich viel weniger als das.
+
+ Am nchsten Tage kam ihr Grovater zu mir. Sie
+hatte ihm von mir erzhlt und in ihm den Wunsch
+erweckt, mich nach der Lektre meiner "Predigten" nun
+auch persnlich kennen zu lernen. Er schien von mir
+befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch
+ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein
+Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch
+beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus
+einem persnlichen in einen schriftlichen verwandelte.
+Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich
+bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer
+htte jemals gedacht, da ich mit dem "Nickel", der Einem
+"nur Unheil bringt", in Korrespondenz treten wrde!
+
+ Ihre Zuschriften machten einen auerordentlich guten
+Eindruck. Sie sprach da von meinem "schnen, hochwichtigen
+Beruf", von meinen "herrlichen Aufgaben", von
+meinen "edlen Zielen und Idealen". Sie zitierte Stellen
+aus meinen "Geographischen Predigten" und knpfte
+Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch
+eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es
+mir zuweilen so vor, als ob nur ein mnnlicher Verfasser,
+und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben
+knne, aber es war mir nicht mglich, sie eines solchen
+Betruges fr fhig zu halten. Meine Schwester schrieb
+mir auch. Sie flo vom Lobe "Frulein Pollmers" ber
+und lud mich fr die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu
+besuchen. Ich tat es. Ich verga, da grad die
+Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und
+da ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde,
+gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied ber
+mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte
+ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis
+ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte,
+um das Seelenstudium des "Nickels", der nun "mein
+Nickel" werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam
+nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer
+Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bhne zu sein
+pflegt. Nmlich als Pollmer erfuhr, da ich wieder da
+sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum
+Mittagessen ein. Er war lngst Witwer, und seine Familie
+bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wute,
+da er sich berall nur hchst lobend ber mich aussprach,
+und da meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten,
+mich fr einen guten, vertrauenswrdigen Menschen
+zu halten. Aber ich wute auch, da er sein Enkelkind
+fr das schnste und wertvollste Wesen der ganzen
+Umgegend hielt und da er ganz mrchenhafte Gedanken
+in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war
+der Ansicht, da solche strahlende Beauts der grte
+Reichtum ihrer Familie seien und nur mglichst reich
+und vornehm verheiratet werden drfen. Ganz selbstverstndlich
+konnte diese seine Meinung nicht ohne Einflu
+auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte
+ich sehr wohl; und vielleicht war es die hchste Zeit, sie
+diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum,
+als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:
+
+ "Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, da ich
+nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter
+willen kommen darf."
+
+ Er horchte berrascht auf.
+
+ "Um Emmas willen?" fragte er.
+
+ "Ja."
+
+ "Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf
+sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?"
+
+ "Allerdings."
+
+ "Alle Wetter! Davon wei ich kein Wort! Das ist
+aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie
+dazu?"
+
+ "Sie ist einverstanden."
+
+ Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot
+im Gesicht und rief aus:
+
+ "Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter
+ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, da sie
+sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet!
+Die kann andere Mnner kriegen. Die soll mir keinen
+Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von
+seiner Berhmtheit und nur vom Hunger lebt!"
+
+ "Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?"
+fragte ich. "Das wrde ich gelten lassen!"
+
+ "Unsinn! Das kmmert mich nicht. Es laufen
+Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das
+Zuchthaus gehren! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz
+andere Grnde. Sie bekommen meine Tochter nicht!"
+
+ Er rief das sehr laut aus.
+
+ "Oho!" antwortete ich.
+
+ "Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole
+Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!"
+
+ Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck
+zu verstrken, mit dem Spazierstock auf den Boden.
+Es juckte mir frmlich in der Hand, sie ihm auf die
+Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: "Gut, so behalten
+Sie sie!" Aber dagegen bumte sich das vterliche
+Erbteil in mir auf, der zhe, unbedachte Zorn, der
+niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf:
+
+ "Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!"
+
+ "Versuchen Sie das!"
+
+ "Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde
+es tun, wirklich tun!"
+
+ Da lachte er.
+
+ "Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte
+mir von jetzt an jeden Besuch!"
+
+ "Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage
+Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persnlich zu
+mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt
+aber leben Sie wohl!"
+
+ "Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!"
+
+ Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte
+sie seiner Tochter. Die lauteten: "Entscheide zwischen
+mir und Deinem Grovater, Whlst Du ihn, so bleib;
+whlst Du mich, so komm sofort nach Dresden!" Dann
+reiste ich ab. Sie whlte mich; sie kam. Sie verlie
+den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie
+war. Das schmeichelte mir. Ich fhlte mich als Sieger.
+Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene,
+hochgebildete Tchter besa. Durch den Umgang mit
+diesen Damen wurde es ihr mglich, sich Alles, was sie
+noch nicht besa, spielend anzueignen. Von da aus bekam
+sie Gelegenheit, eine selbstndige Wirtschaft fhren
+zu knnen. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr
+gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anstndige
+Honorare. Ich hatte mit meinen "Reiseerzhlungen"
+begonnen, die sofort in Paris und Tours auch
+in franzsischer Sprache erschienen. Das sprach sich
+herum; das imponierte sogar dem "alten Pollmer". Er
+hrte von Kennern, da ich im Begriff stehe, ein
+wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da
+schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, da sie ihn
+um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf,
+nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber
+mitzubringen. Sie erfllte ihm diesen Wunsch, und ich
+begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach
+Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich
+aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt
+habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, msse
+er persnlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!
+
+ Ich fhlte mich wieder als Sieger. Wie tricht
+von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwgung
+gesiegt, da ich es wahrscheinlich zu einem Vermgen
+bringen werde, und es gab sogar die Gefahr fr mich,
+da diese Erwgung nicht allein vom Grovater getroffen
+worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer
+Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte
+nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um
+bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals
+eine Zeit ganz eigenartiger innerer und uerer
+Entwicklungen fr mich. Ich schrieb und machte Reisen.
+Von einer dieser Reisen zurckgekehrt, erfuhr ich, kaum
+aus dem Kupee gestiegen, da heute nacht der "alte Pollmer"
+gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. Ich
+eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel
+gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber
+weder sprechen noch sich bewegen. Sein Enkelkind sa
+in einer seitwrts liegenden Stube bei einer klingenden
+Beschftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und
+es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube kaum
+zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken
+hinber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es
+aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem
+Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde
+Arzt. Er hatte ihn schon gleich frh am Morgen
+untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid,
+da alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt
+hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir
+nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich
+versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar
+noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfllt, in
+Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine
+Etage des oberen Marktes und htten da unendlich glcklich
+leben knnen, wenn uns ein solches Glck beschieden
+gewesen wre.
+
+ Ich schrieb damals schon einige Jahre fr
+Pustet in Regensburg, in dessen "Deutschem Hausschatz"
+meine "Reiseerzhlungen" erschienen. Die Firma Pustet
+ist eine katholische und der "Deutsche Hausschatz" ein
+katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle
+Zugehrigkeit war mir hchst gleichgltig. Der Grund,
+warum ich dieser hochanstndigen Firma treugeblieben
+bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschftlicher.
+Kommerzienrat Pustet lie mir nmlich schon bei
+der zweiten, kurzen Erzhlung durch seinen Redakteur
+Vinzenz Mller mitteilen, da er bereit sei, alle meine
+Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen
+Verlag senden. Und zahlen werde er sofort. Bei lngeren
+Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe
+er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel
+Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem
+ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden
+darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar,
+wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau
+bermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines
+einzigen Males, da es spter gekommen wre. Und
+niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur
+die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe
+nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und
+als Pustet es mir pltzlich verdoppelte, tat er das aus
+eigenem, freiem Entschlusse, ohne da ich einen hierauf
+bezglichen Wunsch geuert hatte. Solchen Verlegern
+bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und
+ihrer Konfession zu fragen.
+
+ Aber noch wertvoller als diese Pnktlichkeit war fr
+mich der Umstand, da alle meine Manuskripte vorausbestellt
+waren und sicher an- und aufgenommen wurden.
+Das machte es mir mglich, meine auf die "Reiseerzhlungen"
+bezglichen Plne nun endlich auszufhren. Es
+war mir nun der ntige Spaltenraum fr lange Zeit
+hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzhlungen
+dann spter in Buchform herausgeben wrde, war eine
+Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt
+feindselige Menschen, welche behaupten, da ich mich
+nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag
+herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, fr deren
+Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte
+finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan,
+dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem "Deutschen
+Hausschatz" und seinem Herausgeber Opfer gebracht,
+von deren Gre die Familie Pustet keine Ahnung
+hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef
+Krschner, der bekannte, berhmte Publizist, mit dem ich
+sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich
+schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in
+Stuttgart erscheinende Revue "Vom Fels zum Meere",
+fr welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie
+folgt:
+
+ "Sehr geehrter Herr!
+
+ Sie haben inzwischen schon wieder fr andere
+ Unternehmungen Beitrge geliefert, whrend Sie mich
+ mit dem lngst Versprochenen noch immer im Stiche
+ lieen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte
+ Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenber
+ wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht
+ vorbergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht
+ geneigt wren, einmal einen recht packenden, fesselnden
+ und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich wrde
+ I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend
+ Mark pro "Fels"-Bogen zusichern knnen, wenn Sie
+ etwas Derartiges schreiben wrden.
+
+ In vorzglicher Hochachtung
+
+ Ihr ergebenster
+
+ Josef Krschner.
+
+ Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war
+gegen diese tausend Mark so unbedeutend, da ich mich
+scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet
+trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewi wohl mehr
+als hinreichender Beweis, da ich fr den "Hausschatz"
+nicht geschrieben habe, um "mehr Geld zu machen, als
+ich von Andern bekam". Auch meine andern Verleger
+zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das mu ich, um
+diesen bswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit
+konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner
+Hausschatzerzhlungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe,
+der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet
+zurck zu Mnchmeyer zu wenden.
+
+ Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau
+auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte
+ihr Mnchmeyer so lebhaft geschildert, da sie sich ein
+ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie
+ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wnschte aber sehr,
+ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt
+hatten, da er ein hbscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter
+und fr schne Frauen begeistert sei. Er pflegte
+in dieser Jahreszeit um die Dmmerstunde in einer
+bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr
+das sagte, bat sie mich, sie hinzufhren. Ich tat es,
+obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich
+seiner Schwgerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich
+nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen
+Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig;
+das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch
+geschftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar
+so zusammengedrckt und niedergeschlagen dagesessen, den
+Kopf in beide Hnde gelegt. Nun aber war er pltzlich
+froh und munter. Er strahlte vor Vergngen. Er
+machte mir in seiner Kolportageweise die unmglichsten
+Komplimente, eine so schne Frau zu haben, und meiner
+Frau gratulierte er in denselben Ausdrcken zu dem
+Glck, einen so schnell berhmt gewordenen Mann zu
+besitzen. Er kannte meine Erfolge, bertrieb sie aber,
+um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf
+meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu
+schwrmen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie
+sei schn wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel
+werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner
+jetzigen groen Not. Sie knne ihn retten, indem sie
+mich bitte, einen Roman fr ihn zu schreiben. Und nun
+erzhlte er:
+
+ Als ich aus seinem Geschft getreten war, hatte er
+keinen passenden Redakteur fr die von mir gegrndeten
+Bltter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren.
+Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten
+fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es
+wollte berhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte
+auf Verlust, und jetzt stand es so, da er die Hamletfrage
+Sein oder Nichtsein nicht lnger von sich weisen
+konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darber
+nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden knne,
+doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie
+vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, da er gerettet
+werde, nmlich durch mich, durch einen Roman von mir,
+durch meine schne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die
+mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen
+Hnden sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben
+Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau
+vollstndig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch
+zu erfllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise
+vor, da eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen
+Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles auerordentlich
+gut gestanden; aber da ich seine Schwgerin nicht habe
+heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das
+habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder
+gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet,
+ihm jetzt unter die Arme zu greifen.
+
+ Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fhlte ich
+gar wohl, da etwas Wahres daran sei. Man hatte
+damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau
+Mnchmeyer zu heiraten, fr so selbstverstndlich gehalten,
+da berall davon gesprochen worden war. Dadurch, da
+ich den Plan zurckwies, hatte nicht nur dieses Mdchen,
+sondern auch die ganze Familie eine beinahe ffentliche
+Zurcksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld
+trug, die mich aber geneigt machte, Mnchmeyer als Ersatz
+dafr irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, da
+wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde
+auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen
+geschftlichen, nicht aber einen persnlichen Grund geben,
+seinen Wunsch zurckzuweisen. Aber auch in geschftlicher
+Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern.
+Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In
+dem Umstand, da Mnchmeyer Kolportageverleger war,
+lag kein Zwang fr mich, ihm nun auch meinerseits nichts
+Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu
+schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische
+Folge von Reiseerzhlungen, wie ich sie Pustet und anderen
+Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich
+auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das,
+was ich fr Mnchmeyer schrieb, ganz ebenso spter fr
+mich in Bnden erscheinen lassen, wie das fr meine
+Hausschatzerzhlungen bestimmt worden war.
+
+ Diese Erwgungen gingen mir durch den Kopf, whrend
+Mnchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen.
+Ich erklrte schlielich, da ich mich vielleicht entschlieen
+knnen, den gewnschten Roman zu schreiben, doch nur
+unter der Bedingung, da er nach einer bestimmten Zeit
+mit smtlichen Rechten wieder an mich zurckfalle. Es
+drfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort gendert
+werden; das wisse er ja von frher her. Mnchmeyer
+erklrte, hierauf einzugehen, doch mge ich ihn mit dem
+Honorar nicht drcken. Er sei in Not und knne nicht
+viel zahlen. Spter, wenn mein Roman gut einschlage,
+knne er das durch eine "feine Gratifikation" ausgleichen.
+Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an
+welcher der Roman wieder an mich zurckzufallen habe,
+sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald
+sie erreicht worden sei, er aufzuhren und mir meine Rechte
+wiederzugeben habe. Er berechnete, da er mit sechs- bis
+siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme;
+was darber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug
+ich vor, im Falle, da ich den Roman schreiben werde,
+solle Mnchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten
+gehen drfen, weiter nicht; dann habe er mir eine "feine
+Gratifikation" zu zahlen, und der Roman falle mit allen
+Rechten an mich zurck. Ob ich ihn dann gegen das
+entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen
+Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache.
+Hierauf ging Mnchmeyer sofort ein, ich aber gab meine
+Zusage noch nicht definitiv; ich erklrte, mir die Sache
+erst noch reiflich berlegen und meine Entscheidung dann
+morgen geben zu wollen.
+
+ Mnchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser
+Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja,
+halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte
+nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm
+seinen Wunsch zu erfllen. Er bekam den Roman zu den
+erwnschten Bedingungen, nmlich nur bis zum
+zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafr hatte er fr die Nummer
+35 Mark zu bezahlen und beim Schlu eine "feine
+Gratifikation". Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt
+war also kein schriftlicher, sondern ein mndlicher. Er sagte,
+wir seien beide ehrliche Mnner und wrden einander
+nie betrgen. Es klinge fr ihn wie eine Beleidigung,
+von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus
+zwei guten Grnden hierauf ein. Nmlich erstens durften
+nach damaligem schsischem Gesetz bei Mangel eines
+Kontrakts berhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden;
+Mnchmeyer htte sich also, wenn er unehrlich sein wollte,
+nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte
+ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und
+unauffllig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine
+Geschftsbriefe an Mnchmeyer sehr einfach nur so
+einzurichten, da seine Antworten nach und nach Alles
+enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das
+habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig
+aufgehoben.
+
+ Er wnschte sehr, da ich mit dem Roman sofort
+beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst
+nach Hohenstein zurck, um unverweilt anzufangen. Meine
+Frau trieb fast noch mehr als Mnchmeyer selbst. Er
+hatte eine persnliche Vorliebe fr den nichtssagenden
+Titel "Das Waldrschen". Ich ging auch hierauf ein,
+htete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen
+zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen gnstige
+Nachrichten. Der Roman "ging". Dieses "ging" ist ein
+Fachausdruck, welcher einen nicht gewhnlichen Erfolg
+bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu
+lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine
+Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich
+verzettelt htten. Ich sollte meine Freiexemplare nach
+Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit
+war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine
+Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu
+vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war
+ja bestimmt worden, da mir kein Wort gendert werden
+drfe, und ich besa damals die Vertrauensseligkeit, dies
+fr gengend zu halten.
+
+ Der Erfolg des "Waldrschens" schien nicht nur ein
+guter, sondern ein ungewhnlicher zu werden. Mnchmeyer
+zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er
+schrieb wiederholt, da er sich schon jetzt, nach so kurzer
+Zeit fr gerettet halte, denn er hoffe doch, da der Roman
+so zugkrftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte
+den Gedanken an, da wir nicht in Hohenstein bleiben,
+sondern nach Dresden ziehen mchten, da er mich in seiner
+Nhe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken
+mit Begeisterung auf und sorgte dafr, da er so schnell
+wie mglich ausgefhrt wurde. Ich strubte mich keineswegs.
+Hatte ich doch whrend der Hohensteiner Zeit mehr
+und mehr an jene Warnung denken mssen, welche in dem
+Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte,
+dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle,
+an der ich geboren worden war, sehaft niedergelassen,
+sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich
+war fr einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser
+Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber
+gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und
+wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen,
+einzusehen, da ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter
+ber trbe Gewsser hinberlangt, als wenn er eine
+zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen
+kann noch schwimmen will. Darum war mir diese
+Ortsvernderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht
+nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir
+Ellbogenfreiheit zu sichern. Mnchmeyer stellte sich auch da
+sofort ein, und zwar wchentlich mehrere Male. Es entwickelte
+sich ein anfangs ganz frderlicher Verkehr zwischen
+ihm und uns. Ich arbeitete so, da ich mir fast keine
+Ruhe gnnte. Der Roman schritt sehr schnell vorwrts,
+und sein Erfolg wuchs derart, da Mnchmeyer mich bat,
+noch einen zweiten und womglich noch einige weitere
+zu schreiben. Ich ahnte nicht, da meine Entscheidung
+ber diesen seinen Wunsch eine fr mich hochwichtige sei
+und da sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu
+einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher
+Qual werden knne. Ich betrachtete nur die angeblichen
+Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.
+
+ Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus
+meinen literarischen Plnen heraus. Mnchmeyer hatte
+diese Plne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut.
+Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht
+ausfhren knnen, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab.
+Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein
+freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte,
+das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich
+brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei
+Pustet, auf viele Jahrgnge auseinander zu dehnen, sondern
+ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das,
+was jetzt als Heftroman erschien, spter in Buchform
+herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das
+bestndige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwnde,
+die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen
+brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige
+Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen
+wie das "Waldrschen". Diese Arbeiten hatten
+mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten
+mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir
+eine "feine Gratifikation" zu zahlen. Es gab nur eine
+einzige Aenderung, nmlich die, da ich fr diese Romane
+ein Honorar von fnfzig Mark pro Heft bezog, anstatt
+nur fnfunddreiig bei dem "Waldrschen".
+
+ Infolge dieser Abmachungen begann fr mich von
+jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung,
+zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschmung denken
+kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit
+blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter
+nichts. Es war ein fast fieberhafter Flei, mit dem ich
+damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere
+Schriftsteller, mhsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja
+reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich
+nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich
+suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich
+hatte nur auszufhren; ich brauchte nur zu schreiben.
+Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder
+rechts noch links schauen lie, und grad das, das war
+es, was ich wollte. Ich hatte einsehen mssen, da es
+fr mich kein anderes Glck im Leben gab, als nur das,
+welches aus der Arbeit fliet. Darum arbeitete ich, so
+viel und so gern, so gern! Dieser ruhelose Flei ermglichte
+es mir, zu vergessen, da ich mich in meinem Lebensglck
+geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es
+vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere
+Verlassensein drngte mich, um die trostlose Oede auszufllen,
+zu rastlosem Fleie und machte mich leider gleichgltig
+gegen die Notwendigkeit, geschftlich vorsichtig zu
+sein. Es kam bei Mnchmeyer so viel vor, was mich
+veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, da mehr als
+genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integritt alles
+dessen, was ich fr ihn schrieb, so sicher wie mglich zu
+stellen. Da ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den
+ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht
+verzeihen kann.
+
+ Mnchmeyer war Hausfreund bei uns geworden.
+Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garonlogis gemietet,
+um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns
+verbringen zu knnen. Er kam auch an Abenden der
+andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr
+oft auch andere Personen mit. Er wnschte zwar, da
+ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stren lassen
+mge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner
+Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr
+mglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus
+Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue
+Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Straen,
+und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schlo- und
+Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestrenden Lrm und
+berhaupt keine Ueberflssigkeiten in seinem Hause. Grad
+das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und
+uere Stille und die Sammlung, die ich brauchte.
+Mnchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafr
+aber stellten, ich wute nicht, warum, sich Einladungen
+von Frau Mnchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen
+durch Wald und Heide zu begleiten. Diese
+Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe
+Lufteinatmung verordnet hatte. Ich mute mich wohl
+oder bel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch
+meiner Frau war, deren Grnde ich leider nicht zu wrdigen
+verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer
+jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich
+mute kndigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung
+des amerikanischen Viertels, die ber einer Kneipe
+lag, so da ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank.
+Der Arzt riet ihr sehr frhe Spaziergnge nach dem groen
+Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen
+rztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab
+fr mich keinen Grund, diese Spaziergnge zu verhindern,
+die morgens vier bis fnf Uhr begannen und ungefhr
+drei Stunden whrten. Ich wute nicht, da Frau
+Mnchmeyer auch nicht gesund war und da auch sie
+von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frhe
+Morgenspaziergnge nach dem Groen Garten zu machen. Erst
+nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was whrend
+dieser Spaziergnge geschehen war. Meine Frau war
+mir nicht nur seelisch, sondern auch geschftlich verloren
+gegangen. Die beiden Damen saen tagtglich frh morgens
+in einer Konditorei des groen Gartens und trieben eine
+Hausfrauen- und Geschftspolitik, deren Wirkungen ich
+erst spter versprte. Ich machte Schlu und zog von
+Dresden fort, nach Ktzschenbroda, dem uersten Punkt
+seiner Vorortsperipherie.
+
+ Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane
+fr Mnchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fnf
+geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn
+man spter vor Gericht behauptet hat, da ich fr Mnchmeyer
+nicht fleiig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich,
+mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und
+zugleich auch noch fr andere Verleger gearbeitet hat.
+Hiermit sei fr heut mit meiner "Kolportagezeit"
+abgeschlossen. -- -- --
+
+ _________
+
+
+ VII.
+ Meine Werke.
+
+ _____
+
+Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich
+diejenigen meiner Bcher, mit denen sich die Kritik
+beschftigt hat oder noch beschftigt. Diejenigen, ber
+welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen
+hat, knnen auch hier bergangen werden. Zu diesen
+gehren meine Humoresken, meine erzgebirgischen
+Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den
+Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu
+sein. Ich knnte hierzu auch noch meine "Himmelsgedanken"
+rechnen, die man nicht erwhnen zu wollen scheint, seit
+es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, da er sich mit
+ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb bekanntlich:
+"Als lyrischen Dichter aber mssen wir uns ihn verbitten,"
+obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges
+lyrisches Gedicht befindet! Auch meine sogenannten "Union-
+oder Spemannbnde" brauche ich hier nicht zu besprechen,
+weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur
+als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die
+einzigen Sachen sind, die ich fr die Jugend geschrieben
+habe. Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen
+"Reiseerzhlungen" und um die bei Mnchmeyer
+erschienenen "Schundromane", welch letztere im nchsten
+Kapitel behandelt werden.
+
+ Meine "Reiseerzhlungen" haben, wie bereits erwhnt,
+bei den Arabern von der Wste bis zum Dschebel Marah
+Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und
+der Prrie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf
+diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen
+bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.
+Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem
+Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen
+diese Erzhlungen mit dem ersten Bande in der "Wste".
+In der Wste, d. i. in dem Nichts, in der vlligen
+Unwissenheit ber Alles, was die Anima, die Seele und
+den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das
+"Ich", die Menschheitsfrage, in diese Wste tritt und die
+Augen ffnet, ist das Erste, was sich sehen lt, ein
+sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem groen
+Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berhmten
+Namen beilegt und gar noch behauptet, da er Hadschi
+sei, obgleich er schlielich zugeben mu, da er noch
+niemals in einer der heiligen Stdte des Islams war, wo
+man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man
+sieht, da ich ein echt deutsches, also einheimisches,
+psychologisches Rtsel in ein fremdes orientalisches Gewand
+kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lsen
+zu knnen. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte,
+da alle diese Reiseerzhlungen als Gleichnisse, also bildlich
+resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus
+oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein.
+Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, da sich hinter
+ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag.
+
+ Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt
+und auch seinen Vater und Grovater noch als Hadschis
+hinten anfgt, bedeutet die menschliche Anima, die sich
+fr die Seele oder gar fr den Geist ausgibt, ohne selbst
+zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen
+hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewhnlichen,
+sondern auch im gelehrten Leben alltglich, aber man
+ist derart blind fr diesen Fehler, da ich eben arabische
+Personen und arabische Zustnde herbeiziehen mu, um
+diese blinden Augen sehend zu machen. Ich schicke darum
+diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka,
+wodurch seine Lge zur Wahrheit wird, weil er nun
+wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine
+"Seele" kennen lernen -- -- -- Hannah [sic], sein Weib.
