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diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..6833f05 --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,3 @@ +* text=auto +*.txt text +*.md text diff --git a/2779-0.txt b/2779-0.txt new file mode 100644 index 0000000..066f2a9 --- /dev/null +++ b/2779-0.txt @@ -0,0 +1,11010 @@ +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 *** +Mein Leben und Streben + +Selbstbiographie von Karl May + +Band I + +Freiburg i. Br. +Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld + + +Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart. + + + +Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt, + So gehe ruhig fort, und laß das Klagen. +Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst + Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen. + + (Karl May "Im Reiche des silbernen Löwen") + + + + Inhalt. + + _____ + + + I. Das Märchen von Sitara + II. Meine Kindheit + III. Keine Jugend + IV. Seminar- und Lehrerzeit + V. Im Abgrunde + VI. Bei der Kolportage + VII. Meine Werke +VIII. Meine Prozesse + IX. Schluß + + _________ + + + I. + Das Märchen von Sitara. + + _____ + +Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden +Weges nach der Sonne geht und dann in derselben +Richtung noch drei Monate lang über die Sonne +hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara +heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet +eben "Stern". + + Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel +gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein +Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst +und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um +sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um +die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr +oder weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile +aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber während +man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile +zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel +einfacherer Weise gegliedert. Es hängt zusammen. Es +bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, +der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland +und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland +zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil +aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden +sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen +und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu +Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man +nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger +Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im +geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten +nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen +Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht +gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat +der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich +auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der +_Gewalt-_und_Egoismusmenschen._ Das Hochland +hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im +Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur +und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, +ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni +heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches +Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb +nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und +seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem, +was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die +Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller +derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan +ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden +Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene +Land der _Edelmenschen._ + + Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von +finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes +Gesetz in strenger Kürze lautet: "D u s o l l st d e r T e u f e l +d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t +z u m E n g e l w e r d e st!" Und hoch oben regierte schon +seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie +großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes +Gesetz in beglückender Kürze lautet: "D u s o l l st d e r +E n g e l d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u n i ch t d i r +s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!" + + Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der +Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Bürger und eine jede +Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und +ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer +Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, +dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische +Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer +nach Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es +da ein Wunder, daß da unten im Tieflande eine immer +größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? +Daß die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen +sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlösen +suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den +Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen +gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie +würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht +existieren können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten +und Geringsten, sondern grad auch die Mächtigsten, die +Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, +die Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, +die Vielbesitzenden, denen arme Leute nötig sind, um +ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter +haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen +Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die +Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von +ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen +diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht +mehr gäbe? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste +verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem +Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten +Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande +der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan +zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht +durch. Er wird ergriffen und nach der "Geisterschmiede" +geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, +bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend +in das verhaßte Joch zurückzukehren. + + Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan, +jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch +dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle +und beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist +ein persisches Wort; es bedeutet "Mann". Märdistan +ist das Zwischenland, in welches sich nur "Männer" +wagen dürfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde. +Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten +Gebietes ist der "Wald von Kulub". Kulub ist ein +arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen +Wortes "Herz". Also in den Tiefen des Herzens lauern +die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen +hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen +will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist +jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in "Babel und +Bibel," Seite 78 heißt: + + "Zu Märdistan, im Walde von Kulub, + Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede. + Da schmieden Geister?" + + "Nein, man schmiedet sie! + Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht, + Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen. + Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie. + Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein. + Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse. + Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug + Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer. + Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen. + Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren. + Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus, + Und Alles, was du hast und was du bist, + Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen, + Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut, + Gedanken und Gefühle, Alles, Alles + Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert + Bis in die weiße Glut -- -- --" + + "Allah, Allah!" + "Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht! + Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert, + Wird weggeworfen in den Brack und Plunder + Und muß dann wieder eingeschmolzen werden. + Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden, + Die in der Faust der Parakleten funkelt. + Sei also still! + + Man reißt dich aus dem Feuer -- -- + Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest. + Es knallt und prasselt dir in jeder Pore. + Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister. + Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu. + Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- -- + Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord, + Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden. + Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten. + Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner, + Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- -- + Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied + Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual + Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag + Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt. + Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile. + Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg + Was noch -- -- --" + + "Halt ein! Es ist genug!" + "Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt, + Der schraubt sich tief -- -- --" + "Sei still! Um Gottes willen!" + u. s. w. u. s. w. + + So also sieht es in Märdistan aus, und so also +geht es im Innern der "Geisterschmiede von Kulub" zu! +Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage, +daß die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren +werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel +und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glück +hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan +geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme +Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird +von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes +Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die +ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie +soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei +Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten +einen möglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu +machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; +der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn +es ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde +er doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede +geschleppt, um so lange gefoltert und gequält +zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu +widerstreben. + + Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen +nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so +groß und so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste Pein +der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen +Gesellen "aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag +ruhig dankbar froh entgegenlächelt". Einer solchen +Himmelstochter kann selbst dieser größte Schmerz nichts +anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht +vom Feuer vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und +sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der +Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an +ihr, was nach Ardistan gehört. Darum kann weder +Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei +des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen, +wo jeder Mensch der Engel seines Nächsten +ist. -- -- -- + + _________ + + + II. + Meine Kindheit. + + _____ + +Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein +Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein +Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren +beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter +daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war +zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot +zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen +Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals +steile Schlucht des "Krähenholzes", aus der er sich nicht +herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. +Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als +der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und +auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und +die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine +verhängnisvolle Zeit gewesen. + + Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem +damals sehr ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen +Weberstädtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren +Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: +mein Vater, meine Mutter, die beiden Großmütter, vier +Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter +meiner Mutter scheuerte für die Leute und spann Watte. +Es kam vor, daß sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag +verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei +Dreierbrötchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie +äußerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren, +unter uns fünf Kinder. Sie war eine gute, fleißige, +schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie +man sagte, aus Altersschwäche. Die eigentliche Ursache +ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwärtig +diskret als "Unterernährung" zu bezeichnen pflegt. Ueber +meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters, +habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser +Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin, eine Heilige, +immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut +stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute. +Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem +Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem +sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre +Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch +erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln +emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen +saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß +ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als +sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange +lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die +Leidesspur sofort verwischt. + + Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die +eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll +Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er +besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt +geblieben waren, der großen Armut wegen. Er hatte +nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend +lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, +was nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine +Augen sahen, das machten seine Hände nach. Obgleich +nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose +selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. +Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig +brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel. +Als ich eine Geige haben mußte und er kein Geld auch +zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem +fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und +Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung zu +erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich sein +Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn +Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen +vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. +Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht +mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand +durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu +erzürnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein +dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen +hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte +"birkene Hans", vor dem wir Kinder uns besonders +scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung +im großen "Ofentopfe" einzuweichen, um ihn elastischer +und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die +zehn Stunden vorüber waren, so hatten wir nichts mehr +zu befürchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere +Seele lächelte uns an. Er konnte dann geradezu +herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten +und friedlichsten Augenblicken das Gefühl, daß wir auf +vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment +einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man +den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht +mehr konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes, +liebes, heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als +Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem +Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach Hause +kam, als ihr erlaubt worden war. + + Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine +ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe +dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa +um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu +verteidigen, sondern ich bin der Meinung, daß durch die +Art und Weise, in der man mich umstürmt, jede Antwort +und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich +schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn +die kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht +erst nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben. +Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n, +um über mich klar zu werden und mir über das, was +ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft +abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber +ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch +gar nicht einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern +ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was +diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich +maßgebend sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, +sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden +Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur für +dieses, sondern auch für jenes Leben, an das ich glaube +und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, +verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich +einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir +wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem +oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich +lege es in ganz andere, in die richtigen Hände, nämlich +in die Hände des Geschickes, der Alles wissenden +Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern +nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da läßt sich +nichts verschweigen und nichts beschönigen. Da muß man +Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und +wie es ist, erscheine es auch noch so pietätlos und tue +es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck "Karl +May-Problem" erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an +und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner +von allen denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen +oder nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen. +Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, +aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, +in die einzelne Individualität transponiert. Und +genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist +auch das Karl May-Problem zu lösen, anders nicht! +Wer sich unfähig zeigt, das Karl May-Rätsel in +befriedigender, humaner Weise zu lösen, der mag um Gottes +Willen die schwachen Hände und die unzureichenden Gedanken +davon lassen, über sich selbst hinaus zu greifen und +sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der +Schlüssel zu all diesen Rätseln ist längst vorhanden. Die +christliche Kirche nennt ihn "Erbsünde". Die Vorväter +und Vormütter kennen, heißt, die Kinder und Enkel +begreifen, und nur der Humanität, der wahren +edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der +Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die +Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können. Den +Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das +Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links +eine Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die +meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit +waren, mag man dies für unkindlich halten oder nicht. +Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen +meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher +aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige +zu tun. -- -- + + Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten +Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene +Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter +Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein +dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein +ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und +letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn +Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Taler vor. Das +war ja ein Vermögen! Das erschien der Armut fast +wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei +schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür +aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben +unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern +Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. +Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das +Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und +die Haustür gab. Dahinter lag ein Raum mit einer +alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an +andere Leute vermietet wurde. Es gab glückliche Sonnabende, +an denen diese Rolle zehn, zwölf, ja sogar vierzehn +Pfennige einbrachte. Das förderte die Wohlhabenheit +ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern +mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. +Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von +Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich +im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, +uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war +er immer leer. Einmal standen einige Säcke Kartoffeln +darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem +Nachbar, der keinen Keller hatte. Großmutter meinte, daß +es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln +uns gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir fünf +Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen. +Hieran grenzte der Garten, in dem es einen +Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen +Wassertümpel gab, den wir als "Teich" bezeichneten. Der +Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir +uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn +wenn das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern +an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der +Apfelbaum blühte immer sehr schön und sehr reichlich; da wir +aber nur zu wohl wußten, daß die Aepfel gleich nach +der Blüte am besten schmecken, so war er meist schon +Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren +uns heilig. Großmutter aß sie gar zu gern. Sie wurden +täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu +vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr +davon, als uns eigentlich zustand. Was den "Teich" +betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht +mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir alle +einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so +zwischen zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit +Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten +Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen +Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren uns +auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie +kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. +Einige ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der +eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir +am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr +über ihre Zither freuen als wir über unsere Frösche. +Wir wußten ganz genau, welcher es war, der sich hören +leß [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie +gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so +sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, +um mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und +uns dahin zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider +aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, +um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. +Der hatte überall etwas auszusetzen. Dieser +ebenso sonderbare wie gefühllose Mann schlug, als er +unsern Garten und unsern schönen Tümpel sah, die Hände +über dem Kopf zusammen und erklärte, daß dieser Pest- +und Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten +Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn +Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und +drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie +zu töten sei, bei fünfzehn "Guten Groschen" Strafe. +Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! +Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen +wäre, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und +was wir beschlossen, wurde ausgeführt. Der Tümpel +wurde so weit ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen +konnten. Sie wurden in den großen Deckelkorb getan +und dann hinaus hinter das Schießhaus nach dem großen +Zechenteich getragen, Großmutter voran, wir hinterher. +Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost, +gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer +dabei laut geworden, wieviel Tränen dabei geflossen und +wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten +Bezirksarzt gefällt worden sind, das ist jetzt, nach über +sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch weiß +ich noch ganz bestimmt, daß Großmutter, um dem ungeheuern +Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung +gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn +Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem fünfmal +größeren Garten erben, in dem es einen zehnmal größeren +Teich mit zwanzigmal größeren Fröschen gebe. Das +brachte in unserer Stimmung eine ebenso plötzliche wie +angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der +Großmutter und dem leeren Deckelkorb vergnügt nach +Hause. + + Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind +war und schon laufen konnte. Ich war weder blind +geboren noch mit irgendeinem vererbten körperlichen Fehler +behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kräftige, +gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals +krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu +zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt +verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer +erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre +siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der +rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes +und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer +fiel. Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, +kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein +höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der stark +genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch +ehe ich über mich selbst berichte, habe ich noch für einige +Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste +Kindheit verlebte. + + Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm +stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. +Hieraus ergab sich, daß wir eben nur mietfrei wohnten, +und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, +Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem maßlos +war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleiße, +seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung +der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein +konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden +frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu +glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch +an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu +dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben +lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun +ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu +etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und +mehr lohnte als die Weberei. Während er, nicht schlafen +könnend, im Bette lag und darüber nachdachte, was zu +ergreifen sei, hörte er die Ratten über sich im leeren +Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte +sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem +Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, +die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er +wollte Taubenhändler werden, obgleich er von diesem +Fache nicht das geringste verstand. Er hatte gehört, +daß da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der +Meinung, daß er auch ohne die nötigen Sonderkenntnisse +genug Intelligenz besitze, jeden Händler zu überlisten. +Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft. + + Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten +zu bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel +opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. +Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, +welches wir Kinder an ihnen fanden. Am +meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir beobachteten, +wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider veränderten. +Vater hatte zwei Paar sehr teure "Blaustriche" gekauft. +Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, +wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige +Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie +waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die +kostbaren "Blaustriche" entpuppten sich als ganz wertlose +Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, jungen, +grauen Trommeltäuberich für einen Taler fünfzehn gute +Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß der +Täuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem +Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und +ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, daß +Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um den +Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich +gab sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er +besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften, +um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er +Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er "halb geschenkt" +erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem +Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er +brachte immerfort Käse, Eier und Butter heim, die wir +gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich +die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde +sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses +unstäte [sic], unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß das +Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen +Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie +härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen wäre, +weiter zu tragen. Da faßte sie einen Entschluß und ging +zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle +viel, viel vernünftiger als damals gegen unsere Frösche +zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, +daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor +allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten +müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher +erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne +noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr +Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu +sagen, wie sie dieses Geld anlegen könne, um sich und +ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. +Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte, +blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen! +Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte +er: "Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind +eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. Unsere +Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen +nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. +Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten +Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich +Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren +Zensur, so können wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber +gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort +einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden!" + + Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie +kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr +Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. +Während ihrer Abwesenheit führte Vater mit Großmutter +das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit +für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir +Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über +Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der +Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen +unförmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, +Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden. +Der Arzt mußte durch Messerschnitte nach den Lippen +suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen +zu können. Sie lebt heute noch, ist die heiterste +von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man +sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten +hat, als er nach dem Mund suchte. + + Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, +noch nicht ganz vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt +in Dresden großes Glück. Sie hatte sich durch +ihren Fleiß und ihr stilles, tiefernstes Wesen das +Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase +erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten +und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt. Sie war +aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um +von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah +nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge. +Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen +gesundend, heim. Aber das Alles hatte große, große +Opfer gefordert, freilich nur für unsere armen +Verhältnisse groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben +willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von +dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Nötigste +zu decken. Wir zogen zur Miete. -- -- + + Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung +den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung +ausgeübt hat. Während die Mutter unserer Mutter in +Hohenstein geboren war und darum von uns die "Hohensteiner +Großmutter" genannt wurde, stammte die Mutter +meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als +"Ernsttaler Großmutter" bezeichnen lassen. Diese Letztere +war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast +möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir +von Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, +aus dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals +ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles? +Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die +heutige Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie +war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide +aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich +nach Erlösung sehnenden Augen an. Und wer in der +richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der +hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich +nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie +war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter +früh verloren und einen Vater zu ernähren, der weder +stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele +Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt +und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu +Tränen rührender Aufopferung. Die Armut erlaubte +ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube +zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte +alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater +nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer +im Sarge nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen +Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber +sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater +gehören, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte +nichts, aber er wartete und blieb ihr treu. + + Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste +mit noch älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene +Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich +als auch weltlich. Es ging die Sage, daß es in der +Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte +und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese +Bücher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten +lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, +nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen *) +_______ + *) Kleines Oellämpchen. + +angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den +Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die +Bücher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer +wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken +fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein +schienen als die früheren. Am meisten gelesen wurde +ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band, +dessen Titel lautete: + + Der Hakawati + + d.i. + +der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, +Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, +explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung +und Figürlich seyn + + von + Christianus Kretzschmann + der aus Germania war. + Gedruckt von Wilhelmus Candidus + A. D: M. D. C. V. + + * + * * + + Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller +orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern +Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese +Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich +gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für +nötig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen, +aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist dessen, was +sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ. +Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara; +es wurde später auch das meinige, weil es die Geographie +und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein +ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten. + + Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. +Die Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter +dem Tode nahe kam, doch überstand sie es. Nach +verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und +führte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glücklich! +Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder +wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, +welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen +desselben verkrüppelte. Man sieht, daß es an +Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns nicht +fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts verschweige. +Es darf nicht meine Absicht sein, das Häßliche schön zu +malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes +trat jenes unglückliche Weihnachtsereignis ein, welches +ich bereits erzählte. Der brave junge Mann stürzte des +Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und +erfror. Großmutter hatte mit ihren beiden Kindern an +den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach +langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher +Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf +kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der +napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles +verwüstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; +der Hunger wütete. Ein armer Handwerksbursche kam, +um zu betteln. Großmutter konnte ihm nichts geben. +Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen +Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte +ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde +wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen +hatte, Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe, +einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte [sic] Mehl, +eine Düte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges +Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich +ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; +Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht +vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere +Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberförster, den man +als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die +Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl +Kinder hinterlassen. Er wünschte Großmutter zur Führung +seiner Wirtschaft zu haben. Sie hätte in dieser +Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklärte aber, sich +von ihren eigenen Kindern unmöglich trennen zu können, +selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, hätte. Der +brave Mann besann sich nicht lange. Er erklärte ihr, +es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm äßen; +sie würden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht +ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der +höchsten Not! + + Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause +tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten +und erstarkten in der besseren Ernährung. Der Oberförster +sah, wie Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein +und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast +über ihre Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er +beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, daß +er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewährte, +was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und +eigentlich stolz. Er aß mit seiner Schwiegermutter allein. +Großmutter war nur Dienstbote, doch aß sie nicht in der +Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber +nach längerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges +Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer +Beziehung an. Er erleichterte ihr die große Arbeitslast, +erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends +aus ihren Büchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann +auch in seine eigenen Bücher zu schauen. Wie gern sie +das tat! Und er hatte so gute, so nützliche Bücher! + + Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit +gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich +kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May +war der jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker +mit. Und er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte +Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er +noch nicht kannte. Bald wußte er die Namen aller Pflanzen, +aller Raupen und Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, +die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren +Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen +zu lernen. Diese Wißbegierde erwarb ihm die besondere +Zuneigung des Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, +den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich muß das +erwähnen, um Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige +Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen +Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte +auf den Knaben doch nicht glücklich wirken. + + In dieser Zeit war es, daß Großmutter während +des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu +Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der +Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; +Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber +sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal +die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. +Sie sah und hörte alles, das Weinen, das Jammern +um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen +wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher kam, +um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde +sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am +Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die +Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit +der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der +Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! +Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie sich alle mögliche +Mühe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, +daß sie noch lebe -- -- vergeblich! Jetzt kam der letzte +Augenblick, an dem noch Rettung möglich war. Hatte +man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung +mehr. Sie erzählte später, daß sie sich in ihrer +fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe +gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, +als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten +Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste Mädchen +des Oberförsters, welches besonders sehr an Großmutter +gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: +"Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!" +Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene +ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd +öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte nun +selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden +andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber +von da an war ihre Lebensführung noch ernster und +erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was +sie in jenen unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle +zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. +Es muß schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist +ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen +zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot +gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten +wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang +nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und +zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich +es zu verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben +glaube, nicht aber an den Tod. + + Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz +überwunden, als Großmutter infolge der Versetzung und +Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden +Kindern in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen wurde. +Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder +jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein +braver Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, +hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie +müsse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie +ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen; +war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe. +Er starb und hinterließ ihr alles, was er besessen hatte, +die Armut und den Ruf eines braven, fleißigen Mannes. +Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr +Mädchen zu einer Nähterin und ihren Knaben zu einem +Weber, der ihn von früh bis abends am Spulrad +beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter nichts als +nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz +von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während +seines Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen; +er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist +gewiß erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses +ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die +Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus +zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als +Jüngling seine Pflicht. Er war fleißig und wurde ein +tüchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und +Akkuratesse zeigte, daß jeder Unternehmer ihn gern für +sich arbeiten ließ. In seinen Freistunden aber strich er +durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die +Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberförster +erworben hatte Darum machte es ihm große Freude, +daß sich unter der oben erwähnten Erbschaft unserer +Mutter auch einige alte, hochinteressante Bücher befanden, +deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschäftigungen +von großem Nutzen war. Ich denke da besonders an +einen großen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten +zählte und folgenden Titel hatte: + + Kräutterbuch + +Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn Dr. Petri +Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen schönen +newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen / vnnd andern +guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern Fleiß +gemehret vnnd verferdigt / + + Durch + Joachimum Camerarium, + der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct. + +Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der +Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann +die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. +Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund +Brennöfen. + + Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio, + in keinerley Format nachzudrucken. + Gedruckt zu Franckfurt am Mayn + M. D. C. + + * + * * + + Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses +Buch sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es +enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die +Namen der Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch, +böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was +später besonders mir ganz außerordentlich vorwärts half. +Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses köstlichen +Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel +mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die +Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer +ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer +Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen +geprüft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen +versehen, welche sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen +waren. Dieses Buch wurde mir später eine Quelle der +reinsten, nützlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, +daß Vater mich dabei vortrefflich unterstützte. + + Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung +biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit +der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso +wie das Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele +und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das +erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem +elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt +ist nicht mehr vorhanden. Darum weiß ich nicht, +wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk +stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn sie uns +die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser +Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit komme +ich auf den größten Vorzug, den Großmutter für uns +Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu +erzählen. + + Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie +schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch +der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit +auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so +hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß +sie das, was sie erzählte, ganz nur für ihn allein +erzählte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der +Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets +ergab sich am Schluß der innige Zusammenhang zwischen +Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse +und die Mahnung, daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis +sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im +niedrigen sondern nur im höheren Leben liege. Ich bin +überzeugt, daß sie das nicht bewußt und in klarer +Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern +es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht +bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man +ihn weder kennt noch beobachtet. Großmutter war eine +arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von +Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die +aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf, +die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit +lebten. + + In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen +von Sitara, sondern das Märchen "von der verloren +gegangenen und vergessenen Menschenseele" auf. Sie tat +mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen +blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Für mich +enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst +nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich +mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt +hatte, erkannte ich, daß die Kenntnis der Menschenseele +in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und daß +alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns +diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner +Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und +in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um +nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene +gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm +Großmutter mich auf ihren Schoß, küßte mich auf die +Stirn und sagte: "Sei still, mein Junge! Gräme dich +nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!" +"Wo?" fragte ich. "Hier, bei mir", antwortete sie. +"Du bist diese Seele, du!" "Aber ich bin doch nicht +verloren," warf ich ein. "Natürlich bist du verloren. Man +hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. +Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich +vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen." -- Ich +begriff das damals nicht; ich verstand es erst später, +viel, viel später. Eigentlich war in dieser meiner frühen +Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als +Seele. Ich sah nichts. Es gab für mich weder +Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch +Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstände +wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte +nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte +sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein +Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur +innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war +seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen +Körper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, +sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich +nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, +auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf +den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir +und anderen. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern. +Das ist die Erklärung zu allem, was man an mir lobt, +und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind +gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine +so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß +sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine +ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles +hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich +schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu +kritisieren, _sonst_keiner!_ + + Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den +Eltern, sondern bei Großmutter. Sie war mein alles. +Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, +mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. +Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das +kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverständlich +ähnlich. Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder +und fügte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet +und teils erschaute. Ich erzählte es den Geschwistern +und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu +ihnen konnte. Ich erzählte in Großmutters Tone, mit +ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang +altklug und überzeugte. Es verlieh mir den Nimbus +eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So +kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich wäre +vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben +worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr +und klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand, +einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit +gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als +andere Kinder. Da kann es leicht klüger erscheinen, als +es ist. Leider besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit +der Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit +der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, +wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und +was er sagte. So kam es, daß ich dem Schicksal, dem +ich hier entging, später doch noch verfiel, dem entsetzlichen +Schicksal, totgelobt zu werden. + + Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon +derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen +festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor +meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, +der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. +Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so größeres +Kind, je größer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem +die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute +besitzt, daß keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf +das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas +zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe. +Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung +gemacht, daß es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir. +Es handelt am liebsten nicht aus äußerlichen Gründen, +sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. +Die größten und schönsten Taten der Nation wurden +aus ihrem Innern heraus geboren. Und wäre der Geist +eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, +so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines +Volkes den Stoff zu einem großen, nationalen Drama +aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. +Und gründen wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von +Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-, +Schüler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil +von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir +Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in unserm Pedantismus +und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den +Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese +Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. +Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch +heut. Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend +keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es +eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der +Leser will Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen +Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie +stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur +das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität +angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers +besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, +die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln, +daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine +größte Kunst besteht darin, daß er von seinen Figuren +getrost die Fehler und Dummheiten machen läßt, vor +denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist +tausendmal besser, er läßt seine Romanfiguren zugrunde +gehen, als daß der ergrimmte Knabe hingeht, um das +Böse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach +geschehen mußte, nun seinerseits aus dem Buche in das +Leben zu übertragen. Hier liegt die Achse, um die sich +unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. +Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie +stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und +packend, so wird man Positives erreichen. + + Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten +wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. +Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. +Gegen Abend versammelten sich die älteren Schulknaben +unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzählen. +Das war eine höchst exklusive Gesellschaft. Es durfte +nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so +machte man keinen "Summs"; der wurde fortgeprügelt und +kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich +bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst +fünf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und +vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch +niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und +ihren Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich +mich still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen +kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir +das nicht übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen +gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde +von Allen geschont. Dann aber, als das vorüber war, +wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Märchen, +eine andere Geschichte, eine andere Erzählung. Das war +viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar +mit Vergnügen. Großmutter arbeitete mit. Was ich +in der Dämmerstunde zu erzählen hatte, das arbeiteten +wir am frühen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe +aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor +kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch "Der Hakawati" +gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß dieser Stoff +sich mit der Zeit ganz außerordentlich vermehrte, doch +freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die +sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß ich +nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch +den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare +Welt der Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen +hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen +und Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie +erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte. + + Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die +Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten +Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme +sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch +als Lokalschulinspektor sehr gern erfüllte, und mit dem +Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wöchentlich +zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, +und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von +dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen +und schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, +und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit +gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. +Es sollte sich nämlich an mir erfüllen, was sich an ihm +nicht erfüllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick +in bessere und menschlichere Verhältnisse tun dürfen. Und +er mußte immer daran denken, daß es unter unsern +Vorfahren bedeutende Männer gegeben hatte, von denen wir, +ihre Nachkommen, sagen mußten, daß wir ihrer nicht +würdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber +von den Verhältnissen gewaltsam niedergehalten worden. +Das kränkte und das ärgerte ihn. Für sich hatte er mit +diesen Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, +was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber +er übertrug seine Wünsche und Hoffnungen und alles +Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles +Mögliche zu tun und nichts zu versäumen, aus mir den +Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt +gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich von ihm +nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche +Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für +mich gut und glücklich war. Das konnte er nur mit +guten und glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß +ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine +"Kindheit" jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. +Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum +Sehen öffnete. Was diese armen Augen von da an bis +heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, +Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual +am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende +peinigt. -- -- -- + + _________ + + + III. + Keine Jugend. + + _____ + +Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe +ich dich gesehen, wie oft mich über dich gefreut! Bei +Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht. +Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. +Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum +Neid habe ich überhaupt keinen Platz in mir; aber wehe +hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem +Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, +kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, +und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wärme. +Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und +wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der +Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. +Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und +kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts +bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm +und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der +immer nur Empfangende! + + Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem +man sich über mich befindet, gleich von vornherein +aufzuklären. Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar +für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte +bisher nur mein "gutes Auskommen," weiter nichts. +Selbst hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, +denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen +endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. +Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, daß ich +genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nämlich +als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut +aber nichts. Das ist rein äußerlich. Das kann an +meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts +ändern. + + Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß mein Einkommen +180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, +sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer +Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, +diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des +Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte +sehr wohl, was er tat, als er seine Lüge in die Zeitungen +lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und +allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die früheren +Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber +seit man mich im Besitz von Millionen wähnt, geht man +geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. +Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner +Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. Es +berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen +Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem +ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein +schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines +Kapital als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter +nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. +Das reicht grad aus für meinen bescheidenen Haushalt +und für die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen +Prozessen zu bringen habe. Früher konnte ich meinem +Herzen Genüge tun und gegen arme Menschen, besonders +gegen arme Leser meiner Bücher, mildtätig sein. Das +hat nun aufgehört. Zwar werde ich infolge jener +raffinierten Millionenlüge jetzt mehr als je mit Zuschriften +gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich +kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich +abweisen muß, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feinde. +Ich konstatiere, daß jene Gewissenlosigkeit, mich als einen +steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr +geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen +Feindseligkeiten zusammengenommen. + + Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, +nun wieder zurück zur "Jugend" dieses angeblichen +"Millionärs", der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle +die, welche ihn auszubeuten trachten. + + Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die +armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat +liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, +sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange +der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. +Arbeitslosigkeit, Mißwuchs, Teuerung und Revolution, +diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an +fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft +gehört. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt +"Zur Stadt Glauchau", des Mittags die Kartoffelschalen +aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch +daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir +gingen nach der "roten Mühle" und ließen uns einige +Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um +irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. +Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den +Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, +um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. +Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab +beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die +auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie +delikat uns das erschien! Glücklicherweise gab es unter +den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch +einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz +zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so +außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den Leichen +anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, +solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da +saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh +bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte +die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen +mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die +Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten +wir alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar +auch zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! +Dafür gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf +fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft +zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung +für die verflossene und Anregung für die kommende +Woche. + + Während wir in dieser Weise fleißig daheim arbeiteten, +hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu tun; leider +aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. Es +galt nämlich, den König Friedrich August und die ganze +sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten. +Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der +König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande +gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; +aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon +zurück, und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; +es war nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten +sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da +kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie +fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer +und Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen wollten +von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten sich +mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie +gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen +die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; +sie drohten; sie baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten +sich zu ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt +hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. +Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und +warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung; der +Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am großen +Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung +nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden +und ganz besonders vom Schafott, welches derart +beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte, sich +mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, +daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von +der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im +Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als +ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht +mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man +hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise +dies am besten geschehe, und da allüberall vom Kampf +und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es +sich ganz von selbst, daß auch wir Jungens uns nicht nur +in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische +Gewänder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. +Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu +und hatte keine Zeit; ich mußte Handschuhe nähen. Aber +die anderen Buben und Mädels standen überall an den +Ecken und Winkeln herum, erzählten einander, was sie +daheim bei den Eltern gehört hatten, und hielten höchst +wichtige Beratungen über die beste Art und Weise, die +Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. +Besonders über eine alte, böse Frau war man empört. +Die war an Allem schuld. Sie hieß die Anarchie und +wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in +die Städte, um die Häuser niederzureißen und die Scheunen +anzubrennen; so eine Bestie! Glücklicherweise waren +unsere Väter lauter Helden, von denen keiner sich vor +irgend Jemand fürchtete, auch nicht vor dieser ruppigen +Anarchie. Man beschloß die allgemeine Bewaffnung für +König und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit +alten Zeiten eine Schützen- und eine Gardekompagnie. +Die erstere schoß nach einem hölzernen Vogel, die letzere [sic] +nach einer hölzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen +sollten noch zwei oder drei andere gegründet werden, +besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum +Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, +daß es in unserem Städtchen eine ganz ungewöhnliche +Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt +waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man +wollte keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es +waren dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete +sich glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie +je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen +Leutnant; wenn man zu den Schützen und der Garde noch +neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa +elf, und alle dreiunddreißig Offiziere waren unter Dach +und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, wobei +die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverständlich +nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, +Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim Militär +gestanden und darum alle dreiunddreißig Offiziere +einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn +je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute könnten +im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es +bei dem, was beschlossen worden war. + + Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. +Er bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. +Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete +nach höherem. Darum beschloß er, sobald er ausexerziert +war, sich ganz heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas +davon bemerkte, im "höheren Kommando" einzuüben. Und +da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde +ich einstweilen vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte +mit ihm tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer +rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere +geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war +bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; +ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als +"Zug", dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf +wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. +Ich mußte bald reiten, bald laufen, bald vor und bald +zurück, bald nach rechts und bald nach links, bald +angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den +Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber +ich war noch so jung und klein, und so kann man sich +bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl +denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer +Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur +vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die +Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu +haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu +stolz dazu. Eine sächsische Armee, welche weint, die gibt +es nicht! Auch ließ der Lohn nicht auf sich warten. +Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu +mir: "Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir +eine Trommel. Du sollst Tambour werden!" Wie das +mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich +der Ueberzeugung war, alle diese Püffe, Stöße, Hiebe und +Katzenköpfe nur zum Wohle und zur Rettung des Königs +von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben! +Wenn er das wüßte! + + Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. +Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein +war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut +gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin +später, als ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe, +Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde +diese Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf +Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast +täglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil +es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten +und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute +nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor. +Es gab auch an andern Orten "Königsretter". Die standen +miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald +der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen +und für den König alles zu wagen, unter Umständen sogar +das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser Befehl. +Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten. +Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf +dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister +Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd +geborgt und saß da mitten drauf. Es war keine leichte +Sache für ihn, zwischen dem Kommandanten, dem +Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn +der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau +Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre +Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt. +Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch +gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man +war überhaupt nur begeistert. Keine Spur von +Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und +Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, +dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr +Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch +der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe +der einzelnen Hauptleute: "Achtung -- -- Augen +rechts, rrrricht't euch -- -- Augen grrrade aus -- -- +G'wehr bei Fuß -- -- G'wehr auf -- -- G'wehr präsentiert +-- -- G'wehr über -- -- Rrrrechts um -- -- +Vorwärts marsch!" Voran der Herr Adjutant auf dem +geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem +türkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der +Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schützen, +die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so +marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts +zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche +vorüber, dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, +nach Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach +der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger +marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das +Weichbild des Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber +stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn +Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustür, +dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester +des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine +Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen +Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glühend; +sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle +meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten +Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem +Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu +rauchen, das Stück zu zwei Pfennige. Die mußte ich +ihm vom Krämer holen, weil er sich schämte, so billige +selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die +Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch +er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig +begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er: + + "Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche +Begeisterung für Gott, für König und Vaterland!" + + "Aber was bringt sie ein?" fragte die Frau +Kantorin. + + "Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre +Glück!" + + Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte +es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da +stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder +und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt +hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten +liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir +merken! Später hat dann das Leben an diesen drei +Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen +sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist +geblieben. + + Von allen, die heut ausgezogen waren, um große +Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul +zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten +übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als +Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, +das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder +gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der +Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit +seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein +Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel +geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche +aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die +die Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter +Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic] +geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. +Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar +nicht traurige Kunde, daß man aus Freiburg [sic] die Weisung +erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar +nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden +eingerückt und so stehe für den König und die Regierung +nicht das Geringste mehr zu befürchten. Man kann sich +wohl denken, daß es heut nun keine Schule und keinerlei +Arbeit gab. Auch ich empörte mich gegen das Handschuhflicken. +Ich riß einfach aus und gesellte mich den wackeren +Buben und Mädels zu, welche elf Kompagnieen bilden +und ihren heimkehrenden Vätern entgegen ziehen sollten. +Dieser Plan wurde ausgeführt. Wir kampierten bei den +Wüstenbränder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten +kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag +den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten +Frauen und Mütter standen, um uns alle, Groß und Klein, +teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen. + + Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des +tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich +habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen +meines Schicksals zusammengeflossen sind. Daß ich trotz +allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen +Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, +wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze +schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen +verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber +auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die +alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. +Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors +vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern +zu Geist und Seele geworden sind. + + Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine +ruhigen, früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder +Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule +genügte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als +das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine +Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden, +umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr +Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell +treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So +kam es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli +übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte +für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr +Kantor mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo +das nicht angängig war, da komponierte er selbst. Und +er war Komponist! Und zwar was für einer! Aber er +stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, +von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch +das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er +Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und +blaue Leinenhosen kleiden können und sah einen Taler für +ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte. +Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. +Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war +mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier- +und Violinspieler, konnte er auch die komponistische +Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und hätte +es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn +ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen +wäre. Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den +angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, +da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, +um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können. +Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn +mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu +fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die +Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein +wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der +Ehe als zweiunddreißigfüßiger "Prinzipal" ertönte, während +dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften +"Vox humana" zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem +Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse +mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und +daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und +Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wußte +das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich +verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes, +sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht +das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und +er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges +Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich +nicht. Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen +Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, +tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. +Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur +an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies +verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein +tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für +das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu +sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den +begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen +kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor +konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine +ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit, +die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel, +die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem +die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war. + + Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. +Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen +zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz +selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, +ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike +gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde +in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube +gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe +finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und +wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr +Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: +"Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine +Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne". +Manchmal hieß es auch "sie hat Vapeurs". Was das +war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung +von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der +Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, +wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht +gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, +daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit +es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die +Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das +in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt +noch nicht. + + Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, +so auch in dem, was er meine "Erziehung" nannte. +Notabene mich "erzog" er; um die Schwestern bekümmerte +er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf +gesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von +ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine +glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung. +Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der +Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten +stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige +Entwickelung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte +das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten +auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, +womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das +allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies +war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad +in diesen, sondern in andern Worten äußerte. Man sieht, +er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit +von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er +wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu +können. Leider aber war er sich über die Wege, auf +denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu +erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen +Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war +zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte +nicht, daß selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels +dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein Gramm, +kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte +keine Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er +dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen +zuzusteuern. Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen +so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, +und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt. + + Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, +aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das +Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei +Jahre ältere Schwester ein. Dann wurden die Schulbücher +älterer Knaben gekauft. Ich mußte daheim die +Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren. +So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines, +weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Uebel, +von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich +glaube, daß sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was +für ein großer Fehler da begangen wurde. Sie gingen +von der anspruchslosen Erwägung aus, daß ein Knabe, +den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz +einfach und trotz seiner Jugend in die nächst höhere Klasse +zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder +weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte +sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu, +daß ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den +elf- und zwölfjährigen saß. In Beziehung auf meine +geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule +freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig; +seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen +Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, daß +ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig +und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in +die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen +kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern +Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter +Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und +schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen +Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war +gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde +von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche +hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen +ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht über +dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal +zu lächeln. Der Erzieher, der sich im Reiche der +Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen +Augenblick zögern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder +erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will +festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht +verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. +Das, was man als "Jugend" bezeichnet, habe ich nie gehabt. +Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund +ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste +Folge davon ist, daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, +in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. +Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie +verstanden, und so ist es gekommen, daß um meine Person +sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich +ganz unmöglich zu unterschreiben vermag. + + Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, +beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und +auf die Schularbeiten. Er holte allen möglichen +sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl +befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen +zu können. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich +mußte es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, daß +ich es dadurch besser behalten könne. Was hatte ich da +alles durchzumachen! Alte Gebetbücher, Rechenbücher, +Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich +kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus +dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, mußte ich ganz +abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die +stimmten natürlich längst nicht mehr! Ich saß ganze +Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige +Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verfütterung +und Ueberfütterung sondergleichen. Ich wäre +hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich +mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so +überaus kräftig entwickelt hätte, daß er selbst solche +Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab +auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte +nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land +zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran +nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich die, daß kein +Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde. Die +Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen seiner +reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber +es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und +bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer +Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr +Kämmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann +Lippold und andere, um Kegel zu schieben +oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und +ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich gehöre zu ihm. +Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, +weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm, in der +Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch nicht besser +aufgehoben war, dafür hatte er kein Verständnis. Ich +konnte da Dinge hören, und Beobachtungen machen, welche +der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens +war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft +außerordentlich mäßig. Ich habe ihn niemals betrunken +gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmäßiges +Quantum ein Glas einfaches Bier für sieben Pfennige +und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder für sechs +Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei +besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen +für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals +gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen +mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der +sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens +mußten doch wissen, daß ich da selbst auf erlaubten und +vollständig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber +sehr aufmerksamer Zuhörer in Dinge und Verhältnisse +eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen +hatten. Ich wurde nicht frühreif, denn dieses +Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, +und davon bekam ich nichts zu hören, sondern etwas noch +viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit +herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, +auf dem meine Füße das Gefühl haben mußten, als ob +sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann +fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei ihr mich +in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten konnte! Freilich +war ich viel zu jung, um einzusehen, daß dieses Reich +sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Für +mich hatte es keine Füße; es schwebte; es konnte mir +erst später, wenn ich mich zum Verständnis emporgearbeitet +hatte, die Stütze bieten, die mir so nötig war. + + Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, +die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es +gab Theater. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges +Puppentheater, aber doch Theater. Das war im +Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz +zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die +Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter +hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige für uns beide. +Es wurde gegeben: "Das Müllerröschen oder die Schlacht +bei Jena." Meine Augen brannten; ich glühte innerlich. +Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich. +Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie +faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf +König und für Vaterland. Das war es ja, was der +Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein +Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, +mußte Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen +bewegt werden. + + "An einem Holzkreuze," erklärte sie mir. "Von diesem +Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder +der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man +oben das Kreuz bewegt." + + "Aber sie sprechen doch!" sagte ich. + + "Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den +Händen hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen +Leben." + + "Wie meinst du das?" + + "Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber +verstehen lernen." + + Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, +nochmals zu gehen. Es wurde gespielt "Doktor Faust +oder Gott, Mensch und Teufel." Es wäre ein resultatloses +Beginnen, den Eindruck, den dieses Stück auf mich +machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der +Göthesche Faust, sondern der Faust des uralten +Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie +eines großen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch +etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten +Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei +um Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. +Ich hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit, +obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, +damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust +hätte mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt +mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er +der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; +aber diese Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was +sie sagten, das war groß, unendlich groß, weil es so +einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann +zu Gott zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit +sich bringt! Und die Fäden, diese Fäden; die alle nach +oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, +alles, was sich da unten bewegt, das hängt am Kreuz, +am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht +an diesem Kreuze hängt, ist überflüssig, ist bewegungslos, +ist für den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren +Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber +Großmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht +so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, +das begann ich doch zu ahnen. Ich mußte als Kurrendaner +Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und +ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals +einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber ich +bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller +Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich +tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen +habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem +Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als +eine Stätte erschienen, durch deren Tor nichts dringen +soll, was unsauber, häßlich oder unheilig ist. Als ich +den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstück +ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das +sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen +Menschheit gewesen, und ein großer, berühmter deutscher +Dichter, Wolfgang Goethe geheißen, habe daraus ein herrliches +Kunstwerk gemacht, welches nicht für Puppen, sondern +für lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich +schnell ein: "Herr Kantor, ich will auch so ein großer +Dichter werden, der nicht für Puppen, sondern nur für +lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?" +Da sah er mich sehr lange und unter einem fast +mitleidigen Lächeln an und antwortete: "Fange es an, wie +du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen +sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst." +Diesen Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen; +aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr +bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch +und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und +geblieben, und der Gedanke, daß die meisten Menschen nur +Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern +bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen +Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein +Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der Waffen, +das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in den +Händen hält, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, +das ist niemals sofort, sondern immer nur erst später an +den Folgen zu ersehen. + + Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die +nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das +Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, +an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. +Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in +Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein +Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise +waren mehr als mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter +Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter +Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser +Billigkeit blieb täglich über die Hälfte der Sitze leer. +Die "Künstler" fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor +wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht +mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser +Retter war -- -- -- ich. Er hatte beim Spazierengehen +meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide +berieten. Das Resultat war, daß Vater schleunigst nach +Hause kam und zu mir sagte: "Karl, hole deine Trommel +herunter; wir müssen sie putzen!" "Wozu?" fragte ich. +"Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal +über die ganze Bühne herumzutrommeln". "Wer ist +die Preziosa?" "Eine junge, schöne Zigeunerin, die +eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den +Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurück und findet +ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke +Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht +Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das +"Haus" voll, so gibt der Herr Direktor dir fünf +Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts. +Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe." + + Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne +schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke +Knöpfe! Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne +herum! Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden +Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel +sehr pünktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich +gefiel sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau +Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor +lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein +schnelles Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr +leicht. Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit +dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. +Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig +herunter, denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt +und ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die fünfzig +Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen Zigeunerumzug +voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, +die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der +jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten +Schloßvogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand +emporhob, so war dies das Zeichen für mich, meinen Marsch +sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen +Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden. +Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren. +Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe mit. +Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über dreißig +Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste. +Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut +mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum +Fenster hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich +hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung +einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin +strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum +war schon jetzt derart gefüllt, daß schnell ganz vorn +noch einige "Logen" eingerichtet wurden mit dem Preise +von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch +verkauft. Vater, Mutter und Großmutter hatten +Freiplätze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein +höchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte +sich so allgemein verbreitet, daß die Frau Direktorin sich +bewogen fühlte, mir meine fünf Neugroschen schon ehe +der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche +zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit und meine +künstlerische Begeisterung bedeutend. + + Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke +meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte +in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in +der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der +Bühne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich +schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging +nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara +und noch irgend wer standen auf der Bühne. In der +gegenüberliegenden Kulisse lehnte der Schloßvogt Pedro, +der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit +einem so energischen Schritte kommen, daß er glaubte, +ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. +Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. +Ich aber nahm das ganz selbstverständlich für das +verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter +mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und +marschierte hinaus, rund um die Bühne herum. Don +Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz +starr. "Lausbub!" schrie mir der Schloßvogt zu, als ich +an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus, +um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon +war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte +man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber +bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nämlich +dreimal rund um die Bühne herum. "Lausbub!" brüllte +der Schloßvogt, als ich zum zweiten Mal an ihm +vorüberkam, und zwar tat er das so laut, daß es trotz des +Trommelwirbels auch hinaus- und über den ganzen Zuschauerraum +schallte. Lautes Gelächter antwortete von dorther; +ich aber begann meine dritte Runde. "Bravo, bravo!" +erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich +Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der +den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, faßte +meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und die +Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich an: + + "Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte +doch auf! + + "Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!" +rief man im Zuschauerraum lachend. + + "Ja, weiter, immer weiter!" antwortete auch ich, indem +ich mich von ihm losriß. "Die Zigeuner haben zu kommen! +Raus mit der Bande, raus mit der Bande!" + + "Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!" +schrie, brüllte und johlte das Publikum. + + Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel +von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch +nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter, +und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst +der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu +meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das +Publikum nicht zufrieden. Es rief: "Heraus mit der +Bande, heraus!" und wir mußten den Umzug von neuem +beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schluß +des Aktes mußte ich noch zweimal heraus. War das +ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr +zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor ließ +mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf, +die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der +Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine Sache +gut machen würde, versprach er mir noch weitere fünfzig +Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf mein +Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der Beifall +zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal +trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe +die "hohen Herrschaften" zu bitten, sich noch nicht gleich +zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und +von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts +zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, übermorgen und +auch fernerhin unmöglich abgegeben werden könnten. Als +Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles +hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache +folgende Fassung gegeben: "Also rrrrein mit der Hand +in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!" + + Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem +Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten +Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der +hohen Direktion als auch diejenigen aller übrigen +Künstlerinnen und Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, +denn ich bekam nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, +sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches für den +ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt. +Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar für Stücke, +in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab +es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche +Gefahr für die Zuhörerschaft, denn als der Herr Direktor +sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei +dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zärtlichen +Liebesszenen so ängstlich aus seinen Stücken streiche, +antwortete er: "Teils aus moralischem Pflichtgefühl und teils +aus kluger Erwägung. Unsere erste und einzige Liebhaberin +ist zu alt und auch zu häßlich für solche Rollen." + + In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach +dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen +hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb +einer späteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht +gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen +herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr häufig, +obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten, +sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken +sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich +jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand +ich nichts davon und ließ mir von der leeren, hohlen +Oberflächlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere +größere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche +Stücke schrieben, die auf die Bühne gegeben wurden, +kamen mir wie Götter vor. Wäre ich ein so bevorzugter +Mensch, so würde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen +erzählen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Märchen, +von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede +von Kulub, von der Erlösung aus der Erdenqual und +allen anderen, ähnlichen Dingen! Man sieht, ich befand +mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich +aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch +mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in +die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten +Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch +Anderes kam hinzu. + + Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß +war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, +genoß evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und +wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war, +evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer +Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs. +Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als +sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher +Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche +seines Kirchenamtes religiösen Haß zu säen. Unsere +Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am +meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter, +die waren alle drei ursprünglich tief religiös aber von +jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich +in keinen Streit einläßt und einem jeden vor allen Dingen +die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, +so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ +erweisen. Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem +Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen. Da +sagte der erstere: "Ein Eiferer ist niemals ein guter +Diplomat." Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits +gesagt, daß ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal +in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies +gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe täglich gebetet, +in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut. +Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang +beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, +Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut +noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben. + + Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus +gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede +Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, +Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige +religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu +beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck. +Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden, +welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren, +beteiligten sich am darauf folgenden grünen Donnerstag +zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen +Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung, +sonst während des ganzen Jahres nicht, +standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu +beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun. +Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock, +Bäffchen [sic] und weißes Halstuch. Sie standen zwischen +dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten +und hielten schwarze, goldgeränderte Schutztücher +empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen +Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende +gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere +Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese +frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare +wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort. + + Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am +ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des +Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die +Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias +Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies +ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehörte +Mut dazu, und es kam nicht selten vor, daß der Organist +dem kleinen Sänger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn +vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe +diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde +sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir +fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise +meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen +den Zeilen meiner Bücher. Wer als kleiner Schulknabe +auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener +Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat, +daß ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens +kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich +nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem +durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn +alle andern Sterne verlöschen. + + Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird +jetzt wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf +einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester +Halt nach dem andern unter den Füßen hinweggenommen +wurde, so daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft +zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der +Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr +viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der +Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark +und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter +mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie +Fatalisten behaupten würden, von allem Anfang verfallen +war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen +beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten +Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut noch +liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, +durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, +endlosen Qual geworden ist. + + Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim +richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht +etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet, +sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, +langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand +meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie +ich, wohin dieser Weg uns führte. Meine erste Lektüre +bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel +mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf +folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit +und Gegenwart, die es im Städtchen gab. Dann alle +möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte. +Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer +Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als +Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum +letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt +das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm +da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, +wenn auch nur scheinbar, müßig stand. Und er war +gegen alle Beteiligung an den "Unarten" anderer Knaben. +Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie +andern anzupreisen. Ich mußte stets zu Hause sein, um +zu schreiben, zu lesen und zu "lernen"! Von dem +Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn +er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er +nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf +dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, +wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun +zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, +war dies höchst gefährlich. Saß ich dann betrübt oder +gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buche, so kam +es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und +erbarmend sagte: "So geh schnell ein bißchen hinaus; +aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er +dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!" O, diese +Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da +wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der +schlage in meinen "Himmelsgedanken" das Gedicht auf Seite +105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine +Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh +herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die +für mich und meine Leser als "Menschheitsseele" gilt. + + Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal +von Büchern jeden Genres in Privathänden befand, +zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon +abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen +Quellen um. Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken +des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des +Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier +als der Vernünftigste von allen. Er sagte, Bücher zur +Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum +Lernen, und für diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu +jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er +meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den +lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche +Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine +lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte, +doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen: + + "Ein buer [sic] lernen muß, + Wenn er will werden dominus, + Lernt er aber mit Verdruß, + So wird er ein asinus!" + + Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und +meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein asinus, +sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleißig +lateinisch lernen! + + Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den +Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika auszuwandern. +Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist so viel +wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich ganz +von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet +auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein +Buch in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder +mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre +1782 in Berlin gedruckt und "Seiner Königlichen Hoheit, +Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen" gewidmet. +Darum mußte es gut und von sehr hohem Werte sein! +Der Titel lautete: "Chansons maçonniques", und zu der +Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige +Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag: + + "Nons vénérous de l'Arabie + La sage et noble antiquité, + Et la célèbre Confrairie [sic] + Transmise à la postérité". + + Das Wort "Freimaurerlieder" reizte ganz besonders. +Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei +eindringen zu können! Glücklicherweise erteilte der Herr +Rektor für Privatschüler auch französischen Unterricht. +Er gestattete mir, in diesem "Zirkle" einzutreten, und so +kam es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen +und Französischen zugleich zu befassen hatte. + + Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen +weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. +Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte +von geographischen und ethnographischen Werken, die er +meinem Vater alle für mich zur Verfügung stellte. Ich +fiel über diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und +der gute Herr freute sich darüber, ohne irgendein doch +so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf +eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern +mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung +zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten, +als vielmehr in den Büchern aus, die er besaß. Zu derselben +Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek. +Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern +nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine +mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich +schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir +zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu +dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften +von Redenbacher und andern guten Menschen fügte. So +kam es, daß ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung +der islamitischen Wohltätigkeit vor mir liegen hatte +und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht, +in welchem über das offensichtliche Nachlassen der +christlichen Barmherzigkeit bittere Klage geführt wurde. In +der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland +und alle jene "Großen" kennen, welche der Wissenschaft +mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek +des zweiten alle jene andern "Großen", denen die religiöse +Offenbarung himmelhoch über jedem wissenschaftlichen +Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein +Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge; +aber noch viel törichter als ich waren die, welche mich +in diese Konflikte fallen und sinken ließen, ohne zu wissen, +was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen +Büchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein; +mir aber mußte es zum Gifte werden. + + Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche +Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt werden, +und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise +zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner +Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder +Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine +Uebung besaß, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich +Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche +Qualen! Und was habe ich noch außerdem dafür geopfert! +Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und +heizbarer, so daß er zur Sommer- und zur Winterszeit und +bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde +täglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie +Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag. +Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis +zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war der +Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, +an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre +Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkäufe zu machen und -- +last not least -- eine Partie Kegel zu schieben. Aus +dieser einen aber wurden fünf, wurden zehn, wurden +zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, daß ich +mich von Mittags zwölf Uhr an bis nach Mitternacht +zu schinden hatte, ohne auch nur fünf Minuten ausruhen +zu können. Zur Stärkung bekam ich des Nachmittags +und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes, +zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein +mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte, +mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister +anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen +Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie +notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der +Betrag, den ich da wöchentlich zusammenbrachte, war gar +nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum +und außerdem für jedes Honneur, welches geschoben wurde, +einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern +frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz +eine doppelte oder dreifache Höhe. Es hat Montage +gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach Hause +brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu unserer +Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg. + + Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? +Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde +zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel +Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen, +daß es sich hier nicht um Leute handelte, welche +das kannten, was man unter Rücksicht oder gar Zartgefühl +versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge +kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was +ich da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute +Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches +da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich +heraus zu mir. Alles, was Großmutter und Mutter +in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr +Rektor auch, das empörte sich gegen das, was ich hier +zu hören bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift +dabei. Es gab da nicht jene kräftige, kerngesunde +Fröhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben, +sondern es handelte sich um Leute, welche aus der +brusttötenden Atmosphäre ihres Webstuhles direkt in die +Schnapswirtschaft kamen, um sich für einige Stunden +ein Vergnügen vorzutäuschen, welches aber nichts weniger +als ein Vergnügen war, für mich jedenfalls eine Qual, +körperlich sowohl als auch seelisch. + + Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch +viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche +böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar +was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich +und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche +Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte +sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in +den beiden Städtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts. +Die einzige Veränderung, die sie erlitt, war die, daß die +Einbände immer schmutziger und die Blätter immer schmieriger +und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde +von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen, +und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner +Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich einmal +gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte, +gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, mögen +einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der +Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo +Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, +der wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle auf +dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige [sic] Bandit. +Die schöne Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten +Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der +Gesetze. Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans +von Hunsrück oder der Raubritter als Beschützer der +Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von +Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am +Hochgericht. Der König als Mörder. Die Sünden des +Erzbischofs u. s. w. u. s. w. + + Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine +Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, +einstweilen darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne +sie alle lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las +sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! +Ich nahm sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte +lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte +nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, +die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. +Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl +daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte +nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir +zusammenbrach. Daß die wenigen Stützen, die ich, der +seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun +auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein +Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm. + + Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung +begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und +Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide +auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede +nachzuweisen. Man behauptet, daß der Mensch nicht +Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem +anschließen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst +im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine +kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln. +Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen +war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur +das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon +gehabt, aber was für eine Wirkung! Es war zu einem +kleinen, monströs dicken, wasserköpfigen Ungeheuer +aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja +vielleicht außergewöhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu +einer unartikulierten geistigen Mißgestalt verwandelt, die +nichts Wirkliches besaß als nur ihre Hilflosigkeit. Und +seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach +oben nur an dem erwähnten starken, unzerreißbaren Tau +und wurde nach unten nur dadurch an der Erde +festgehalten, daß ich für König und Vaterland, Gesetz und +Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle +Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an +denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet +hatten, den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und +seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun +aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar +durch die Lektüre dieser schändlichen Leihbibliothek. Alle +die Räuberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen +ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren, +das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch +ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden. +Sie besaßen wahre Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, +eine grenzenlose Wohltätigkeit und warfen sich +zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrückten und +Bedrängten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung +und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Männer +aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der +Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor +allen Dingen die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der +Bewegung, die in diesen Büchern herrschte! Auf jeder Seite +geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend +eine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern +hatte. Was dagegen war in all den Büchern geschehen, +die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Traktätchen +des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden +Jugendschriften? Und was geschah in den sonst +ganz guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? +Da waren große, weite und ferne Länder beschrieben, +aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde +Menschen und Völker geschildert; aber sie bewegten sich +nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie, +nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte. +Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen +standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch +kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden in die Hand +zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es +gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt +verlangt, nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles +an, weil er allein es ist, für den die Bücher geschrieben +werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder +Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet für sie den Tod. +Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser +Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten +und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hände nimmt! +Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so +wird dieser auch schon erfüllt. Und welche bewundernswerte, +unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder +gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann +sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder böse +Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, Feldherr, +Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft. +Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche +Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit +und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen +Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht! +Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den +Rinaldo Rinaldini geschrieben! + + Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in +meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner +Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam +die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in +hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da +las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. +Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger, +desto mehr; sie wurde aber von uns andern überstimmt. +Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, von "edlen" +Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten. +Daß sie diese Reichtümer vorher andern abgestohlen und +abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das +nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige Menschen durch +so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden +seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein, +wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich +hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler +auf den Tisch zählte und dabei sagte; "Das ist für euren +Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der +Theaterstücke schreibt!" Das letztere war mir nämlich, +seit ich den "Faust" gesehen hatte, zum Ideal geworden. + + Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen Bücher +nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst +meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen +Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist +gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine +einzige solche Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive +geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige +Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen +verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die +Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung +zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! +das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, +die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht +etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern +es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten +Verbrechertum. + + Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was +nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich +wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf +die Universität. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle +Mittel. Ich mußte mit meinen Wünschen weit herunter +und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu +waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der +Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem +Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm +verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. +Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen +können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern +von Humanität und Nächstenliebe und war unser +Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns +einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten, +recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar +keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines +Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das +hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber +wir glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie +auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu +Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum +Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete +die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen. Sie +schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen, +nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten, +also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben +würde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit. +Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: "Meine +liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie +sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, +den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen +hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch +Kinder wie Sie und muß für sie sorgen. Ich kann Ihnen +also die fünf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost +nach Hause, und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz +gewiß zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat +und sie Ihnen gibt!" + + Das war abends. Ich saß da und las in einem +Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was +Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus +Empörung über solche Art der Frömmigkeit, als über die +Abweisung selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand +er auf und ging. Unter der Tür aber sagte er: "Einen +solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf +das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten +soll!" Als er fort war, saßen wir andern noch +lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen. +Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf +Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, +in dem ich gelesen hatte, führte den Titel "Die +Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller +Bedrängten." Als Vater nach Hause gekommen und dann +eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich +aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich +einen Zettel: "Ihr sollt euch nicht die Hände blutig +arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!" Diesen +Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen +trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von +meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die +Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, +aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann +gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die +Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über +Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach +Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus +der Not. -- -- -- + + _________ + + + IV. + Seminar- und Lehrerzeit. + + _____ + +Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und +in ihren Früchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst +heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist, +und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in +dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich +nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt +er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese +in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, +was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße +verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf +anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung, +daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. +Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphäre +eines "Gewordenen" genau kennt und richtig zu +beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, +welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen +Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen +Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der +größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen +Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze +führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch +noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit +aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug +Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch +begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn +es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden +müßten. Und gewöhnlich sind es nicht etwa die +Fernstehenden, sondern grad die lieben "Nächsten", welche +Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die +Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen +mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld, +die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld. + + Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus +denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen, +so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend +welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf +andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut +sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein +muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche +Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau +zu untersuchen. + + Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe +bei einander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre +Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischen +einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der +Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen +Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden, +dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus +zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. +Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und +Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände +zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es +hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal +zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken +pflegt, "das erste Licht der Welt erblickte". Die +ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind +diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur +in materieller, sondern auch in anderer Beziehung. +Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige +Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der +Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen +Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an +der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung +bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft +überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es +wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine +Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und +Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung +zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden +Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen, +die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und +zerhackt werden mußten, damit, wenn die Haussuchung +kam, nichts gefunden werden könne. Es galt für die +armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren. +Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein +"Stück zu Markte". Für jeden Fehler, der sich zeigte, +gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar +mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann +wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der +Heiterkeit und -- -- -- dem Schnaps gewidmet. Man +fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum. +Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen Familien +sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern +regierte die Karte. Da wurde "gelumpt", "geschafkopft" +oder gar "getippt". Das letztere ist ein verbotenes +Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte. +Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging +von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während +der Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem +Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen. +Da saß man im Grünen und trank. Schnaps war +überall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man +betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm +seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz +von selbst verstände. + + Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über +die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in +ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden +Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, +die man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht. +Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch +gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt, +dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen, +sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war +die ganze Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige +und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, +die man jetzt kaum mehr für möglich hält. Im persönlichen +Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als +die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, +welches ich da anführe, diene der Name Wolf. Es gab +einen Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, +einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter +Wölfe. Die Häuser waren klein, die Gassen +eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen +und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast +zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben. Und +da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen +Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg. +Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man +ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam +dadurch zur immerwährenden, aber stillen Hechelei [sic], zur +niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus, +welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das +war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne daß +man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie Gift. So +hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein +lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, +verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel +zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um +sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen +Karten zu üben. Sie etablierten sich in einer vor der +Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer +aus, um Opfer einzufangen. Da saß man nächtelang +und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da mit +vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben +war im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von +jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man +sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich +darüber, anstatt daß man diese Betrügereien verwarf. +Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen +Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete, +man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das +geringste von allem, was man von ihnen wußte. Daß +hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge +gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und +daß jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich, +streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das +leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt hätte, +daß dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen +Tiefstand bedeute, der wäre wohl ausgelacht worden, oder +gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefühl war +irregeführt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man +die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der +alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände man +verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden +Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der +Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener +Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um +ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der +ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete +es. Man ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend +aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte +den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien +bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und +so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde +einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf +geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat +oder nicht? + + Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren +die beiden Namen "Batzendorf" und die "Lügenschmiede". +Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche +und schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. +Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder +Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux, +aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam. Batzendorf +hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen +Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles +aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das +allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten +Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer +Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf, +den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert +und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie +zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin +zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter. Sie mußte die +Stunden ansagen und tuten. Jede Behörde und jede +Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel- +und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische +gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da +kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten +Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu +werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung +zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne +Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung +eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft +sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz +war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor +war noch älter und glaubte von allem das Beste. Er +sagte immer: "Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!" +Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben. +Der Herr Kantor schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, +öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber +unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu +warnen: "Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen +Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie und auch nicht +gut für den Karl. Was man da treibt, ist alles weiter +nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und +Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand +rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu +sehen noch zu hören bekommen!" + + Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses "Batzendorf", +in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine +ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille, +heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt. Da lockerten +sich "die Bande frommer Scheu". Da gab es wöchentlich +etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten +der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten +und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt +zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer +Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung +kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber +einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war +eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen +sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein geführt +und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin +stecken lassen müssen. Dem Unbegabten schadet das weniger; +in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem +Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage +treten, nicht mehr einzudämmen sind. + + Die "Lügenschmiede" war etwas neueren Datums. +Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine +Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache +selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in +Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich +satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswürdige +Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen +durch diese Begabung ihr Glück machen können, +so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen +hangen und konnten also auch nur Kleinliches und +Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war +wirklich schade um sie! + + Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und +Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die +Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und +Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft +zu errichten, aber natürlich mit Restauration, +denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese +Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen; +aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar +ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lügenschmiede +und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied. +Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgästen +saß allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer +konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon +bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich, +ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu +widerstehen war. Er wurde "gemacht", wie man es +nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen +stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine +wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er +mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er +sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und +mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle +die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. +Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende +von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder, +dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgästen +anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog +beschämt von dannen. + + Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte +einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte +er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er +einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm +Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner +weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn +Jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere +Gäste hatten keine so gewöhnlichen Witze zu befürchten. +Die ließ man warten. "Der muß erst noch reif werden," +pflegte der Lügenschmied zu sagen. Und Jeder wurde +reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob +studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig. +Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem +Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast, +der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier +sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. +Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. +Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und +rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene +dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann +vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht. Er +konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe +dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei +gescheiter als alle, ihn könne niemand foppen. Einem +andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut' +Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt. Er sei einem +Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten +Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen +das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen. +Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam +aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig +gesunden Bruder zurück. Auch die Herren von der +Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch +nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet +wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, +und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse +zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne +unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, +wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach +und nach aus. Die Witze wurden gewöhnlicher; sie +verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein +Jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen +machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen. Der +Geist ging aus. Was früher wirklicher Humor, wirkliche +Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen +war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit, +zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen +Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede ist jetzt +verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht. +Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten +Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch +heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und +zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen +verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter +ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten +Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, +leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer +darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages +leiden müssen. Daß meine Gegner es wagen konnten, +den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit +bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln +und mich sogar als Marktweiberbandit und Räuberhauptmann +durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum +größten Teil durch die Lügenschmiede ermöglicht, deren +Stammgäste gar nicht bedachten, was sie an mir +begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen +über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten +traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück +und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich über +jene Falschspielergesellschaft, über "Batzendorf" und über +die "Lügenschmiede" zu berichten hatte, sind nur einige +kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner +Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus +erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich +und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in +den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, +will dies aber gern und mit Vergnügen unterlassen, +weil ich kürzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel +sich dort verändert hat. Ich hatte meine Vaterstadt +schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner +meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde, +sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttäuscht. +Das meine ich nicht äußerlich, sondern innerlich. +Ich habe der Städte und Orte genug gesehen; da +kann mich nichts überraschen und auch nichts enttäuschen. +Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden +Menschen zunächst und vor allen Dingen seine Seele +kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden +Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals +war zwar noch die alte; das sah ich sofort; +aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie +hatte ein anderes, besseres und würdigeres Aussehen +bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang +beobachten zu können, und darf wohl sagen, daß mir +diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand +Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich +begegnete einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie +früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, +mehr Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse +zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in +das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich +gehoben und zeigte die Fähigkeit, sich auch fernerhin und +zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten, +aus denen in Wirklichkeit "Etwas geworden" war. Das +war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte. +Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter +mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern +die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, von +gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War +dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her? +Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet werden +kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend, +stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe +aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen +Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere +und von Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare +Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder +sein möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten +vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit +jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit +dem Erfolg kommt auch der Segen. + + Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun +zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in +der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln +spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube +ja nicht, daß dies eine "verrückte" Idee gewesen sei. Ich +war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch +kindlich, aber doch schon wohlgeübt. Der Fehler lag +daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den +Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun +einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie, +mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit +dieser Verwechslung zur Wirklichkeit. + + Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. +In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von +uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich +auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen +hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen. +Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt. +Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und +machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort +anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir +rund um den Tisch, und ich erzählte in aller +Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum. +Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute. +Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie +waren über mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei +einem Räuberhauptmann suchen! Sie wußten sich zunächst +keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten, +und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen +Vater hereintreten sahen. Er, der jähzornige, leicht +überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. +Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges +Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte: +"Mach so Etwas niemals wieder, niemals!" Dann ging +er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim. + + Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser +Zeit still nebeneinander hergegangen; er führte mich an +der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, +wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom +Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich. +Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches +Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und +er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt +in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach +Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner +Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich +müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde +nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und +das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf. Als +dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe +ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden +zu müssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für +mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, +ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung +von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für +mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu +Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand +ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu +Waldenburg und wurde dort interniert. + + Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! +Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! +Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als +den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich +derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir +Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich +stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde, +hoch über sie hinausragend, hob sich das über +alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem +ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: +Stücke für das Theater schreiben! Ueber das Thema +Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer +nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz +gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht +fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die +grüne Mütze trug! Wie stolz auch meine Eltern und +Geschwister! Großmutter drückte mich an sich und bat: + + "Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du +noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. +Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen. +Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten +wollen!" + + "Und die Geisterschmiede?" fragte ich. "Muß ich +da hinein?" + + "Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen," +antwortete sie. "Bist du es aber nicht wert, so wird +dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen." + + "Ich will aber hinein; ich will!" rief ich mutig aus. + + Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und +sagte lächelnd: + + "Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß +ihn nie in deinem Leben!" + + Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, +falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das +niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, +daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben +zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen +Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen +werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, +unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, +und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst +anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen +Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz +ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht +abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und +wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte +festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz +besonderen Art, in welcher die Theologie und der +Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab +täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder +Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz +richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore +in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab +außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und +ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. +Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen +wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in +Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz +selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht, +nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die +Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, +keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war +kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. +Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die +Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche +man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte. +Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf +erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu +Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben +Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen +Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben +Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte +Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und +das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder +einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und +durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen +lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen; +das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen +Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein +sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts +gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so +religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die +Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und +bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch +heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar +habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner +Mitschüler fürchtete. + + Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse +geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe +habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren +und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses +Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar +vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, +die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und +wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen +das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig; +ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit +fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. +Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr +als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder, +als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den +Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst. + + Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das +darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei +zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts +weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete +Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten +Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich +mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren +Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an +und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß +ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei. +Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel +gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert +und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses, +stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte, +daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte +mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine +stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen +Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das +ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, +was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war +wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen +hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und +dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht +beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen +meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der +Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen +Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als +daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam. +Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, +als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen +hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das +begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns +lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit +des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fügte +man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen, +deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. Bei mir +aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich +hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, +aber keinen einzigen tragenden, stützenden +Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste +Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig +besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich +einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem +sie sich daheim zu fühlen vermochte. Und das Schlimmste +hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war +nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von +den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das +begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich +umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen +davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen. +Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die +Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche +mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich +fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit +wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. +Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich +aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, +wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor +mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner +seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu +reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in +Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht +gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer +anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, +so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, +keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine +Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und +einfach stehen lassen. + + Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang +nach geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und +hatte demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im +Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich +erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was +ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern +etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was +schrieb ich da? Ganz selbstverständlich eine +Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverständlich, um gedruckt +zu werden! Von wem? Ganz selbstverständlich von der +"Gartenlaube", die vor einigen Jahren gegründet worden +war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war +ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein. +Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete, +bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb +ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren +Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein +Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu +senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst +geschrieben, vier große Quartseiten lang. Ich war fern +davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war. Er +kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich +mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst +gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne +es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte. Gegen +den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am +Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die +Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt +sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder +eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte. +Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die +Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht. Das +war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen +habe. Damals freilich hielt ich es für einen absoluten +Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber. +Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar +in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in +dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal +überfiel, aus welchem meine Gegner so überklingendes +Kapital geschlagen haben. + + Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die +Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von +jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende +als "Wochner" bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten +Klasse einen "Ordnungswochner" und in der zweiten einen +"Lichtwochner", welch letzterer die Beleuchtung der +Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah +damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines +niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde. +Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten, +wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die +Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten +zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach +weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder +anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren +allgemein als wertlos anzusehen. + + Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, +Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese +Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem +Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage +vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche +abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die +Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es +Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach +Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch +jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen +der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut +daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst. +Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das +Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das +hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert [sic] +werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld +dazu. Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter. +Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten +ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine +Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber +wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren +Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu +fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das +Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich +soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt +hatte. "Könnte man denn nicht daraus einige +Pfenniglichte machen?" fragte sie. "Ganz leicht," +antwortete ich. "Man braucht dazu eine Papierröhre und +einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht, +denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu +gebrauchen." "Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch +eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört +dieser Abfall?" "Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn +zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder +nicht, ist seine Sache." "Also wäre es wohl nicht +gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause +nähmen?" "Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem +Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige +wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus +machen wir drei kleine Weihnachtslichte." + + Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer +Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, +also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen +Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser +wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich +nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging +fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor +kam in eigener Person, den "Diebstahl" zu untersuchen. +Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab +den "Raub", den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte +wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen +"infernalischen Charakter" und rief die Lehrerkonferenz +zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. +Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. +Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte +gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der +Schwester -- -- -- in die heiligen Christferien -- -- +-- ohne Talg für die Weihnachtsengel -- -- -- es waren +das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe +wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für +mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen +sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen +in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich +lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern +unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die +unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken +und Heiden verfahren würden. + + Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus +und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, +verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich +erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen +Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. +Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite, +und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, +worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt, +bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine +Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich +erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine +Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, +der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, +sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte. + + Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. +Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere +Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich +als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen +konnte, eine wenn auch noch so bescheidene +Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen. +Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es +auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir, +um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen. +Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen, +ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf das +Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht +absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, +die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu +richten hat, fast unentbehrlich ist. + + Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden +war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er +machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß +auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher +beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; +er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er +seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte +ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar +wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen +war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine +Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam +ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm möglichst gefällig +und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte, +als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete +ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand +sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue +Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr +brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. +Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er +bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte +aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so +sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch +in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen +hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, +seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu +stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich +ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der +ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule +zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb +das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der +Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht +mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich +vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen +mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr, +an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder +gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er +duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen +absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung +nicht behage. + + Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich +die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und +verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule +gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung +zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr +ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar +nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in +meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; daß +sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr +gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern +Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein +so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich +besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum +Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir +begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten. +Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale, +die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen. +Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. +Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir +endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit +wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine +innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich +bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor +mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer +und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller +werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle +inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten +Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz +für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen +Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war +der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach +dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine +Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. +Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich +der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er +mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur +Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich +ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst +in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß +eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich, +schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner +Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit +angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich +niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine +Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig +zu fragen: + + "Sie sind arretiert! Wissen Sie das?" + + "Nein," antwortete ich, tödlich erschrocken. +"Warum?" + + "Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr +gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, +bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer +abgesetzt!" + + Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, +als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf +geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine +Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung +und Gefängnis! + + "Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur +geborgt!" stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog. + + "Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben +Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht +sehen! Schnell, schnell!" + + Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger +klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb +aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und +die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand +vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. +Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern +im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies +geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich +abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so +kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz +der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man +nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die +Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; +ich war ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz +vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die +Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und +Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. +Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich +zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel, +zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine +Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage +sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig +entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen +Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich +erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge +ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich +im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner +Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich +mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann +in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter +wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder +kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz +gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder +aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten +vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, +noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, +an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich +stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. +Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den +Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich +sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz +anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend. +Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen. +So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt. +Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben +zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere +verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? +Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, +gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden +als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es +ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu +bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das +auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf der +Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen +Vorwurf zu machen. + + Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich +damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser +Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor +mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu +leisten, vorher aber Großes zu lernen. Das Erstere war +falsch. Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht +hinter mir, sondern vor mir. Und das Große, was ich +zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe +zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei +hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen. Dies ist die +schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und +ich glaube, ich habe sie gelöst. -- -- -- + + _________ + + + V. + Im Abgrunde. + + _____ + +Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden +Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen +aber die interessanteste ist. Es liegt mir in der schreibenden +Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung +jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung +zu geben, welche am besten geeignet wäre, das, was damals +in mir vorgegangen ist, für den Fachmann begreiflich +zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen +Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine +Bücher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche, +Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde infolge +dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen +bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der +nicht allgemein verständlich ist. + + Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie +ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den +Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. +Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder +auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer +Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es +grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung +verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, +ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein +Rechtsmittel ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß +nur noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, +zwei andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. +Man schien mich also für ungefährlich zu +halten, sonst hätte man mich nicht mit Personen +zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren. Der Eine +war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier. Weshalb +sie in Untersuchung saßen, das kümmerte mich nicht. Sie +zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mühe, mich aus +dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich +befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich verließ die +Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben +Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging +heim, zu den Eltern. + + Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter +noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe +zu machen. Und das war geradezu entsetzlich! Als ich +damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien +wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen, +ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrüben, und es +war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen! +Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir +nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun +da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht +erst seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für +immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende +die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten +Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, +lernen, lernen! Am Großen, Schönen, Edlen mich +emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt +als Bühne kennen lernen, und die Menschheit, die sich +auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren, +arbeitsreichen Lebens für die andere Bühne schreiben, für das +Theater, um dort die Rätsel zu lösen, die mich schon seit +frühester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar +fühlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff! + + Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang +war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich +aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das +strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab +nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, +als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht +war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und +sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch +auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. +Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse, +zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte +den schärfsten Einblick in alles, was außer mir lag; aber +sobald es sich mir näherte, um zu mir in Beziehung zu +treten, hörte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande, +mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich +selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen kam ein +Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu wissen, was +ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis +zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich +ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem +Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen +Zustandes geistig sehr wohl bewußt, besaß aber nicht +die Macht, ihn zu ändern oder gar zu überwinden. Es +bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein +Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit, +ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, +sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab +es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald +gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander +unterschieden. + + Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das +Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war +und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es +besaß große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte +alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets +nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel, +einer jener reinen, beglückenden Gestalten aus Großmutters +Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte, +wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam +war. Die dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern +seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, häßlich, +höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe +ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört. +Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie +sprach. Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nächte +lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute, +sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war. +Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst +jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie +einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt +und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut +und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal +gesehen hätte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte +auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf, +aus dem Kegelschub oder aus der Lügenschmiede. Heut +sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der +Raubritter Kuno von der Eulenburg und übermorgen +wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem +Talgpapiere stand. + + Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit +einem Male, sondern nach und nach. Es vergingen viele, +viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten, +daß ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das +Gedächtnis festhalten konnte. Und da begann ich zu +begreifen, um was es sich eigentlich handelte. Was sich in +jedem Menschen vollzieht, ohne daß er es bemerkt oder +auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah +und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade? +Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig, +sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese Beobachtungen +mit einer Objektivität und Kaltblütigkeit, als ob es sich +nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir +vollständig fremden Menschen handle. Und ich lebte das +gewöhnliche, alltägliche Leben ganz so, wie jede gesunde +Person es lebt, die von derartigen psychologischen +Vorgängen nicht angefochten wird. Es kehrte mir die Kraft +und der Wille zum Leben zurück. Ich arbeitete. Ich +gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich +dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine +Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, +einzuüben und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder +dieser Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, +mit dem ich öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. +Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst +Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten". Ich hatte +nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende +Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt. +Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere. +Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich +entwickelte. Aber diese Freude wurde in der grausamsten +Weise durch eine andere Entwicklung vergällt, die sich +zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern +vollzog. Die Spaltung dort griff weiter um sich. Jede +Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen zu +wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, +mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren +wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie +hören. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher +außer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die +helle und die dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen. +Und je länger es dauerte, daß sie sich von einander +unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften +da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander: +Großmutters helle, lichte Bibel- und Märchengestalten +gegen die schmutzigen Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner +Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die +übererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren +wurde, gegen die beglückenden Ideen des Hochlandes, +nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten +Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden +Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft +schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen +die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die +Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, +um zum Edelmenschen zu werden. + + Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, +der vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es +Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten. +Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich +zu sichtbaren und hörbaren Gestalten verdichtet. Ich sah +sie bei geschlossenen Augen, und ich hörte sie, bei Tag und +bei Nacht; sie störten mich aus der Arbeit; sie weckten +mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mächtiger +als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen +Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte Ruhe +in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu +arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede +wollte die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam +es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen +eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte +ich ohne Streit und Störung vollenden. Bei einer ernsten +Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen für +und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich +regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt, +sondern genauso straft, wie man sündigt. Hiergegen +empörten sich gewisse Gestalten in mir. Den größten +Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten +oder meiner Lektüre noch höhere Linien bestieg. Wenn +ich mir ein religiös oder ethisch oder ästhetisch hohes +Thema stellte, empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit +aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz +unaussprechlich sind. Um zu zeigen, in welcher Weise +das vor sich ging und was für Qualen das waren, will +ich ein erläuterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag +erhalten, eine Parodie von "des Sängers Fluch" +von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die Parodie bekam +den Titel "des Schneiders Fluch". Ein Schneider +verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen und +winziges Gärtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbüsche +standen. Bei der Verfluchung des Häuschens kam es +zu folgenden Zeilen: + + "Die Hypotheken lauern + Schon heut auf euern Sturz. + Ihr hörts, verruchte Mauern, + Ich mach' es mit euch kurz!" + +Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestört zu +sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste +Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt verschwand; +sie trauerte, denn mein Können reichte zu Besserem und +Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein Lehrgedicht +zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen +gegenwärtig sind: + + "Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden, + Das euer Heiland euch gelehrt + Und es in euren eig'nen Landen + Befolgt und mit Gehorsam ehrt, + Dann einet sich zu einem Strome + Die Menschheit all von nah und fern + Und kniet anbetend in dem Dome + Der Schöpfung vor dem einen Herrn. + Dann wird der Glaube triumphieren, + Der einen Gott und Vater kennt; + Die Namen sinken, und es führen + Die Wege all zum Firmament." + + Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu +diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat +eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln +der lichten Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken +eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden. Ich griff +zur Feder. Da aber war es plötzlich, als ob ein schwarzer +Vorhang in mir niederfalle. Die Klarheit war vorüber; +die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf, +höhnisch lachend, und überall, durch mein ganzes inneres +Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen "des +Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders +Fluch u. s. w.!" So klang es stunden- und stundenlang +in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die geringste +Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich, +wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir, +sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich +gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch +war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und +zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich +aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam, +auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich +Schweigen ein. Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen, +halten mußte, so griff ich bald wieder zur Feder. +Sofort erklang der Stimmenchor von neuem "des +Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!" und als ich +trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte, +kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu "Die Hypotheken +lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte +Mauern, ihr hörts, verruchte Mauern!" Das ging den +ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann +noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hörte +es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt. +Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber +nicht. Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich. Ich +setzte es trotz aller Gegenwehr durch, daß mein Gedicht +zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber derartige Siege +hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann +innerlich zusammen. + + Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung +meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und +Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch +auf meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun. +Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs +Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge +unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, +die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir +einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich +sah sie nicht; ich sah nur die finstere, höhnische +Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner +Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie +beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen sträubte, +so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und so zu +ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die +Hauptsache war, daß ich mich rächen sollte, rächen an +dem Eigentümer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur +um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rächen an +der Polizei, rächen an dem Richter, rächen am Staate, +an der Menschheit, überhaupt an jedermann! Ich war +ein Mustermensch, weiß, rein und unschuldig wie ein +Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft, +um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß +ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein +Verbrecher. + + Das war es, was die Versucher in meinem Innern +von mir forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte, +so weit meine Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich +damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine +ethische, eine streng gesetzliche, eine königstreue Tendenz. +Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst +zur Stütze. Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist +mir das geworden! Wenn ich nicht tat, was diese lauten +Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit +Hohngelächter, mit Flüchen und Verwünschungen überschüttet, +nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und +ganze Nächte lang. Ich bin, um diesen Stimmen zu +entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen +und das Schneegestöber gelaufen. Es hat mich +fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat +fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch +es zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand +erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar +übermenschlich ich kämpfte, weder Vater noch Mutter noch +Großmutter noch eine der Schwestern. Und noch viel +weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man hätte mich +ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach für +übergeschnappt erklärt. Ob irgend Jemand an meiner Stelle +das ausgehalten hätte, daß weiß ich nicht, ich glaube es +aber kaum. Ich war sowohl körperlich als auch geistig +ein kräftiger, sogar ein sehr kräftiger Mensch, aber ich +wurde dennoch müder und müder. Es kamen zunächst +Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig +dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch +gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte +Gestalt in mir vollständig verschwunden. Das dunkle +Wesen führte mich an der Hand. Es ging immerfort +am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, +was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur +noch wie im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch +wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so +wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich +unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat, +sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit +führte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte, +Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne +zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu +bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es +wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich +ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem +Bewußtsein gehandelt haben kann. Ich weiß von der +darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr, +weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich +auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich +habe bis jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre +Gefängnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber +in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber +gewesen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß +der Abgrund nicht vergeblich für mich offengestanden hatte. +Ich war hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis +Zwickau eingeliefert. + + Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite, +habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche +Anschauungen zu wenden, die sich gegen Alles, was mit dem +Strafvollzug zusammenhängt, richten und mit denen nun +doch endlich einmal aufgeräumt werden sollte. Ich habe +manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber +unberechtigter Erbitterung drohen hören, daß er nach seiner +Entlassung ein Buch über seine Gefangenschaft schreiben +werde, um die ebenso schweren wie unzähligen Mängel +unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzuges aufzudecken. +Ein verständiger Mann lächelt über solche Drohungen, +die zwar ausgesprochen, aber nur höchst selten ausgeführt +werden. Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefühl +besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu +haben. Es fällt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur +wenige wußten, nun, da es überstanden ist, an die volle +Oeffentlichkeit zu bringen. Er schweigt also. Und das +ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewiß +beweisen würde, daß unter tausend Gefangenen kaum einer +ist, der über sich und seine Bestrafung unbefangen und +sachgemäß zu urteilen vermag. Ich aber glaube, mich +zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet +zu haben; ich halte mein Urteil für wohlerwogen und +richtig und fühle mich verpflichtet, hier folgende Punkte +festzustellen: + + Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als "Verbrecherschulen" +bezeichnet werden durften, sind längst vorüber. +In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch +und nicht weniger human als in der Freiheit zu. + + Das, was man einst als "Verbrecherwelt" brandmarkte, +gibt es nicht mehr. Die Bewohnerschaft der +heutigen Strafhäuser rekrutiert sich aus allen Ständen +des Volkes. Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und +Intelligenz aus denselben Prozentsätzen zusammen wie die +der "Unbestraften". + + An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. +Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu "ent"-schuldigen. + + Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses +Satzes wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter +kennen gelernt, auch unter denen, welche gegen mich +entschieden, dem ich einen Vorwurf machen könnte. Die +zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich förmlich +zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen +zu machen, und ich muß sagen, daß ich alle diese +Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur +hochachten kann. Ich habe sogar den Fall erlebt, daß ein +Dresdener Richter mir recht gab, obwohl alle seine +Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in +diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung +und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand +dies erweckt, das weiß nur der, der Gleiches wie +ich erlebte. + + In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe +auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft +nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher +kennen gelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit +und Humanität Grund zu irgend einem Tadel gegeben +hätte. Ich behaupte sogar, daß die Aufseher die Strenge +des Dienstes viel stärker empfinden als der Gefangene +selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte, eine +Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich +gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und +kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in +welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen +hat. Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies +zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle +mögliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, +vergessen zu machen. Es gab Beamte, die ich herzlich +lieb gewann, und ich bin vollständig überzeugt, daß ihre +Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur +vorgetäuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war. + + Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres +Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns +wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch +nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die +Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der +Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten +Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu tief +eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch +in unserer sogenannten, hochgepriesenen "Kriminalpsychologie", +an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht +aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger +der, um den es sich hier eigentlich handelt, nämlich der +sogenannte -- -- -- Verbrecher. + + Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue +Straftaten und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst +alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser einzudämmen +und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll ich +sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der +letzten, der "Kriminalpsychologie", beginnen, so liegen vor +mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst +strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen +dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der +Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet +sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung +und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu +lenken. Er hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er +wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung +handelt, oft genannt und würde ein Segen auf diesem +Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das +wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der Humanität +aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen Namen, +denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die +Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grade +beachtenswert, kann er als "Seelenforscher" in fast noch +höherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem +er seine öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen +versucht, läßt er sich so weit hinreißen, Personen, +die vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden +sind, nun aber sich in mühsam errungener, öffentlicher +Stellung befinden, mit in seine "psychiatrischen" +Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart +kenntlich zu machen, daß jedermann weiß, wen er meint. +Von einem Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt, +antwortete er, daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt +sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube. +Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen. +Aber selbst wenn es wahr wäre, daß es einen solchen +Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt, +einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene, +sonstige Humanität zu handeln und Menschen, die ihm +nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem +Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem +Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser +Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für +den Reichstag höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu +unterwerfen. Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag +er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das +Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, daß die +Herren Kriminalpsychologen ihn öffentlich an den +wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewiß nicht +darüber wundern, daß die Kriminalistik keine Neigung +zur Besserung zeigt. Ich werde im Verlaufe meiner +Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen müssen. + + Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, +so brauche ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der +Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber +hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen Anwalt +in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er +verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der +arme Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein +Ehrenmann, aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, +den B. zu vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen +und sich von ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann +als Beschuldigter, daß die Strafakten des Klägers vorgelegt +werden. Das geschieht. Sie werden in öffentlicher +Verhandlung vorgelesen. A. bekommt zehn Mark +Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die frühere Verachtung +und in das frühere Elend zurückgeworfen und wird nun +darauf schwören, daß für den einmal Bestraften alle Vorsätze, +sich zu "bessern", nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig +wird, ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider +nicht wenige Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken +zu dem höchst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die +in sachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persönlich +gehässiger, rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst +habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer +gesehen, daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz +niemals beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade +diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn +endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen, +durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken +ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst Gesühntes +wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende Zahl der +sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in Wegfall +kommen. + + Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des "lieben +Nächsten" anführte, geschah mit vollstem Rechte. Sie ist +und bleibt die Hauptursache der Mißstände, die hier zu +besprechen sind. Ich will keineswegs behaupten, daß dies +auf einem ethischen Mangel beruht. Ich meine vielmehr, +es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen +haben, daß man sie gar nicht mehr als Vorurteile +erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an denen niemand +zu rütteln vermag. Der "Verbrecher" war einst vogelfrei; +er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf ihn ein; +ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche +Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem +andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und +aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger +Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von +seiner Seite einer ungewöhnlichen Seelenruhe und einer +seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer +weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurückwerfen +zu lassen. Die größte Gefahr für ihn liegt darin, +daß ihm von dem lieben Nächsten das Ehrgefühl nach +und nach abgestumpft oder gar getötet wird. Läßt er es +so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik +gibt ihr entweder erbittertes oder vollständig gleichgültig +gewordenes Opfer nie wieder her. Dies wird und kann +gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso +unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird, +daß jeder bestrafte Mensch für die ganze Zeit seines +Lebens als "Verbrecher" zu betrachten sei. Kürzlich kam +in Charlottenburg der Fall vor, daß jemand, der vor +über vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem +aber gut geführt hatte, von einem übelwollenden Menschen +als "geborener Verbrecher" bezeichnet wurde. Der +Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde +freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen Menschen, der +sich mit äußerster Willenskraft aus dem Abgrund +emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt hat, mit +brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- -- + + Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter +berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der +Weise zu tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne +Leser es wünschen. Es ist mehr als genug, wenn man +solche Dinge nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie +zum zweitenmale zu erleben, indem man sie für andere +niederschreibt, so besitzt man gewiß die Berechtigung, sich +so kurz wie möglich zu fassen. Von dieser Berechtigung +mache ich hiermit Gebrauch. + + Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt +eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer +höflich ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer +Weise immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über +Härte zu klagen haben. Was die Beschäftigung betrifft, +die man für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube +zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich +die Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion +berücksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fürsoge in +meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nämlich ich +versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als +unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener +das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte +ich nicht fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es +mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben müsse, +denn schreiben mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand +besonderer Beachtung. Man gab mir andere Arbeit, +und zwar die anständigste Handarbeit, die man hatte. +Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde +Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und +Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese Riege bestand mit mir +aus vier Personen, nämlich einem Kaufmann aus Prag, +einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte war, das +konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. Diese +drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten +schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den +Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle +mögliche Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere +Zeit so leicht wie möglich zu machen. Nie ist ein +unschönes oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen. +Unser Arbeitssaal faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich +habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen +Verhalten an die Behauptung erinnert hätte, daß das +Gefängnis die hohe Schule der Verbrecher sei. Im +Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt bemüht, einen +möglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und +Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer Pläne +für die Zukunft habe ich während meiner ganzen +Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte irgend einer +gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er, wenn nicht +angezeigt, so doch auf das energischste zurückgewiesen +worden. + + Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt +wurde, dieser Visitation hieß Göhler. Ich nenne +seinen Namen mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er +hatte mich zu beobachten und kam, obwohl er von Psychologie +nicht das geringste verstand, nur infolge seiner +Humanität und seiner reichen Erfahrung meinem inneren +Wesen derart auf die Spur, daß seine Berichte über mich, +wie sich später herausstellte, die Wahrheit fast erreichten. +Er hatte, wie wohl alle diese Aufseher, früher beim +Militär gestanden, und zwar bei der Kapelle, als erster +Pistonbläser. Darum war ihm das Musik- und Bläserkorps +der Gefangenen anvertraut. Er gab des Sonntags +in den Visitationen und Gefängnishöfen Konzerte, +die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei Kirchenmusik +die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu begleiten. +Leider aber besaß weder er noch der Katechet, +dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen +Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten, für +die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der +fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren. Darum hatten +beide Herren schon längst nach einem Gefangenen gesucht, +der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war aber keiner +vorhanden gewesen. + + Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner +Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich +in sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das +vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei +der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte +er mich, und ich sagte ganz selbstverständlich auch nicht +nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur +das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den +Händen gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit. +Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich noch +mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre getrieben +habe und Musikstücke arrangieren könne. Er meldete das +sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die +Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl +des Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte +mich damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und +neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen +bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepräge. + + Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen Arbeiten +nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs +von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder +Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden +will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum +ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es +liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen +Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit für +meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die ich nicht +aufgab, auch als ich aus der Visitation der +Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir nämlich +mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu werden. + + Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine +Zelle für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses +Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, +da man über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen +Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und +unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors +desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr +pflichtbewußter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber +ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch +nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch +bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich zur Zeit +meiner Einlieferung vollständig unfähig gewesen war, +Schreiber zu sein, nun aber für fähig gehalten wurde, +eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche große geistige Um- +und Einsicht erforderte und die höchste Vertrauensstelle +war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor +war nämlich neben seiner Direktion des Isolierhauses +noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese seine Tätigkeit +bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und +auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges +überhaupt. Er schrieb die hierauf bezüglichen Berichte +und stand mit allen hervorragenden Männern des +Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe +war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre +Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu +vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. +Das war an und für sich eine sehr schwere, anstrengende +und scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem +Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen +und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, +ihnen Sprache zu verleihen, das war im höchsten Grade +interessant, und ich darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr +viel gelernt habe und daß mich diese Arbeiten in stiller, +einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie +viel weiter vorwärts gebracht haben, als ich ohne +diese Gefangenschaft jemals gekommen wäre. Daß mir +hierzu nur die besten und zuverlässigsten Unterlagen zu +Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir +da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da +in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und +Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie +keine Augen dafür haben. Ich habe da erkannt, daß +Großmutters Märchen die Wahrheit sagt, daß es ein +Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland +und ein ethisches Tiefland, und daß die Hauptbewegung, +an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von +oben nach unten geht, sondern von unten nach oben, +empor, empor zur Befreiung von der Sünde, hinauf, +hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir +von größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst +befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von +denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle +vernommen. Ich habe mit ihnen gekämpft und sie stets zum +Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurück; sie ließen +sich wieder hören, doch in immer längern Zwischenräumen, +bis ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für +immer stumm geworden seien. + + Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen +zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand +mir offen. Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa +nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren +alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen, +inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert +und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur +die Werke der Anstaltsbibliotheken, die mir zur +Verfügung standen, sondern man zeigte sich auch gern +bereit, mir solche von auswärts zugängig zu machen. Es +war mir ein unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und +Ungestörtheit der Zelle so viel wie möglich für mein +geistiges Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten +hatten ihre Freude daran, mir hierzu in jeder, den +Anstaltsgesetzen nicht widersprechenden Weise behilflich zu sein. +So verwandelte sich für mich die Strafzeit in eine +Studienzeit, zu der mir größere Sammlung und größere +Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler +jemals in der Freiheit findet. Ich werde über diesen großen, +unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft mir brachte, +noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz +besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten war, +mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch +den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten +zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten +sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes +Genre bilden sollen. Doch ist es für jetzt nicht +meine Absicht, mich über diese meine Studien zu verbreiten, +sondern ich habe mich hier allein und ganz besonders +mit dem Umstand zu befassen, daß die mir anvertraute +Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit +zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen +gab, unter deren Einfluß meine schriftstellerische +Tätigkeit sich zu der gestaltete, die sie geworden ist. + + Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen Bedürfnisse, +oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der Volksseele +kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst +zu nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder +Volksbibliothekar und jeder Leihbibliothekar genau dieselben +Erfahrungen machen könne, denn das ist nicht wahr. +Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind +zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann +das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedürfnisse +werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um. Die +äußere Persönlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre +Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. Und diese +ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung +erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich +große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll, +moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen +der Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die +sich beide aneinander versündigten. Dieses Hervortreten +der innern Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme, +in der Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene +hat während seiner Detention auf alle seine leiblichen +Sonderrechte zu verzichten. In leiblicher Beziehung +ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine +Nummer, die in den Büchern eingetragen wird und bei +der man ihn auch nennt. Um so kräftiger, ja ungestümer +tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich, +ihre Rechte und Bedürfnisse geltend zu machen. Der +Leib ist gezwungen, sich in die Gefängniskleidung und +Gefängniskost zu fügen. Wehe, wenn man den Fehler +begeht, den gleichen Zwang auch auf die Seele ausüben +zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem +Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach einer +Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um +sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu +befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das +Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im tiefsten +Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur körperlich +sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar +Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, hungrige +Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich gut im +ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den +sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen +Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? +Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man +beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle +aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei +derartig gegebenen Verhältnissen nur die Bibliothek sein. +Der Gefangene, der sich so führt, daß ihm das Lesen +nicht verboten werden muß, bekommt pro Woche ein Buch. +Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang die seelische +Kost für den nach Nahrung Schmachtenden. Er darf +sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er +bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann +ihm zum Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe +sein, kann ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, +ihn aber auch empören und verhärten. Einer meiner +Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre +lang weiter nichts als alte "Frauendorfer Blätter" zu +lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau, +die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen +bringen konnten. Er trug es in steigender Erbitterung, +bis ich die Bibliothek überkam [sic] und ihm Passenderes gab. +Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias +Gotthelfs Erzählungen derart außer sich gebracht, +daß er nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu +werden. Das letzte, was er hatte lesen müssen, hatte +den Titel gehabt "Wie fünf Mädchen im Branntwein +jämmerlich umkommen." Als ich ihm einen Band von +Edmund Höfer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen +geschenkt hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister +war einer langen Reihe von Erbauungsbüchern +zum Opfer gefallen. Er schwor mir wütend zu, daß es +schon um dieser Bücher willen keinen Herrgott geben +könne. Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht; +die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien +aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut bankrott und +verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe wie er. + + Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich +zunächst meine Bibliothek und sodann auch die Bedürfnisse +ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit +ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen +verbunden und führte zu dem betrübenden Schlußresultate, +daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten, +nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht +nur in unserer Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch +überhaupt in der Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, +an die Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund, +der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich +verglich. Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind +nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht +eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht +Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar +nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu +fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die Bewohner der +Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden muß, damit +der höhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur +Geltung kommen möge? Muß nicht überhaupt bei allen +Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige +gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit +gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen Ideale, zur +Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es nicht die +Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher +Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der +auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, +mit angehöre! + + Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich +zu Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst +seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren. +Es wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie +weiteten sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich +erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen +Zusammenhänge zwischen dem Kleinsten und dem Größten, +dem Körperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und +dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen. +Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben, +alten Märchen meiner Großmutter in ihrer tiefen +Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach und +dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, +verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht +und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan +empor. Ich stellte mir vor, die verloren gegangene +Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden +kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. Dieses +Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur +hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der +Menschheitsqual, bei der Träberkost des verlorenen Sohnes +unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann, +das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen +und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. +Aber nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in +jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als +Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine +Marah Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, +der ich die Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da +tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir +auf, jener geheimnisvolle "Bewahrer der großen Medizin", +den meine Leser im dreiunddreißigsten meiner Bände +kennen gelernt haben. Und da wurde auch der Gedanke +"Winnetou" geboren. Wohlverstanden, nur der Gedanke, +nicht aber er selbst, den ich erst später fand. Damals +habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek +und alle andern, die mir zugängig wurden -- fast +verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber das würde nicht +wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort für Wort +zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit +in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich nicht +allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit +einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, +meine Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu +werden. Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen +Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit +zurück und holte den alten, kühnen Wunsch hervor, "ein +Märchenerzähler zu werden, wie du, Großmutter bist." +Ich befand mich ja an einem der größten und reichsten +Fundorte alles dessen, was da zu erzählen war, im +Gefängnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was +draußen in der Freiheit so leicht und so dünn vorüberfließt, +daß man es nicht ergreifen und noch viel weniger +betrachten kann. Und da erheben sich die Gegensätze, die +draußen sich wie auf ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, +daß in dieser Vergrößerung Alles offenbar wird, +was anderwärts in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich +hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen, +hochgelehrten Werke über Psychologie, besonders über +Kriminalpsychologie. Fast jede Zeile war mir eingeprägt. Sie +enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Rätseln und +Problemen. Die Praxis aber lag rund um mich her, in +ebenso klarer wie erschütternder Aufrichtigkeit. Welch ein +Unterschied zwischen beiden? Wo war die Wahrheit zu +suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in der +aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft +ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft +irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege +führen über den Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie +sich treffen. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet, +das können wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen +Auge vergönnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge +des -- -- Märchens. Darum will ich Märchenerzähler +sein, nichts Anderes als Märchenerzähler, ganz so, wie +Großmutter es war! Ich brauche nur die Augen zu +öffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und +Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach +Erlösung trachtenden Märchen. In jeder Zelle eins und +auf jedem Arbeitsschemel eins. Lauter schlafende +Dornröschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und +Liebe wachgeküßt zu werden. Lauter in Fesseln schmachtende +Seelen, in alten Schlössern, die in Gefängnisse +umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen +Humanität von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel +geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens +und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen +Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse +und Märchen erzählen, in denen tief verborgen die +Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu +erschauen vermag. Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel +meines Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich +getroffen hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich +will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein +großes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind, +verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es +schließlich kein "Verbrechen" mehr und keine "Verbrecher" +gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke. + + Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich erzähle, +nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn wüßte +man das, so würde ich nie erreichen, was ich zu erreichen +gedenke. Ich muß selbst zum Märchen werden, ich selbst, +mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine Kühnheit +sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was aber +liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es +sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen +Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksälchen eines +verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so +und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise, +in der man über das "Verbrechen" denkt und spricht, +nicht baldigst ändert! + + Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam, +sich aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ. +Er gewann Macht über mich; er wurde groß. Er nahm +endlich meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb, +weil er in sich die Erfüllung alles dessen barg, was schon +von meiner Kindheit an Wunsch und Hoffnung in +mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen Gedanken; ich +erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn aus. Er +hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide identisch. +Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte eine lange, +lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch schwerere +Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich meinen +Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, daß +an ihm nichts mehr zu ändern war. Ich nahm mir vor, +zunächst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen +Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen +Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich +mich absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege. +Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches +im allgemeinsten Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit +besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen Erzählungen +wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht +absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse +und nur Märchen sein, allerdings außerordentlich +vielsagende Gleichnisse und Märchen. Trotzdem aber waren +Reisen wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen +Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten +sich zu bewegen hatten. Vor allem galt es, sich +tüchtig vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde +treiben. Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen +Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat +zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß +behaupten, daß Alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und +Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus +in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen +diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen +Kleidung nicht besitzen. In die Prärie oder unter Palmen +versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder +von den Schneestürmen des Wilden Westens umtobt, in +Gefahren schwebend, welche das stärkste Mitgefühl der +Lesenden erwecken, so und nicht anders mußten alle meine +Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen +wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu hatte ich in +allen den Ländern, die zu beschreiben waren, wenigstens +theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europäer +es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, schwer +und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und +dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem +ich lebte, grad so die richtige Stelle. + + Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische +Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch +die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung +gegeben. Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu +beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den +Gelehrten höchstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen +betrachtet. So eine himmlische Wahrheit steigt an den +Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus +zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden. +Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein, +aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation +besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu +Stadt, von Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen +zu werden. Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder +himmelan und kehrt zu dem zurück, von dem sie ausgegangen +ist. Sie klagt ihm weinend ihr Leid. Er aber +lächelt mild und spricht: "Weine nicht! Geh' wieder +zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, dessen +Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn, +dich in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche +dann dein Heil noch einmal!" Sie gehorcht. Der +Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie. Sie +beginnt ihren Gang als Märchen nun von Neuem, und +wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen. Man öffnet ihr +die Türen und die Herzen. Man lauscht mit Andacht +ihren Worten; man glaubt an sie. Man bittet sie, zu +bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber muß +weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr aufgetragen +worden ist. Doch geht sie nur als Märchen; als Wahrheit +aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht +sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle +Folgezeiten. + + So, das ist das Märchen! Aber nicht das Kindermärchen, +sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Märchen, +trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die +höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm +wohnenden Seele gemäß. Und einer jener Dichter, zu +denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, +wollte ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit +des war. Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten. +Die Wahrheit ist so verhaßt und das Märchen so +verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander. +Das Märchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen, +ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe +dringt. Wie man behauptet, daß das Märchen nur für +Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller", +der nur für unerwachsene Buben schreibe. Kurz, +ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, daß ich so +verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und +Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein "Leben +und Streben" schon an und für sich selbst einem Märchen, +und sind es doch fast unzählige Fabeln und Märchen, mit +denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet +worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so +glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen +glaubt. Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich +einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur +Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt, +das wird man morgen glauben lernen. + + Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben +beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie +sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag. +Ich wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser +mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu +verwickeln. Und was ich zu sagen hatte, das mußte ich +suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Türen +legen, weil man Alles, was man so billig bekommt, liegen +zu lassen pflegt und nur das zu schätzen weiß, was man +sich mühsam zu erringen hat. Es wäre ein unverzeihlicher +Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, daß +meine Reiseerzählungen bildlich zu nehmen seien. Man +hätte mich einfach nicht gelesen, und Alles, was ich lösen +wollte, wäre Fabel und Märchen geblieben. Der Leser +mußte ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete +es dann als wohlerrungen und hielt es für das Leben +fest. + + Aber was war denn eigentlich das, was ich geben +wollte? Das war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich +wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel +lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es +gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter +versuchen. Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein +Anderer wissen. Es mag bei der Ausführung dann wohl +mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender +Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen. Ich +wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur +Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft +worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das +nicht noch lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man +es dafür halten; ich aber habe an hundert und wieder +hundert unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum +in das Unglück geraten waren und nur darum darin +stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen +der ganzen irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt +worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete +Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde +und frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind +alle Schulen da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis +hinauf zur Universität, für die Seele aber keine einzige. +Für den Geist werden Millionen Bücher geschrieben, +wie viele für die Seele? Dem Menschengeiste werden +tausend und abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen +die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu +verherrlichen? Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der +für die Seele schreibt, ganz nur für sie allein, mag man +darüber lächeln oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum +werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch +verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was +ich mir vorgenommen habe. + + Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber +ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. +Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen; +ich war für mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch +über uns lag die Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, +nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war +aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen +erteilt; nur daß wir, die wir um so viel tiefer lagerten +als die Andern, weit mehr und weit mühsamer aufzusteigen +hatten als sie. Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan +nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum +Edelmenschen empor. Wie das geschehen müsse, wollte ich +an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und +an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde für +diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine +amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt +die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. +An diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine +Gedanken und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es, +mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen +und den Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare +Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube +an den "großen, guten Geist" der Andern harmonierte mit +meinem eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In +Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche +Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches +Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein +Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen +soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne +und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten +Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten +hat sie sich das Treiben der Wüste bis nach dem +hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben. +Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel "durch +die Wüste." Die Hauptperson aller dieser Erzählungen +sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein +beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen +Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika +sollte er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara +Ben Nemsi heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein +hatte, verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst +erzählend, also als "Icherzähler" dargestellt werden. +Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination. +Doch, wenn dieses "Ich" auch nicht selbst existiert, +so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus der +Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden. +Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, +also dieses "Ich" ist als jene große Menschheitsfrage +gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er +durch das Paradies ging um zu fragen: "Adam, d. i. +Mensch, wo bist Du?" "Edelmensch, wo bist Du?" Ich +sehe nur gefallene, niedrige Menschen!" Diese Menschheitsfrage +ist seitdem durch alle Zeiten und alle Länder des +Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat +aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat Gewaltmenschen +gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander +bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen +Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich +und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder +Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich +selbst zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und +wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf +die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende +Antwort erfolgt: "hier bin ich. Ich bin der erste +Edelmensch, und Andere werden mir folgen!" So geht +auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch +die Länder, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo +er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches +Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginäre +Old Shatterhand, dieser imaginäre Kara Ben Nemsi, +dieses imaginäre "Ich" hat nicht imaginär zu bleiben, +sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in +meinem Leser, der innerlich Alles miterlebt und darum +gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. In +dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung der großen +Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch, also der niedrige +Mensch, zum Edelmenschen entwickeln könne. + + Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte +ich gar wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer +Gefahr aussetzen würde, die für mich keine geringe war. +Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand +und dieses "Ich" also nicht begriff? Wenn man glaubte, +ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, daß ein +Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte, +zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden, +mich als Lügner und Schwindler bezeichnen würde? Ja, +das lag allerdings in der Möglichkeit, aber für wahrscheinlich +hielt ich es nicht. Ich hatte dieses "Ich," also +diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit +allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit +im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. +Mein Held mußte die höchste Intelligenz, die tiefste +Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in allen +Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der Wirklichkeit +nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, +das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn +ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis +vierzig Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen, +daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde, +daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne. +Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler +sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig +ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar +fest überzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht +selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu +können, daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst +erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen +Leben oder doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich +hielt es für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht +und vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen, +daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar niederschreibt, +sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus seinem eigenen +Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginären "Ich", +also von der großen Menschheitsfrage, diktiert worden +seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald +die Folge zeigen. + + Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische +und teils in orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich +ganz selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die Schicksale +der betreffenden Völkerschaften. Der als unaufhaltsam +bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich +ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die Undankbarkeit +des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem es +doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, +machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl +der Menschheit will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht +länger Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir +vor, dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und +in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die +Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen +ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut, +dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden +erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, +dies zu glauben. + + Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine +Bücher geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk, +für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile desselben, +für einzelne Stände, für einzelne Altersklassen. Vor allen +Dingen nicht etwa allein für die Jugend! Auf diese +letztere Versicherung habe ich das größte Gewicht und +den schärfsten Ton zu legen. Wäre es meine Absicht +gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen, +so hätte ich ganz notwendigerweise auf die Ausführung +aller meiner Pläne und auf die Erreichung aller meiner +Ideale für immer verzichten müssen. Und dies zu tun, +ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die +Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die +erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich +das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie ist +es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten +und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern +Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo's zu +besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet, +so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur +ein Teil dessen sein, was ich für das Volk als Ganzes +schrieb. Wenn ich sage, daß ich für das Volk schreiben +wollte, so meine ich damit, für den Menschen überhaupt, +mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht +jedes meiner Bücher ist für jeden Menschen. Und doch +auch wieder ist es für jeden Menschen, aber nach und +nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt, je nachdem +er älter und erfahrener wird, je nachdem er fähig +geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen. +Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten. +Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, als +Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer +Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit +Ueberlegung und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt, +und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht +schade; auf alle Fälle aber ist es noch mehr schade um sie! +Wer sie mißbraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern +sich selbst zur Verantwortung ziehen. Ich erinnere da +an das Rauchen, an das Essen und Trinken. Rauchen +ist ein Genuß. Essen und Trinken ist unerläßlich. Aber +jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was +einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, würde +nicht nur töricht, sondern sogar schädlich sein. Eine gute, +interessante Lektüre soll man genießen, aber nicht wie ein +Haifisch verschlingen! Da meine Bücher nur Gleichnisse +und Märchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst, +daß man reiflich über sie nachdenken soll und daß sie +nur in die Hände von Leuten gehören, die nicht nur +nachdenken können, sondern auch nachdenken wollen. + + Als ich damals diese Gedanken erwog und meine +Pläne faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben +und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch +nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als +Künstler zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller +muß doch zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich +noch nicht einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern +nur erst für einen außerhalb der Zunft herumtastenden +Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht. +Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende +Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so hätte mir +eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehörten jedenfalls +mehrere arbeitsreiche, ungestörte, glückliche Menschenleben +dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch, +also künstlerisch zu bewältigen. Aber es wurde mir doch +nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei. Ich fragte +mich: Muß man denn Schriftsteller sein, und muß man +denn Künstler sein, um solche Sachen schreiben zu dürfen? +Wer will und kann es Einem verbieten? Machen wir es +ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir +es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, +was es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler +mich als "Kollegen" gelten lassen würden, das mußte +mir damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen +Stolz besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von +Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber +diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer +Leute, besonders der Fachgenossen. Künstler zu sein, +dünkte mich das Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief +in meinem Herzen der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen, +und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor +meinem Tode sein. Jener Kindheitsabend, an dem ich +den "Faust" zu sehen bekam, stand noch unvergessen in +meiner Seele, und die Vorsätze, die ich an ihn geschlossen +hatte, besaßen noch ganz denselben Willen und dieselbe +Macht über mich wie vorher. Für das Theater schreiben! +Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt wird, wie +der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem +Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des +niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße. +Um so Etwas schreiben zu können, muß man Künstler +sein, und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich +nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes +als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und +so blieb mir weiter nichts übrig, als alle meine Wünsche, +die sich darauf bezogen, als Literat ein Künstler, und +zwar ein wahrer, wertvoller Künstler sein zu dürfen, für +lange, lange Jahre zurückzustellen und bis dahin zu bleiben, +was ich eben war, nämlich ein unzünftiger Anfänger, der +nicht die geringste Prätentien [sic] besaß, ein Zunftgenosse zu +werden. Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und +einsam gestanden hatte, so war ich schon damals überzeugt, +daß auch mein Weg als Literat ein einsamer sein +und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. Was ich +suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was ich +wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen vollständig +Fernliegendes. Und was ich für richtig hielt, das war +höchst wahrscheinlich für andere Leute das Falsche. +Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es mir +nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren +Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf +Kunst war ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die +andern recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt +mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach +vollendeter Reife, ein großes, schönes Dichterwerk zu +schaffen, eine Symphonie erlösender Gedanken, in der +ich mich erkühne, Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen, +Glück aus meinem Unglück, Freude aus meiner Qual. +Dies für später, wenn mir der Tod einst seinen ersten +Wink erteilt. Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu +lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es +nicht mißlinge. Jetzt Märchen und Gleichnisse geben, +um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit +und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Bühne +zu bringen! + + Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke +wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern +lange Erzählungen, in denen viele Personen handelnd +auftreten. Und ihre Zahl ist groß; sie sollen eine +ganze Reihe von Bänden füllen und das Material für +jene spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine +Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine +sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur +Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an +welche nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur +für ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will +und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern +meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und +Alabasterbrüchen die Blöcke für spätere Kunstwerke zu brechen, +deren Form ich höchstens andeuten kann, weil mir die +Zeit zur Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese +Andeutung gebe ich eben in Märchen, die meinen +erzählenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte +bilden, um welche sich das Interesse des Lesers +konzentriert. Die künstlerische Kritik braucht sich also mit +meinen Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar +nicht meine Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder +gar Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, +schlichten Arm- oder Fußringen der Araberinnen zu +gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne +Ringe. Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit. +Der Maler, welcher flüchtige Skizzen zeichnet, um ein +großes Gemälde vorzubereiten, würde sich gewiß über +den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben +Maßstab legen wollte, den er dann später an das +Gemälde zu legen hat. + + Soviel über die Pläne, welche damals in mir entstanden +und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf +den heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie +kamen nicht in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam, +einer nach dem andern. Und sie reiften nicht eilig aus, +sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir +von dem einen Punkt bis zum nächsten klar geworden +war. Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu. Ich +legte mir eine Art von Buchhaltung über diese Pläne +und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben +und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde +in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. +Ich stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den +Inhalt aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. +Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen +gegangen, aber es hat mir doch viel genützt, und ich +zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir +entstanden. Auch schriftstellerte ich fleißig; ich schrieb +Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung möglichst +viel Stoff zur Veröffentlichung zu haben. Kurz, ich war +begeistert für mein Vorhaben und fühlte mich, obgleich +ich Gefangener war, unendlich glücklich in der Aussicht +auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine +ganz gewöhnliche zu werden versprach. + + Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden +zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für +alles Leid entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene +Gabe: Ich wurde begnadigt. Die Direktion hatte für +mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein +volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam. Ich stand +in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein +Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rückweg in das +Leben glättete und mich aller polizeilichen Scherereien +überhob. Der Kenner weiß, was das bedeutet! + + Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die +Anstalt verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand +mit meinen Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach +Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr +zu benachrichtigen. Wie freute ich mich auf das +Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich nicht zu +haben; dies war ja schon längst durch Briefe geordnet. +Ich wußte, daß ich willkommen sei und daß man mir +mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten freute +ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich gegrämt +und gehärmt haben! Und wie gern würde sie mir ihre +alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie entzückt +würde sie über meine Pläne sein! Wie sehr würde sie +mir helfen, sie auszudenken und so tief wie möglich +auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also +genau denselben Weg, den ich damals als Knabe +gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es +läßt sich denken, was für Gedanken mich auf diesem Weg +begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem +Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges +zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten! +Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für deren +Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr zu +leisten vermag? Das "Märchen von Sitara" tauchte +vor mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren +Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um +sie in das Elend zu schleudern, so daß sie verloren gehen? +Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem +Untergange geweiht. Gilt das auch mir? + + Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr +ich mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von +dort aus böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe +Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mußte mir +Mühe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe +aus schaute ich über das Städtchen hin. Da schlängelten +sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft +gegangen war, in heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen +inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch +in einem fort die Worte "des Schneiders Fluch, +des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch" zuriefen. +Und was war das? Indem ich hieran dachte, hörte ich +ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie +erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu nähern, "des +Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders +Fluch!" Sollte und wollte sich das etwa wiederholen? +Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte +von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die +Höhe hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, +nach Hause, nach Hause! + + Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern +wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg +die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf +nach dem Bodenraume, wo Großmutter sich immer am +liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunächst zu ihr und +dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich +die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber +war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben +Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schlüssel +abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich +eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die Eltern. Die +Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie hatten +gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar nicht und +fragte, wo Großmutter sei. "Tot -- -- -- gestorben!" +lautete die Antwort. "Wann?" "Schon voriges Jahr." +Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme +auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir +verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft +nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut +gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war +nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so +hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich! + + Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, +um die Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie +sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen +als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. +Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich +so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als +der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar +die größte Mühe, aber ich konnte den Schlag, der mich +soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich +wollte nur von Großmutter wissen, jetzt weiter nichts, und +man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen, +aber niemals ein Wort, welches mich hätte kränken müssen, +wenn ich dabeigewesen wäre. Und sie hatte nie geklagt +oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, daß +ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen +Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden. +Nun sei sie überzeugt, daß ich durch die Geisterschmiede +müsse, um alle irdischen Qualen über mich ergehen zu lassen. +Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen, +was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic] +erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto +ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt und +desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An +einem der letzten Tage erzählte sie, daß der längst +verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei. +Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser +stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel +die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, +aber nicht in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, +welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, +sei der Herr Kantor erschienen. Er haben genauso +ausgesehn wie damals, als er noch lebte. Er sei langsam +bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lächelnd +gegrüßt, wie es immer seine Art und Weise war, und +dann gesagt, daß sie sich ja nicht um mich sorgen solle; +ich könne wohl stürzen wie jeder Andere, nicht aber liegen +bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche +ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten nickte er ihr +wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er +gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie schloß +sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder +dunkel. + + Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob +ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes +auf ihrem Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch +noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte +und nicht mehr atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein +friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht +friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von +ihm erzählte. Es tauchten Vorwürfe in mir auf, aber +keine Vorwürfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern +Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich, +sondern Vorwürfe viel wesentlicherer, viel kompakterer +Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hörte, was +sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das +waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen, +die nicht die geringste Identität mit mir zu besitzen schienen +und doch identisch waren. Welch ein Rätsel! Aber welch +ein ungewöhnliches, furchtbar beängstigendes Rätsel! Sie +glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten +von früher her, mit denen ich -- -- -- mein Gott, kaum +hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so, +wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem +Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre Stimmen +so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an Stelle +der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie +blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir +schlafen. Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht +schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere +Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten, +die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht entdecken +konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie +schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner +Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. +Und doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, +weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von +meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit +abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines +Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter +mir lag. Diese Stimmen aber waren bemüht, mich mit +aller Gewalt in die Vergangenheit zurückzuzerren. Sie +verlangten wie früher, daß ich mich rächen solle. Nun +erst recht mich rächen, für die im Gefängnis verlorene, +köstliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich +aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts, +gar nichts höre. Das war aber selbst bei der größten +Kraftaufwendung nicht länger als höchstens nur einige +Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige +Verleger, um mit ihnen über die Herausgabe der im Gefängnisse +geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei +stellte es sich heraus, daß während dieser meiner +Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten, +je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder +um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder +näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort +seßhaft seien und nur dann über mich herfallen könnten, +wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden. +Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich kassierte +meine Honorare ein und machte eine längere Auslandsreise. +Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses +Werkes zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren +Ergebnissen ein größerer Raum gewidmet werden soll, +als ich ihnen hier gewähren könnte. Während dieser +Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde +vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein +ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat +zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker +Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark, +daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. +Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich +Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die +Anfechtungen begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt +den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft +Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß +ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich fühlte, daß ich, +falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein höchst +gefährlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene +Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal +anzukämpfen. + + Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, daß ich +meinen Zustand keineswegs für pathologisch hielt. Alle +meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl +körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. +Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser +Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewiß nicht +von innen heraus erzeugt, sondern von außen her an +mich herangetreten. Ich arbeitete fleißig, fast Tag und +Nacht, wie ich überhaupt an der Arbeit stets meine größte +Freude gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. +Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern +wohnte, die sich jetzt auch besser standen als früher. Ich +hätte vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts +verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was +ich schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas Gewöhnliches +schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung +ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema stellte, +eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere Aufgabe, +wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen empörten +und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu +bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten, +blödesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen. +Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. Hierzu +gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem +Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt; +ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist +mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei. +Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, +und auch für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, +welche man empfinden muß, um ein Trinker zu werden. +Jetzt aber fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, +wenn ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause +vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht +mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder +hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat +es aber nicht. Vater tat es. Er konnte sein Glas einfaches +Bier und sein Schnäppschen [sic] nicht gut entbehren. +Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das +war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa +schwer, o nein. Ich erzähle es nur des psychologischen +Interesses wegen, weil es mir höchst sonderbar erscheint, +daß dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir +sonst vollständig fremde Durst nach Spirituosen immer +nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in +mir hatten, sonst aber nie! + + Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter +meine Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich +sprach hierüber also mit den Eltern und Geschwistern. +Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer +Art sozialer Mauserung begriffen und darum für mich +nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb. +Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein +ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir +nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem Strickstrumpf +still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte +ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder +beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte +einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein liebes, +tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch +sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und +sie wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden +möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie +fest und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, +da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter +sein kann, deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, +auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. +Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn +auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen, +der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können. +Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich +so schwer Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. +Nichts war mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. +Aber ich stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich +stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen +wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. +Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich +nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie +keine inneren, sondern äußerliche waren, doch ebenso wenig +mit den Händen gefaßt werden konnten. + + Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt +in andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. +Man hatte sie gern. Man teilte ihr Alles +mit, ohne daß man sie um Verschwiegenheit zu bitten +brauchte. Sie erfuhr Alles, was im Städtchen und in +der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo einen Einbruch +gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter war +entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise +ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich +von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene +gesetzt. Ich hörte gar nicht hin, als man es erzählte, +bemerkte aber nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster +als gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet +zu sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich +blieb anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem +Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten; +ich bat aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein +Gerücht, ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher +sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen +Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber war +ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es brüllte +vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die +Stimmen schrien mir zu: "Wehre dich, wie du willst, +wir geben dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir +zwingen dich, dich zu rächen! Du bist vor der Welt ein +Schurke und mußt ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe +haben willst!" So klang es bei Nacht. Wenn ich am +Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte +nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater gesagt. +Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu +nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten +ja genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus +dem Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles +im Vertrauen gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum +gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich +zu wehren. Aber es kam schlimmer. Die heimatliche +Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit Vertrauenszeugnis +entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen. +Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich +mit mir zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche +vor, deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen +Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies +auf mich deuten zu müssen. Das war zu derselben Zeit, +in der sich die schon erwähnte "Lügenschmiede" zu bilden +begann. Neue Gerüchte kursierten, romantisch +ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter +der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der +Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich +sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute +man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein +guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt +hatte und auch jetzt noch an mir hing. Der war sprichwörtlich +unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig. Er hielt +grob sein für Menschenpflicht. Der konnte es nicht +länger aushalten. Er kam zu mir und erzählte mir auf +Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich +im Schwange ging. Das war so dumm und doch so empörend, +so leichtsinnig und gewissenlos, so -- -- so -- -- +so -- -- so -- -- -- ich fand keine Worte, dem armen, +wohlmeinenden Menschen für seine schmerzhafte Aufrichtigkeit +zu danken. Aber als er mein Gesicht sah, machte er +sich so schnell wie möglich von dannen. + + Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es +trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und +kam spät abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne +gegessen zu haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen +Schlaf. Zehn, fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten +mich in meinem Innern mit unaufhörlichem Gelächter. +Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in +die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar +nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus +mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran +der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der +mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von +Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf +die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und +Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das +verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab. +Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren +gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern +eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte +mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie +mich fest, und da ließen sie mich nicht wieder hinab. Da +klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter +kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten. +Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen +Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen +und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf +einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden +Roggenfeldern. Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, +und der Gewitterregen floß in Strömen herab. Ich eilte +fort und kam an ein Rübenfeld. Ich hatte Hunger und +zog eine Rübe heraus. Mit der kam ich in den Wald, +kroch unter die dicht bewachsenen Bäume und aß. Hierauf +schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; ich wachte +immer wieder auf. Die Stimmen weckten mich. Sie höhnten +unaufhörlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest +Rüben, Rüben, Rüben!" Als der Morgen anbrach, holte +ich mir eine zweite Rübe, kehrte in den Wald zurück und +aß. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und ließ +mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden. +Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe. Ich +fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen Schlaf, +während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite +auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern +gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald +ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus +Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser +Schlaf ermüdete mich nur noch mehr, statt daß er mich +stärkte. Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach, +und verließ den Wald. Indem ich unter den Bäumen +hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm +stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das +war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich +wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer +zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt +vorkam. Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte +in die Glut. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war +in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch! +Der war nicht da drüben beim Feuer, sondern hier bei +mir. Der hüllte mich ein, und der drang mir in die Seele. +Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und +Augen und Gesichtszüge bekamen und sich in mir bewegten. +Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst später, viel +später klar über die Entstehung solcher innerer Schreckgebilde +geworden. Damals war ich es noch nicht, und so +konnten sie die entsetzliche Wirkung äußern, gegen welche +meine auf das Aeußerste angespannten Nerven keine +Widerstandskraft mehr besaßen. Ich fiel in mir zusammen, wie +das brennende Haus da drüben zusammenfiel, als die +Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich +erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war +auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm. +Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm +und Häcksel umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich +suchte auch gar nicht danach. Ich wankte beim Gehen. +Ich lief irr. Ich torkelte weiter, bis ich endlich +einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die Straße, +auf der ich mich befand, vorüberführte. Ich lehnte mich +an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war +wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu +verhindern. Diese Tränen waren keine erlösenden. Sie +brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine +Augen zu reinigen und zu stärken. Ich sah plötzlich, daß +es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er +war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag; +heut aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt. + + Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, +über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unseres +Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der +Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne +Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am +Faden zieht. Nach einiger Zeit öffnete sich die +Schlafkammertür. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig +aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah, +erschrak sie. Sie zog die Kammertür schnell hinter sich +zu und sagte aufgeregt, aber leise: + + "Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen +sehen?" + + "Nein," antwortete ich. + + "Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! +Nach Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! +Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!" + + "Fort? Warum?" fragte ich. + + "Was hast du getan; was hast du getan! Dieses +Feuer, dieses Feuer!" + + "Was ist es mit dem Feuer?" + + "Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im +Walde -- -- auf dem Felde -- -- und gestern auch bei +dem Haus, bevor es niederbrannte!" + + Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich! + + "Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!" stotterte ich. "Glaubst +du etwa, daß -- -- --" + + "Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater +auch," unterbrach sie mich. "Alle Leute sagen es!" + + Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und +sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer +Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort: + + "Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor +allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! +Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht +sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du +bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! +Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!" + + Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich +berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von +mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden +Händen nach dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich +die dicke Lehm- und Häckselschicht. Dieser Mensch, der +da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene +Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in +seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein +Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort! + + Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den +Kleiderschrank zu öffnen und einen andern, saubern Anzug +anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die +Erinnerung läßt mich im Stich. Ich war wieder krank +wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die +inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich +vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene Zeit +zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig +Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach +dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu +Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten. +Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich, +daß ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und +was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten +gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten. +Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen +unglaublich. Man beschuldigte mich, einen +Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres +Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt! Anderes +ist schon glaublicher und Einiges direkt erwiesen. Man +hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen war, +da transportierte man mich als "hoffentlichen Täter" hin. +Das war eine hochinteressante Zeit für die Habitués der +Ernsttaler Lügenschmiede. Da wurde fast täglich Neues +erzählt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte. +Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Märchen +kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung +hin zu sündigen. Das war selbst für einen äußerlich +und innerlich Gefangenen zuviel. Ich zerbrach +während eines Transportes meine Fesseln und verschwand. +Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in dem +ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu berichten. +Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu erwähnen, nämlich, +daß ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich +von der Heimat entfernte, daß mich draußen in der Ferne +ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und daß +ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich +der Gegend meines Geburtsortes näherte. Gibt es +Jemand, der das zu ergründen vermag? Ich folgte teils +jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig +zurück, und zwar um meiner guten Pläne und um meiner +Zukunft willen. Hatte ich gesündigt; so hatte ich zu büßen; +das verstand sich ganz von selbst. Und bevor diese Buße +nicht erledigt war, konnte es für mich keine ersprießliche +Arbeit und keine Zukunft geben. Ich kehrte also nach +fünf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu +stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig +gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten, +die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun, +was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war, +daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde. +Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die Strenge +des Richters, der mein Urteil fällte, vollständig begreife. +Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt zu begreifen, +der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt +wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, +und zwar in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein, +bei dieser billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben +zu können oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm +nicht mehr als Alles, was nötig ist, um eine solche +Aufgabe auch nur einigermaßen zu lösen. Ich hätte gar +wohl leugnen können, gab aber Alles, dessen man mich +beschuldigte, glattweg zu. Das tat ich, um die Sache +um jeden Preis los zu werden und so wenig wie möglich +Zeitverlust zu erleiden. Dieser Advokat war unfähig, mich +oder überhaupt ein nicht ganz alltägliches Seelenleben +zu begreifen. Das Urteil lautete auf 4 Jahre Zuchthaus +und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So schwer es mir fällt, +dies für die Oeffentlichkeit niederzuschreiben, ich kann mich +nicht davon entbinden; es muß so sein. Nicht mich bedaure +ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister, +welch erstere mir noch im Grabe leid tun, daß +ihr Sohn, auf den sie so große, vielleicht nicht ganz +unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche +Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse gezwungen +ist, derartige Geständnisse zu machen. + + Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir +vorgeworfen werden, hier aufzuzählen. Mein Henker, +Schinder und Abdecker zu sein, überlasse ich jener +abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an +das Kreuz geschlagen und während dieser Zeit keinen +Augenblick lang aufgehört hat, immer neue Qualen für +mich zu ersinnen. Sie mag in diesen Fäkalienstoffen +weiterwühlen, zum Entzücken aller jener niedern Lebewesen, +denen diese Stoffe Lebensbedingungen sind. Und +ebensowenig bin ich gewillt, mit dieser meiner jetzigen +Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich habe schlicht +und einfach über sie zu berichten, die Wahrheit zu sagen +und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen Abgrund, +der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer Valet +zu sagen. + + Meine Strafe war schwer und lang, und der auf +zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir +bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. +Ich war also auf strenge Behandlung gefaßt. Sie war +ernst, aber sie tat nicht weh. Eine Anstaltsdirektion +handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen +zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte +sich fügt. Nun, ich fügte mich! Freilich wurde für dieses +Mal auf meinen Stand keine Rücksicht genommen. Man +teilte mich derjenigen Beschäftigung zu, in der grad +Arbeiter gebraucht wurden. Ich wurde Zigarrenmacher. +Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete es mir. Ich +habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke +noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an +sie zurück, welche man stillen, nicht grausamen Leidensstätten +schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie +war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak +kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der +billigsten bis zur teuersten. Das tägliche Pensum war +nicht zu hoch gestellt. Es kam auf die Sorte, auf den +guten Willen und auf die Geschicklichkeit an. Als ich +einmal eingeübt war, brachte ich mein Pensum spielend +fertig und hatte auch noch stunden- und halbe Tage lang +übrige Zeit. Diese Zeit für mich verwenden zu dürfen, +war mein innigster Wunsch, und der wurde mir eher, +viel eher erfüllt, als ich es für möglich hielt. + + Ich betone hier ein für allemal, daß es für mich keinen +Zufall gibt. Das weiß ein jeder meiner Leser. Für +mich gibt es nur eine Fügung. So auch in diesem Falle. +Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische +und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet +(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen +Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der +Zeit so mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet +worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter +suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen +die Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch +noch die Orgel übernehmen konnte. Die Direktion billigte +ihm zu, sich einen Vertreter unter den Gefangenen zu +suchen. Er tat es. Es gab eine ganze Anzahl bestrafter +Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden geprüft. +Warum keiner von ihnen genommen wurde, das weiß +ich nicht. Sie waren alle länger da, als ich, hatten +also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches +zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war +mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte +der zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und +hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem +Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich, +keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der +Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile +mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen. +Einige Tage später kam auch der katholische Geistliche. +Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne daß er sich +über den Grund seines Besuches äußerte. Aber am +nächsten Tage wurde ich in die Kirche geführt, an die +Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und mußte spielen. +Die Herren Beamten saßen unten im Schiff der Kirche +so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war nur der Katechet, +der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die Prüfung +und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir eröffnete, +daß ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr +gut zu führen habe, um dieses Vertrauens würdig zu +sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel +für mich und mein Innenleben entwickelte. + + Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer +katholischen Kirche! Das brachte mir zunächst einige +Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebäude. Man +konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen! +Aber es brachte mir noch mehr, nämlich Achtung und +diejenige Rücksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf +gewisse Aeußerlichkeiten strebte. Der Aufseher unserer +Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr +wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich katholischer +Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle, +um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten +ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als +evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. +Da sah er mich groß an und sagte: + + "Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt +du -- -- -- hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!" + + Die Gefangenen werden natürlich "Du" genannt; +von jetzt an aber sagte er "Sie", und Andere taten ihm +das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem +sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere +folgerte. Bald stellte sich zu meiner freudigen +Ueberraschung heraus, daß mein Aufseher der Dirigent des +Bläserkorps war. Ich erzählte ihm von meiner +musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da brachte er mir +schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen. +Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war +dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in meiner +freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher +ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und +wir haben, als er später pensioniert war und nach Dresden +zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit +einander verkehrt. + + Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur +Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein +Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und +von einer so reichen erzieherischen, psychologischen +Erfahrung, daß das, was er meinte, einen viel größeren Wert +für mich besaß, als ganze Stöße von gelehrten Büchern. +Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit mir. Er +hielt mich für einen Protestanten und machte nicht den +geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung +einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich +zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem +Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen mußte, das +wußte ich bereits oder konnte es in anderer Weise +erfahren. Mir war das schöne Verhältnis heilig, das +nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne daß +sich störende Gegensätze in das rein menschliche Wohlwollen +schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst, +ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die Religion +zwischen uns vollständig unberührt und konnte also umso +direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein +Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen, +und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen +Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das +Kleinste groß zu nehmen weiß. + + Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt +lernte ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige +Musikstücke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, +Musikverständnis zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache +Katechet gab mir Nüsse zu knacken, die mir sehr zu schaffen +machten. Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst +jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das +allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt. + + Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn +eine besondere Feststellung in Beziehung auf die +Orgelbegleitung nötig war. Er sprach nur das Allernötigste, +über Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat +war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen +beginne. Solche Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte +eigentlich jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn +der Laie ist nur allzusehr geneigt, die Kirche so zu +betrachten und zu beurteilen, wie ihre Priester sich zu ihm +stellen. Ueber den Unterschied zwischen dem protestantischen +und dem katholischen Gottesdienst gehe ich hinweg, aber +jeder vernünftige Mensch wird es für ganz naturgemäß +und selbstverständlich halten, daß ich nicht vier Jahre +lang an dem letzteren teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm +beteiligt sein konnte, ohne von ihm beeinflußt zu werden. +Wir sind doch keine Steine, von denen alles Weiche +abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, wenn +der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste +waren ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine +unendliche Dankbarkeit für diese Wärme und diese Güte in +mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf +für mich hatte, als alles Andere gegen mich war. Ich +habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde +sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm müssen doch die +Menschen innerlich sein, welche behaupten, daß ich katholisiere! +Es ist ganz unmöglich, daß sie die Menschenseele und die +in ihr liegenden Heiligtümer kennen. Uebrigens habe +ich über den katholischen Glauben gar nichts geschrieben, +über den mohammedanischen aber ganze Bände. Der +Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint also viel berechtigter, +als der, daß ich katholisiere. Warum macht man mir +diesen nicht? Die Madonna ist von hundert protestantischen +Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtern, +sogar von Goethe, behandelt worden. Warum sagt man +von diesen nicht, daß sie katholisieren? Ich habe der +katholischen Kirche für die hochsinnige Gastfreundlichkeit, +die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre lang erwies, +durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich für +meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich +der religiösen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des +Geldes wegen! Ich wiederhole: Wie arm müssen diese +Menschen sein, wie unendlich arm! -- -- + + Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der +ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich +sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben. Es stand mir +jedes Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien +brauchte. Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und +begann dann mit der Ausführung derselben. Ich schrieb +Manuskripte. Sobald eines fertig war, schickte ich es heim. +Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern. +Ich schrieb diesen nicht direkt, weil sie jetzt noch +nicht erfahren sollten, daß der Verfasser der Erzählungen, +die sie druckten, ein Gefangener sei. Einer aber erfuhr +es doch, weil er persönlich zu den Eltern kam. Das war +der später noch viel zu erwähnende Kolportagebuchhändler +H. G. Münchmeyer in Dresden. Er war Zimmergesell +gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das +Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In +dieser Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal +und lernte in einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd +kennen, die er heiratete. Das fesselte ihn an die +Gegend. Er wurde da bekannt und erfuhr auch von mir. +Was er da Tolles hörte, schien ihm außerordentlich passend +für seine Kolportage. Er suchte meinen Vater auf und +machte sich vertraut mit ihm. So kamen ihm meine +Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war ihm +zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er +sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und +bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und +legte das Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht. +Er schob es zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich +zu geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Münchmeyer +sehr gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann, +den er gebrauchen könne; er werde mich nach meiner +Heimkehr aufsuchen und alles Nähere mit mir besprechen. + + Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest. Es ist +für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu wissen, +daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, wie sie +in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles +gehört hatte, was hinzugelogen worden war. + + Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich +Ruhe, vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der +letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die +dunklen Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen +belästigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehört +und war schließlich still geworden, ohne sich wieder zu +regen. Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf psychologische +Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht, +daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie man +in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber +die letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder +schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der +Katechet war derselben Meinung. Ich hatte ihm von +meinen inneren Anfechtungen nichts erzählt, wie ich in +rein persönlichen und familiären Dingen überhaupt nie +einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen +fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte, +aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal +kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, von meinen +dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu sprechen; +aber ich tat so, als ob ich von einem Andern spräche, nicht +von mir selbst. Da lächelte er. Er wußte gar wohl, wen +ich meinte. Am nächsten Tage brachte er mir ein kleines +Buch, dessen Titel lautete: "Die sogenannte Spaltung des +menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung +überhaupt." Ich las es. Wie köstlich es war! Welche +Aufklärung es gab! Nun wußte ich auf einmal, woran +ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese +Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu fürchten! Später, +als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der +Freude entsprechend, die ich darüber empfand. Da fragte +er mich: + + "Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie +erzählten?" + + "Ja," antwortete ich. + + "Haben Sie alles verstanden?" + + "Nein, noch nicht." + + "Dieses hier?" + + Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: "Wer +an diesen schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor +der Stelle, an der er geboren wurde. Er wohne niemals +längere Zeit dort. Und vor allen Dingen, wenn er einmal +heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem +Orte!" + + "Nein, das verstehe ich noch nicht," gestand ich ein. + + "Ich auch nicht," gab er zu. "Aber denken Sie +darüber nach!" + + Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich +zu keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein +psychologische Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende +Lehrerin, und diese Erfahrung mußte ich machen, ehe +ich es begriff, leider, leider! -- -- -- + + _________ + + + VI. + Bei der Kolportage. + + _____ + +Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war +ein stürmischer Frühlingstag, es regnete und schneite. +Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal +nicht ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine +Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig +gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine +Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei +dieser Gelegenheit auch auf Münchmeyer zu sprechen und +darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle. + + "Das wird vergeblich sein," sagte ich. "Dieser Mann +will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter +nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt +wahrscheinlich, daß ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man +über mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken, +der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber +vernichten würde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere +Zwecke und Ziele!" + + Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt +angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er +nach dem nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes, +neugebautes Haus und fragte mich: + + "Kennst du das dort?" + + "Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?" + + "Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es +heraus, wer es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter +sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus +gekommen als du. Mutter wird es dir erzählen." + + "O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte +sie, daß sie hierüber schweigen soll!" + + Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der Ortswachtmeister +in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf +er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre +lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er +kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in +die Brust, daß man es wirklich keinem in dieser Weise +behandelten Menschen übelnehmen kann, wenn er dadurch +rückfällig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein +Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich täglich zu melden habe. +Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der +Tasche, um mir eine Vorlesung über meine Pflichten zu +halten. Ich sagte kein Wort, sondern öffnete die Tür und +gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht +sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Bürgermeister und +machte kurzen Prozeß. Ich forderte einen Auslandspaß, +und als mir die Auskunft wurde, daß dies nicht so ohne +weiteres möglich sei, war ich schon am nächsten Tage ohne +Paß unterwegs. + + Im Zuge saß ich in einem sonst leeren Coupé. Es +ging über die Grenze. Da begann es plötzlich in mir +laut zu wüten und zu toben, zu schreien und zu brüllen +wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte +mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von +Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen +das kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber ließ +es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht +hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. +Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach +ganz von selber still werden. + + Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der +zweite Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um +nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er +das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim. +Ungefähr dreiviertel Jahre später erschien er wieder, und +zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal +fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine +"Geographischen Predigten" zu schreiben und in Druck zu +geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann +auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut +gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in +Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte +einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das +war mir unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie +etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu +tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte. +Er erklärte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr +beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so +trefflicher Weise, daß ich beide nicht kurzer Hand +abwies, sondern sie aussprechen ließ. Aber als sie das +getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, obgleich ich es +nie für möglich gehalten hätte, daß ich jemals zu der +"Kolportage" in irgend eine Geschäftsbeziehung treten +könne. + + Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden +Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was +er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er +sprach von einem sogenannten "Schwarzen Buch" mit lauter +Verbrechergeschichten, von einem sogenannten "Venustempel", +der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen +Werken gleicher Art. Für heut aber handle es sich +um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel "Der +Beobachter an der Elbe" herausgebe. Gründer und +Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender +Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter, +tatkräftiger, aber in geschäftlicher Beziehung höchst +gefährlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm überworfen, sei +plötzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle +Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz ähnliches +Blatt wie den "Beobachter an der Elbe" herausgeben, +um ihn tot zu machen. "Wenn ich nicht sofort einen +anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist +und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!" +schloß Münchmeyer seinen Bericht. + + "Aber wie kommen Sie da grad auf mich?" erkundigte +ich mich. "Ich bin weder Redakteur noch in irgend +einer Weise bewährt!" + + "Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel +von Ihnen gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre +Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, +den ich brauche!" + + "Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur +Kolportage wird mich niemand bringen!" + + "Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch +Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?" + + Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; +er begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten, +die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom +Niedrigen leben. + + "Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!" rief er +aus. "Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am +besten und schnellsten bei mir!" + + "Wieso?" + + "Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen +diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!" + + "Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr +,Beobachter an der Elbe' nicht gefällt? Ich kenne ihn +ja nicht." + + "So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein +neues Blatt an seiner Stelle!" + + "Was für eines?" + + "Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke +paßt!" + + Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon +mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine +Pläne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch +weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht +machte, auf seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine +eigenen Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet +die prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die +Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher +Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte +für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde +mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den [sic] +Münchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend, +aber es flossen mir ja außerdem derartige Honorare zu, +daß ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war +gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljährige Kündigung +an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es +mir nicht gefiel. + + "Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!" forderte er +mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte. + + "Wann hätte ich anzutreten?" fragte ich. + + "Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag +darf uns nicht vorauskommen." + + "Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!" + + "Ich weiß Alles. Das tut aber nichts." + + "Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!" + + "Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut +nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der +Allerliebste! Schlagen Sie ein!" + + Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand +hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab +ich ihm den Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur. + + Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst +ein möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr +bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur +Verfügung, und ich kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand +den Verlag ganz ungemein häßlich. Das "Schwarze Buch" +war geradezu empörend verbrecherisch. Der "Venustempel" +zeigte sich als ein scheußliches, auf die niedrigste +Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften +Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden +Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke für +Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die +mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte +und Bilder lagen überall umher. Die Arbeiter und +Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Töchter +Münchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter, +lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau +Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: "Was +denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine +Masse Geld!" Ich nahm mir vor, dies müsse entweder +anders werden oder ich würde ohne Kündigung wieder +fortgehen. Was den "Beobachter an der Elbe" betrifft, +dessen Redaktion ich übernommen hatte, so sah ich gleich +mit dem ersten Blick, daß er verschwinden müsse. +Münchmeyer war so vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen +das Blatt eingehen, und ich gründete drei andere an +seiner Stelle, nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter, +welche "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden" +betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt +für Berg-, Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die +Ueberschrift "Schacht und Hütte" gab. Diese drei Blätter +waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse +der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser +und Herzen zu bringen. In Beziehung auf "Schacht und +Hütte" bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die +großen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür +zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis +war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte. +Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu Weihnachten +ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab +sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, mußte +sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen. + + In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß Münchmeyer +von auswärtigen Behörden wegen der Verbreitung +des "Venustempels" angezeigt wurde. Verfasser dieses +Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, +der nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil +dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht +partizipieren ließ. Das Buch enthielt eine lüstern +geschriebene Abteilung über "die Prostitution", die zu +Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde +Münchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher, +das weiß ich nicht, daß eine Haussuchung nach dem "Venustempel" +stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte +Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhüten. +Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir aber +sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen +Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte +ganze Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern +Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte +jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der +gefährdeten Bücher in die Privatwohnungen und verbarg +sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell +und gelang so gut, daß die Polizei, als sie sich einstellte, +kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange +hat man sich im Münchmeyerschen Hause des Schnippchens +gerühmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener +Behörde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst später, +viel später hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines +Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund +heraus, nicht aber wieder hinunter! + + Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig +gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die +Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag +zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir, +daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb, +so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann +gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten +Blätter mit der Ausführung meiner literarischen Pläne. +Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser Beziehung mein +Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, nämlich +auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten +wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das "Deutsche +Familienblatt" für die Indianer und die "Feierstunden" +für den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort +mit "Winnetou", nannte ihn aber einem anderen +Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich war +überzeugt, daß diese beiden Blätter eine Zukunft hätten, +und ich bildete mir ein, für eine ganze Reihe von +Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da gab es Raum +und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz +selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, die ich +wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich +bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, +weit ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes +Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt +war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine +Anerkennung, eine Förderung bedeuten. Man machte mir +nämlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag, +die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten. Man +lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden +ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Münchmeyers +wohnen und bekam vom Vater der Frau Münchmeyer +die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte grad +das Gegenteil. Ich sagte "nein" und kündigte, denn +nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben +konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen +Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, +das Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen +zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das +Vierteljahr vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch +nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage +tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei, +schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann +auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berührend, wurde +ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und +erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der +Verleger des "Venustempels", wegen dieses Schandwerkes +kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir +verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses +Venustempels hineingeheiratet zu haben! + + Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise +hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in +Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte +einige Tage bei ihr und lernte da ein Mädchen kennen, +welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte. +Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, daß +ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen +mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen. Ob das +ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich +entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es +nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und +eine schöne häßlich finde. Die interessantesten Wesen +sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft +erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren +Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich +an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nichts +dafür. Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche, +hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. +Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in +Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort +nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen. +Auf dem Rückwege kam ich über den Hohensteiner Markt. +Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem +Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden +sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler +und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, +die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg +oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es +war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das. Sein +Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man für +das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte +ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich +stehen. Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen +wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu, +die war vom Dorfe, sie fragte, was das für eine +Leiche sei. + + "Pollmers Tochter," antwortete eine der beiden ersten +Frauen. + + "Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn +die gestorben?" + + "An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses +wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an +dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das +bringt Jedermann nur Unheil." + + "Was ist denn der Vater?" + + "Der? Es hat ja keinen!" + + "Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es +freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben +werden!" + + Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg +heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen +Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person, +welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind, +der "Nickel", der seine eigene Mutter getötet hatte und +Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem +nichts. Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den +Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der +Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg +fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich später noch +oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor +einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an +dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. Ich +glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an +das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine +Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis +und an den unglückseligen "Nickel" dachte. Sobald ich +später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich +ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der +Oberstube des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer +Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes, +eines Mädchens, herausschauen. Ich blieb für einen +Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es +war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes +noch etwas Fürchterliches an sich. Später begegnete ich +einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen +Manne, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen +an der Hand führte. Das war der alte Pollmer mit +seinem "Nickel". Der Alte sah sehr ernst, das Kind +aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar +nichts an sich, was verriet, "daß seine Mutter an ihm +gestorben war". Dann habe ich es noch verschiedene +Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang +aufgeschossen, überaus schmal, ganz uninteressant, ein +vollständig gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß +dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch +nur unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt +bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer +Freundinnen einige junge Mädchen vorgestellt, unter +denen sich auch ein "Fräulein Pollmer" befand. Das +war der "Nickel"; aber er sah ganz anders aus als +früher. Er saß so still und bescheiden am Tisch, +beschäftigte sich sehr eifrig mit einer Häkelei und sprach +fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht +errötete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen, +geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort über +die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, gar +nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so +herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das gefiel +mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, nämlich +Pollmer, meine "Geographischen Predigten" gelesen hatte +und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. +Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. +Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur +von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der +Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder +Niederland, ob Wüste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich +nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich +deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land +kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer wohlhabenden +oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht +verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer +Webersohn und eigentlich viel weniger als das. + + Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie +hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch +erweckt, mich nach der Lektüre meiner "Predigten" nun +auch persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir +befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch +ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein +Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch +beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus +einem persönlichen in einen schriftlichen verwandelte. +Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich +bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer +hätte jemals gedacht, daß ich mit dem "Nickel", der Einem +"nur Unheil bringt", in Korrespondenz treten würde! + + Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten +Eindruck. Sie sprach da von meinem "schönen, hochwichtigen +Beruf", von meinen "herrlichen Aufgaben", von +meinen "edlen Zielen und Idealen". Sie zitierte Stellen +aus meinen "Geographischen Predigten" und knüpfte +Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch +eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es +mir zuweilen so vor, als ob nur ein männlicher Verfasser, +und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben +könne, aber es war mir nicht möglich, sie eines solchen +Betruges für fähig zu halten. Meine Schwester schrieb +mir auch. Sie floß vom Lobe "Fräulein Pollmers" über +und lud mich für die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu +besuchen. Ich tat es. Ich vergaß, daß grad die +Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und +daß ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde, +gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied über +mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte +ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis +ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte, +um das Seelenstudium des "Nickels", der nun "mein +Nickel" werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam +nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer +Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bühne zu sein +pflegt. Nämlich als Pollmer erfuhr, daß ich wieder da +sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum +Mittagessen ein. Er war längst Witwer, und seine Familie +bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wußte, +daß er sich überall nur höchst lobend über mich aussprach, +und daß meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten, +mich für einen guten, vertrauenswürdigen Menschen +zu halten. Aber ich wußte auch, daß er sein Enkelkind +für das schönste und wertvollste Wesen der ganzen +Umgegend hielt und daß er ganz märchenhafte Gedanken +in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war +der Ansicht, daß solche strahlende Beautés der größte +Reichtum ihrer Familie seien und nur möglichst reich +und vornehm verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich +konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß +auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte +ich sehr wohl; und vielleicht war es die höchste Zeit, sie +diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum, +als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen: + + "Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich +nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter +willen kommen darf." + + Er horchte überrascht auf. + + "Um Emmas willen?" fragte er. + + "Ja." + + "Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf +sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?" + + "Allerdings." + + "Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist +aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie +dazu?" + + "Sie ist einverstanden." + + Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot +im Gesicht und rief aus: + + "Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter +ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie +sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet! +Die kann andere Männer kriegen. Die soll mir keinen +Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von +seiner Berühmtheit und nur vom Hunger lebt!" + + "Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?" +fragte ich. "Das würde ich gelten lassen!" + + "Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen +Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das +Zuchthaus gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz +andere Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!" + + Er rief das sehr laut aus. + + "Oho!" antwortete ich. + + "Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole +Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!" + + Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck +zu verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. +Es juckte mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die +Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: "Gut, so behalten +Sie sie!" Aber dagegen bäumte sich das väterliche +Erbteil in mir auf, der zähe, unbedachte Zorn, der +niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf: + + "Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!" + + "Versuchen Sie das!" + + "Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde +es tun, wirklich tun!" + + Da lachte er. + + "Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte +mir von jetzt an jeden Besuch!" + + "Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage +Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu +mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt +aber leben Sie wohl!" + + "Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!" + + Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte +sie seiner Tochter. Die lauteten: "Entscheide zwischen +mir und Deinem Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; +wählst Du mich, so komm sofort nach Dresden!" Dann +reiste ich ab. Sie wählte mich; sie kam. Sie verließ +den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie +war. Das schmeichelte mir. Ich fühlte mich als Sieger. +Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene, +hochgebildete Töchter besaß. Durch den Umgang mit +diesen Damen wurde es ihr möglich, sich Alles, was sie +noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von da aus bekam +sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft führen +zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr +gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anständige +Honorare. Ich hatte mit meinen "Reiseerzählungen" +begonnen, die sofort in Paris und Tours auch +in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich +herum; das imponierte sogar dem "alten Pollmer". Er +hörte von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein +wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da +schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn +um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf, +nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber +mitzubringen. Sie erfüllte ihm diesen Wunsch, und ich +begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach +Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich +aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt +habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse +er persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam! + + Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht +von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung +gesiegt, daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen +bringen werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, +daß diese Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen +worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer +Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte +nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um +bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals +eine Zeit ganz eigenartiger innerer und äußerer +Entwicklungen für mich. Ich schrieb und machte Reisen. +Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr ich, kaum +aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der "alte Pollmer" +gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. Ich +eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel +gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber +weder sprechen noch sich bewegen. Sein Enkelkind saß +in einer seitwärts liegenden Stube bei einer klingenden +Beschäftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und +es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube kaum +zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken +hinüber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es +aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem +Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde +Arzt. Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen +untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, +daß alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt +hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir +nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich +versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar +noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt, in +Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine +Etage des oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich +leben können, wenn uns ein solches Glück beschieden +gewesen wäre. + + Ich schrieb damals schon einige Jahre für +Pustet in Regensburg, in dessen "Deutschem Hausschatz" +meine "Reiseerzählungen" erschienen. Die Firma Pustet +ist eine katholische und der "Deutsche Hausschatz" ein +katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle +Zugehörigkeit war mir höchst gleichgültig. Der Grund, +warum ich dieser hochanständigen Firma treugeblieben +bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher. +Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei +der zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur +Vinzenz Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine +Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen +Verlag senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren +Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe +er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel +Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem +ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden +darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar, +wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau +übermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines +einzigen Males, daß es später gekommen wäre. Und +niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur +die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe +nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und +als Pustet es mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus +eigenem, freiem Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf +bezüglichen Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern +bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und +ihrer Konfession zu fragen. + + Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für +mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt +waren und sicher an- und aufgenommen wurden. +Das machte es mir möglich, meine auf die "Reiseerzählungen" +bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es +war mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit +hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen +dann später in Buchform herausgeben würde, war eine +Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt +feindselige Menschen, welche behaupten, daß ich mich +nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag +herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, für deren +Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte +finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan, +dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem "Deutschen +Hausschatz" und seinem Herausgeber Opfer gebracht, +von deren Größe die Familie Pustet keine Ahnung +hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef +Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem ich +sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich +schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in +Stuttgart erscheinende Revue "Vom Fels zum Meere", +für welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie +folgt: + + "Sehr geehrter Herr! + + Sie haben inzwischen schon wieder für andere + Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich + mit dem längst Versprochenen noch immer im Stiche + ließen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte + Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenüber + wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht + vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht + geneigt wären, einmal einen recht packenden, fesselnden + und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich würde + I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend + Mark pro "Fels"-Bogen zusichern können, wenn Sie + etwas Derartiges schreiben würden. + + In vorzüglicher Hochachtung + + Ihr ergebenster + + Josef Kürschner. + + Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war +gegen diese tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich +scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet +trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewiß wohl mehr +als hinreichender Beweis, daß ich für den "Hausschatz" +nicht geschrieben habe, um "mehr Geld zu machen, als +ich von Andern bekam". Auch meine andern Verleger +zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß ich, um +diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit +konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner +Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe, +der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet +zurück zu Münchmeyer zu wenden. + + Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau +auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte +ihr Münchmeyer so lebhaft geschildert, daß sie sich ein +ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie +ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wünschte aber sehr, +ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt +hatten, daß er ein hübscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter +und für schöne Frauen begeistert sei. Er pflegte +in dieser Jahreszeit um die Dämmerstunde in einer +bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr +das sagte, bat sie mich, sie hinzuführen. Ich tat es, +obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich +seiner Schwägerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich +nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen +Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig; +das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch +geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar +so zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den +Kopf in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich +froh und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er +machte mir in seiner Kolportageweise die unmöglichsten +Komplimente, eine so schöne Frau zu haben, und meiner +Frau gratulierte er in denselben Ausdrücken zu dem +Glück, einen so schnell berühmt gewordenen Mann zu +besitzen. Er kannte meine Erfolge, übertrieb sie aber, +um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf +meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu +schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie +sei schön wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel +werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner +jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten, indem sie +mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und nun +erzählte er: + + Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er +keinen passenden Redakteur für die von mir gegründeten +Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. +Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten +fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es +wollte überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte +auf Verlust, und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage +Sein oder Nichtsein nicht länger von sich weisen +konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darüber +nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden könne, +doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie +vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, daß er gerettet +werde, nämlich durch mich, durch einen Roman von mir, +durch meine schöne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die +mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen +Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben +Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau +vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch +zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise +vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen +Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles außerordentlich +gut gestanden; aber daß ich seine Schwägerin nicht habe +heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das +habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder +gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet, +ihm jetzt unter die Arme zu greifen. + + Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich +gar wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte +damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau +Münchmeyer zu heiraten, für so selbstverständlich gehalten, +daß überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß +ich den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen, +sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche +Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld +trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz +dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß +wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde +auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen +geschäftlichen, nicht aber einen persönlichen Grund geben, +seinen Wunsch zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher +Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. +Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In +dem Umstand, daß Münchmeyer Kolportageverleger war, +lag kein Zwang für mich, ihm nun auch meinerseits nichts +Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu +schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische +Folge von Reiseerzählungen, wie ich sie Pustet und anderen +Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich +auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das, +was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso später für +mich in Bänden erscheinen lassen, wie das für meine +Hausschatzerzählungen bestimmt worden war. + + Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während +Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. +Ich erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht entschließen +können, den gewünschten Roman zu schreiben, doch nur +unter der Bedingung, daß er nach einer bestimmten Zeit +mit sämtlichen Rechten wieder an mich zurückfalle. Es +dürfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort geändert +werden; das wisse er ja von früher her. Münchmeyer +erklärte, hierauf einzugehen, doch möge ich ihn mit dem +Honorar nicht drücken. Er sei in Not und könne nicht +viel zahlen. Später, wenn mein Roman gut einschlage, +könne er das durch eine "feine Gratifikation" ausgleichen. +Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an +welcher der Roman wieder an mich zurückzufallen habe, +sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald +sie erreicht worden sei, er aufzuhören und mir meine Rechte +wiederzugeben habe. Er berechnete, daß er mit sechs- bis +siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme; +was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug +ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, +solle Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten +gehen dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine "feine +Gratifikation" zu zahlen, und der Roman falle mit allen +Rechten an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das +entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen +Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache. +Hierauf ging Münchmeyer sofort ein, ich aber gab meine +Zusage noch nicht definitiv; ich erklärte, mir die Sache +erst noch reiflich überlegen und meine Entscheidung dann +morgen geben zu wollen. + + Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser +Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, +halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte +nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm +seinen Wunsch zu erfüllen. Er bekam den Roman zu den +erwünschten Bedingungen, nämlich nur bis zum +zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er für die Nummer +35 Mark zu bezahlen und beim Schluß eine "feine +Gratifikation". Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt +war also kein schriftlicher, sondern ein mündlicher. Er sagte, +wir seien beide ehrliche Männer und würden einander +nie betrügen. Es klinge für ihn wie eine Beleidigung, +von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus +zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich erstens durften +nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel eines +Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden; +Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich sein wollte, +nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte +ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und +unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine +Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so +einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles +enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das +habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig +aufgehoben. + + Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort +beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst +nach Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine +Frau trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er +hatte eine persönliche Vorliebe für den nichtssagenden +Titel "Das Waldröschen". Ich ging auch hierauf ein, +hütete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen +zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen günstige +Nachrichten. Der Roman "ging". Dieses "ging" ist ein +Fachausdruck, welcher einen nicht gewöhnlichen Erfolg +bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu +lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine +Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich +verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare nach +Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit +war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine +Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu +vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war +ja bestimmt worden, daß mir kein Wort geändert werden +dürfe, und ich besaß damals die Vertrauensseligkeit, dies +für genügend zu halten. + + Der Erfolg des "Waldröschens" schien nicht nur ein +guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer +zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er +schrieb wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer +Zeit für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman +so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte +den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben, +sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner +Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken +mit Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell +wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich keineswegs. +Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit mehr +und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem +Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, +dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, +an der ich geboren worden war, seßhaft niedergelassen, +sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich +war für einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser +Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber +gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und +wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen, +einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter +über trübe Gewässer hinüberlangt, als wenn er eine +zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen +kann noch schwimmen will. Darum war mir diese +Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht +nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir +Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da +sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es entwickelte +sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr zwischen +ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast keine +Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell vorwärts, +und sein Erfolg wuchs derart, daß Münchmeyer mich bat, +noch einen zweiten und womöglich noch einige weitere +zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß meine Entscheidung +über diesen seinen Wunsch eine für mich hochwichtige sei +und daß sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu +einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher +Qual werden könne. Ich betrachtete nur die angeblichen +Vorteile, sah aber nicht die Gefahr. + + Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus +meinen literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte +diese Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. +Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht +ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab. +Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein +freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, +das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich +brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei +Pustet, auf viele Jahrgänge auseinander zu dehnen, sondern +ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das, +was jetzt als Heftroman erschien, später in Buchform +herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das +beständige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwände, +die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen +brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige +Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen +wie das "Waldröschen". Diese Arbeiten hatten +mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten +mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir +eine "feine Gratifikation" zu zahlen. Es gab nur eine +einzige Aenderung, nämlich die, daß ich für diese Romane +ein Honorar von fünfzig Mark pro Heft bezog, anstatt +nur fünfunddreißig bei dem "Waldröschen". + + Infolge dieser Abmachungen begann für mich von +jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, +zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschämung denken +kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit +blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter +nichts. Es war ein fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich +damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere +Schriftsteller, mühsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja +reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich +nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich +suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich +hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu schreiben. +Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder +rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war +es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es +für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das, +welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so +viel und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß ermöglichte +es mir, zu vergessen, daß ich mich in meinem Lebensglück +geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es +vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere +Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede auszufüllen, +zu rastlosem Fleiße und machte mich leider gleichgültig +gegen die Notwendigkeit, geschäftlich vorsichtig zu +sein. Es kam bei Münchmeyer so viel vor, was mich +veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, daß mehr als +genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integrität alles +dessen, was ich für ihn schrieb, so sicher wie möglich zu +stellen. Daß ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den +ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht +verzeihen kann. + + Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. +Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garçonlogis gemietet, +um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns +verbringen zu können. Er kam auch an Abenden der +andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr +oft auch andere Personen mit. Er wünschte zwar, daß +ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stören lassen +möge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner +Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr +möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus +Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue +Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen, +und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und +Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm und +überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause. Grad +das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und +äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. +Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür +aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen +von Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen +durch Wald und Heide zu begleiten. Diese +Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe +Lufteinatmung verordnet hatte. Ich mußte mich wohl +oder übel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch +meiner Frau war, deren Gründe ich leider nicht zu würdigen +verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer +jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich +mußte kündigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung +des amerikanischen Viertels, die über einer Kneipe +lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank. +Der