+
+ Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem
+ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und
+wie man meine Bcher lesen mu, um ihren wirklichen
+Inhalt kennen zu lernen. Ein zweites Beispiel mag
+folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen
+Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll von dem
+Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der
+Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum
+Schah, um ihn um Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat
+aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon
+die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, da
+sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun
+Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des
+Ustad erhrt, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah
+ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese
+Erzhlung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8:
+"Euer Vater wei, was Ihr bedrfet, ehe Ihr ihn
+bittet!" Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl
+May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser,
+welches von den Sillan vernichtet werden soll. Ich
+erzhle also rein deutsche Begebenheiten im persischen
+Gewande und mache sie dadurch fr Freund und Feind
+verstndlich. Ist das nicht Gleichnis? Nicht bildlich?
+Gewi! Und ist es etwa mystisch? Nicht im
+Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig
+mystisch, da mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere
+bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch
+erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will.
+Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher
+Absicht an das Lesen meiner Bcher geht, wird ohne Weiteres
+finden, da ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht.
+Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben
+ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmrchen nicht
+verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen
+und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzhlungen
+zu bilden haben. Diese Mrchen sind es auch,
+aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse
+meiner letzten Tage zu entwickeln hat.
+
+ Ist doch gleich meine erste Gestalt, nmlich Hadschi
+Halef Omar, ein Mrchen, nmlich das Mrchen von
+der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals
+wiedergefunden werden kann, auer sie findet sich selbst.
+Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die
+Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des
+Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege
+also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so
+aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt
+worden ist. Ich darf also wohl behaupten, da ich
+gewisse Vorwrfe, die mir von meinen Gegnern gemacht
+werden, keineswegs verdiene. Wrden diese Gegner es
+einmal wagen, so offen ber sich selbst zu sprechen wie
+ich ber mich, so wrde das sogenannte Karl May-Problem
+schon lngst in jenes Stadium getreten sein, in
+welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht.
+Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis.
+Es ist nichts Anderes, als jenes groe, allgemeine
+Menschheitsproblem, an dessen Lsung schon ungezhlte Millionen
+gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen.
+Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir
+herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der
+traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und
+in den Schriften Derer lebe, die sich berufen whnen,
+Probleme zu lsen, dies aber immer nur da tun, wo
+keine vorhanden sind.
+
+ Ich nenne ferner das Mrchen von "Marah Durimeh",
+der Menschheitsseele, von "Schakara", der edlen,
+gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner
+jetzigen Frau gegeben habe. Das Mrchen vom "erlsten
+Teufel", vom "eingemauerten Herrgott", vom
+"versteinerten Gebete", von den "verkalkten Seelen",
+von den "Rosensulen des Beit-Ullah", von dem "Sprung
+in die Vergangenheit", von der "Dschemma der Lebendigen
+und Toten", von der "Schlacht am Dschebel Allah",
+vom "Mahalamasee", vom "Berg der Knigsgrber",
+vom "Mir von Dschnnistan", vom "Mir von Ardistan",
+von der "Stadt der Verstorbenen", vom "Dschebel Muchallis",
+von der "Wasserscheide von El Hadd" und noch
+viele, viele andere. Wie man bei einem geistig und
+seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Bcher
+als "Jugendschriften" und mich als "Jugendschriftsteller"
+bezeichnen kann, wrde unbegreiflich sein, wenn man nicht
+wte, da Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder
+nicht begriffen oder berhaupt nicht gelesen haben. Selbst
+"Winnetou", der so leicht zu lesen zu sein scheint,
+bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt,
+eines Nachdenkens und eines Verstndnisses, welches doch
+gewi keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen
+ist! Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdrcken
+"Jugendschriften" und "Jugendschriftsteller" bleibt, so
+mu ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu
+dem sich kein anstndiger, ernster Kritiker hergeben wird.
+
+ Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gem zu,
+da meine "Reiseerzhlungen" nicht als Jugendschriften
+verfat worden sind, so ist der jetzt landlufig
+gewordenen Behauptung, da sie schdlich sind, aller Boden
+entzogen. Es lese sie doch nur der, dem sie nicht
+schdlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu! Weshalb
+und wozu die Vorwrfe alle, die man mir jetzt in hunderten
+von Zeitungen macht? Sieht man sich diese Vorwrfe
+aber genauer an, so verlieren sie allen Wert.
+Frher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist
+so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder
+in das Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht
+nur Mode, sondern Mache! Selbst wenn meine Bcher
+jetzt von keinem Menschen mehr gelesen wrden, knnte
+mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich
+wei, da man sehr bald hinter diese Mache kommen
+und sich demgem verhalten wird. Ja, htte ich meinen
+Lesern blo nur Unterhaltungsfutter geliefert, so htte
+ich von der Bildflche zu verschwinden, um nie wieder
+aufzutauchen, und wrde ganz von selbst so verstndig
+sein, mich darein zu ergeben. Aber _ich_habe_whrend_
+_meines_"Lebens_und Strebens"_allzu_viele_und_
+_allzu_groe_Fehler_begangen,_als_da_ich_so_
+_mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_fr_immer_
+_verschwinden_drfte.__Ich_habe_gutzumachen!_
+Was der Sterbliche sndigt, das hat er zu ben und zu
+shnen, und wohl ihm, wenn ihm die Gte des Himmels
+erlaubt, seine Schuld nicht mit ber den Tod hinberzunehmen,
+sondern sie schon hier zu bezahlen. Das will
+ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja,
+ich behaupte khn: das habe ich schon getan! Dem
+irdischen Gesetze habe ich schon lngst Alles gegeben, was
+es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr
+schuldig. Und was ber diese von Menschen gestellten
+Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem
+ich das, was ich noch schreiben werde, dem groen
+Glubiger widme, der ganz genau wei, ob ich ihm mehr
+als jene Andern schuldig bin, die sich besser dnken
+als May.
+
+ Ich bin berzeugt, da meine Snden, so weit sie
+mir anzurechnen sind, nur auf persnlichem, nicht aber
+auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich
+mir keiner Missetaten bewut. Was ich mit meinen
+"Reiseerzhlungen" erreicht habe, wird erst nach meinem
+Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden,
+die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen
+bekommt; verffentlicht werden sie nicht. Man pries
+diese Werke und schwrmte fr sie, bis es eines Tages
+einem gewissenlosen Menschen einfiel, ffentlich zu
+behaupten, da ich auer ihnen auch noch andere, aber
+"abgrundtief" unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst
+wenn dies wahr gewesen wre, htte das die "Reiseerzhlungen"
+weder innerlich noch uerlich im Geringsten
+verndern knnen. Dennoch wurden sie von jenem Tage
+an zunchst mit Mitrauen betrachtet, dann mehr und
+mehr verleumdet und endlich gar fr direkt schdlich
+erklrt und aus den Bibliotheken gestoen, in denen sie
+frher willkommen geheien worden waren. Warum?
+Waren sie anders geworden? Nein! Hatten sich die
+bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze
+verndert? Nein! Waren die Bedrfnisse der Leser
+andere geworden? Auch nicht! Aber aus welchem Grunde
+denn sonst? Einfach einer Schund- und Kolportageklique
+wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie
+sich selbst auszudrcken pflegte, "kaput zu machen". Aber
+ist es denn menschenmglich, da eine derartige Klique
+einen so groen, unbegreiflichen Einflu auf Literatur
+und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe
+im nchsten Kapitel hiervon zu erzhlen. Diese Rotte
+scheut sich nicht, ihre eigenen Snden und literarischen
+Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu
+gebrden! Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen
+meiner Mnchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang
+mit allen mglichen Schmhungen besudelt, dem Verlage
+aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten
+Vorwurf gemacht haben. Ich bezeichne das als eine
+Schande!
+
+ Man sagt, da unsere Schundverleger jhrlich fnfzig
+Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das
+ist frchterlich, aber noch viel zu niedrig geschtzt. Ein
+einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist,
+kann dem Volke mehr als fnf und sechs Millionen kosten,
+und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma
+Mnchmeyer achtundfnfzig -- man lese und staune --
+achtundfnfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist!
+Man rechne; man multipliziere! Welche Verluste! Welch
+eine ungeheure Summe von Gift und Unheil! Wie viel
+hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran,
+dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und nun
+schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den
+Bchern nach, wen man fr das Alles verantwortlich
+macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet,
+verspottet und verhhnt! Karl May, Karl May,
+immer wieder Karl May und nur und nur Karl May!
+Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen,
+als nur diesen einen? Was habe ich denn getan, da
+man mich berhaupt zum Schunde zhlt? Wo stecken die
+zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus,
+jahrein rastlos dafr sorgen, da in Deutschland und
+Deutschsterreich der Schund kein Ende nimmt? Vor Gericht,
+in "wissenschaftlichen" Werken, bei Kommissionssitzungen,
+in ffentlichen Vortrgen, von Schriftstellern,
+Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Knstlern,
+Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden
+Gelegenheiten, wo von "Jugendverderbnis" die Rede ist,
+da bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld,
+nur er! Er ist der Typus der Jugendvergifter! Er ist
+der Vater aller ruchlosen Kapitn Thrmers, Nick Carters
+und Buffalo Bills! Mein Gott, wissen diese Herren
+denn wirklich nicht, was sie tun? Wie sie sich
+versndigen? Wie man im Kreise derer, die es besser wissen,
+von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen
+Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist,
+da Jemand durch eines meiner Bcher verdorben worden
+ist! Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten
+Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen
+Band oder einige Bnde von Karl May. Den kennt
+man, die Andern aber nicht; darum mu er es sein,
+dessen Namen man nennt und den man als Tter bezeichnet!
+Allwchentlich werden mir von Zeitungsbureaus
+fnfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt,
+auf denen ich an Stelle der smtlichen deutschen
+Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das
+ist unmenschlich! Ich werde mit Schande berhuft und
+vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum
+nennt man ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie
+nicht fest? Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten,
+die wegen Verbreitung von unzchtigen Schriften
+bestraft worden sind. Und noch grer ist die Zahl
+derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben,
+nur um Geld zu machen. Warum nennt man sie nicht?
+Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem
+man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke
+duldet? Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern
+nur auf mich, den Sndenbock fr den ganzen literarischen
+Mob? Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache!
+Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so
+viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen
+vermag! Ich habe das im nchsten Kapitel des Nheren
+zu beleuchten.
+
+ Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt,
+sind bisher immer nur Behauptungen gewesen. Zu
+keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht.
+Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezhlte meiner
+Leser brieflich oder mndlich gefragt, ob es ihnen mglich
+ist, mir eine der Reiseerzhlungen oder eine Stelle
+aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, da
+sie schdlich wirke. Es hat mir Niemand auch nur eine
+einzige derartige Zeile nennen knnen. Ist doch sogar
+meine unerbittlichste Gegnerin, die "Klnische Volkszeitung",
+gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen:
+"Alles fr die Jugend Anstige _ist_sorgfltig_
+_vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_blo_fr_
+_diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben
+aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung
+im reichsten Mae geschpft!" Schon aus diesem
+Atteste geht die jetzige "Mache" hervor, denn meine
+Bcher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben,
+und derselbe Herr, der dieses ffentliche Zeugnis aus
+stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat
+sich seitdem nicht wieder aufrichten knnen.
+
+ Zur Zurckweisung der Vorwrfe, die man gegen
+mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Verffentlichung
+des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion
+zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig
+verehrte Herr aber wohl verzeihen wird. Doktor
+Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres
+aus Krieglach:
+
+ "Sehr geehrter Herr!
+
+ Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der
+ Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder
+ das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet,
+ werde ich mit grter Freude davon Notiz nehmen.
+
+ Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als
+ solcher mchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine
+ Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie
+ sich am besten rechtfertigen knnten.
+
+ Ich wrde an Ihrer Statt in der Polemik alles
+ ausschalten, was sich nicht sachlich auf die
+ Anschuldigungen bezieht. Das, was Sie aus Ihrer
+ Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch
+ abgetan und wrde Ihnen kaum ein rechtlich denkender
+ Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht
+ tut. Da Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persnlich
+ erlebt haben, da es nur Erzhlungen in "Ichform"
+ sind, kann Ihnen auch kein Literat verbeln.
+ So bleibt nur brig, endlich die sachlichen Beweise zu
+ erbringen, da die berhrten obsznen Stellen nicht
+ Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was
+ die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so mssen
+ doch Sachverstndige entscheiden knnen, inwiefern es
+ Plagiate wren oder inwiefern blo umgearbeitete Stoffe
+ und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben
+ mit den neuen Auflagen verglichen, mte doch
+ klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und
+ der Stil der neu eingefgten Stze sich organisch an
+ Ihre Art und an das Buch anschlieen oder nicht.
+ Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun
+ Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen
+ drngen, da die Dinge endlich vor Gericht zur
+ Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer Freunde,
+ die nur so im Allgemeinen herumreden ber die Vorzge
+ Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, knnen fr
+ die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere
+ Wirkung erzielen.
+
+ Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer
+ gerichtlichen Genugtuung zu kommen. Gelingt das
+ nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und
+ gelingt es, so mu doch auch die Presse Ihrer jetzigen
+ Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und
+ in das Volk tragen.
+
+ Krankheit hat diesen Brief versptet. Verzeihen
+ Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen
+ entspringt, und seien Sie gegrt
+
+ von Ihrem ergebenen
+
+ P e t e r R o s e g g e r."
+
+ Krieglach, 2. 7. 1910.
+
+ Da Peter Rosegger, der hochstehende, feinfhlende
+und human denkende geistige Aristokrat, das, was er
+ber meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan
+betrachtet, versteht sich ganz von selbst. In derartigen
+Bodenstzen und Rckstnden knnen nur niedrige
+Menschen waten. Hierdurch habe ja auch ich selbst schon
+lngst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden,
+der sich mit mir beschftigt, nach dem Mae zu beurteilen,
+welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird.
+Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist
+im Himmel und auf Erden Recht.
+
+ Was die "Obsznitten" und den Nachweis betrifft,
+da sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand
+im nchsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine
+mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt.
+Nmlich nicht ich habe zu beweisen, da diese unsittlichen
+Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu
+beweisen, da ich ihr Verfasser bin. Das ist so
+selbstverstndlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen Richter
+einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der
+spanischen Jungfrau zurckzuschleppen, in welcher der
+Anklger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der
+Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, da er
+unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten
+Fllen unmglich sein. Man hat mich aus prozessualen
+Grnden flschlicher Weise beschuldigt, fr Mnchmeyer
+das "Buch der Liebe" geschrieben zu haben. Wie kann
+ich beweisen, da dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, es
+wre dem Mnchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige
+Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten,
+da Peter Rosegger den berchtigten "Venustempel"
+geschrieben habe. Wrde Rosegger den Beweis antreten,
+da dies eine Lge sei? Oder wrde er sagen, da man
+die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe?
+Ich bin berzeugt, das Letztere. Und so thue [sic] auch ich.
+Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte.
+Einen andern Beweis kann es nicht geben.
+
+ Was nun die von Peter Rosegger erwhnten Plagiate
+betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis:
+Der Benediktinermnch Pater Pllmann hat eine Reihe
+von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben
+und ihnen die Drohung vorangeschickt, da er mir mit
+ihnen einen Strick drehen werde, um mich "aus dem
+Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Er hat
+sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner
+Behauptungen, mit denen er mich hierauf berschttete, war
+nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart,
+lieblos und tierqulerisch, darum die Leser emprend und
+ohne Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer
+Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich
+des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Mhe gab,
+die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. Er sprach
+da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter
+nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit
+erreichen. Die "Grazer Tagespost" schreibt hierber:
+
+ "Pater Pllmann, ein bekannter Herr, der sich unlngst
+in echt christlicher Demut selbst das schmckende
+Beiwort eines "anerkannten Kritikers" beilegte, hat die
+moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht
+gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald
+vergessen, denn er nahm krzlich den Mund wieder
+voll usw. usw."
+
+ Ich hatte nmlich in einigen meiner allerersten,
+ltesten Reiseerzhlungen, bei deren Abfassung ich noch
+nicht die ntige Erfahrung besa, die Ereignisse, die ich
+schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen
+lassen, den ich bekannten, Jedermann zugnglichen Werken
+entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht
+sehr hufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann
+niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat,
+liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile
+eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der
+Art verwendet, da sie dann wesentliche Bestandteile des
+Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen
+Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan
+und werde es auch nie tun. Geographische Werke knnen,
+besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind,
+ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um
+das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen
+handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des
+Abschreibens eine selbstndige geistige Arbeit bleibt. In
+der Einleitung zum Voigtlnderschen "Urheber- und
+Verlagsrecht" heit es:
+
+ "Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus
+sich selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was
+Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben
+haben. Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene
+Schpfung. Selbst die am meisten schpferische Ttigkeit,
+die des Dichters, steht dann am hchsten, erreicht
+dann ihre grten Erfolge, wenn sie die Weihe der
+knstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich
+sein Volk denkt und fhlt. Und nicht einmal die Form
+ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird
+von der gebildeten Sprache geliefert, "die fr dich dichtet
+und denkt", und die Manchem, der sich Dichter zu sein
+dnkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder
+deren Schein leiht. Kurz, der Schriftsteller und Knstler
+steht mit seinem Wissen und Knnen inmitten und auf
+der Kulturarbeit von Jahrtausenden. Goethe, auf einer
+einsamen Insel aufgewachsen, wre nicht Goethe
+geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet,
+da er die Kulturarbeit der Menschheit um einen
+Schritt hat weiter bringen knnen, weil er an das von
+den Vorfahren Geleistete anknpfen durfte, dann ist es
+nicht mehr als billig, _da_sein_Werk_zur_gegebenen_
+_Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_
+_diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_
+_Form."_
+
+ So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm
+ist nicht zu widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal
+begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollstndig
+gerechtfertigt. Ein anderer schreibt: "Alles ist mehr oder
+weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder
+Phantasieproduktion. Der Intellektadel, die obern Trger
+der Bildung und Kultur schpfen ja doch alle mehr oder
+minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen
+Anderer, Frherer, Grerer gespeist worden ist."
+
+ In Nr. 268 der "Feder", der Halbmonatsschrift fr
+Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: "Aus
+den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic]
+Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem
+gewissen Grade mu deshalb auch Jeder ein Plagiator
+sein. Wenn das eigentliche Gedankengebude neu ist,
+dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von
+schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach Emmerson ist
+_der_grte_Genius_zugleich_auch_der_grte_
+_Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_
+_darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn
+man einen groen Zweck damit erreichen will; aber man
+darf es sich nicht merken lassen; man mu mit dem
+Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen."
+
+ Es ist bekannt, da Maeterlinck in einem seiner
+Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben
+hat. Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn
+aus und lie das Stck ruhig unter seinem Namen
+erscheinen. Ebenso bekannt ist, da das populre Lied
+aus dem Freischtz: "Wir winden dir den Jungfernkranz"
+nicht von Weber, sondern von einem fast ganz
+unbekannten Gothaer Musikdirektor ist. Weber hrte es
+und nahm es in seinen Freischtz auf, ohne sich etwas
+aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb
+bezeichnet zu werden. Shakespeare war bekanntlich der
+grte literarische Entwender, den wir kennen. Wenn
+es nach Pater Pllmannschen Grundstzen ginge, wrden
+sogar verschiedene Verfasser biblischer Bcher als
+literarische Diebe bezeichnet werden mssen. So knnte ich
+noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterfhren,
+will mich aber damit begngen, nur noch unsern
+Allergrten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten
+Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzufhren.
+Dumas entlehnte auerordentlich viel. Er konnte ohne
+fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit
+ber das Ma des literarisch Erlaubten hinaus. So ist
+es bekannt, da er die Erzhlung von Edgar Poe "Der
+Goldkfer" zu den spannendsten Stellen in seinem "Grafen
+Monte Christo" ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft,
+so zitiere ich einen kurzen Artikel, der krzlich
+unter der Ueberschrift "Goethe ber das Plagiat" durch
+die Zeitungen ging:
+
+ "Fr einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage
+sehr leicht. Es darf ein Autor blo versumen,
+absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der
+er diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben
+Freund hat Jedermann, der den glcklich entdeckten
+Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt. Richard
+von Kralik ist unlngst des Plagiates beschuldigt worden,
+weil er -- ohne seine Schuld -- mangelhaft zitiert
+worden ist. Solchen Plagiatschnfflern mchten wir die
+Ansicht Goethes ber das Plagiat in das Gedchtnis
+rufen. Der Gegenstand des Gesprches zwischen ihm und
+Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons
+angebliche Plagiate. Siehe "Eckermanns Gesprche mit
+Goethe", 3. Auflage Band I S. 133. Da sagte Goethe:
+"Byron wei sich auch gegen dergleichen, ihn selbst
+betreffende unverstndige Angriffe seiner eigenen Nation
+nicht zu helfen; er htte sich strker dagegen ausdrcken
+sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ htte er sagen
+sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_
+_Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_
+_kam_blo_darauf_an,_da_ich_es_richtig_gebrauchte!_
+Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem
+"Egmont", und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_
+_mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So
+hat er auch den Charakter meiner "Mignon" in einem
+seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel
+Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons "verwandelter
+Teufel" ist ein fortgesetzter Mephistopheles,
+und das ist recht. Htte er aus origineller Grille
+ausweichen wollen, so htte er es schlechter machen mssen.
+So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare,
+und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir
+die Mhe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
+Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es
+sollte? Hat daher auch die Exposition meines "Faust"
+mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das
+wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als
+zu tadeln."
+
+ Soweit diese kurze Auswahl von Gewhrsnamen.
+Was haben unsere Berhmtesten getan, ohne da man
+sie beschimpfte? Und was habe ich getan, da man mich
+als den niedrigsten aller Betrger und Diebe behandelt?
+Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner
+kleinen, asiatischen Erzhlungen mit ganz nebenschlichen
+geographischen und ethnographischen Arabesken verziert,
+welche ich in Bchern fand, die lngst der Allgemeinheit
+angehren. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes
+Recht. Was aber sagt Pater Pllmann dazu? Er beschimpft
+mich ffentlich als einen _"Freibeuter_auf_
+_schriftstellerischem_Gebiete,_fr_ewige_Zeiten_das_
+_Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson,
+der Berhmtesten und Edelsten einer in Amerika,
+sagt: "Der grte Genius ist zugleich auch der grte
+Entlehner". Und Goethe sagt: "Was da ist, das ist
+mein. Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche
+nehme, das ist gleich!" Wie htte da wohl das
+entsprechende Urteil Pater Pllmanns ber diese beiden
+Heroen zu lauten? Sie htten fr ihn "fr ewige Zeiten
+die schlimmsten aller literarischen Bestien" zu sein, stinkend
+vor Raubgier und Verworfenheit! Eine Kritik, die so
+unwissend, so unerfahren, so selbstberhebend und so
+wenig mahaltend ist wie diese hier, die bildet eine
+Gefahr nicht nur fr die Literatur, sondern fr das ganze
+Volk.
+
+ Ich habe in diesen meinen "Reiseerzhlungen" genau
+so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte,
+fr die Menschenseele zu schreiben, fr die Seele, nur
+fr sie allein. Und nur sie allein, fr die es geschrieben
+ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen
+und begreifen. Fr seelenlose Leser rhre ich keine Feder.
+Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten fr
+Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals
+sein und niemals werden. Haben wir es erst so weit
+gebracht, da wir nur noch Musterautoren, Musterleser
+und Musterbcher haben, dann ist das Ende da! Ich
+bin so khn, zu behaupten, da wir uns nicht die
+vorhandenen Musterbcher, sondern den vorhandenen Schund
+zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen,
+was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben.
+Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht
+liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller,
+die es verstehen, Hunderttausende und Millionen
+Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel
+sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt
+fr die groe Seele! Schreibt nicht fr die kleinen
+Geisterlein, fr die Ihr Eure Kraft verzettelt und
+verkrmelt, ohne da sie es Euch danken. Denn gebt Ihr
+Euch noch so viel Mhe, ihren Beifall zu erringen, so
+behaupten sie doch, es besser zu knnen als Ihr, obgleich
+sie gar nichts knnen! Und schreibt nichts Kleines,
+wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure Augen
+empor zu den groen Zusammenhngen. Dort gibt es
+zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen
+wohnt das wahrhaft Groe. Und wenn Ihr dabei auch
+Fehler macht, so viele Fehler und so groe Fehler wie
+Karl May, das schadet nichts. Es ist besser, auf dem
+Wege zur Hhe zuweilen zu stolpern und diese Hhe aber
+doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu
+stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder gar erhobenen
+Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator
+immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst
+anzukommen, ohne ber irgendeine Hhe gestiegen zu
+sein. Denn Berge mssen wir haben, Ideale,
+hochgelegene Haltepunkte und Ziele.
+
+ Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und
+laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen;
+aber ich befrchte nicht, da es so ist. Was ich will und
+was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche
+es nicht zu wiederholen. Und ich habe schon so viele
+steile Hhen zu berwinden gehabt, da ich mich unmglich
+fr einen jener armen Teufel halten kann, die immer
+auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt
+Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt
+Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt
+Dritte, die behaupten, da ich allerdings einen Stil habe,
+aber es sei ein auerordentlich schlechter. Die Wahrheit
+ist, da ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte.
+Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und
+ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen hre.
+Ich verndere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also
+meine Seele, und nicht mein "Stil", sondern meine Seele
+soll zu den Lesern reden. Auch befleiige ich mich keiner
+sogenannten knstlerischen Form. Mein schriftstellerisches
+Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genht
+und dann gar gebgelt. Es ist Naturtuch. Ich
+werfe es ber und drapiere es nach Bedarf oder nach
+der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das,
+was ich schreibe, direkt, nicht aber durch hbsche
+Aeuerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will nicht
+fesseln, nicht den Leser von auen festhalten, sondern ich
+will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in
+sein Herz, in sein Gemt. Da bleibe ich, denn da kann
+und darf ich bleiben, weil ich weder strende Formen
+noch strendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie
+mich die Seele wnscht. Da dies das Richtige ist, das
+haben mir jahrzehntelange, schne Erfahrungen besttigt.
+Diese aufrichtige Natrlichkeit mu, kann und darf ich
+mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur
+allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine
+Leser nicht andere oder gar hhere knstlerische Ansprche
+stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen
+Arbeiten auch uerlich eine sthetisch hhere Form zu
+geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt skizziere ich
+noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind.
+
+ Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten
+abgerechnet, in meinen Werken keine einzige
+Gestalt, die ich knstlerisch durchgefhrt und vollendet
+hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht,
+ber die ich doch am meisten geschrieben habe. Ich bin
+ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender.
+Es ist in mir noch Alles in Vorwrtsbewegung, und
+alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen
+sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht
+habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken
+sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer
+Dichter und Knstler, vor allen Dingen keiner unserer
+groen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er
+innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser
+Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen
+sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir
+darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich
+gestatten. Was bei Andern selbstverstndlich ist, das ist
+bei mir entweder schlecht oder lcherlich, und was bei
+Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung
+gilt, das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein
+einziges Mal etwas knstlerisches schreiben wollen, mein
+"Babel und Bibel". Was war die Folge? Es ist als
+"elendes Machwerk" bezeichnet und derart mit Spott und
+Hohn berschttet worden, als ob es von einem Harlekin
+oder Affen verfat worden sei. Da weicht man zurck
+und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewi.
+Man kann wohl literarische Hanswrste beseitigen, nicht
+aber Geistesbewegungen unterdrcken, die unbesiegbar
+sind. Es fllt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen,
+denen doch keine Folge gegeben wrde. Unterlassen aber
+darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier
+berhrten Punktes ein Beispiel anzufhren, ein einziges,
+welches so deutlich spricht, da ich ohne Weiteres auf
+alle andern Belege verzichten kann. Nmlich ein Verein,
+dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und
+Verbreitung von Bchern besteht, hat bisher jhrlich
+mehrere tausend Bnde von mir vertrieben. Pltzlich
+stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die
+Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen
+kursierende Auskunft: "Hierseits wird zwar von dem
+weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand
+genommen, und werden die Bcher nicht mehr durch unsere
+Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht
+sagen, da der Inhalt der Mayschen Reiseerzhlungen
+zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorstnden
+unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Bcher aus den
+Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige ablehnende
+Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der
+_Persnlichkeit_ des Verfassers. _Sie_knnen_also_ohne_
+_Bedenken_die_Bnde_weiter_ausleihen."_ Das gengt
+gewi! Meinen Bchern ist nichts anzuhaben; meine
+Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum?
+Infolge jener "Mache", von der ich schon weiter oben
+sprach. Denn man glaube ja nicht, da die "Karl
+May-Hetze", oder, ein wenig anstndiger ausgedrckt, das
+"Karl May-Problem" eine literarische Angelegenheit sei.
+Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder
+gar um ethische Grnde, sondern, die Sache beim richtigen
+Namen genannt, um eine rein persnliche Abschlachtung
+aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen
+Grnden. Was man da von sittlichen und journalistischen
+Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um
+die Wahrheit zu verstecken. Wollte man hierber einen
+Roman schreiben, so knnte dieser der sensationellste aller
+Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen wrden
+folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann
+Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Mnchmeyer
+in Dresden, der Franziskanermnch Dr. Expeditus
+Schmidt in Mnchen, der aus der christlichen Kirche
+ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in
+Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Pllmann in
+Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Mnchmeyer,
+Dr. Gerlach in Niederlnitz bei Dresden. Dieser
+Roman wrde fr die Beleuchtung der gegenwrtigen
+Gesetzgebung ein hchst wichtiger sein und auch ber andere
+Verhltnisse, gesellschaftliche, geschftliche, psychologische,
+berraschende Streiflichter werfen. Es wrde da
+viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts
+weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn
+auch hier zu erwhnen und zu zeigen habe, mich bemhen,
+so schnell wie mglich ber ihn hinwegzukommen.
+
+ _________
+
+
+ VIII.
+ Meine Prozesse.
+
+ _____
+
+Jrgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt
+in seiner Parabel "Der Schatten" zum Dichter: "Sie
+wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und
+schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines
+und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele
+Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem
+weien Papier umbilden, erschaffen, verndern. Sie
+wissen nicht, wie manches Menschenglck Sie tten, wie
+manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer
+stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den
+Blumenglsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie,
+_da_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_
+_schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend
+dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung.
+Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich,
+wenn Ihr es wollt. Die jungen Mnner glauben
+je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die
+jungen Mdchen sind zchtig oder leichtfertig, wie es die
+Weiber sind, die Ihr verherrlicht."
+
+ Jrgensen hat hier vollstndig Recht. Seine Ansicht
+ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit ber
+die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat
+einen weit grern, entweder schaffenden oder zerstrenden,
+reinigenden oder beschmutzenden Einflu, als die meisten
+Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere
+Psychologie behauptet, nmlich "Nicht Einzelwesen, Drama
+ist der Mensch", so darf man die Ttigkeit des Schriftstellers
+unter Umstnden sogar eine schpferische, anstatt
+nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewut
+bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung
+bewut, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald
+wir zur Feder greifen. So oft ich dieses Letztere
+tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender
+nur Gutes, niemals aber Bses zu schaffen. Man kann
+sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr,
+da ich im Verlage von H. G. Mnchmeyer "abgrundtief
+unsittliche" Bcher geschrieben haben solle. Der
+Ausdruck "abgrundtief unsittlich" ist von Cardauns, dessen
+Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den
+bertriebensten Verschrfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann
+Alles nicht nur erwiesen, sondern "zur Evidenz erwiesen",
+nicht ausgesonnen, sondern "raffiniert ausgesonnen",
+nicht entstellt, sondern "bis zur Unkenntlichkeit entstellt".
+Darum gengte bei diesen Mnchmeyerschen Romanen,
+weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort
+"unsittlich" nicht, sondern es war ganz selbstverstndlich,
+da sie gleich "abgrundtief unsittlich" sein muten.
+
+ Die erste Spur von diesen meinen "Unsittlichkeiten"
+tauchte drben in den Vereinigten Staaten auf.
+Kommerzienrat Pustet, welcher da drben Filialen besitzt,
+schrieb mir von diesem Gercht und wnschte, da ich
+mich darber uere. Das tat ich. Ich antwortete ihm,
+da ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache
+untersuchen lassen werde, wenn es sein msse sogar
+gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen.
+Damit war fr ihn die Sache abgemacht. Er war ein
+Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es
+niemals eingefallen wre, durch Hintertren zu verkehren.
+Wir hatten einander gern. Auf ihn fllt ganz gewi
+auch nicht die geringste Spur von Schuld an der
+unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen
+Hetze gegen mich. Weil das Gercht aus Amerika kam,
+hatte ich zunchst drben zu recherchieren. Das erforderte
+lange Zeit, und es war mir unmglich, etwas
+Bestimmtes zu erfahren. Ich wute nur, da sich das
+Gercht auf meine Mnchmeyerschen Romane bezog,
+doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die
+Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit
+lag. Und auf ein bloes, vages Gercht hin alle
+fnf Romane, also ungefhr achthundert Druckbogen nach
+Dingen, die ich gar nicht kannte, mhsam durchzuforschen,
+dazu hatte ich keine berflssige Zeit, und das war mir
+auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besa, mich
+anzuklagen, der mute die unsittlichen Stellen genau
+kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf
+wartete ich. Es meldete sich aber Keiner, der es tat.
+Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die
+angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich. Leider
+war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm meine
+Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste
+Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte.
+Dieser hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend
+gekrzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe
+Korrekturen und Krzungen nie geduldet. Der Leser soll
+mich so kennen lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern
+und Schwchen, nicht aber wie der Redakteur mich
+zustutzt. Darum teilte ich Pustet mit, da er von mir
+kein Manuskript mehr zu erwarten habe. Er versuchte,
+mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam er,
+der alte Herr, persnlich nach Radebeul. Das war
+rhrend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann
+seinen Neffen, ganz selbstverstndlich mit demselben
+negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die
+sich an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der
+Richtige, Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, da
+es nie wieder geschehen solle, und daraufhin nahm ich
+meine Absage zurck. Man hat mir das von gewisser
+Seite bis heut noch nicht vergessen. Man drckt das
+folgendermaen aus: "Heinrich Keiter hat Kotau vor
+Karl May machen mssen." Ich besitze hierber
+Zuschriften aus nicht gewhnlichen Hnden. Aber er trug
+selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe Heinrich Keiter
+geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne alle
+seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, da ich
+damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging
+nicht anders. Ich mute die Buchform meiner
+"Reiseerzhlungen" nach dem Texte des "Hausschatzes" drucken
+lassen und durfte darum nicht zugeben, da an meinen
+Manuskripten herumgendert wurde.
+
+ Spter schrieb ich fr Pustet meinen vierbndigen
+Roman "Im Reiche des silbernen Lwen". Ich war
+grad bis zum Schlu des zweiten Bandes gelangt, da
+bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel
+des "Hausschatzes" geschickt, dessen Inhalt mich
+veranlate, meine damalige Absage zu wiederholen. Ich
+telegraphierte Pustet, da ich mitten in der Arbeit
+aufhren msse und kein Wort weiter fr ihn schreiben
+werde. Er mute mir sogar das in seinen Hnden befindliche,
+noch ungedruckte Manuskript wieder senden, wofr
+ich ihm das darauf entfallende Honorar wiederschickte.
+Ich wrde hierber kein Wort verlieren, wenn
+mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings von sehr unmageblicher
+Seite, mit Enthllungen aus jener Zeit gedroht
+worden wre. Ich habe darum die Gelegenheit wahrgenommen,
+hier die Wahrheit festzustellen. Und ich stelle
+zugleich noch weiter fest, da ich mit Herrn Kommerzienrat
+Pustet niemals persnlich gebrochen habe und eine
+aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er
+nach einer Reihe von ungefhr zehn Jahren seinen jetzigen
+Hausschatzredakteur, Herrn Kniglichen Wirklichen Rat
+Dr. Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in Mnchen
+sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter des
+"Hausschatzes" zu werden. Ich habe ihm daraufhin den
+"Mir von Dschinnistan" geschrieben.
+
+ Damit bin ich den mir gemachten Vorwrfen der
+Cardaunsschen "abgrundtiefen Unsittlichkeit" vorausgeeilt
+und kehre nun zu ihnen zurck, um dieser Angelegenheit
+auf Grund und Wurzel zu gehen. Der Grund heit
+Mnchmeyer, und die Wurzel heit ebenso. Die hierher
+gehrigen Tatsachen bilden eine ber dreiig Jahre lange
+Kette, deren Ringe logisch, geschftlich und juristisch
+innig ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist
+erwiesen. Einiges liegt noch in den Akten, um an das
+Tageslicht gezogen zu werden. Ich bin nicht gewillt,
+den laufenden Prozessen vorzugreifen, und werde also
+nur diejenigen Punkte besprechen, ber die volle Klarheit
+herrscht.
+
+ Ich habe bereits gesagt, da Mnchmeyer meine
+Vorstrafen kannte. Er wute sogar Alles, was man
+hinzugelogen hatte. Er wnschte sehr, da ich einen
+Roman hierber schreiben mchte; ich lehnte das aber
+entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und
+Bekannten meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern
+ganz unbefangen davon erzhlt und meine Ansichten
+ber Verbrecher und Verbrechen, Schuld, Strafe und
+Strafvollzug ausfhrlich dargelegt. Kein einziges Glied
+der Mnchmeyerschen Familie darf behaupten, nicht
+davon gewut zu haben. Auch die Arbeiter der Firma
+erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, ebenso die
+mitarbeitenden Schriftsteller. "May ist bestraft; er hat
+gesessen," das drang bald leiser, bald lauter, aber berall
+durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von pltzlichen
+"Enthllungen" oder gar von meiner "Entlarvung" zu
+sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt, der lgt.
+
+ Wichtig ist, da Mnchmeyer eine ganz ausgesprochene
+geschftliche Vorliebe grad fr bestrafte Mitarbeiter
+hatte. Geht man die Schriftsteller und Schriftstellerinnen
+durch, die fr ihn geschrieben haben, so bilden die
+Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von ihnen.
+Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm
+eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von
+dem er alles tun lie, was Niemand wissen durfte, war
+vorbestraft. Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion
+brachte er mir einen Wiener Postbeamten, der sich
+an der Kasse vergriffen hatte, als Mitarbeiter. Als sich
+hnliche Flle wiederholten und ich ihn nach seinen
+Grnden fragte, antwortete er: "Mit einem Schriftsteller,
+der bestraft worden ist, kann man machen, was
+man will, denn er frchtet, da seine Vorstrafen verraten
+werden." "Also auch ich?!" rief ich aus, erstaunt
+ber diese Aufrichtigkeit. "Unsinn!" entgegnete er. "Mit
+Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde!
+Und Sie sind doch kein gewhnlicher Mensch, der mit
+sich machen lt, was man will! Selbst wenn ich Sie
+nicht aufrichtig lieb htte, bei Ihnen zge man den
+Krzern!" Er gab sich Mhe, das in mir erwachte
+Mitrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz
+verschwinden und trug auch mit dazu bei, da ich kndigte
+und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion aufgab.
+Auch spter, als ich nach sechs Jahren das "Waldrschen"
+fr ihn zu schreiben begann, tauchte dieses Bedenken
+gegen ihn wieder in mir auf. Aber die Ausnahmestellung,
+die er mir persnlich und geschftlich bei sich
+einrumte, das Ausnahmehonorar, welches er mir zahlte,
+und vor allen Dingen die Einwrfe, die mir meine Frau
+bei jeder Gelegenheit gegen mein Mitrauen machte, das
+alles wirkte dahin, da ich schlielich zu meinem frheren
+Vertrauen zurckkehrte.
+
+ Da ich von meinen Mnchmeyerschen Romanen
+keine Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte
+nicht mehr zurckbekam, habe ich bereits erwhnt.
+Ich konnte also nicht kontrollieren, ob der Druck mit
+meinem Originalmanuskript bereinstimmte. Doch war
+mir hier so bestimmt Ehrlichkeit versprochen worden, da
+ich einen Betrug fr ausgeschlossen hielt. Auch da
+Mnchmeyer spter einmal behaupten knne, meine Romane mit
+allen Rechten nicht blo bis zum zwanzigtausendsten
+Abonnenten, sondern fr immer erworben zu haben, erschien
+mir als unmglich, denn erstens hatte ich mir alle seine
+Briefe aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich
+miteinander ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte,
+und zweitens hatte ich auch noch einen andern vollgltigen
+Beweis in der Hand, da er diese Rechte nicht fr immer
+besa. Er hatte nmlich den schriftlichen Versuch gemacht,
+diese Rechte noch nachtrglich zu erwerben. Er hatte das
+durch einen Revers getan, den er mir durch jenes
+vorbestrafte Faktotum Walter schickte und zur Unterschrift
+vorlegen lie. Ich wies aber diesen auerordentlich
+pfiffigen Boten mit seinem Revers zurck. Dieser Walter
+war es auch, durch den ich auf meine Anfragen immer
+die schriftliche oder mndliche Versicherung bekam, da
+die Zwanzigtausend noch nicht erreicht sei. Uebrigens
+hatte ich nicht die geringste Sorge, weder um meine Rechte
+noch um meine "feinen Gratifikationen". Meine Rechte
+waren mir sicher, und Mnchmeyers standen sich jetzt in
+pekunirer Beziehung so, da sie, wie ich glaubte, mehr
+als blo zahlungsfhig waren. Da er mit schlechtgehenden
+Romanen wieder verlor, was er an gutgehenden
+verdiente, und da er sich auf Wechselreitereien eingelassen
+hatte, durch welche seine Kapitalkraft arg geschdigt wurde,
+davon wute ich nichts. Ich war also berzeugt, ruhig
+warten zu knnen und gar keine Veranlassung zu haben,
+verfrhte und darum beleidigende Forderungen zu stellen.
+Uebrigens war meine Frau so vollstndig gegen alles
+geschftliche Drngen und Treiben, da ich nun auch um
+den ueren huslichen Frieden besorgt sein mute, falls
+ich gegen Mnchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie
+wnschte. Auch behaupten die Kolportageverleger, da
+es in ihrer Buchfhrung viel schwieriger sei und viel
+lngere Zeit erfordere, als bei andern Verlegern,
+nachzuweisen, wieviel feste Abonnenten man habe. Es springen
+bestndig welche ab, und es kommen bestndig welche
+hinzu, darum hatte ich Geduld.
+
+ Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger
+F. E. Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich
+bergab ihm den Buchverlag der bei Pustet in Regensburg
+erschienenen Werke und vereinbarte mit ihm, nach diesen
+dann auch die Mnchmeyerschen herauszugeben. Er nahm
+die ersten sofort in Angriff, und sie gingen ausgezeichnet.
+Wir waren beide berzeugt, da wir mit den Mnchmeyerschen
+nicht weniger Erfolg haben wrden, stellten
+die letzteren aber bis zur Vollendung der Pustetschen
+Serie zurck. Jede der beiden Serien sollte dreiig
+Bnde umfassen. Was daran fehlte, hatte ich noch
+hinzuzuschreiben. Das ergab fr die Pustetsche Serie ungefhr
+zehn Bnde, die ich noch zu liefern hatte. Das war eine
+Arbeit, die mir keine Zeit lie, mich jetzt um meine
+Mnchmeyerschen Sachen zu bekmmern. Darum mute mich
+auch die unerwartete Nachricht, da Mnchmeyer pltzlich
+gestorben sei, geschftlich vollstndig gleichgltig lassen.
+Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als
+ich hrte, da seine Witwe das Geschft im Namen der
+Erben weiterfhre, war ich fr mich beruhigt.
+
+ Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline
+Mnchmeyer schickte mir einen Boten, der den Auftrag
+hatte, mich auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein
+werde, ihr einen neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote
+war auch ein "Vorbestrafter". Ich lie ihn unverrichteter
+Sache wieder gehen, ohne ber die Ursache seiner Sendung
+besonders nachzudenken. Ich wute damals nicht, was
+ich erst viel spter erfuhr, nmlich da es mit
+Mnchmeyers nicht so glnzend stand, wie ich dachte. Man
+hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem
+Entschlusse gelangt, durch einen neuen Roman von Karl
+May die Lage zu verbessern. Ich hatte weder Zeit
+noch Lust, ihn zu schreiben, beschlo aber fr den Fall,
+da man den Versuch erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen
+einzutreten, um ber die Erfolge meiner bisherigen
+Romane etwas Bestimmtes zu erfahren. Und die
+Wiederholung des Versuches kam. Frau Mnchmeyer
+stellte sich selbst und persnlich bei uns ein. Sie besuchte
+uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar Vorausbezahlung
+des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum Walter
+und lie Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den Bescheid,
+da ich nicht eher etwas Neues liefern knne, als
+bis ber das Alte volle Klarheit geschafft worden sei.
+Ich msse unbedingt erst wissen, wie es mit der
+Abonnentenzahl meiner fnf Romane stehe; die Zwanzigtausend
+msse doch schon lngst erreicht worden sein. Frau
+Mnchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau
+zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen.
+Wir stellten uns ein. Sie gestand ein, da die Zwanzigtausend
+erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht
+nur bei einem; nur msse es erst noch genau berechnet
+werden, und das sei in der Kolportage so ungemein
+schwierig und zeitraubend. Ich mge mich also in Geduld
+fassen. Was meine Rechte betreffe, so fallen diese mir
+hiermit wieder zu, ich knne die Romane nun ganz fr
+mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir meine
+Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken
+lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde
+mir an ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und
+sie vorher extra fr mich in Leder binden lassen. Das
+geschah. Nach kurzer Zeit kamen die Bcher durch die
+Post; ich war wieder Herr meiner Werke -- -- -- so
+glaubte ich! Freilich war es mir unmglich, sie sofort
+herauszugeben, weil die Pustetschen vorher zu erscheinen
+hatten. Ich legte die Bcher also fr einstweilen zurck,
+ohne mich mit der Prfung ihres Inhaltes befassen
+zu knnen. Ich hatte meinen Zweck erreicht, und von
+der Abfassung eines neuen Romanes war keine Rede
+mehr. Frau Mnchmeyer lie nichts mehr von sich hren.
+Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, da nun
+doch die "feinen Gratifikationen" fllig waren, deren
+Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich
+aber drngte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte
+das Geld nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht
+bergehen, da meine Frau whrend dieser ganzen Zeit
+sich alle Mhe gab, mich von geschftlicher Strenge gegen
+Frau Mnchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe fr
+Mnchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund
+der sonst unbegreiflichen Nachsicht, die ich bte.
+
+ Ich stand grad im Begriff, eine lngere Reise nach
+dem Orient anzutreten, als ich erfuhr, da Frau Mnchmeyer
+ihr Geschft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort
+einen Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane
+mit zu verkaufen. Ich legte ihr alles hierauf Bezgliche
+dar und ging zunchst nach Obergypten. Von dort nach
+Kairo zurckgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich
+erfuhr, da der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen
+sei; der Verkufer [sic] heie Fischer. Ich zgerte nicht, an
+diesen Herrn zu schreiben. Er antwortete mir im
+Kolportageton, da er das Mnchmeyersche Geschft nur wegen
+der Romane von Karl May gekauft habe. Alles Andere
+sei nichts wert. Er werde diese meine Sachen so
+ausbeuten, wie es nur mglich sei, und mich, falls ich ihn
+daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser Ton
+fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr
+minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mute diesem
+mir vollstndig unbekannten Herrn Fischer in einer Art
+geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit
+verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir ber diesen
+Fall sofort und so ausfhrlich wie mglich zu berichten.
+Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau an.
+Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn
+Tage, in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und
+telegrafierte, doch vergebens; es kam kein Bericht. Endlich
+erhielt ich einige Zeilen, in denen sie mir sagte, da
+sie in Paris gewesen sei, aber weiter nichts. Als in
+Massaua, der Hauptstadt von Erythra am roten Meere, mein
+arabischer Diener mir die Post brachte, quoll mir eine
+Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus denen ich, der
+gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat
+inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine
+Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner
+Mnchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit
+derartigen Reklametrompetensten, da alle Welt auf
+dieses Unternehmen aufmerksam werden mute. Mein
+Name war genannt, obgleich ich diese Romane, nur einen
+ausgenommen, pseudonym geschrieben und Mnchmeyer
+verpflichtet hatte, diese Pseudonymitt auf keinen Fall
+zu brechen. Zugleich stellte sich heraus, da mit den
+Romanen eine Umarbeitung vorgenommen werden sollte.
+Mir wurde himmelangst. Ich schrieb heim und beauftragte
+einen dortigen Freund, dem ich vollstndig vertrauen
+konnte, sich einen Rechtsanwalt zu Hilfe zu nehmen
+und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu fhren, wenn
+ntig sogar gerichtlich.
+
+ Dieser Freund hie Richard Plhn und war der
+Besitzer der "Schsischen Verbandstoffabrik" in Radebeul,
+die er gegrndet hatte. Man wird bald sehen, warum
+ich fr kurze Zeit bei ihm verweile. Er war auerordentlich
+glcklich verheiratet. Seine Familie bestand nur aus
+ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir waren
+so innig mit einander befreundet, da wir einander Du
+nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten.
+Aber auer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu
+sagen, das brachte Plhn nicht fertig. Er versicherte, da
+ihm dies unmglich sei. Frau Plhn ist jetzt meine Frau.
+Es ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder
+gar Vorzgen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische.
+Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bcher
+gelesen. Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr
+ebenso unbekannt und gleichgltig wie meine Ziele und
+Ideale berhaupt. Frau Plhn aber war begeisterte Leserin
+von mir und besa ein sehr ernstes und tiefes Verstndnis
+fr all mein Hoffen, Wnschen und Wollen. Ihr Mann
+freute sich darber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes
+Arbeiten, oft dreimal wchentlich die ganze Nacht
+hindurch, keine helfende Hand, kein warmer Blick, kein
+aufmunterndes Wort; ich stand innerlich allein, allein,
+allein, wie stets und allezeit. Das tat ihm wehe. Er
+versuchte, durch seine Frau auf die meinige einzuwirken,
+damit diese mir wenigstens die strende Korrespondenz
+abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu
+erlauben, da diese es tue; das werde fr sie und ihn
+eine groe Freude sein. Ich gestattete es den beiden
+guten Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in
+der Hand von Frau Plhn. Tausenden von Leserinnen
+und Lesern ist ber der Unterschrift von "Emma May"
+geantwortet worden, ohne da sie wuten, da es nicht
+meine Frau, sondern eine schwesterliche Helferin war,
+die mir meine Last erleichterte. Sie arbeitete sich mehr
+und mehr in meine Gedankenwelt und meinen Briefwechsel
+ein, so da ich ihr schlielich die ganze, umfangreiche
+Korrespondenz getrost berlassen konnte. Ihr Mann
+war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter,
+eine einfach gewhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau,
+die gar zu gern auch mitgeholfen htte, wenn es mglich
+gewesen wre, denn auch sie besa eine Seele, die nicht
+unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.
+
+ Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit
+so krftig wie mglich in die Hand zu nehmen, und
+er tat es, so gut er konnte. Er bergab die prozessuale
+Durchfhrung einem Dresdener Rechtsanwalt und
+benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, da ich
+augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber
+nicht zgern werde, mich bei der beabsichtigten
+Vergewaltigung zu erwehren. Mehr konnte fr den Augenblick
+nicht getan werden, weil es mir unmglich war, meine
+Reise abzubrechen. Von meiner Frau bekam ich keine
+Nachricht. Es war ihr unmglich, sich um so ernste,
+geschftliche Angelegenheiten zu bekmmern. Plhns aber
+schrieben, doch konnten mich diese Briefe erst in Padang
+auf der Insel Sumatra erreichen. Sie lauteten
+aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen
+Mnchmeyerschen Romanen zu beschftigen, und zwar in
+einer fr mich ungnstigen Weise. Es wurden Gerchte
+ber mich verbreitet, die teils lcherlich, teils gewissenlos
+waren. Man las in den Zeitungen, da ich mich gar
+nicht im Orient befinde, sondern mich wegen einer
+bsartigen Krankheit im Jodbad Tlz, Oberbayern, versteckt
+habe. Htte ich geahnt, da das in dieser lgenhaften,
+gehssigen und bswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt
+weitergehen werde, so wrde ich meine Reise doch
+unterbrochen und schleunigst nach Hause zurckgekehrt sein.
+Htte ich das getan, so wren mir alle die unmenschlichen
+Martern und Qualen, die ich whrend dieser langen
+Zeit ausgestanden habe, erspart geblieben. Leider aber
+wute ich damals noch nicht, was mit meinen Romanen
+vorgegangen war und welche Leitgedanken im Mnchmeyerschen
+Geschft ber mich kursiert hatten und heute
+noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der
+Ferne beilegen zu knnen und hielt nichts weiter fr
+ntig, als eine genaue Information, aus der sich die
+einzuschlagenden Schritte zu ergeben htten. Ich schrieb
+also heim, da meine Frau mit Plhns nach Aegypten
+kommen mchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen
+wrde. Sie kamen, aber sehr versptet, weil
+Plhn unterwegs krank geworden war. Was ich von
+ihnen erfuhr, lautete keineswegs gnstig und klang
+auerdem sehr unbestimmt. Der Rechtsanwalt stand immer
+noch erst bei den Vorbereitungen. Fischer hatte erklrt,
+sich auf das Aeuerste wehren zu wollen; meine Romane
+habe er von Frau Mnchmeyer gekauft; sie seien sein
+wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er
+machen knne, was er wolle. Die Zeitungen waren
+gegen mich eingenommen. Meine Mnchmeyerschen
+Romane wurden als Schundromane bezeichnet. Ich sah
+ein, da ein Proze mit Mnchmeyers nicht zu umgehen
+war, und fragte meine Frau nach den fr mich hierzu
+ntigen Dokumenten.
+
+ Ich habe bereits gesagt, da ich mir Mnchmeyers
+Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war fr einen
+Proze gegen Mnchmeyer derart beweiskrftig, da ich
+ihn glattweg gewinnen mute. Diese Briefe waren nebst
+andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten
+Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner
+Abreise meine Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt
+ganz besonders aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der
+Briefe ganz besonders erklrt und sie aufgefordert, dafr
+zu sorgen, da ja nicht das geringste Blttchen davon
+verloren gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen
+Dokumenten fragte, versicherte sie mir, da sie noch genau
+so lgen, wie ich sie ihr bergeben habe. Kein Mensch
+habe sie berhrt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete
+den sicher gewonnenen Proze. Als meine Frau mir
+diese Versicherung gab, stand Frau Plhn dabei und
+hrte es. Sie sah sie gro an, sagte aber nichts. Das
+fiel mir damals nicht auf; spter aber, als ich mich
+dieses groen, erstaunten, mibilligenden Blickes erinnerte,
+wute ich nur allzu gut, was er hatte sagen sollen.
+Meine Frau war nmlich eines Abends zu Frau Plhn
+gekommen und hatte ihr mitgeteilt, da sie soeben unsern
+Trauschein verbrannt habe, der Vorbedeutung wegen,
+die sich damit verbinde. Und einige Zeit spter hatte
+sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, da sie nun
+auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten genommen
+und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, da ich
+Mnchmeyers verklage. Frau Plhn war hierber entsetzt
+gewesen, hatte aber die vollendete Tatsache nicht zu
+ndern vermocht. Jetzt, als sie die Versicherung meiner
+Frau mit anhren mute, da die Briefe noch unberhrt
+vorhanden seien, gab es in ihr den ersten Ri zu jener
+innern Scheidung, die erst dann auch uerlich zu Tage
+trat, als nichts mehr verheimlicht werden konnte. Wir
+reisten nach Aegypten, Palstina, Syrien, ber
+Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause. Whrend
+dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen
+immer dabei geblieben, da die Dokumente vllig
+unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lgen. Sie
+wurde schlielich zornig und verbat sich jede weitere
+Erwhnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster
+Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten
+-- -- -- leer! Hierber zur Verantwortung gezogen,
+erklrte sie, da sie die Briefe allerdings verbrannt und
+vernichtet habe. Sie sei stets eine Freundin Mnchmeyers
+gewesen und sei es auch noch heute. Sie wisse zwar,
+da ich recht habe, aber sie dulde nicht, da ich
+Mnchmeyers verklage. Darum habe sie die Papiere
+verbrannt. Man kann sich denken, wie mir zu Mute war,
+aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon jahrelang
+in solchen Fllen zu tun gewohnt war, ich war still,
+nahm den Hut und ging.
+
+ Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich
+immer zahlreicher und deutlicher geworden. Man
+beschuldigte mich, zu gleicher Zeit fromm und unsittlich
+geschrieben zu haben. Ich nahm die Romane her, die mir
+Frau Mnchmeyer hatte einbinden lassen, und fand, da
+man von meinen Originalmanuskripten abgewichen war
+und sie verndert hatte. Also darum hatte man die
+Manuskripte verbrannt, anstatt sie fr mich aufzuheben!
+Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen knnen!
+Das Erste, was ich tat, war, da ich die Presse hiervon
+benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung
+abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich
+wollte die Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern
+des Strafprozesses verfolgen, stie dabei aber auf solchen
+Widerstand bei meiner Frau, da ich darauf verzichtete.
+Ich befragte mich bei verschiedenen Rechtsanwlten,
+nicht nur in Dresden, sondern auch in Berlin und
+anderswo. Ich htte so gern gleich direkt wegen der
+"abgrundtiefen Unsittlichkeiten", die mir vorgeworfen
+wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig versichert,
+da dies unmglich sei. Eine Klage knne nicht auf
+ideale Dinge gerichtet, sondern msse materiell begrndet
+sein. Ich msse vor allen Dingen beweisen, da ich der
+rechtmige Eigentmer der betreffenden Romane sei,
+und also das Recht besitze, zu verklagen. Am Besten sei
+es, die Klage auf "Rechnungslegung" zu richten. Das
+geschah.
+
+ Um diese Zeit war es, da sich der Kufer des
+Mnchmeyerschen Geschftes, Herr Fischer, bei mir
+meldete. Ich hatte keinen vernnftigen Grund, ihn
+abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war
+eine hochinteressante, sowohl psychologisch als auch
+prozessual. Fischer machte gar kein Hehl daraus, da er
+wisse, ich sei vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg
+am Rocken habe, der solle sich wohl sehr hten, zu
+prozessieren, sonst knne die Sache sehr leicht ein anderes
+Ende nehmen, als man denke. Meine Romane seien jetzt
+sein Eigentum. Man habe sie schon frher verndert,
+und nun lasse er sie von Neuem umarbeiten, ganz so,
+wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn prozessiere, so
+knne das lnger als zehn Jahre dauern; aber bis dahin
+sei ich lngst kaput. Er sei aber gekommen, mir die
+Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich
+solle ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf
+meine Romane und liefere sie mir mit allen Rechten aus.
+Dann sei es mir leicht, die ganze Aufregung der Presse
+gegen mich mit einem einzigen Schlage zum Schweigen
+zu bringen. Er biete mir seine Hilfe dazu an. Er wisse
+mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze Mnchmeyerei.
+Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter siebzigtausend
+Mark knne er nicht verzichten, denn er habe
+hundertfnfundsiebzigtausend Mark bezahlt.
+
+ Es ist ganz selbstverstndlich, da ich auf diesen
+Vorschlag nicht einging. Ich erklrte ihm, da ich keinen
+Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei.
+Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten
+werde, ob gegen ihn oder gegen Mnchmeyers Witwe.
+Er rate mir zu dem Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich
+als Zeuge dienen knne, denn er sei mit dieser
+Frau keineswegs zufrieden, sondern stehe in
+immerwhrendem Streit mit ihr. Hierauf entfernte er sich
+mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen in
+Acht zu nehmen.
+
+ Ich war gewillt, Frau Mnchmeyer zu verklagen.
+Aber meine Frau und, wohl infolgedessen, auch mein
+Rechtsanwalt bestimmten mich, hiervon abzusehen. So
+wurde also Fischer verklagt. Aber die Witwe schien
+keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel
+ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei
+und ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang
+mir, gegen Fischer eine einstweilige Verfgung zu
+erreichen, welche ihm verbot, meine Romane weiterzudrucken.
+Er durfte nur noch komplettieren. In dieser fr ihn
+sehr heiklen Lage kam er mit meinem Rechtsanwalt zu
+sprechen und klagte ber den Verlust, der ihm dadurch
+entstehe; dieser betrage schon vierzigtausend Mark. Wenn
+das nicht aufhre, msse er sich noch ganz anders wehren
+als bisher und mich durch die Verffentlichung meiner
+Vorstrafen in allen Zeitungen vor ganz Deutschland
+kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese Drohung
+mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu begreifen
+und fhlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu sondieren.
+Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir zustande,
+in einer separierten Weinstube, unter vier Augen.
+Da wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er
+whrend der Verkaufsverhandlungen von Mnchmeyers
+ber mich und meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr
+den ganzen Feldzugsplan, von dem ich bisher keine
+Ahnung gehabt hatte. Es war ihm weisgemacht worden,
+ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, weil ich als
+Lehrer Umgang mit Schulmdchen gepflogen habe. Das
+passe auerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen,
+da ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche
+das nur zu verffentlichen, so sei ich fr immer kaput.
+Ich sei jetzt ein berhmter Mann und habe mich vor
+solchen Verffentlichungen zu hten; das wisse man ebenso
+gut wie ich selbst. Was ich mit Mnchmeyer ber meine
+Romane ausgemacht habe, sei gleichgltig. Mnchmeyer
+sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwren habe.
+Und da May den Eid nicht bekomme, dafr werde man
+zu sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe,
+die es gebe. Man brauche ihm nur mit der Verffentlichung
+zu drohen, so nehme er gewi jeden Proze zurck.
+Es gengen zwei Zeilen an ihn, so ist er still.
+"Den haben wir in der Hand!"
+
+ In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen,
+und daraufhin hatte er das Geschft gekauft. So
+versicherte er mir. Da meine Romane verndert worden
+seien, das wisse er. Nur wisse er nicht genau, von wem.
+Wahrscheinlich von Walter. Der habe ja weiter gar
+nichts Anderes als solche Sachen zu machen und
+dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar
+nicht schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur
+ein Wort zu ndern oder einige Worte hinzuzufgen, so
+ist die "Unsittlichkeit" da, ohne die es bei solchen
+Romanen nun einmal nicht abgehen will. Ich knne diese
+Aenderungen sehr leicht nachweisen; ich brauche nur
+meine Originalmanuskripte vorzulegen.
+
+ "Aber die sind ja verbrannt!" fiel ich ein.
+
+ Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede.
+Er behauptete, sie seien noch da. Er knne sie mir
+verschaffen, aber freilich unter den jetzigen Verhltnissen
+nicht, wo ich sein Prozegegner sei und ihn mit meiner
+einstweiligen Verfgung zugrunde richte. Er knne nur
+dann mein Helfer sein und als Zeuge fr mich eintreten,
+wenn ich diese Verfgung fallen lasse und mich mit ihm
+vergleiche.
+
+ Diese Unterredung war fr mich von unendlicher
+Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte
+mich, ob ich trauen drfe. Waren die Originalmanuskripte
+wirklich noch da, so konnte ich allerdings alle
+gegen mich gerichteten Vorwrfe, wie Fischer gesagt
+hatte, mit einem Schlage verstummen machen. Aber er
+konnte mich tuschen wollen oder auch selbst getuscht
+worden sein. Ich durfte nicht vorschnell entscheiden; ich
+mute beobachten und berlegen, zumal diese Wendung
+meiner Angelegenheit in eine Zeit fiel, in der mich
+schwere, innerliche Kmpfe derart beschftigten, da ich
+fr Anderes weder Zeit noch Raum zu finden vermochte.
+Das war die Zeit meiner Ehescheidung.
+
+ Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen
+Betrachtung der Ehe, da diese ein Sakrament
+sei. Wenn ich nicht dieser Ansicht wre, so htte ich
+diesen Schritt schon lngst getan und nicht erst dann,
+als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze
+innere und uere Existenz zu retten galt. Man hat
+mir diesen Schritt in hohem Grade belgenommen, sehr
+mit Unrecht. Katholische Kritiker, die anstatt auf
+sachlichem Gebiete zu bleiben, ihre Angriffe auf das
+persnliche hinberspielten, haben mir in einem Atem
+vorgeworfen, da ich Protestant sei und mich von meiner
+Frau habe scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil
+ich als Protestant gelte, hat kein Mensch das Recht, mir
+den zweiten Vorwurf zu machen. Fr jeden nur einigermaen
+anstndigen Menschen ist die Ehescheidung eine
+Angelegenheit von selbstverstndlichster Diskretion. Die
+meinige aber hat man in den Zeitungen herumgetragen,
+mit den widerlichsten Randglossen versehen und zu den
+ungeheuerlichsten Verdchtigungen ausgenutzt. Ich will
+das Alles hier bergehen, um meine Bemerkungen, falls
+ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer Stelle zu
+machen. Diese Zeit war nicht nur fr mich, sondern
+auch fr Frau Plhn eine beinahe tdliche, weil sie ihr
+den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte,
+wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe
+bereits gesagt, da Plhn auf der Reise nach Aegypten
+krank geworden sei. Er erholte sich nur scheinbar
+wieder. Das Uebel repetierte, nachdem er in die Heimat
+zurckgekehrt war. Ein Jahr spter kam der Tod. Frau
+Plhn brach fast zusammen. Wre ihre Mutter nicht
+gewesen, so wre sie ihrem Manne sicher nachgestorben.
+Glcklicherweise bot ihr auch die Korrespondenz, die sie
+fr mich mit meinen Lesern fhrte, die seelische Erleichterung
+und Untersttzung, deren sie bedurfte. Sie besa
+zwei Zinshuser in Dresden, die sie gern gegen ein ihr
+angebotenes Landgrundstck verkaufen wollte, welches zu
+dem Dorfe Niedersedlitz gehrte. Dorthin hatte Fischer
+seine Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung
+lag da. Frau Plhn bat mich, sie zur Besichtigung
+dieses Grundstckes zu begleiten, und als wir uns nun
+einmal in Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe,
+dies Fischer wissen zu lassen. Er lud uns nach seiner
+Privatwohnung ein, und es entspann sich da eine
+Verhandlung, welche am nchsten Tage zu einem Vergleiche
+fhrte.
+
+ Ich will so kurz wie mglich sein. Fischer klagte
+darber, da er sich durch den Kauf des Mnchmeyerschen
+Geschftes zum "Schundverleger" degradiert habe;
+er versicherte, da er sich heraussehne, und er behauptete,
+da ich ihm dazu behilflich sein knne wie kein Anderer.
+Dieses Letztere war auch ich berzeugt. Er hatte die
+vernderten Romane erworben, ohne da Frau Mnchmeyer
+das Recht besa, sie ihm zu verkaufen. Wenn er
+dafr sorgte, da ich meine Originalmanuskripte
+zurckerhielt, konnte er die Schundarbeiten fallen lassen und
+an ihrer Statt meine Originale herausgeben; da war
+ihm und zugleich auch mir geholfen; er war kein
+Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, da ich nichts
+Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke
+des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben,
+war ich berzeugt, da aller Streit gehoben sei. Fischer
+bezeugte mir damals ffentlich in den Zeitungen, da die
+unsittlichen Stellen meiner Mnchmeyerromane _nicht_aus_
+_meiner_Feder_stammen,_sondern_von_dritter_
+_Hand_hineingetragen_worden_seien._
+
+ Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als trgerisch.
+Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht
+bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich
+vernichtet. Es war ihm also unmglich, sich aus einem
+"Schundverleger", wie er sich in einem Briefe an mich
+bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er
+machte zwar den Versuch, auch ohne meine
+Originalmanuskripte zu einem Originalroman zu kommen, um
+den Schund dann fallenlassen zu knnen, aber ich mute
+ihm dabei die Hilfe, die er von mir forderte, versagen.
+Er verlangte nmlich von mir, da ich den Schund aus
+dem Gedchtnisse in seine frhere, einwandfreie Fassung
+zurckverndere; das aber war bei einer Flle von
+ungefhr dreiigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding
+der absolutesten Unmglichkeit. Er bestand aber auf
+seinen [sic] Schein, auf unsern [sic] Vergleich, und obgleich er das
+nicht leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich
+doch Alles tun, was grad seinetwegen unmglich war.
+Daraus ergab sich ein neuer Zwist und ein neues Kmpfen,
+welches sich ber seinen Tod hinaus erstreckte und
+erst von seinen Erben zum friedlichen Ende gefhrt worden
+ist. Diese sahen klarer als er, und sie waren ruhigen,
+unbefangenen Gemtes. Sie waren Fachleute, nmlich
+Rechtsanwlte, Kaufleute, Buchdruckerei- und
+Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu folgender
+Erklrung:
+
+| "In einem zwischen Herrn Karl May und |
+| den Erben des Herrn Adalbert Fischer anhngig |
+| gewesenen Rechtsstreite haben die Fischerschen |
+| Erben erklrt, da die im Verlage der Firma |
+| H. G. Mnchmeyer erschienenen Romane des |
+| Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit |
+| durch Einschiebungen und Abnderungen von |
+| dritter Hand eine derartige Vernderung erlitten |
+| haben, da sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr |
+| als von Karl May verfat gelten knnen. Herr |
+| May ist zur Verffentlichung dieser Erklrung |
+| ermchtigt worden. |
+
+| Dresden, im Oktober 1907. |
+
+ Unterzeichnet ist diese Erklrung von Frau Elisabeth
+verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert,
+Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred
+Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein,
+Rechtsanwalt Dr. Elb. Leichtfertige Menschen
+haben behauptet, da diese Erklrung nur von Kindern
+und unmndigen Personen abgegeben worden sei. Man
+sieht auch hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich
+kmpft. Fr mich aber ist die Abteilung Fischer meines
+Mnchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung
+Pauline Mnchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr
+habe ich mich in Folgendem nun zuzuwenden.
+
+ Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm,
+welches ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen,
+nmlich:
+
+| "May ist vorbestraft. Er hat das zu |
+| verheimlichen. Wir haben ihn in der Hand. Zwei |
+| Zeilen gengen, so ist er still. Wenn er uns |
+| verklagt, so machen wir ihn durch Verffentlichung |
+| seiner Vorstrafen in allen Zeitungen |
+| durch ganz Deutschland kaput. Was May mit |
+| Mnchmeyer ausgemacht hat, ist gleichgltig. |
+| Hauptsache ist, wer den Eid bekommt. Und da |
+| May ihn nicht bekommt, dafr wird man zu |
+| sorgen wissen." |
+
+ Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim
+geuert, sondern auch durch seine Aussage in den Akten
+festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun neunjhrigen
+Rechtsstreites ununterbrochen besttigt worden. Von dem,
+was Rechtsanwalt Dr. Gerlach im Namen seiner Klientin
+Pauline Mnchmeyer alles unrichtiger Weise behauptet
+oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen. Mich
+aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen
+hingestellt, der in hchstem Grade eidesunwrdig
+ist. Es ist mir unmglich, alle die beleidigenden Schimpfworte
+hier aufzuzhlen, mit denen er mich nun schon seit
+neun Jahren berschttet, ohne da ich ihn dafr bestrafen
+lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz
+grad jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von
+ihm zu dulden, was sich kein Anderer jemals erlaubt.
+Von den Richtern wiederholt zurechtgewiesen und von
+andern Anwlten zur Rede gestellt, bleibt er dieser seiner
+Spezialitt doch treu. Zur Ausfhrung des Mnchmeyerschen
+Programms war es zunchst ntig, zu meiner
+Strafliste zu gelangen. Zu diesem Zweck wurde eine
+Beleidigungsklage fingiert, die man sofort zurcknahm,
+als der Zweck erreicht war. Von da an tauchten in den
+Zeitungen mehr oder weniger verblmte Notizen ber
+meine Vergangenheit auf. "Ich wei noch mehr!" schrieb
+der Eine; "Sie wissen wohl, was ich meine, Herr May?"
+fragte der Andere. Das "Kaputmachen" begann. Aber
+der Spiritus rector, der eigentliche Tter, blieb stets
+schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte
+stets durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit ber seine
+Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein
+sehr umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er
+steht mit allen meinen literarischen Gegnern in inniger
+Beziehung, und wo in einem Blatt von mir die Rede
+ist, da pflegt ein Brief von ihm oder von einem seiner
+Vertrauten sich einzustellen. Und man glaubt ihm fast
+berall. Man glaubt ihm, wie Cardauns seinerzeit dem
+Lgner glaubte, der ihm weismachte, da ich die
+Mnchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie im Druck
+erschienen sind.
+
+ Dieser Herr Dr. Hermann Cardauns ist von dem
+sehr dunklen und sehr hlichen Punkte, den man in der
+zeitgenssischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze
+bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders
+gewollt. Er steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er
+eigentlich nicht gehrt. Er hat auch das gewollt. Sein
+niederschmetternder Stil, seine infallible Ausdrucksweise,
+seine "abgrundtiefen" oder "evidenten" Verdoppelungsworte
+haben Schule gemacht, besonders bei denen, welche
+mir Stricke drehen, um mich "aus der deutschen Kunst
+hinauszupeitschen." Aber alles, was er in Vortrgen
+und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und
+zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Sule,
+an der niemand zu rtteln vermag, sondern einen aus
+lauter vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen,
+dessen Schnur niemand mehr halten will, es sei denn
+Herr Cardauns selbst. Es ist gewi sehr viel blinder
+Glaube dazu ntig, gleich ihm zu denken, da meine
+"Unsittlichkeiten" auch noch in anderer Weise bewiesen
+werden knnen, als nur durch Vorlegung meiner
+Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es nicht; auch
+Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht bewiesen
+werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufstzen
+gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen
+Beweisen, die er ber meine Schuld besitze; aber
+bis jetzt habe ich noch kein einziges Aktenstck und kein
+einziges Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser
+Herr besitzt einen lteren Mnchmeyerschen Druck und
+eine sptere Fischersche Ausgabe und hlt den ersteren
+fr gleichlautend mit meinem Originale. Es ist fr mich
+aber wirklich unmglich, da einem "Haupt- oder
+Chefredakteur" solche Irrungen passieren knnen. Ich gebe
+ja gern zu, da er keine Ahnung davon hat, wie es in
+einem berchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht
+und was fr Schwindel da getrieben wird, aber das ist
+keine Entschuldigung, sondern eine Belastung fr ihn,
+denn wenn er das nicht wei, so sollte er sich auch nicht
+gestatten, Schlsse mit der Logik des Kolportageschmutzes
+zu ziehen, die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute
+ziehen darf. Die ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten
+Schundromane hatte Fischer nur den berlauten Trommel-
+und Paukenschlgen des Herrn Cardauns zu verdanken.
+Selbst der unfhigste Politikus wei, da man solche
+Dinge durch Schweigen ttet, nicht aber durch Gongs
+und Tamtams. Mir aber, der ich durch diese Tamtams,
+diese Vortrge und Zeitungsartikel erschlagen werden
+sollte, wurde es durch sie unmglich gemacht, den Schund
+so, wie ich wollte, gnzlich aus der Welt zu schaffen.
+Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns meine
+Gegner frderte, indem er mich hinderte, hat er sich um
+die Mnchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben,
+welches man ihm nie vergessen wird. Er ist whrend
+der ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion
+gewesen, ob gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf
+die Wirkung gleich.
+
+ Der zweite, den ersten auch geistig hoch berragende
+Champion fr die Mnchmeyersache ist der aus der
+christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D.
+Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg. Ich gebe ber
+ihn einen Auszug meines Schriftsatzes an die vierte
+Strafkammer des Kniglichen Landgerichtes III in Berlin:
+
+ "Ich reiste im Jahre 1902 im Sden und wurde
+am Gardasee von einer heimatlichen Postsendung erreicht,
+bei der sich auch eine Zuschrift eines gewissen Lebius
+befand, der sich in ganz berschwenglicher Weise als einen
+groen Kenner und Bewunderer meiner Werke bezeichnete
+und die Bitte aussprach, mich einmal besuchen zu drfen.
+Diese Ueberschwnglichkeit erregte sofort meinen Verdacht.
+"Der will Geld, weiter nichts," sagte ich mir.
+Ich antwortete ihm, da ich nicht daheim sei und ihn
+also nicht empfangen knne. Hierauf schrieb er mir am
+7. April 1904:
+
+ "Sehr geehrter Herr!
+
+ Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich
+ Ihnen zu nhern, wovon die inliegende Karte ein
+ Beweis ist. Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung
+ herausgegeben, die groen Anklang findet. Knnen
+ Sie mir vielleicht etwas fr mein Blatt schreiben?
+ Vielleicht etwas Biographisches, die Art, nach der Sie
+ arbeiten, oder ber derartige Einzelheiten, fr die sich
+ die deutsche May-Gemeinde interessiert. Ich wrde
+ Sie auch gern interviewen.
+
+ _Mit_vorzglicher_Verehrung_
+ Rudolf Lebius,
+ Verleger und Herausgeber."
+
+ Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfltig
+aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er
+unterschrieb sich "mit vorzglicher Verehrung." Ich sagte
+mir wieder: "der will nur Geld." Die Behauptung, da
+seine neue Zeitung "groen Anklang finde", entsprach
+der Wahrheit nicht. Ich sollte damit gekdert werden.
+Man darf den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal
+wenn sie mit einer wenn auch noch so kleinen Zeitung
+bewaffnet sind, sonst rchen sie sich. Ich schrieb ihm also,
+da er kommen drfe, und er antwortete am 28. April:
+
+ "Vielen Dank fr Ihr liebenswrdiges Schreiben.
+ Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natrlich gern
+ Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben,
+ komme ich am Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen
+ (Abfahrt 3,31).
+
+ _Mit_groer_Hochachtung_und_Verehrung_
+ Rudolf Lebius."
+
+Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen.
+Ich duldete das nicht. Er wurde von meiner Frau, die
+ihn empfing, nur unter den Bedingung zu mir gelassen,
+da absolut nichts verffentlicht werde. Er gab erst ihr
+und dann auch mir sein Wort darauf. Er blieb zum
+Kaffee, und er blieb bis nach dem Abendessen. Er sprach
+sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich war absichtlich
+schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt ntig war.
+Ich traute ihm nicht und hatte, um spter einen Schutzzeugen
+zu haben, zugleich mit ihm den Militrschriftsteller
+und Redakteur Max Dittrich eingeladen, der an meiner
+Stelle die Unterhaltung leitete.
+
+ Lebius trank viel Wein, whrend ich nur nippte.
+Er wurde um so lebhafter, je ruhiger und wgsamer ich
+blieb. Er gab sich alle Mhe, mich und meine Frau
+davon zu berzeugen, da er "ein ganzer Kerl" sei. So
+lautete sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er
+sprach unablssig von seinen Grundstzen, seinen Ansichten,
+seinen Plnen, von seiner groen Geschicklichkeit, seinen
+reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen
+als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger,
+Herdenfhrer und Volkstribun.
+
+ Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren,
+geschah in einer Weise eines ganz gewhnlichen, unvorsichtigen
+Menschen, der so von seinen eigenen Vorzgen berzeugt
+ist, da er gar nicht daran denkt, andere knnten darber
+lachen. Als er sah, da nichts bei mir verfing, wurden
+seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mute von seiner
+Vortrefflichkeit berzeugt werden, um jeden Preis! Denn
+er brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er
+auf mich gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum
+offenbarte er uns in seiner Geldangst seine verborgensten
+Geschfts- und Lebensgrundstze. Er glaubte infolge des
+vielen Weines, uns dadurch zu gewinnen, stie uns dadurch
+aber um so sicherer ab. Da ich mich hier kurz zu fassen
+habe, gebe ich von diesen seinen Grundstzen nur die drei
+wichtigsten wieder. Nmlich:
+
+ 1. Wir Redakteure und Journalisten haben gewhnlich
+ kein Geld. Darum drfen wir uns auch keine eigene
+ Meinung gestatten. Wir wollen leben. Darum
+ verkaufen wir uns. _Wer_am_meisten_zahlt,_
+ _der_hat_uns!
+
+ 2. Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter
+ und in seinem Leben. _Auch_jeder_Arbeitgeber,_
+ _jeder_Beamte,_jeder_Polizist,_jeder_
+ _Richter_oder_Staatsanwalt_hat_solches_Werg_
+ _an_seinem_Rocken._ Das mu man klug und
+ heimlich zu erfahren suchen. Keine Mhe darf dabei
+ verdrieen. Und ist es erforscht, so hat man
+ gewonnenes Spiel. Man bringt in seinem Blatte
+ eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, da
+ man alles wei, doch so, da er nicht verklagen
+ kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann
+ mit ihm machen, was man will. Er gibt klein
+ bei. In dieser Weise habe ich meinen Lesern schon
+ auerordentlich viel gentzt!
+
+ 3. Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in
+ Schafe und Bcke, in Herren und Knechte, in
+ Gebietende und Gehorchende. Wer aufhren will,
+ Herdenmensch zu sein, _der_hat_das_
+ _Herdengewissen_bei_Seite_zu_legen._ Wenn er das
+ tut, dann laufen alle, die dieses Gewissen noch mit
+ sich schleppen, hinter ihm her. Es ist ganz gleich,
+ zu welcher Herde er gehren will. Er kann von
+ einer zur anderen bertreten, kann wechseln. Das
+ schadet ihm nichts. Nur hat er dafr zu sorgen,
+ da es mit der ntigen Wrme und Ueberzeugung
+ geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die
+ Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen
+ nach!
+
+ Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hrten,
+brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau
+war still vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den
+Ekel zu verwinden! Lebius bekam infolge dessen weder
+Geld noch sonst etwas von mir. Da sah er ein, da
+diese beispiellose Selbstentlarvung nicht nur ganz umsonst
+gewesen sei, sondern da er sich durch sie in unsere Hnde
+geliefert hatte. Wir drei waren nun die gefhrlichsten
+Menschen, die es fr ihn gab. _Er_durfte_uns_nie_
+_vor_Gericht_zu_Worte_kommen_lassen,_ sondern mute
+alles tun, _uns_als_unglaubhafte,_eidesunwrdige_
+_Personen_hinzustellen._ Ich lege groen Wert darauf,
+dies ganz besonders zu betonen, denn
+ | es ist der einzig richtige Schlssel zu seinem |
+ | ganzen spteren Verhalten, welches man |
+ | ohne diesen Schlssel wohl kaum begreifen |
+ | knnte, weil der Ha dieses Mannes gegen |
+ | uns drei fast unmenschlich erscheint. |
+
+ Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich
+entfernte, beklagte ich mich absichtlich ber die vielen
+Zuschriften, in denen man mich, den gar nicht reichen Mann,
+mit Bitten um Geld berschttet, und tat dies in einer
+Weise, die jeden gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten
+mute, mir mit hnlichen Wnschen zu kommen. Schon
+gleich am nchsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:
+
+ "Dresden-A., den 3. 5. 04.
+
+ Sehr geehrter Herr Doktor!
+
+ Indem ich Ihnen herzlich fr den freundlichen
+ Empfang und die erwiesene Gastfreundschaft danke,
+ bitte ich Sie, wenn Sie die Kunstausstellung besuchen
+ oder sonst einmal nach Dresden kommen, bei uns zu
+ Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.
+
+ In einem Punkte mu ich unser gestriges Abkommen
+ widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann
+ ich nicht annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig fr die
+ Zeile, was wohl derselbe Preis sein wird, den Sie
+ von anderen Blttern erhalten haben.
+
+ Was Sie mir gestern erzhlt haben, habe ich heute
+ noch einmal berdacht. Es will mir scheinen, als ob
+ trotz des kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz
+ noch erheblich gesteigert werden knnte. Meine
+ Buchhndler- und Verlagserfahrungen haben mich gelehrt,
+ da der Wert einer richtig geleiteten Propaganda
+ und direkten Reklame gar nicht berschtzt werden kann.
+
+ Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten
+ Frau Gemahlin und Ihnen in _Verehrung_ und
+ _Dankbarkeit_ ergebenst
+
+ Rudolf Lebius."
+
+ Ich mache darauf aufmerksam, da er mich "Doktor"
+titulierte, obgleich ich ihm whrend seines Besuches bedeutet
+hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat
+dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als
+Waffe gegen mich dienen!
+
+ Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschre
+ber mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig,
+das Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort
+nach Radebeul geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich
+dafr zu verwenden, da dieser ihm, Herrn Lebius, das
+Werk in Verlag gebe. Er wurde ganz selbstverstndlich
+mit dieser Bitte abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max
+Dittrich, da ich niemals wieder mit ihm verkehren wrde,
+wenn es ihm einfalle, diesem Manne die Broschre zu
+berlassen.
+
+ Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte hchstens
+zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine
+Photographie, die er mir entwendet hatte. Er durfte
+nie wiederkommen. Trotzdem hat er wiederholt behauptet,
+in meinem Hause vielfach verkehrt zu sein und mich sehr
+genau studiert zu haben.
+
+ Am folgenden Tage schrieb er mir:
+
+ "Dresden-A., 12. 7. 04.
+ Frstenstrae 34.
+
+ Sehr geehrter Herr Doktor!
+
+ _Ich_mchte_sehr_gern_die_Dittrichsche_
+ _Broschre_verlegen_und_wrde_mir_auch_die_grte_
+ _Mhe_geben,_sie_zu_vertreiben._ Durch den Rcktritt
+ von der "Sachsenstimme" -- offiziell scheide ich
+ erst am 1. Oktober d. J. aus -- bin ich aber etwas
+ kapitalschwach geworden.
+
+ _Wrden_Sie_mir_vielleicht_ein_auf_drei_
+ _Jahre_laufendes,_5prozentiges_Darlehen_ gewhren?
+ Ich zahle Ihnen die Schuld vielleicht schon
+ in einem Jahre zurck.
+
+ | Als Dank dafr wrde ich die Broschre |
+ | so lancieren, da alle Welt von dem Buche |
+ | spricht. Ich habe ja auf diesem Gebiete |
+ | besonders groe Erfahrung. |
+
+ Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf
+ ganz solider Basis. Nun heit es arbeiten und zeigen,
+ _da_man_ein_ganzer_Kerl_ist_ usw. usw. Beste
+ Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin
+
+ Ihr Ihnen ergebener
+ Rudolf Lebius."
+
+ Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, da
+jemand, der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht
+weitergehen knne, zumal ich Herrn Lebius _mit_der_
+_Broschre_total_abgewiesen_hatte._ Aber am 8. August
+schrieb er trotzdem wieder:
+
+ "Die "Sachsenstimme" ist am 4. d. zu vorteilhaften
+ Bedingungen an mich allein bergegangen. Ich kann
+ jetzt schalten und walten, wie ich will. Um mich von
+ dem Drucker etwas unabhngig zu machen, _wrde_
+ _ich_gern_einige_tausend_Mark_(3--6)_auf_ein_
+ _halbes_Jahr_als_Darlehen_aufnehmen._ Ein
+ Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jdischen
+ Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison
+ bewiesen hat, in weitgehendem Mae untersttzten. Das
+ Weihnachtsgeschft bringt wieder alles ein. _Wrden_
+ _Sie_mir_das_Darlehen_gewhren?__Zu_Gegenleistungen_
+ _bin_ich_gern_bereit._ Die groe Zahl
+ von akademischen Mitarbeitern erhebt mein Blatt ber
+ die Mehrzahl der schsischen Zeitungen. Wir knnen
+ auerdem die Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300
+ oder mehr deutsche und sterreichische Zeitungen versenden
+ und den betreffenden Artikel blau anstreichen. So etwas
+ wirkt unfehlbar. In Dresden lasse ich mein Blatt
+ allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit vorzglicher
+ Hochachtung Rudolf Lebius."
+
+ Zu derselben Zeit erfuhr ich, da Lebius gar nichts
+besa, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, da
+er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, da er
+berhaupt nur Schulden habe und da er sogar Honorar
+schuldig bleibe. Da seine Zeitung eine solide Basis habe,
+war unwahr, ebenso die "groe Zahl der akademischen
+Mitarbeiter" und Anderes. Dergleichen absichtliche
+Tuschungen gehren eigentlich vor den Staatsanwalt.
+Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam:
+"Sehr geehrter Herr . . . . Mit vorzglicher
+Verehrung!" "Mit groer Hochachtung und Verehrung!"
+"Sehr geehrter Herr Doktor . . . . In Verehrung
+und Dankbarkeit." Als er sah, da diese Hflichkeiten
+nicht zogen, schrieb er nicht mehr an mich, sondern
+an Dittrich. So am 15. August 1904:
+
+ "Werter Herr Dittrich!
+
+ Ich gebe Ihnen fr die Vermittlung ein Prozent.
+ _Mehr_als_10_000_Mk._brauche_ich_nicht._ Ich
+ wrde aber auch mit weniger vorlieb nehmen. Das
+ Honorar sende ich am 20. d. wie verabredet.
+
+ Knnen Sie nicht Dr. May _b_e_a_r_b_e_i_t_e_n,_ da
+ er mir Geld vorschiet?
+
+ Freundlichen Gru R. Lebius."
+
+ Dann am 27. August:
+
+ "Werter Herr Dittrich!
+
+ Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn
+ Dr. Klenke, einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei
+ dieser Gelegenheit gibt sie Ihnen Ihr Honorar. Sie
+ haben meine schriftliche Zusage, da ich Ihnen 1 Prozent
+ von dem Gelde gebe, welches Sie mir von H. V.
+ oder Dr. M. (May) vermitteln. Sie erhalten das
+ Geld sofort . . . .
+
+ Freundlichen Gru Lebius."
+
+ Er war nmlich Herrn Max Dittrich ein Honorar
+von 37 Mark 45 Pfennigen schuldig, welches er trotz
+der Kleinheit dieses Betrages nicht bezahlen konnte. Es
+wurde ihm daraufhin ein Spiegel gerichtlich abgepfndet.
+Als er von Dittrich, anstatt der 10 000 Mark von mir,
+eine Mahnung um diese 37 Mark 45 Pfennig bekam,
+schrieb er ihm am 3. September:
+
+ "Geehrter Herr Dittrich!
+
+ Ich habe Herrn Dr. med. Klenke ersucht, Ihnen
+ 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten
+ mir gegenber finde ich hchst sonderbar, um
+ nicht zu sagen beleidigend.
+
+ Achtungsvoll
+ R. Lebius."
+
+ Diesem Dr. Klenke fiel es aber auch nicht ein, die
+Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in
+logischer Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer
+Postkarte folgende Drohung bei mir an:
+
+ "Werter Herr!
+
+ Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der "Sachsenstimme",
+ erzhlte einem Herrn, da er einen Artikel
+ gegen Sie schreibt. Ich habe es im Lokal gerade
+ gehrt. Es warnt Sie ein Freund vor dem Manne.
+
+ B."
+
+ Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte
+war ich mir natrlich sofort im Klaren. Auch das
+Gutachten der _vereideten_Sachverstndigen_ lautet dahin,
+_da_sie_unbedingt_von_Lebius_selbst_geschrieben_
+_ist._ Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, da ich auf
+diese Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde.
+Gab ich sie nicht, so waren mir nicht nur der jetzt
+angedrohte, sondern noch weitere Racheartikel sicher und
+auch noch anderes dazu, was mich in Besorgnis setzen
+mute. Aber ich lie auch jetzt nichts von mir hren
+und sah mit gutem Gewissen dem unvermeidlichen Artikel
+entgegen, der am 11. September 1904 in Nummer 33
+des Lebiusschen Blattes, der "Sachsenstimme" erschien
+und die dreifache Ueberschrift hatte:
+
+| "Mehr Licht ber Karl May |
+| 160 000 Mark Schriftstellereinkommen |
+| Ein berhmter Dresdner Kolportageschriftsteller." |
+
+ Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort
+gegeben, nichts zu verffentlichen. Er war sogar nur
+unter diesem Versprechen bei uns hereingelassen worden,
+und nun verffentlichte er doch, und zwar in welcher
+Weise und aus welchen Grnden! Er stellte alles auf
+den Kopf; er drehte alles um! Er legte uns alles, was
+ihm beliebte, in den Mund, und was wir wirklich gesagt
+hatten, das verschwieg er, um sich nicht zu blamieren.
+Dieser Aufsatz enthlt ber 70 moralische Unsauberkeiten,
+Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das war
+nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach.
+Dieser Artikel in Nr. 33 der "Sachsenstimme" war so
+gehalten, da Lebius wieder umlenken konnte, falls ich
+das Geld nun endlich noch gab. Und schon in Nr. 34
+kam ein sehr deutlicher Wink, der mir sagte, was
+geschehen werde, falls ich mich nicht zum Zahlen bewegen
+lasse. Dieser Wink bestand in einer Mnchmeyerschen
+Annonce, die ganze Bnde zu mir sprach. Der Besitzer
+der Firma Mnchmeyer hatte nmlich zu mir gesagt:
+"Die Verffentlichung der andern Romane tut Ihnen
+noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem "Verlorenen
+Sohn" fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren!
+Der wird so happig, da es Ihnen dann unmglich ist,
+als Schriftsteller weiter zu existieren!" Und dieser
+"Verlorene Sohn" wurde jetzt in Nr. 34 der "Sachsenstimme"
+annonciert. Das war genau so, als ob mir mit
+Riesenbuchstaben geschrieben worden wre: "Nun aber endlich
+Geld her, sonst geht es in diesem Tone weiter!" Der
+gefhrlichste Erpresser ist der, welcher es in dieser
+raffinierten Weise anfngt, die noch deutlicher ist, als das
+gesprochene Wort, aber von keinem Staatsanwalt verfolgt
+werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts. Da
+kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein
+drittes und in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde
+mir die Verbindung des Herrn Lebius mit der Firma
+Mnchmeyer schon deutlicher gezeigt, denn es wurde da
+gesagt, der Inhaber dieser Firma habe einen ganzen
+Haufen alter Briefe von mir in der Hand und knne
+also ganz genaue Auskunft ber mich geben, wenn er
+nur wolle. In Wahrheit aber besa er nicht einen
+einzigen alten Brief von mir, doch wute ich nun genau,
+da Lebius die Ausfhrung des Mnchmeyerschen Programms,
+mich durch meine Vorstrafen "in den Zeitungen
+vor ganz Deutschland kaput zu machen", bernommen
+hatte. Ich war berzeugt, da die Zahlung der 10 000
+Mark ihn sofort zum Schweigen bringen wrde, htte
+mich aber vor mir selbst geschmt, ihm auch nur einen
+einzigen Pfennig zu geben.
+
+ Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die
+Nr. 48 brachte die ohne alle Veranlassung frei aus der
+Luft niederfallende Verkndigung: "Die vier Jahre, die
+Herr Karl May in Waldheim verbte, waren nach
+unserer Information die Folge eines Einbruchdiebstahls
+in einem Uhrenladen." Ich habe aber niemals einen
+Einbruch verbt. Man sieht, da es nicht auf die Wahrheit
+ankam, sondern nur auf das "Kaputmachen". Diese
+Nr. 48 erschien am Weihnachtsheiligenabend. Da hingen
+an den Fenstern der Dresdener Buchhandlungen Plakate
+aus, auf denen die "Sachsenstimme" mit den groen
+roten Buchstaben _"Die_Vorstrafen_Karl_Mays"_
+angekndigt wurde. Einen schreienderen Beweis, da es
+sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um die
+Ausfhrung ganz niedriger Absichten handelt, kann es
+wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des
+grausamen Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten
+des Herrn Lebius einzeln aufzuzhlen. Ich will nur in
+Summa sagen, da er in dieser Weise fortfuhr, bis er
+nach einiger Zeit aus Dresden verschwinden mute. Ich
+habe die Unwahrheiten, die er in seinen Dresdener
+Artikeln ber mich verbreitete, zusammengestellt, um sie
+gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer trotz der Krze der
+Zeit nicht weniger als hundertzweiundvierzig. Mehr hat
+bisher wohl noch kein Mensch geleistet! Ich betone aber
+ausdrcklich, da diese Aufstellung nicht etwa alles, sondern
+nur eine Auswahl enthlt. Ich knnte diese Ziffer trotz
+ihrer Hhe gut verdoppeln. Ich habe lange dazu
+geschwiegen, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Da
+mute ich mich endlich wehren. Ich erstattete bei der
+Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Erpressung. Ich legte
+seine Briefe bei. Auch die drohende Karte vom 7. September
+1904. Die Sachverstndigen erklrten, da Lebius
+sie unbedingt geschrieben habe. Die erwhnte Behrde
+aber war der Ansicht, da dies nicht zureiche, eine
+Untersuchung zu erffnen. Und Lebius gab sich bei seinen
+Ausknften die grte Mhe, mich als einen Menschen
+hinzustellen, dem man nicht glauben drfe. Das Meisterstck
+hat er dabei abgelegt, indem er der Kniglichen
+Staatsanwaltschaft in Dresden berichtete, da der Wirt
+des Hotels auf dem Berge Sinai in Dresden gewesen
+sei und sich sehr schlecht ber mich ausgesprochen habe.
+Nun wei aber Jedermann, da es auf dem Berg Sinai
+bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben hat! Ich
+zeige damit wohl zur Genge, was man von der
+Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann.
+Ich erhob zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog
+ich whrend der Verhandlung aus reinem Ekel vor dem
+Schmutz, in dem ich da waten sollte, zurck. Die andere
+brachte ihm in der ersten Instanz eine Geldstrafe von
+30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er
+freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und
+einen Vertreter stellte, der die Sache fhrte, ohne
+orientiert zu sein.
+
+ Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen
+wie unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe.
+Gewi wenig genug! Da ich Berichterstattern Auskunft
+gab, wenn sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz
+von selbst. Es kann mir niemand zumuten, diesen Herren
+aus Angst vor Herrn Lebius die Unwahrheit zu sagen.
+Dennoch behauptet er noch heute, da nicht ich von ihm,
+sondern er von mir verfolgt und angegriffen werde.
+
+ Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer
+ganz bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hrten
+seine Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwhne da
+nur den Aufsatz in der sterreichischen Lehrerzeitung, durch
+den er ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg.
+Ich schwieg selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen
+"Wahrheit" in Berlin einen geradezu emprenden
+Angriff gegen mich brachte, in dem er mich als "atavistischen
+Verbrecher" brandmarkte, der wegen "fortgesetzter
+Einbruchdiebsthle" fast ein Jahrzehnt im Gefngnis
+und Zuchthaus gesessen habe! Er behauptete da, da
+ich eine schwere, chronische Krankheit durchgemacht habe,
+die "offenbar kulturhemmend" gewirkt habe. Hiermit
+hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk
+in Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich
+gezwungen, ihn dort persnlich aufzusuchen, weil ich in dem
+groen Mnchmeyerproze eine Frage an ihn zu richten
+hatte, die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem
+Zwecke mit meiner Frau nach Berlin. Wir entdeckten
+seine Wohnung. Wir hrten, da er ein neues Blatt
+herausgab, der "Bund" genannt. Wir telefonierten
+ihm. Er bestellte uns nach Caf Bauer. Wir folgten
+dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau und
+deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht.
+Er leugnete alles. Ich sagte ihm, da ich sein neues
+Blatt sehen mchte. Das war ganz ehrlich und gut
+gemeint, ohne alle bse Absicht. Er aber begehrte sofort
+zornig auf und fragte drohend: "Haben Sie etwas vor?
+Dann gehe ich auf der Stelle von neuem gegen Sie los!
+Hier in Berlin gibt es ber zwanzig Bltter wie die
+"Dresdener Rundschau". Die stehen mir alle zu Gebote,
+wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das gar
+nicht lang!"
+
+ Ich antwortete, da es mir gar nicht einfalle, wieder
+in den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu
+seiner Frau in ruhiger, freundlicher Weise, da es die
+schnste Aufgabe verheirateter Frauen sei, vershnend zu
+wirken und die Hrten des Lebens zu mildern; dann
+entfernten wir uns.
+
+ Das war am 2. oder 3. September. _Einen_Monat_
+_spter,_ am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin;
+ich war verreist:
+
+ Geehrter Herr!
+
+ Obwohl vllig unbekannt, erlaube ich mir, bei
+ Ihnen einmal anzufragen, ob Sie mir nhere Mitteilungen
+ ber einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden,
+ machen knnten. Genannter Herr, ehemaliger
+ Sozialdemokrat, hat gegen mich als den seinerzeit
+ verantwortlich zeichnenden Redakteur des "Vorwrts"
+ die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es wird vor
+ Gericht meine Aufgabe sein mssen, Herr Lebius als
+ "Ehrenmann" zu kennzeichnen. Auf den Rat eines
+ Dresdener Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an
+ Sie, ob Sie mir ber diesen Herrn vielleicht einige
+ Auskunft geben knnten. Sollte dies der Fall sein,
+ so sehe ich Ihrer Freundlichkeit sehr verbunden
+ entgegen.
+
+ Mit grter Hochachtung
+ Carl Wermuth,
+ Redakteur des "Vorwrts".
+
+ Ich wiederhole, da ich verreist war und also auf
+dessen Wunsch, selbst wenn ich gewollt htte, nicht
+eingehen konnte. Am 5. April 1908, also
+| ein volles halbes Jahr spter, |
+erhielt ich von der Redaktion des "Vorwrts" eine weitere
+Zuschrift:
+
+ _"Zu_unserem_Bedauern_haben_Sie_es_bisher_
+ _unterlassen,_sich_ ber die gegen Sie gerichteten
+ Angriffe des Lebius _zu_uern_ resp. _uns_die_
+ _notwendigen_Beweismittel_ der ehrenabschneiderischen
+ Ttigkeit des Lebius in Bezug auf Ihre Person _zur_
+ _Verfgung_zu_stellen._ Wie ich von meinem Kollegen
+ Wermuth erfuhr, hat Ihre Frau mitgeteilt, da
+ Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden und _nicht_in_
+ _der_Lage_seien,_uns_mit_dem_gewnschten_
+ _Material_gegen_Lebius_zu_versehen._ Ich hoffe,
+ da Sie inzwischen von der Reise zurckgekehrt sind
+ und nunmehr . . . ."
+
+ Hiermit ist wohl zur vollsten Genge bewiesen, _da_
+_nicht_ich_Herrn_Lebius_verfolge,_sondern_er_mich._
+Herr Lebius behauptet, da ich mich damals, am Sedanstage,
+an ihn gemacht habe, um dem "Vorwrts" beizustehen.
+Hier beweise ich, da ich damals von jener
+Beleidigungsklage noch gar nichts gewut habe, sondern
+da der "Vorwrts" es mir erst einen Monat spter
+mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten
+_noch_gar_keine_Antwort_bekommen_hat!_ Ich hatte
+also Herrn Lebius volle sechs Monate geschont, wo es
+mir doch durch die Sozialdemokratie so bequem und leicht
+gemacht worden war, mich an ihm zu rchen. _Da_ich_
+_ihn_nicht_verfolge,_sondern_von_ihm_fort_und_
+_fort_zur_Notwehr_gezwungen_werde,_ ist brigens
+auch schon dadurch erwiesen, da ich es bis heut
+umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit
+dieser Zeugenschaft fr den "Vorwrts"-Redakteur hatte
+es damals folgende Bewandtnis:
+
+ Lebius hatte den "Vorwrts" wegen Beleidigung
+verklagt, und der "Vorwrts" hatte mich, natrlich ohne
+erst viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das
+Gewissen des Lebius sagte ihm, da er von diesem Zeugen
+wohl nicht viel freundliches zu erwarten habe. Ja, es
+kam ihm sogar der Gedanke, da ich von dieser Zeugenschaft
+schon im Caf Bauer gewut habe. Das erzrnte
+ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach
+Radebeul, um mir zu drohen. Meine Frau wnschte diese
+Zusammenkunft in meinem Hause; aber darauf ging Frau
+Lebius nicht ein. Die beiden Frauen trafen sich im
+Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau Lebius
+uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und
+wie ich als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte
+ich vor Gericht erklren, da er jene drohende Postkarte
+vom 7. September in Dresden nicht geschrieben habe.
+Tue ich das nicht, so msse er den alten Kampf gegen
+mich von Neuem beginnen. Meine Frau lehnte das ganz
+entschieden ab, denn wir waren jetzt mehr als je berzeugt,
+da er der Verfasser sei. Seine Frau kehrte also
+unverrichteter Sache nach Berlin zurck.
+
+ Als Lebius diesen Versuch milungen sah, beschlo
+er, mich eidesunwrdig zu machen, und zwar durch eine
+Broschre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge
+aufzutreten hatte, herausgegeben werden mute. Da aber
+diese Broschre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen
+war, da sie ganz unbedingt eine Bestrafung des
+Verfassers nach sich zog, die Lebius von sich abwenden
+wollte, so sah er sich nach einem Strohmanne um, der
+ihn und Karl May noch nicht kannte und unerfahren,
+vertrauensselig und bedrftig genug war, sich fr einige
+Hundert Mark _vllig_ungeahnt_ in die ganz sicher zu
+erwartende _Gefngnisstrafe_strzen_zu lassen._ Er
+fand ihn in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus
+Basel, zog ihn in sein Netz und umspann ihn derart mit
+Selbstvergtterungs- und Lgenfden, da der junge,
+vllig ehrliche Mann es fast fr eine Ehre hielt, sich in
+den Dienst eines so bedeutenden, geistig, sozial und auch
+juristisch hervorragenden Mannes stellen zu drfen.
+
+ Lebius ging, wie berhaupt und immer, auch hierbei
+auerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er
+verschwieg anfnglich, da es sich _nur_ um eine Broschre
+gegen _mich_ handle. Er machte dem jungen Manne
+weis, da er ein w i s s e n s ch a f t l i c h e s Werk ber
+berhmte resp. berchtigte Mnner schreiben solle. Er
+nannte ihm die Namen derselben; darunter befand sich
+auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk
+machte und tglich seine Instruktionen erhielt, lauteten
+diese so, da nach und nach alle diese "Berhmten und
+Berchtigten" verschwanden und nur Karl May allein
+brig blieb. Aus dem "wissenschaftlichen" Werke aber
+sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefhrlichsten
+Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag
+immer deutlicher. Er begann zu ahnen, da er mit aller
+Liebenswrdigkeit in das Verderben gefhrt werden solle.
+Als er das Herrn Lebius zu verstehen gab, hielt dieser
+es fr geraten, ihm den ganzen Zweck der Broschre
+einzugestehen. Er gab folgendes zu:
+
+| Lebius hat den Redakteur des "Vorwrts" |
+| wegen Beleidigung verklagt. |
+
+| Der "Vorwrts" hat Karl May als Zeugen |
+| gegen Lebius angegeben. |
+
+| Darum ist es fr Lebius notwendig, Karl |
+| May kaput zu machen. |
+
+| Um das zu erreichen, gibt er die hier in |
+| Arbeit liegende Broschre heraus. |
+
+| Der Termin, in dem Karl May als Zeuge |
+| verhrt wird, findet anfangs April statt. |
+
+| Darum mu die Broschre ganz unbedingt |
+| bis zum 1. April fertig zum Versenden sein. |
+
+| Wenn die Broschre erst spter fertig wird, |
+| hat sie keinen Zweck; dann braucht man sie |
+| berhaupt gar nicht erst zu schreiben. |
+
+| Sie wird an die Zeitungen versandt, die |
+| darber berichten. Das soll auf die Richter |
+| wirken. |
+
+| Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. |
+| Sobald dies geschieht, ist May als Zeuge kaput. |
+
+ Als der ehrliche, junge Mann das hrte, wurden
+seine Bedenken noch grer, als sie vorher gewesen waren.
+Als er diese uerste und seiner Besorgnis, gerichtlich
+bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm
+folgendes vor:
+
+| Wir Schriftsteller stehen berhaupt und stets |
+| mit einem Fue im Gefngnisse. |
+
+| Bestraft zu sein ist fr uns eine gute |
+| Reklame. Auch ich bin schon oft vorbestraft. |
+
+| Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht |
+| zu frchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie |
+| drfen schwren. May aber darf nicht schwren. |
+
+| May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm |
+| verboten, in einer Stadt zu wohnen. Darum |
+| wohnt er in Radebeul. |
+
+| I ch b i n e i n g r o e s, f o r e n s i s ch e s |
+| T a l e n t. W e n n i ch a n f a n g e z u s p r e ch e n, |
+| s i n d d i e R i ch t e r a l l e m e i n! |
+
+| W e n n m a n i n e i n e m P r o z e s s e st e ck t |
+| u n d m a n s ch r e i b t e i n e s o l ch e B r o s ch r e, |
+| d a s w i r k t u n g e h e u e r b e i d e n R i ch t e r n! |
+
+| Die Frau May hat mich mit Trnen in den |
+| Augen um Gnade fr ihren Mann gebeten. |
+
+| May mu durch die Broschre totgemacht |
+| werden. Alles brige ist Beiwerk, u m d e n |
+| w a h r e n Z w e ck z u v e r s ch l e i e r n! |
+
+ Die Folge von diesen und hnlichen sonderbaren
+Expektorationen war, da Kahl beschlo, sich von dieser
+Sache zurckzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm
+zu drucken oder gar etwa seinen Namen fr diese Broschre
+zu mibrauchen. Er richtete ganz dasselbe Verbot
+auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher
+aus diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber
+er kannte Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht.
+Die Broschre erschien, und zwar genau am ersten April.
+Ihr Titel war:
+
+| K a r l M a y, |
+| ein Verderber der deutschen Jugend |
+ von
+| F. W. Kahl-Basel. |
+
+ Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, da
+die Broschre doch noch erschienen sei, und zwar unter
+seinem Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte.
+Der von Lebius gefrchtete Termin, an dem ich als
+Zeuge vernommen werden sollte, hat nicht stattgefunden.
+Ob er den Herren Richtern die Broschre dennoch vorgelegt
+hat oder nicht, ist mir unbekannt. Aber an die
+Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, und zwar mit
+Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren verleumderischer
+Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur
+folgende Zeilen liest, die er an die "Neue Zricher
+Zeitung" schickte:
+
+ "Herr May hat sich an mir dadurch gercht, da
+er durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung
+untergrub und mich in den Bankrott trieb. Sobald ich
+in einer andern Stadt festen Fu gefat hatte, erschien
+er wieder auf der Bildflche, um dasselbe Manver zu
+wiederholen. Dabei liebt er es, bevor er zu einem neuen
+Schlage gegen mich ausholt, mich jeweils in meiner
+Wohnung aufzusuchen und mit trnenden Augen um Frieden
+zu bitten."
+
+ Ueber den Inhalt dieser Broschre habe ich hier
+nicht zu sprechen. Ganz selbstverstndlich waren meine
+Vorstrafen aufgezhlt und auch noch etwas mehr dazu.
+Das schickte er in alle Welt hinaus, um mich nach
+Mnchmeyerschem Rezept "kaput" zu machen. Ich erlangte
+eine einstweilige Verfgung gegen sie. Sie durfte
+nicht weitergedruckt und weiterverarbeitet werden. Und
+ich erhob Privatanklage wegen Beleidigung gegen ihn.
+Diese Privatklage konnte nicht zur Verhandlung kommen,
+weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, und deren
+waren weit ber hundert, verloren hatte. Sie fanden
+sich erst dann, als es zu spt war, bei ihm wieder. Ich
+war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschlge, welche
+der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle
+seine Anwrfe gegen mich, materielle wie formelle, zurck,
+drckte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben,
+und versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das
+tat er durch seine Unterschrift. Es war mir unmglich,
+einem solchen, vor Gericht gegebenen Versprechen nicht
+zu glauben. Und doch war es eine Untreue und
+Gewissenlosigkeit sondergleichen, da er mir dieses
+Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders geben,
+als _in_der_Absicht,_es_nicht_zu_halten._ Er hatte
+sich nmlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung
+gesetzt. Sie fhlte, wie meist alle geschiedenen Frauen,
+eine unverstndige Schrfe gegen ihren geschiedenen Mann;
+die trachtete er, fr sich auszunutzen. Er suchte sie in
+Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und
+zufrieden von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr
+gab, obgleich ich ihr nichts zu geben brauchte, weil sie
+die Alleinschuldige war. Auch hatte ich sie in jeder Weise
+reichlich ausgestattet. Da kam dieser Mann zu ihr und
+entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, um daraus mit
+Hilfe seiner eigenen Hinzufgungen und Verdrehungen
+einen Strick fr mich zu fertigen. Er versprach ihr
+ebenso heilig und teuer, wie damals mir, da nichts,
+gar nichts verffentlicht werde, ging aber sofort hin und
+schrieb fr seinen "Bund" vom 28. Mrz 1909 einen
+Aufsatz unter der Ueberschrift "Ein spiritistisches
+Schreibmedium als Hauptzeuge der "Vorwrts"-Redaktion." Mit
+diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau
+gemeint.
+
+ Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da
+ber mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und
+zwar mit raffinierter Benutzung und Bearbeitung der
+Bitterstoffe, die im Gemte geschiedener Frauen vorhanden
+sind. Als das arme, unglckliche Weib das las, erschrak
+sie. Er schwieg also nicht! Er hatte nicht Wort
+gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach Berlin, um ihn zur
+Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort. Er bergab
+sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem frher
+gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm
+ihr Beistand wurde. Beide veranlaten sie zunchst, auf
+ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie
+sodann, ihre Pretiosen zu versetzen, damit es "nach auen
+einen besseren Eindruck mache". Das heit doch wohl,
+damit man denken mge, da ich es sei, der diese Frau
+in solche Armut und solches Elend gestrzt habe! Das
+hat Lebius in seinem Briefe an die Kammersngerin vom
+Scheidt, welcher den Gegenstand der vorliegenden Privatklage
+bildet, wrtlich eingestanden, und der Vorsitzende
+der ersten Instanz hat ihn gelobt, indem er ffentlich
+sagte: "Das ist sehr edel von Ihnen!"
+
+ Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles
+Einkommen war und vor dem Nichts stand, eine Rente fr
+das ganze Leben von monatlich 100 Mark versprochen,
+er, der wegen zwei oder drei Mark vergeblich ausgepfndet
+worden ist! Sie hat es ihm zunchst geglaubt;
+er aber hat sehr wohl gewut, da dieses Versprechen
+nicht rechtsverbindlich war. Nichts als Spiegelfechterei!
+Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben zu
+knnen. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur
+200 Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur
+geliehen, denn als er merkte, da sie von ihm weg und
+wieder zu mir strebte, drohte er ihr, sie wegen dieser
+200 Mark um 300 Mark zu verklagen.
+
+ Und was hatte sie davon, da sie auf ihr ganzes
+Einkommen verzichtete, da sie aus ihren schnen,
+wohlgeordneten Verhltnissen in die schmutzige Not und Sorge
+sprang, da sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und versetzte?
+Nichts, weiter gar nichts, als da sie das Rachewerkzeug des
+Herrn Lebius wurde, da er sie abrichtete, so ber mich zu
+denken, zu sprechen und zu schreiben, wie es ihm beliebte,
+und da sie ihm und seinem Schwager Medem in jeder
+Beziehung gnzlich in die Hand gegeben war. Denn als ich
+infolge des obigen Artikels im "Bund" gezwungen war,
+meine geschiedene Frau zu verklagen, machten Lebius und
+Medem ihr die Schriftstze ganz so, da Lebius fr seine
+Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon hatte und
+sie dabei Dinge unterschreiben mute, von deren Zweck
+und Tragweite sie keine Ahnung besa! Es kam vor,
+da sie unter Trnen sich strubte, einen derartigen
+Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber doch!
+Bis sie endlich doch einsah, da es unmglich auf diesem
+Wege und in dieser Weise weitergehen knne, wenn sie
+nicht vollstndig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete
+sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte
+das arme, verfhrte Weib. Ich nahm den Strafantrag
+und den Beleidigungsproze gegen sie zurck. Und nun
+erfuhr ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius
+aus ihrer sicheren, ruhigen Position zu ihm hinbergelockt
+worden war, um wirtschaftlich vernichtet und
+moralisch ausgebeutet resp. gegen mich ausgespielt zu
+werden. Er sagt in seinem Briefe, welcher den
+Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens bildet:
+
+| "Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe |
+| ich allerdings im Hinblick auf meine gerichtliche |
+| Einigung mit May verlangt, da Frau Emma |
+| erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, |
+| weil das nach auen hin einen bessern Eindruck |
+| macht." |
+
+ Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe,
+weil er mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat
+und weil er gerichtlich versprochen hat, mich nun fr
+immer in Ruhe zu lassen, also darum, _"im_Hinblick_
+_darauf"_ mute die Frau nun ihre Kleinodien versetzen,
+damit man _mich_ als den Schurken bezeichne,
+durch den sie in solches Elend getrieben worden sei! Wie
+nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in
+dieser Weise um ihr ganzes, frheres Einkommen und
+um ihre Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem
+seinem Briefe: "Ich habe auch durch meinen Syndikus
+Herrn Geheimrat Ueberhorst Schritte vorbereiten lassen,
+_um_wieder_zu_meinem_Gelde_zu_kommen!"_ Gibt
+es hier berhaupt einen Ausdruck, durch den man
+imstande wre, die Lebiussche Denk- und Handlungsweise
+erschpfend zu charakterisieren?
+
+ Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung vollstndig
+ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder
+einzige geschiedene Frau, deren er sich bemchtigte, um
+seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz
+besondere taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene
+Frauen gegen ihre Mnner auszuspielen. Das eklatanteste
+Beispiel hiervon ist der Fall "Max Dittrich".
+Indem ich ihn hier kurz erwhne, bitte ich um _ganz_
+_besondere_Aufmerksamkeit,_ weil er fr die
+Beurteilung des Herrn Lebius _von_allergrter_
+_Wichtigkeit_ist._
+
+ Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch
+bei mir machte, den Redakteur und Militrschriftsteller
+Max Dittrich als Zeugen dazu geladen, aus Mitrauen
+und Vorsicht, um gegen etwaige sptere Lgen und
+Schwindeleien des Herrn Lebius durch einen vollgltigen
+Zeugen geschtzt zu sein. Herr Dittrich war damals
+vom Anfang bis zum Ende anwesend und hatte jedes
+von mir gesprochene Wort gehrt. Einen solchen Zeugen
+zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer
+peinlicher, immer gefhrlicher. Er beschlo darum, _ihn_
+_eidesunwrdig_zu_machen,_ also ganz dasselbe, was
+er auch bei mir getan hat _und_noch_heute_tut._ Es
+ist das, wie sich spter zeigen wird, _ein_persnlicher_
+_Trick_ von ihm, den er _fr_unfehlbar_ hlt -- -- --
+eidesunwrdig machen!
+
+ Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns whrend
+seines Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder
+Polizist und Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken,
+hat eine Schuld auf sich, die er verheimlichen mu.
+Man mu das _entdecken_ und _in_die_Zeitung_bringen;_
+dann wird man Herrscher und als _"tchtiger_Kerl"_
+bekannt. So tat Herr Lebius auch hier. Die erste Frau
+Max Dittrichs war gestorben; von der zweiten Frau
+hatte er sich scheiden lassen; jetzt war er infolge eines
+Schiffbruchs, bei dem er nur gefhrlich verletzt dem
+Tode entging, schwer nervenkrank geworden. Das gab
+ein hochinteressantes Material, aus dem sich jedenfalls
+etwas machen lie! Herr Lebius ging also aus, um
+nach dem "Werg am Rocken", nach der "heimlichen"
+Schuld und Snde zu suchen. Er forschte berall,
+schriftlich, mndlich, persnlich. Er stellte sich berall ein,
+wo er glaubte, etwas erfahren zu knnen. Er scheute
+sich nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er
+schlich sich zu Dittrichs alter Schwgerin, zu Dittrichs
+Neffen und Nichte, sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die
+wieder verheiratet war und in glcklicher, stiller Ehe
+lebte. Er forschte sie aus, ohne da sie ahnten, warum
+und wozu. Sie antworteten vertrauensvoll und
+unbefangen. Aber als er pltzlich zu ihrem Entsetzen die
+Worte "Gericht" und "Eid" fallen lie, da fhlten sie
+die Krallen, in die sie geraten waren. Sie hatten nichts
+Bses sagen knnen und baten, sie aus dem Spiele zu lassen.
+Er versprach es ihnen. Besonders entsetzt ber die Aussicht,
+in diesen Lebiusschen Schmutz verwickelt zu werden,
+war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger Mann war ein
+lieber, guter, aber in Beziehung auf die "Ehre" sehr
+streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in
+_solcher_ Angelegenheit an Lebius' Seite, das wre
+unbedingt von den schwersten Folgen fr ihn und sie
+gewesen! Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu
+verwickeln, und er scheute sich nicht, es ihr hoch und
+heilig zu versprechen. Dann aber ging er schleunigst hin
+und brachte in Nummer 12 seiner "Sachsenstimme"
+einen Bericht, dem ich nur einige Punkte entnehme, die
+nicht einmal die schlimmsten sind, nmlich:
+
+ "Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine
+Kinder, wohl aber zwei von seiner Stieftochter, bevor
+diese das 16. Lebensjahr erreichte."
+
+ "Seine Frau hrmte sich ber die Ausschweifungen
+ihres Mannes zu Tode."
+
+ "Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb
+Dittrich es schlielich so schlimm, da eine Ehescheidung
+unvermeidlich wurde."
+
+ "Mit der 16jhrigen mit im Hause wohnenden
+Nichte seiner Frau unterhielt er ein mehrjhriges
+Verhltnis."
+
+ "Dann fing er ein Verhltnis mit einem jungen
+Mdchen an."
+
+ "Seine Frau lie ihn durch ein Detektivbureau
+beobachten."
+
+ "Whrend des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich
+mit seiner Braut zusammen und hatte auch seine
+Tochter bei sich."
+
+ "Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen
+Nervenleidens Halbinvalide" usw.
+
+ Man kann sich den Schreck der Verwandten denken,
+als sie das lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert
+wurden, weil Max Dittrich ganz selbstverstndlich
+Herrn Lebius verklagte! Die Nichte mute im Hause
+vernommen werden; sie lag krank. Die geschiedene Frau
+Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter und
+sagte ihm aufrichtig, da diese entsetzliche Sache ein
+absoluter Totschlag fr das Glck ihrer jetzigen Ehe sei;
+sie werde das wohl kaum berleben. Dieser vortreffliche
+Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu
+auch ein menschliches Herz in der Brust und erledigte
+die Vernehmung in entsprechender humaner Weise.
+
+ Selbst angenommen, da die von Lebius angegebenen
+Punkte alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl
+fr jeden nur einigermaen gebildeten und nicht verrohten
+Menschen die Frage nahe, ob die Verffentlichung solcher
+Dinge _gesetzlich_ resp. _premoralisch_statthaft_ sei.
+Ich bin berzeugt, da jedermann, auer Lebius, diese
+Frage mit einem "Nein!" beantworten wird. Das
+wrde zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls
+gengen, ist aber noch lange nicht alles, denn wenn man
+Gelegenheit findet, die Akten Dittrich contra Lebius
+aufzuschlagen, so sieht man am Schlusse derselben Herrn
+Lebius in noch ganz anderer Weise beleuchtet. Er
+gesteht da nmlich ein, da seine Verleumdungen gegen
+Max Dittrich
+| nicht wahr gewesen seien, |
+und erklrt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu
+tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen,
+um diesen Herrn nun zu kennen.
+
+ Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den
+anderen ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines
+Rowdyblattes heraus die Menschen niederknallt, so oft
+es ihm beliebt, das wird von der Strafgesetzgebung der
+Zukunft wohl ganz anders betrachtet und ganz anders
+behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt es,
+Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und menschheitsethische
+Instanzen, welche den Totschlag einer Menschen_seele_
+fr wenigstens ebenso strafbar halten wie die
+Ermordung eines Menschen_krpers._
+
+ Am 27. Mrz 1905 hatte Lebius die oben aufgefhrten
+Anklagen in seiner "Sachsenstimme" gegen
+Max Dittrich geschleudert, und am 18. November darauf
+erklrte er in der zweiten Strafkammer des Kniglichen
+Landgerichtes Dresden zu Protokoll:
+
+| "Ich erklre, da ich die gegen den |
+| Privatklger in der "Sachsenstimme" vom 27. Mrz |
+| 1905 erhobenen, beleidigenden Behauptungen |
+| ! ! ! als unwahr ! ! ! |
+| hiermit zurcknehme und mein Bedauern ber |
+| die gemachten Aeuerungen in der "Sachsenstimme" |
+| ausdrcke und den Privatklger deshalb |
+| ! ! ! um Verzeihung bitte ! ! ! |
+
+ Als dann einige Jahre spter Lebius in Berlin
+Streit und Prozesse mit dem "Vorwrts" begann, gab
+dieser den Militrschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen
+ihn an. Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten
+Trick, Zeugen durch die Presse unschdlich zu machen.
+Er verffentlichte genau dasselbe wieder, was er damals
+ber Dittrich verffentlicht und dann vor dem Dresdener
+Landgericht
+| ! ! ! als unwahr ! ! ! |
+mit der Bitte um Verzeihung zurckgenommen hatte.
+Dittrich war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu
+verklagen und auf jene Zurcknahme und Bitte um
+Verzeihung hinzuweisen. Was tat Lebius? Er erklrte in
+seinem an das Knigliche Amtsgericht Charlottenburg
+gerichteten Schriftsatz vom 24. Dezember 1909, da er
+damals jene Abbitte und jenes Eingestndnis der
+Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich
+| "aus Grnden wirtschaftlicher Natur" |
+abgelegt habe. Seine Verhltnisse seien damals so
+bedrngt gewesen, da er nicht zu den Gerichtsterminen
+nach Dresden habe reisen knnen. Er selbst also ist es,
+der das folgende moralische Portrt von sich liefert:
+
+| Lebius verleumdet den Militrschriftsteller |
+| Dittrich 1905 in seinem Dresdener Blatte. |
+
+| Lebius erklrt 1905 vor dem Dresdener |
+| Landgericht, da diese Verleumdungen erlogen |
+| seien, und bittet um Verzeihung. |
+
+| Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte |
+| jene von ihm als Lgen bezeichneten |
+| Verleumdungen als Wahrheiten wieder. |
+
+| Lebius erklrt 1909 in seinem Schriftsatz an |
+| das Amtsgericht Charlottenburg, da er damals |
+| das Landgericht Dresden angelogen habe. |
+
+ Und warum dieser Rattenknig von Lgen vor Gericht!
+Und wie ist es mglich, da ein Mensch, der doch
+Ehr- und Schamgefhl besitzen mu, sich vor Gericht als
+Lgner erklren und dann auch diese Erklrung als Lge
+bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf
+diese Frage: Er befand sich in bedrngter Lage;
+| ! ! ! er hatte kein Geld ! ! ! |
+
+ Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein fr
+ihn vollstndig gengender Grund, _Richter_und_
+_Gerichtsmter_zu_belgen_und_sich_als_einen_
+_Charakter_hinzustellen,_dem_kein_vorsichtiger_
+_Mensch_mehr_etwas_glauben_kann!_
+
+ Ich knnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise
+von Lebius zu erzhlen. Fr meine heutigen Zwecke aber
+gengt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir
+die Unwahrheiten, welche Lebius ber mich verbreitete,
+notiert, nicht alle, sondern nur die augenflligsten. Es
+sind jetzt _ber_fnfhundert,_ die ich ihm gerichtlich
+beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei
+Wochen vier Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich
+an diesen Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt
+man Hinrichtung! Und dabei legt er, wie bereits
+erwhnt, den grten Nachdruck immer darauf, da ich
+ihn verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und
+frchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe
+ich nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal
+beim Gericht Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen
+seinen ferneren Angriffen geschwiegen, bis er mich durch
+die angebliche Kahl-Broschre zwang, mich zu verteidigen,
+weil ich _"vor_den_Richtern_kaput_gemacht"_werden_
+_sollte._ Und selbst da habe ich ihm verziehen, habe mich
+mit ihm verglichen, habe gegen sein Versprechen, mich
+fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag zurckgezogen,
+obgleich der betreffende Richter sagte, da Lebius
+_eine_schwere Strafe_ erleiden werde, falls es zur
+Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 B. 254 08/34,
+gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen, da
+Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich knftig
+in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich
+verfhrte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer
+Schmucksachen beraubte _und_sie_fast_an_den_Bettelstab_
+_brachte._ Sie wurde von ihm zu gerichtlichen
+Schritten gegen mich verleitet, die man fast wahnsinnig
+nennen mu. Und dabei hatte er den Mut, in der ersten
+Instanz des vorliegenden Beleidigungsprozesses zu
+behaupten,
+ | "da er ihre Interessen vertreten habe und |
+ | also den Schutz des 193 beanspruchen drfe!" |
+
+ Niemals ist eine grere Unwahrheit ausgesprochen
+worden als diese! Lebius hat durch die Verfhrung der
+Frau Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeinteressen
+verfolgt, _die_Interessen_dieser_armen_Frau_
+_aber_geradezu_mit_Fen_getreten._ Es ist unerhrt,
+da er dafr auch noch den Schutz des 193
+verlangt!
+
+ Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet
+worden, da er ein Mensch sei, "der ber Leichen
+geht." Meine geschiedene Frau hat anstatt "Mensch"
+sogar ein anderes, uerst schlimmes Wort gebraucht,
+ohne da er es gewagt hat, sie darber gerichtlich zu
+belangen. Ob dieser Vorwurf wahr ist oder ob er zu
+viel sagt, das knnte ich mit vielen Beispielen belegen;
+ich will aber nur das eine bringen: Nach der in den
+Bltterberichten vllig korrumpierten Charlottenburger
+Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte der
+"Boston American" in Boston, Massachusetts, folgende
+ihm aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:
+
+ "Autor frommer Bcher, ein Bandit. Berlin --
+-- -- Herr Charles May, der Millionr, Philanthrop,
+Autor frommer Bcher und eine hervorragende Persnlichkeit
+Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der
+Verber vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend
+des sdlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine
+Ruberbande anfhrte, gebrandmarkt. _May_brach_zusammen_
+_und_wurde_unter_den_Schutz_seiner_Freunde_gestellt,_
+_um_zu_verhindern,_da_er_Selbstmord_begehe_
+usw." Sich solche monstrse Unwahrheiten aussinnen,
+um mich "kaput zu machen", das ist doch wohl
+ber Leichen gegangen. Oder nicht? Doch hiermit genug
+ber diesen Herrn Lebius. Alles Andere gehrt vor das
+Gericht, nicht aber hierher. Um meine Leser klar sehen
+zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, da der Mnchmeyersche
+Rechtsanwalt Dr. Gerlach auch sein Rechtsanwalt
+ist und da Beide einander gegenseitig die weitgehendste
+Hilfe und Untersttzung leisten. Ich habe noch
+zwei uerst interessante Mnchmeyersche Champions zu
+erwhnen, die in Beziehung auf geistige Bedeutung zwar
+weder an Gerlach noch an Lebius kommen, aber als
+fromme, katholische Klosterbrder mitten unter protestantischen
+oder gar aus der Kirche ausgetretenen Kolportageinteressenten
+doch einen frappierenden Eindruck machen.
+
+ Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar
+Pllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem
+Benediktinerpater vor Gericht gegenbergestanden. Der
+hie Willibrord Beler und bezeichnete sich als Professor.
+Er verffentlichte eine schwere Beleidigung im "Stern der
+Jugend" gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei
+Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste
+hin und lie ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren.
+Da stellte sich heraus, da er gar nicht das Recht besa,
+einen Professortitel zu fhren. Er leistete mir folgende
+schriftliche Abbitte:
+
+ "Indem ich die mir in Schriftstcken beigelegten
+ Bezeichnungen "Professor" und "Jugendschriftsteller"
+ auf Wunsch nher dahin bestimme, da ich Lehrer an
+ der Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau
+ und Korrespondent der Jugendzeitschrift "Stern der
+ Jugend" bin, erklre ich hiermit der Wahrheit gem,
+ da ich die in genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25)
+ enthaltene Notiz ber Krankheitserscheinungen des
+ Schriftstellers Karl May bedauere und die von ihm gerichtlich
+ inkriminierten Worte in aller Form zurcknehme.
+
+ Seckau, den 20. Oktober 1904.
+
+ Pater Willibrord Beler
+ O.S.P." [sic]
+
+ Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich
+gerichtlich belangen mu! Der Abt scheint hier wie dort
+Ildefons Schober zu heien. Ist es vielleicht derselbe?
+Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwrts,
+haben die Benediktiner mir meine "Reiseerzhlungen"
+ohne mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen
+untersagte. Ich wei nicht, wie es mglich ist, da ein
+Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und
+verbreiten und mich doch so ffentlich beleidigen und
+verfolgen resp. mich und meine selben Werke in Acht und
+Bann erklren kann! Ich bemhe mich vergeblich, beides
+logisch zusammen zu bringen. Denn da ich diesen
+Nachdruck unmglich dulden konnte, versteht sich ganz von
+selbst! Uebrigens ist dieser Beuroner Pater derselbe, der
+mir "einen Strick drehen will, um mich damit aus dem
+Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Also, erst
+druckt man meine Bcher nach, ohne mich zu fragen, und
+dann peitscht man mich hinaus! In dieser Weise charakterisiert
+Pater Pllmann seinen eigenen Orden, der sich doch
+wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere Literatur
+erworben hat, als da er von einem seiner Angehrigen
+in dieser Weise beleumundet werden sollte!
+
+ Pater Pllmann hat in der katholischen Zeitschrift
+"Ueber den Wassern" eine Reihe von Artikeln gegen mich
+geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener "Freistatt"
+geantwortet. Damit wren wir nun eigentlich mit
+einander fertig, und das Publikum htte zwischen ihm und
+mir zu entscheiden. Aber whrend ich in meinen Antworten
+ganz selbstverstndlich so sachlich und hflich wie
+mglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen
+fast nicht herausgekommen, so da er sich zu einem
+Gang vor das Gericht zu bequemen haben wird. Und
+auerdem ist sein persnliches und literarisches Verhltnis
+zu Herrn Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem
+Mnchmeyerschen Programm, mich in den Zeitungen "kaput
+zu machen", festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius,
+Gerlach u. s. w. in Beziehung zu stehen; es sind ihm
+aber derartige Beziehungen ganz unschwer nachzuweisen.
+Hierber ist Klarheit zu schaffen. Denn da er in dieses
+"Kaputmachen" auf das Krftigste mit eingegriffen hat,
+kann nicht einmal er selbst in Abrede stellen. Seine
+"Wasser"-Artikel werden sowohl im Lebius- als auch im
+Pauline Mnchmeyer-Proze auf das Eifrigste gegen
+mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge oder
+"Sachverstndiger" benannt und wird als solcher in Berlin
+auszusagen haben.
+
+ Herr Pater Pllmann befolgt in Beziehung auf unsern
+Beleidigungsproze eine Taktik, die ich nicht gutheien
+kann. Ich mu mich fragen, ob es in dieser seiner Taktik
+liegt, das Leserpublikum irre zu fhren. Zuerst erschienen
+von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben herab
+klingende Notizen darber, da ich es unterlassen habe,
+meine Drohung, ihn zu verklagen, auszufhren. Und
+nun sich herausstellt, da ich dieses Versprechen doch
+gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich gesinnten
+Zeitungen fort und fort behauptet, da meine Beleidigungsklage
+bald hier bald dort zurckgewiesen worden sei und
+ich smtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht
+fair, vielleicht sogar unwrdig. Es handelt sich hier um
+die Zustndigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den
+Strafantrag gegen Pater Pllmann stellte, gehrte ich
+in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen
+wurde das Amtsgericht Ktzschenbroda erffnet, dem ich
+jetzt nun zustndig bin. Darum fragt es sich, ob die
+Sache infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu
+verhandeln ist. Bis das entschieden ist, hat sie zu ruhen.
+Wer es anders darstellt, kann nur entweder unwissend
+oder bswillig sein. Von Kosten wei ich kein
+Wort.
+
+ Ganz hnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage
+gegen Pater Expeditus Schmidt in Mnchen. Sie wurde
+in Dresden eingereicht und in Ktzschenbroda erstmalig
+verhandelt. Auch hier sind Zustndigkeitsfragen erhoben
+worden, doch nicht von mir. Mir kann es sehr gleichgltig
+sein, an welchem Orte das Urteil gesprochen wird,
+denn meine Sache ist gerecht. Ich habe nicht ntig,
+spitzfindig zu erwgen, an welchem Orte, bei welchem Gerichte
+und in welchem Falle ich meinen Proze gewinne oder
+verliere. Ich habe mich nicht an solche Nebendinge
+zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre
+Wahrheit zu halten; das Uebrige berlasse ich den
+Richtern.
+
+ Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern
+frderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben,
+die Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen
+Dingen hat es sich herausgestellt, da die beiden Pater
+Schmidt und Pllmann in naher Beziehung zu dem Namen
+und der Sache Mnchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht
+in Verbindung mit dem Mnchmeyerschen und Lebiusschen
+Rechtsanwalt. Ich werde die Beweise erbringen, und
+dann wird sich der Zusammenhang mit dem Mnchmeyerschen
+Programm, mich "in allen Zeitungen vor ganz
+Deutschland kaput zu machen", ganz von selbst ergeben.
+Um einen kurzen Rundblick ber den jetzigen Stand der
+Dinge zu ermglichen, schliee ich dieses Kapitel mit einem
+Artikel, den das "Wiener Montags-Journal" am 17.
+Oktober dieses Jahres brachte. Er lautet:
+
+| Karl May als Schriftsteller. |
+ (Eine Genugtuung.)
+
+ Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bnden, die
+Ttigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen
+Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung.
+Denn nicht oft noch ist die schriftstellerische Ttigkeit eines
+Menschen der Grund fr solch bodenlos gemeine und
+hinterhltige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur
+Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausfhrliche Wrdigung
+der so reichen Phantasie eines deutschen Romanziers
+eingehen, wollen wir dem Geschmhten selbst das Wort zu
+einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den erfolgreichen
+Prozessen gegen seine hmischen und boshaften Widersacher,
+zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt uns:
+
+ Die ganze sogenannte "Karl May-Hetze" ist auf
+Unwahrheiten aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist,
+da ich Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzhlungen
+fr unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten
+dieser Erzhlungen sind im "Deutschen Hausschatz"
+erschienen, der doch gewi niemals eine Knabenzeitung
+gewesen ist. Und den spter erschienenen Bnden sieht jedes
+ehrliche Auge sofort an, da sie nur von geistig erwachsenen
+Leuten verstanden werden knnen. Hiermit fallen
+alle Vorwrfe, die man mir als angeblichem "Jugendverderber"
+macht, in sich selbst zusammen. Wenn die Jugend
+meine Bcher trotzdem liest, und zwar sehr gerne, so
+beweist das doch nicht, da ich sie fr sie bestimmt habe,
+sondern da die Jugendseele in ihnen findet, was ihr von
+andern vorenthalten wird.
+
+ Eine zweite Unwahrheit ist die, da ich in diesen
+meinen Reiseerzhlungen schwindle. Wer das behauptet,
+ahnt gewi nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner
+eigenen Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick
+eines Tertianers aus, zu erkennen, da alles, was ich
+erzhle, nur mit den Wurzeln in das reale Leben greift,
+im brigen aber nach Regionen strebt, die nicht alltglich
+sind. Jeder Leser, der mich begreift, wei, da ich Lnder
+und Vlker beschreibe, die bis heute fast nur in Mrchen
+existieren, fr uns aber nach und nach in das Reich der
+absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was
+anderen noch ein Mrchen ist, als Wirklichkeit erschaue und
+beschreibe, kann dies nur fr unwissende oder belwollende
+Menschen ein Grund sein, zu behaupten, da ich schwindle.
+
+ Frher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser
+beleidigenden Weise ber mich zu urteilen. Wer mich nicht
+begriff, der sagte hchstens, da meine Phantasie eine
+sehr ausgiebige sei. Erst als die grte aller Unwahrheiten,
+die es ber mich gibt, verbreitet wurde, nmlich
+die, da ich "abgrundtief unsittliche Schundromane"
+geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen Tone mit
+mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von
+einer Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es
+lag, sie zu verbreiten, um durch meinen Namen mglichst
+viel Geld zu verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns,
+dem damaligen Hauptredakteur der "Klnischen Volkszeitung",
+den Mann, der durch seine Verffentlichungen fr
+diese Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar
+unternahm, die sogenannten "Beweise" zu liefern, da die
+betreffenden Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur
+aus meiner Feder stammen. Ganz selbstverstndlich konnte
+der wahre, unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung
+der von mir geschriebenen Originalmanuskripte gefhrt
+werden. Jeder andere Beweis konnte nur durch absichtliche
+Tuschung oder Selbstbetrug ermglicht sein und
+mute sich schlielich zur Spiegelfechterei gestalten.
+
+ Welche Art des Beweises nun fhrte Herr Cardauns?
+Er brachte Behauptung ber Behauptung. Er fhrte eine
+ganze Reihe von "inneren Grnden" an, hinter denen sich
+der Mangel an wirklichen Grnden versteckte. Er sprach
+von Beweisen, Belegen, untrglichen Aktenstcken und
+dergleichen. Das Wiener "Neuigkeits-Weltblatt" weist ihm
+sogar die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege
+dafr, da May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann
+mute hierauf annehmen, da er meine Originalmanuskripte
+in den Hnden habe, und darum glaubte man ihm, zumal
+die Bltter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir
+die Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten.
+Er machte mit seiner Selbsttuschung Schule: andere
+tuschten sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von
+selbst zur richtigen Einsicht kamen. Heute glauben nur
+noch Wenige seinen Ausfhrungen. Andere akzeptieren
+sie aus prozessualen und hnlichen guten Grnden. Ob
+Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pllmann,
+meine beiden neuesten Gegner, wirklich an ihren Cardauns
+glauben, das wei ich nicht; ich kann da nur vermuten.
+Was sie behaupten, gilt fr mich noch lange nicht als
+Beweis. Aber sie fuen in allem, was sie gegen mich
+tun, auf altem Cardaun'schem Grund und Boden und
+scheinen wirklich berzeugt zu sein, da ich nchstens unter
+ihren und den Anschuldigungen ihrer Verbndeten
+zusammenbrechen werde.
+
+ Diese Verbndeten sind: die frhere Kolporteuse Frau
+Pauline Mnchmeyer, Herausgeberin des berchtigten,
+von der Polizei konfiszierten "Venustempels". Ferner
+der Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden,
+der nun schon seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im
+Felde liegt. Und endlich der wohlbekannte Herr Rudolf
+Lebius in Charlottenburg, der aus der christlichen Kirche
+ausgetretene Sozialist, dem ich 3000 bis 6000 Mark und
+dann sogar 10 000 Mark geben sollte, dafr wolle er mich
+in seinem Blatt loben und preisen. Ich gab ihm nichts.
+Da ging er zu Mnchmeyers ber und war seitdem der
+unermdlichste meiner Gegner. Ich bemerke ausdrcklich,
+da auch er Herrn Advokaten Gerlach zum Anwalt hat.
+Und wenn ich nun hinzufge, da dieser Mnchmeyersche
+Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater von Pater
+Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pllmann ist, so
+ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin
+vollstndig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns,
+Frau Kolporteuse Pauline Mnchmeyer, Herr Advokat
+Gerlach, Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pllmann.
+Diese alle sind jederzeit schubereit. Sie leugnen zwar
+den gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren
+Prozessen gegenseitig als Zeugen und Sachverstndige an und
+helfen einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen
+mich und bei der Anfertigung von Eingaben und Schriftstzen
+fr das Gericht. Der Ueberragendste von ihnen
+ist aber dieser Mnchmeyersche Advokat, der alles und
+alle dirigiert, sogar die beiden Patres. Der unschdlichste
+und erfreulichste aber ist Herr Cardauns, der meines
+Wissens niemals zu dem Eingestndnis gebracht werden
+konnte, da er meine Originalmanuskripte nicht besitze,
+krzlich aber in Bonn in meiner Gegenwart vor dem
+beauftragten Richter als Zeuge zugeben mute, da er sie noch
+nie gesehen habe.
+
+ Ob mich die Dame Mnchmeyer mit Hilfe ihrer fnf
+weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen
+wird, ist eine schon lngst entschiedene Frage. Kein Kenner
+der Verhltnisse stellt sie mehr auf. -- --
+
+ Radebeul-Dresden, Oktober 1910.
+ Karl May.
+
+ _________
+
+
+ IX.
+ Schlu.
+
+ _____
+
+Wie meine "Reiseerzhlungen" nur Skizzen sind, so ist
+auch das vorliegende Werk nur Skizze. Es kann gar
+nichts anderes sein, weil das, was ich erzhle, noch nicht
+zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener
+Prozesse wie drohende Revolver auf mich gerichtet sind.
+Auerdem verhindern mich brutale Krperschmerzen, in
+der Weise zu schreiben, wie ich mchte. Zehn Jahre lang
+tglich viermal ganze Ste von Briefen und Zeitungen
+erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude
+berflieen, das hlt kein Simson und kein Herkules aus.
+Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir
+nicht das Geringste gendert. Mein Gottvertrauen und
+meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen.
+Aber meinen Krper, den frher so unverwstlich scheinenden,
+hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen.
+Seit einem Jahre ist mir der natrliche Schlaf versagt.
+Will ich einmal einige Stunden ruhen, so mu ich zu
+knstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur
+betuben, nicht aber unschdlich wirken. Auch essen kann
+ich nicht. Tglich nur einige Bissen, zu denen meine arme,
+gute Frau mich zwingt. Dafr aber Schmerzen, unaufhrliche,
+frchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts
+mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal
+aus der Hand reien! Mir ist, als msse ich ohne Unterla
+brllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht
+sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch mu ich das
+alles. Ich mchte am liebsten sterben, sterben, sterben,
+und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil
+meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich mu meine
+Aufgabe lsen.
+
+ Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe
+ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie
+ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. Ich
+sagte bereits: Das Karl May-Problem ist, wie das
+Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem
+im Einzelnen. Aber whrend die meisten Menschen nur
+dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse
+Phasen des groen Problems darzustellen, gibt es noch
+Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild
+desselben zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im
+Einzelnen, sondern im Ganzen zu liefern. Die Vielen
+stellen Menschheitsteile, diese Wenigen aber stellen
+Menschheitsbilder dar. Die Vielen knnen ihren engen
+Kreis sauber halten; sie sind Dutzendmenschen; sie knnen
+sogar als Mustermenschen erscheinen. Den Wenigen aber
+ist die Tugend und die Snde, die Reinheit und der
+Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhltnisse
+wie dieser zugeteilt; sie knnen berhmte Feldherren oder
+rohe Mrder, groe Diplomaten oder berchtigte
+Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige
+Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden.
+Ihnen ist nicht das wohltuende Glck der unbewuten
+Mittelmigkeit beschieden. Ist das Leben mchtiger als
+sie, so werden sie zwischen Tugend und Laster, zwischen
+Hhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin-
+und hergezerrt, bis sie ber den Wolken zerstuben oder
+in den Schluchten zerschellen. Sind sie strker als das
+Leben und sind sie im Glcke geboren, so werden sie in
+stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie
+aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und
+der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen,
+weil sie es erreichen mssen, aber der Widerstand, den
+sie zu berwinden haben, wird ein grausamer, ein
+unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren
+Siegesruf erschallen lassen knnen, werden sie ermattet
+zusammenbrechen, um die Augen fr diese Welt zu
+schlieen.
+
+ Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von
+diesen Menschenarten er gehrt, oder er sollte sich doch
+wenigstens verpflichtet fhlen, hierber nachzudenken.
+Das habe ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung
+gekommen, da ich kein billiges, ungestrtes Durchschnittsglck
+zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend
+in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mute, um
+mich ebenso beharrlich und ebenso mhevoll aus ihm
+emporzuarbeiten, wie die Menschheit Strme von Schwei
+und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich
+aus dem ihrigen zu erheben. Ebenso bin ich berzeugt,
+da es mir beschieden war, dabei den hartnckigen
+Widerstand zu finden, der sich mir auch heute noch
+entgegenstellt, und da ich mich nicht ber ihn beschweren
+darf, weil ich ihn mir ebenso selbst bereitet habe, wie
+die Menschheit schneller vorwrtskommen wrde, wenn
+sie endlich aufhren wollte, sich ihren eigenen Weg mit
+Hindernissen zu belegen. Man sieht, da ich keinen
+anderen, als nur mich selbst anklage.
+
+ Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf
+gesprochen, bin ich unbillig oder unfgsam gewesen, so
+war dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern
+die immer noch nicht ganz berwundene Anima ist es
+gewesen, die es mir diktierte. So lange sich der Mensch
+im Niedrigen bewegt, und das mute ich in dieser meiner
+Lebensbeschreibung doch mehr als reichlich tun, hat das
+Niedrige Macht ber ihn, und ich durfte nicht unwahr
+sein; ich mute so schreiben, wie das Milieu es mit sich
+brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und bessere,
+reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und
+freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft
+zurck, alles das, was mich verbittern will, zu
+berwinden.
+
+ Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam
+Grund vorhanden. Ich spreche da nur von den
+letztvergangenen zehn Jahren und den Begleiterscheinungen
+des Mnchmeyerprozesses. Dieser wurde von Seiten
+meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in
+einer Weise gefhrt, die ich vorher fr vollstndig
+unmglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie weitgehender
+Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt schtzt.
+Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter
+herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst
+Niemand erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des
+Paragraphen 193, denn er handelt im Interesse seines
+Klienten. Ich bringe eine Musterauswahl der Ausdrcke,
+die ich mir vom Mnchmeyerischen Advokaten Dr. Gerlach
+gefallen lassen mute, weil er sich ihrer in seiner
+Eigenschaft als Anwalt bediente:
+
+ Er beschuldigte mich "frecher Anzapfungen", "unberechtigter
+Forderungen", zahlreicher "Dreistigkeiten"
+und "faulen Zaubers". Er nannte mich "raffiniert",
+"frech", "dreist", "verleumderisch", "pathologisch zur
+Unwahrheit reizend", "Lgner", "Lgenmay", Renommist",
+"Mnchhausen", "Aufschneider", "Betrger", "Lump",
+"Schwindler", "Allerweltsschwindler", "Einbrecher",
+"Hochstabler" [sic], "Zuchthusler" usw. usw. Ich frage:
+Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die
+Wahrheit enthielten, im gewhnlichen Leben erlaubt?
+Wrde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich
+ihrer schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr
+vor Gericht sind sie gestattet, denn ich habe diesen
+Anwalt auf sie hin wegen Beleidigung verklagt und bin
+abgewiesen worden. Aber noch mehr: Er erhob auf
+diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und
+diese wurde nicht zurckgewiesen. Der Richter ist hieran
+vllig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz
+verlangt es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen fr
+die Mnchmeyersche Partei nicht gnstig ausgefallen
+waren, sagte dieser Anwalt zum Richter: "Aber es ist
+doch ganz unmglich, da ein vorbestrafter Mensch, wie
+May, den Proze gewinnen kann!" "Das haben Sie
+abzuwarten," antwortete ihm der Richter. Ich stand
+dabei und mute mir die Beleidigung gefallen lassen,
+denn das Gesetz erlaubte sie ihm. Das ist nun fast zehn
+Jahre lang so gegangen und geht noch heut in diesem
+Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch stehender
+Richter sagte, hierauf bezglich, zu meinem Rechtsanwalt:
+"Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir eine
+Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May.
+Was mu dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er
+htte getrost hinzufgen knnen: "Was leidet er noch,
+und was wird er noch weiter leiden!" Dieser Richter
+kannte meine Vorstrafen genau; er hatte die hierber
+vorhandenen Akten studiert. Ich gewann trotzdem und
+trotz aller gegnerischen Schmhungen den Proze in
+smtlichen Instanzen, gewi ein laut sprechender Beweis,
+da der deutsche Richter sich durch anwaltliche Invektiven
+nicht beeinflussen lt; aber ruhig anzuhren hatte ich
+sie doch und habe ich sie noch heut. Und sie wirken,
+wenn nicht auf das Urteil, so doch ganz bestimmt nach
+anderer Seite hin. Sie verrohen den Parteiverkehr und
+greifen aus dem Verhandlungszimmer hinaus in das
+ffentliche und hinein sogar in das private Leben. Man
+wird alle die beleidigenden Ausdrcke ber mich, die ich
+oben angefhrt habe, schon in den Zeitungen gelesen
+haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet
+sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die
+jeder belwollende, rcksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen
+darf, wenn er einsieht, da die Roheit ihn weiter fhrt
+als die Humanitt. Er schreibt diese Roheiten in seine
+Schriftstze und lanciert sie von da als beweiskrftiges
+Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder er schickt
+sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in gedruckter
+Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, da
+sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte
+einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Bltter oder
+Blttchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede
+Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu
+erschttern oder wohl gar zu vernichten. "In den Zeitungen
+von ganz Deutschland kaput machen," nennt man das.
+Und das Gesetz begnstigt dieses Treiben!
+
+ Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes
+Beispiel nahe, welches nichts weniger als empfehlend fr
+mich klingt. Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn
+ich der Allgemeinheit ntzen will, nicht fragen darf, ob
+ich mir selbst etwa dadurch schade. Meine erste Frau
+hatte die Frau eines Dresdener Schriftstellers beleidigt,
+welcher von Mnchmeyers aus wute, da ich vorbestraft
+bin. Er rchte sich dadurch, da er mich bei einem
+deutschen Frsten denunzierte und ihm mitteilte, da seine
+Verwandten meine Bcher lsen und mich auch persnlich
+besuchten. Der Frst antwortete durch Schweigen.
+Da kam eine zweite Denunziation, und nun war der
+Frst gezwungen, sich nach Dresden zu wenden, um zu
+erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei. Er erhielt
+die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach
+Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu
+erkundigen. Er erfuhr, da meine Ehe keine glckliche sei,
+weshalb ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause
+bleibe, und da ich in meinen Bchern ber Lnder
+schreibe, in denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was
+ich da berichte, sei nicht wahr. Infolge dessen steht in
+den Dresdener Polizeiakten ber mich verzeichnet, da ich
+einen unsoliden Lebenswandel fhre und ein literarischer
+Hochstabler [sic] sei. Das wurde dem Frsten mitgeteilt, und
+einer der betreffenden Verwandten erzhlte es mir bei
+nchster Gelegenheit sehr ausfhrlich wieder. Er wute
+sehr wohl, was an der Sache war, bat mich aber um
+Diskretion, so da ich gezwungen war, hierber zu
+schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu knnen, weil
+ich annahm, da derartige Polizeiakten zu den
+verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehren. Jetzt
+aber werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius verffentlicht
+und von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet.
+Wie kommt ein aus der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat
+a. D. zu diesen geheimen Dresdener Polizeiakten?
+Das Gesetz gestattet es! Ganz selbstverstndlich fhle
+ich mich nun nicht mehr zur Diskretion verpflichtet und
+werde darauf dringen, da diese Akten revidiert und
+berichtigt werden.
+
+ Ein weiterer Fall fhrt mich nach Leipzig, wo ich
+wie auf Seite 119 berichtet, vor nun fnfundvierzig
+Jahren auf ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das
+ist so lange her, da die betreffenden Gerichtsakten lngst
+vernichtet worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt,
+da solche Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer
+seien, und diese Dauer ist vorber. Wer hat nun daran
+gedacht, da auch bei der dortigen Polizei Notizen
+hierber gemacht worden und vielleicht noch vorhanden sein
+knnen? Herr Lebius hat sie krzlich verffentlicht! Wie
+kommt ein Mann, wie er, nun auch zu den Leipziger
+Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt es!
+
+ Ebenso hat er meine Scheidungsakten verffentlicht.
+Sie sind doch gewi von diskretester Natur und gehen ihn
+gar nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm!
+
+ Er ist ber Alles unterrichtet, was sich auf meine
+prozessualen Verhltnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das,
+und wer ermglicht es ihm? Das Gesetz und der Mnchmeyersche
+Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige ist.
+Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand.
+Es ist sogar vorgekommen, da Lebius meine geschiedene
+Frau in Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts
+veranlate, dieses aber nach Dresden zum
+Mnchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann fr
+sich ausfllte, wie es fr seine besonderen Zwecke pate.
+Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner reichen,
+persnlichen Erfahrung dafr, da das Gesetz Dinge nicht
+nur erlaubt, sondern sogar begnstigt, die es eigentlich
+auf das strengste verbieten sollte. Dem steht selbst der
+rechtlichste und humanste Richter machtlos gegenber, und
+das war es, woran ich dachte, als ich weiter oben sagte,
+da ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt habe.
+Ich bin vor nun vierzig und fnfzig Jahren unfreiwillig
+da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, denen
+es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung
+zurck zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und
+ich wei, da sie nicht weniger wert sind, als alle die,
+welche nur deshalb niemals strzten, weil sie entweder
+niemals hoch standen oder nicht die ntige innere Freiheit
+besaen, strzen zu knnen. Ich will wieder zu ihnen
+hinab, jetzt als fast Siebzigjhriger, nicht gezwungen,
+sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse. Ich
+will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen
+wagte, nmlich da ihnen Niemand helfen kann, wenn
+sie sich nicht selbst zu helfen wissen. Da sie verloren
+sind, auer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch
+engsten Zusammenschlu unter sich selbst. Ich will ihnen
+mein Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben.
+Will ihnen zeigen, was aller gute Wille und alle Mhe
+fruchtet, wenn bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen
+zeigen, da ein einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser
+eine, einzige Paragraph 193 gengt, selbst die schnsten
+und die besten Erfolge der Willensstrke, der christlichen
+Liebe und der Humanitt mit einem Schlage zunichte
+zu machen. Ich will ihnen sagen, da es eine Snde
+von der Menschheit ist, ihre Mitschuld an der Schuld
+der Schuldigen zu verbergen. Da es aber auch von
+diesen ein Fehler ist, zu verheimlichen, da sie einst
+schuldig waren. Unser Leben, mein Leben, ihr Leben soll
+frei vor Gottes Auge liegen, besonders aber auch frei vor
+unserem eigenen Auge. Dann zrnen wir nicht, und dann
+grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum
+wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und
+sehen wir das ein, so knnen wir uns selbst verzeihen,
+und wer sich selbst verzeihen darf, dem wird verziehen
+werden. Weg also mit der falschen Scham, und heraus
+mit der Offenheit! Nur das Geheimnis, in das wir uns
+hllen, gibt jenem Paragraphen und jedem gewissenlosen
+Menschen die Macht, sich hher und besser zu dnken
+als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu sein!
+
+ Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie
+alles Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur
+Skizze sein. Aber ich fhle das Bedrfnis, das, was
+Andere Bses an mir taten, fr meine Mitmenschen in
+Gutes zu verwandeln. Ich werde es denjenigen, die
+gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermglichen, aus der
+unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlsse zu
+ziehen, die ihnen heilsam sind. Was ntzt alle sogenannte
+"Gerechtigkeit", alle sogenannte "Milde des Gerichtes",
+alle sogenannte "Humanisierung des Strafvollzuges", alle
+sogenannte "Frsorge fr entlassene Strafgefangene",
+wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder
+eines einzigen fragwrdigen Paragraphen bedarf, um all
+das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in
+einem einzigen Augenblicke zu vernichten? Wie kann
+man von dem Gefallenen verlangen, da er wieder aufstehe
+und sich bessere, wenn man es unterlt, auch die
+Verhltnisse, in die man ihn zurckversetzt, zu verbessern?
+Ist es eine Ermunterung fr ihn, zu wissen, da er trotz
+aller Besserung doch, so lange er lebt, der Gechtete, der
+Unterdrckte, der Rechtlose bleiben mu und bleiben wird,
+weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich
+alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut,
+ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche
+ihn beleidigen, bestehlen und betrgen, sein gutes Recht
+zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt
+ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, da ich von
+einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein
+"wissenschaftlichen" Grnden an diesen Pranger genagelt
+worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht
+einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen
+Gesetzesparagaphen zu dieser Vivisektion berechtigt
+worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanitt
+sprechen, ganz unwillkrlich in das Gesicht, ob sich
+da nicht etwa ein sardonisches Lcheln zeigt, welches
+verrt, wie es eigentlich steht. Und da fhlt man mit den
+Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende
+Bedrfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der
+gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht
+zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen mssen, um
+durchschaut zu werden -- -- -- vor die Oeffentlichkeit,
+vor den Reichstag!
+
+ Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen
+hat. Es hat schon Einige gegeben, die als "entlassene
+Gefangene" ihre Erfahrungen niedergeschrieben
+haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend,
+da es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte.
+Hier gengt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen,
+sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch
+im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind. _Und_
+_das_meinige_ist_ein_solches._ Ich fhle mich
+verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der
+Humanitt zu stellen. Wie ich mir das denke, das wird
+man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.
+
+ Es gehrte zu dieser meiner Aufgabe, da die
+Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl
+May, sondern auch mit dem Menschen May befate und
+da Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf
+den letzten Tropfen ausgeschpft werden mute. Das
+Eine war berechtigte Kritik; das Andere war Henker-,
+Schinder- und Kavillerarbeit, die ich ber mich ergehen
+lassen mute, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld
+von dieser Qual und Marter zu befreien. Das war die
+Geisterschmiede meines Mrchens, in der man auf mich
+losschlug, da die Funken durch alle Zeitungen flogen.
+Sie fliegen sogar noch heut. Doch wird bald Ruhe
+werden. Die Zeit des Hammers ist vorber; es kommt
+nur noch die Feile, und dann ist es gut. Da all das
+Leid, welches ber mich kam, auch meine andere, die
+schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen mute, versteht sich
+ganz von selbst. Auch da gab es Schlacken, und zwar
+mehr als genug. Auch sie muten herunter. Es flog
+der Ru, der Schmutz, der Staub, der Hammerschlag.
+Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird
+ausgerumt, damit das reine, edle Werk beginne.
+
+ Es war berhaupt ein groes, ein schweres und
+ein hchst schmerzhaftes Auf- und Ausrumen. Nicht
+nur in meinem Innern, sondern auch in meinem Aeuern,
+in meiner Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner
+Ehe. Alles, was mich in die Schmiede und dem Schmerze
+in die Arme getrieben hatte, mute weichen. An seine
+Stelle trat, was rein und ehrlich war und mit nach oben
+strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, dem Land der
+Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und
+Bs, die nur unter Kmpfen und Opfern ausgefhrt werden
+konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen vorber.
+Zwar rauscht noch hier oder da ein trbes Wasser, irgend
+ein Beleidigungsproze, eine Staatsanwaltschaftsanzeige,
+doch auch das geht bald vorbei, und dann wird Ruhe
+und Friede um mich sein, so da ich endlich, endlich Zeit
+und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches,
+an mein einziges und letztes "Werk" zu gehen.
+
+ Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurck, so bin
+ich voller Dankbarkeit, sie berstanden zu haben. Eine
+"Hetze" wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde
+steht, noch nie in der Literatur irgend eines Landes, eines
+Volkes gegeben. Das gab Zeitungsstrme, Strme in
+den Gerichtsslen, Strme im eigenen Hause und Strme
+im eigenen Innern. Mein alter, treuer, guter Freund,
+der Krper, behauptet zwar, nicht lnger mitmachen zu
+knnen, aber ich bin berzeugt, da er doch wieder so
+bereitwillig und verstndig wird, wie er immer gewesen
+ist. Er hat ertragen mssen, was eigentlich wohl nicht
+zu ertragen war. Zunchst sechs Jahre lang die drei
+Instanzen des ersten Mnchmeyerprozesses mit allen
+Aufregungen und Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren.
+Sodann die zweiundzwanzig Monate whrende Untersuchung
+wegen Meineid und Verleitung dazu. Denn der
+Mnchmeyersche Rechtsanwalt hatte, nachdem der Proze
+fr ihn verloren war, mich und meine Zeugen beim
+Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt. Der Staatsanwalt
+war, nach seiner eigenen Aussage auf diese Anzeige
+eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen.
+Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz
+selbstverstndlich damit, da man weder mir noch meinen Zeugen
+etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch
+nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast
+noch schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten
+Lebiusangriffe. Eine doppelseitige Lungenentzndung, die
+mich monatelang zwischen Tod und Leben schweben lie.
+Die Beschuldigungen, welche meine geschiedene Frau auf
+mich, meine jetzige Frau und ihre Mutter wlzte und
+mit denen sie uns in schwere Strafe bringen wollte. Die
+Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann wegen dieser
+Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben
+lie. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in
+Berlin wiederholt. Glcklicher Weise hatte diese geschiedene
+Frau Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete,
+whrend des Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten
+und ohne all mein Zutun freiwillig erzhlt und
+eingestanden, so da sie zu diesem spteren Leugnen nur
+verfhrt sein konnte. Die Vorlegung dieser Beweise zeigte
+alle Anklagen gegen mich als Lgen. Ferner der Antrag
+des Lebius an die Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus
+zu sperren. Sein Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich
+verfolgen zu lassen. Die zahllosen Artikel gegen
+mich in seinem Blatte, der "Bund". Seine Flugbltter
+mit den grlichsten Unwahrheiten, welche die Runde durch
+Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Italien, Frankreich,
+England, Nord- und Sdamerika machten. Da beschuldigte
+er mich sogar, meinen Schwiegervater erwrgt
+zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit.
+Schlielich eine Denunziation wegen Beleidigung des
+Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefhr vier
+Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich
+wegen Blutschande, die bekanntlich mit bis fnf Jahren
+Zuchthaus bestraft wird. Man sieht, da man zu den
+alleruersten Mitteln greift, mich "kaput zu machen"!
+Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den
+Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und
+Lebenskraft zu verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum
+jeder fhig ist. Ich habe es ertragen, ohne mich zur
+Selbsthilfe reizen zu lassen, weil ich keinen Augenblick
+lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und
+weil mir in dieser berschweren Zeit ein Wesen zur Seite
+gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende Seele mich wie
+auf Engelsflgeln ber alles Leid erhob, dem ich verfallen
+sollte, nmlich meine jetzige Frau. Wenn man berechtigt
+gewesen ist, Bcher ber das Thema "die Bestie im Weibe"
+zu schreiben, so knnte ich mich wohl verpflichtet fhlen,
+demgegenber ein Buch zu verffentlichen, welches den
+Titel "Der Himmel im Weibe" fhrt.
+
+ Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine
+Quelle alles menschlich Reinen, menschlich Edeln und
+menschlich Ewigen ist, lt sich in Beziehung auf das
+Erdenleid Alles erlangen und in Beziehung auf die noch
+vor mir liegende Arbeit Alles leisten, was menschenmglich
+ist. Ich bin nicht mehr so frchterlich allein.
+Ich habe nicht mehr immer nur aus mir selbst herauszuschpfen,
+sondern es hat sich mir ein kstlich reiches
+seelisches Leben zugesellt, durch dessen Einflu sich Alles,
+was in mir zum guten Ziele fhrt, verdoppelt. Krperlich
+schwer leidend, bin ich geistig frisch und seelisch
+wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der Jugendzeit.
+Ich bin nicht tricht genug, mir zu verheimlichen, da
+man mich als einen Ausgestoenen betrachtet, ausgestoen
+aus Kirche, Gesellschaft und Literatur. Der Eine schlgt
+auf mich los, weil er mich fr einen verkappten
+Katholiken oder gar Jesuiten halt; der Andere greift zum
+Prgel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich
+Protestant. Wrden diese Beiden es wohl fertig bringen,
+sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen
+sie die meisten Prgel bekommen? Da man mich als
+gesellschaftlich tot betrachtet, rhrt mich nicht. Ich habe
+nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft
+gehren zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen
+war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten
+Leute, meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das
+Innenleben aneinander so vollauf genug, da wir es gar
+nicht fertig bringen, uns nach "Gesellschaft" zu sehnen.
+Und was meine literarische Ausstoung betrifft, so kann
+ich mich auch mit ihr zufrieden geben. Den Weg, auf
+dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen;
+ich wre also auch ohne den Ha, den man auf mich
+richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein. Auch bin ich
+berzeugt, da spter, wenn man mich und das, was ich
+will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht
+sogar Viele von dem groen Haufen absondern werden,
+um sich mir zuzugesellen. Alte Wege knnen hchstens
+zu alten, toten Schtzen fhren. Wer aber nach neuen,
+lebendigen Schtzen sucht, der soll auch neue, nicht alte
+Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das
+Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch
+ihren Wert oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes.
+Taugen sie etwas, so werden sie bleiben, ganz gleich,
+ob man sie gegenwrtig lobt oder tadelt. Taugen sie
+nichts, so werden sie verschwinden, ganz gleich, ob man
+sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die Hauptsache
+ist, derjenige, der ber ihren Wert oder Unwert bestimmt,
+bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er
+literarisch noch so mchtig und einflureich, kann auch
+nur den geringsten Einflu darauf haben. Das klingt
+stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind
+Skizzensammlungen, sind Vorbungen, sind Vorbereitungen
+auf Spteres. Gelingt mir dieses Sptere, so ist alles, durch
+was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man
+jetzt darber denken und schreiben, wie oder was man will.
+
+ Nun bleibt nur noch eine Schlubemerkung in Beziehung
+auf die Mnchmeyerromane brig. Einer meiner
+erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem
+weimachen, da ein Schundverlag sittliche Romane in
+unsittliche verwandeln knne; das wrde eine Riesenarbeit
+sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint so
+glcklich zu sein, dem Leben und Treiben eines Schundverlages
+unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der Zeit
+und der Mhe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben,
+so mu man doch noch viel mehr der krzeren Zeit und
+der geringeren Mhe gewachsen sein, diesen Roman
+umzundern! Zweitens erfordert eine solche Umnderung
+keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner
+anzunehmen scheint. Die Einfgung von einigen Worten
+gengt vollstndig, einen "moralischen" Druckbogen in
+einen "unmoralischen" zu verwandeln. Drittens sind
+Krfte mehr als genug fr solche Umarbeitungen vorhanden,
+und sie besitzen eine so erstaunliche Routine darin,
+da selbst der Kenner sich ber die Masse, die sie
+bewltigen, wundert. Ich habe hierber Beweise erbracht
+und werde auch noch weitere bringen. Das oft erwhnte
+Faktotum Walther sa bei Mnchmeyers tglich von frh
+bis abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann
+die Korrektur zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen
+bekam. Was erst Fischer, der Kufer des Mnchmeyerschen
+Geschftes, und dann einige Jahre spter seine Erben
+mir ber diese Umarbeitung meiner Romane materiell und
+gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Mnchmeyers
+Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Proze
+besttigt, da Mnchmeyer mit seiner eigenen Hand ganze
+Kapitel verndert hat. Ein anderer Zeuge hat beschworen,
+Mnchmeyer habe ihm eingestanden, da er an meinen
+Romanen groe, umfangreiche Aenderungen vornehme, ohne
+es mir sagen zu drfen. Ich brauche hier wohl nicht
+noch weitere Beispiele, die mir zur Verfgung stehen,
+anzufhren, um es begreiflich zu machen, da ich absolut
+die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren
+Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa
+die dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man
+es zumutet, sich nach dreiig Jahren in dem Tohu wa bohu
+der damaligen Mnchmeyerschen Schriftksten zurechtzufinden.
+Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf
+von meinem Urtexte ab, da sehr zahlreiche Leser mir
+versichern, ganz genau sagen zu knnen, wo die Flschung
+beginnt und wo sie endet.
+
+ Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick
+meiner Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam
+zu machen, den man anwendet, um meine den hhern
+Kreisen angehrenden Leser gegen mich zu empren. Da
+wird zum Beispiel an aufflliger Stelle gesagt, da ich
+in hervorragender Gesellschaft in Dresden verkehre und
+da ich mir berhaupt die grte Mhe gebe, mit
+hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein
+Wort, kein Buchstabe wahr. Bin ich "Hans fr mich",
+so fhle ich mich am wohlsten, und ich wnsche in dieser
+Beziehung weiter nichts, als "Hans fr mich" zu bleiben.
+Ich mchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis
+liefern wollte, ich htte mich ihm gesellschaftlich
+aufgedrngt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet,
+da ich an "Hfen" verkehre. Das ist erst recht nicht
+wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persnlichkeit,
+die zu irgend einem "Hofe" gehrt, meine Bcher liest
+und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad
+ich der Allerletzte, der dies dahin auslegt, da ich "bei
+Hofe verkehre". Es kann diesen Behauptungen, die pure
+Erfindungen sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich
+den betreffenden Kreisen als indiskret oder gar als Lgner
+zu kennzeichnen und mich selbst da zu schdigen, wohin
+ich absolut nicht gehre. -- -- --
+
+-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+ Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang
+zurck, auf mein altes, liebes Mrchen von "Sitara",
+von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr,
+so wird man dieses Mrchen als Wahrheit kennen lernen,
+und zwar als die greifbarste, die es gibt. Es ist die
+Aufgabe des begonnenen, gegenwrtigen Jahrhunderts,
+unsere ungebten Augen fr die groe, erhabene Symbolik
+des alltglichen Lebens zu schrfen und uns zu der
+beglckenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, da
+es hhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als
+diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschftigt.
+Die Skizzen, die ich zeichnete und verffentlichte,
+sollen der Vorbereitung zu dieser Erkenntnis dienen.
+Darum sind sie symbolisch geschrieben und, um verstanden
+zu werden, nur bildlich zu nehmen. Man mchte sich
+eigentlich darber wundern, da dies dem gewhnlichen
+Leser so schwer zu fallen scheint. Es ist doch wohl keine
+allzu harte Nu, sich beim Lesen eines Gleichnisses irgend
+etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das Land
+der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das
+Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine,
+so kann es doch keiner geradezu akademischen Bildung
+bedrfen, einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise
+von Ardistan nach Dschinnistan beschreibe. Der Leser
+hat sich einfach aus seiner Alltagswelt in meine
+Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch wohl auch nicht
+schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu verlassen,
+um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.
+
+ Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit,
+so will ich durch meine Erzhlungen das Innere meiner
+Leser vom ueren Druck befreien. Sie sollen Glocken
+klingen hren. Sie sollen empfinden und erleben, wie es
+einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlsser
+klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn
+entlt. So leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich
+zu nehmen, so leicht ist es auch, meine Bcher zu
+verstehen und ihren Inhalt zu begreifen. Ich will, da
+meine Leser das Leben nicht lnger als ein nur materielles
+Dasein betrachten. Diese Anschauung ist fr sie ein
+Gefngnis, ber dessen Mauern sie nicht hinaus in das von
+der Sonne beschienene freie, weite Land zu schauen
+vermgen. Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien.
+Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich
+selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen,
+seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im
+Gefngnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze
+der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich,
+der zu mir in die Zelle trat. Da durfte mich niemand
+berhren. Da war es keinem erlaubt, den Werdegang
+meines inneren Menschen zu stren. Kein Schurke hatte
+Macht ber mich. Was ich besa und was ich erwarb,
+das war mein sicheres, unantastbares Eigentum, bis ich
+-- -- entlassen wurde, lnger nicht! Denn mit dieser
+Entlassung verlor ich meine Freiheit und meine Menschenrechte.
+Was andere, die nur materiell zu reden wissen,
+als Freiheit bezeichnen, das ist fr mich ein Gefngnis,
+ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in dem ich nun
+schon sechsunddreiig Jahre lang geschmachtet habe, ohne,
+auer meiner jetzigen Frau, einen einzigen Menschen zu
+finden, mit dem ich htte sprechen knnen wie damals
+mit dem unvergelichen katholischen Katecheten. Ich
+lebte und arbeitete nicht fr mich, sondern nur fr Andere.
+Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich
+mir sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit
+mir machen, was ihm beliebte, denn berall fand er einen
+Anwalt, der seine Sache fhrte. Ein Jeder durfte mich
+verdchtigen, mich beleidigen, auf mich einschlagen, denn
+berall gab es einen Paragraphen, der ihn schtzte. Ich
+mute um meines Eigentums willen sechs Jahre lang
+prozessieren, und als ich den Proze gewonnen hatte,
+bekam ich noch lange nichts und wurde wegen Meineides
+zweiundzwanzig Monate lang in Voruntersuchung genommen.
+Nun prozessiere ich schon fast zehn Jahre lang
+und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will
+es nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein
+Zchtling gewesen, den Jeder stupen, qulen und martern
+darf, wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich
+mit einem jener Paragraphen zu bewaffnen, welche die
+Ideale aller "schneidigen" Anwlte sind. Jawohl, ich
+bin Gefangener, Zuchthusler, noch immer! Ein Dutzend
+Prozesse haben mich festgehalten, damit ich ja nicht
+entweichen knne, und Jeder, der Geld von mir wollte, aber
+keines bekam, hat sich als Zuchtmeister gebrdet und auf
+mich eingeschlagen. Ich habe das Beste aller derer, fr
+die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und ueres Heil,
+ihr gegenwrtiges und ihr zuknftiges Glck. Was gab
+man mir fr diesen meinen guten Willen? Verachtung,
+Spott und Hohn! Als ich Zuchthusler war, da war
+ich keiner. Und nun ich aber keiner bin, da bin ich einer.
+Warum?
+
+ Und Ihr lacht darber, da ich bildlich schreibe? Ist
+fr uns, die wir die Allerrmsten sind, nicht selbst die
+Hlle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die Hlle,
+wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer,
+wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn
+ich symbolisch von meiner "Geisterschmiede" erzhle, deren
+frchterliche Zeit ich heut oder morgen berwunden haben
+werde. Ich zrne Euch nicht, denn ich wei, es mute
+so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen
+und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen
+und durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit
+zu verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne
+meine Schuld. Und was andere gezwungen an mir taten,
+das trage ich nicht nach. Ich bitte nur um das Eine:
+Lat mir endlich, endlich Zeit, mit dieser Arbeit
+zu beginnen!
+
+ _________
+
+
+ Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag
+ Soll Feierabend sein im heil'gen Alter.
+ Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,
+ Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.
+ Ich habe nicht fr mich bei Euch gelebt;
+ Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,
+ Und wenn Ihr nun mir Ha fr Liebe gebt,
+ So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.
+
+ Nach meines Lebens schwerem Leidenstag
+ Leg allen Gram ich nun in Gottes Hnde.
+ Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,
+ Das fhre er in mir zum frohen Ende.
+ Ich hab' die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,
+ Gewilich nicht allein fr mich getragen,
+ Doch was dafr sich irdisch in mir regt,
+ Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.
+
+ Nach meines Lebens schwerem Prfungstag
+ Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,
+ Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,
+ Sie kann mir nichts als nur Erlsung bringen.
+ Ich juble auf. Des Kerkers Schlo erklirrt;
+ Ich werde endlich, endlich nun entlassen.
+ Ade! Und wer sich weiter in mir irrt,
+ Der mag getrost mich auch noch weiter hassen!
+
+ E n d e.
+
+ _________
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg's Etext of "Mein Leben und Streben", by Karl May
+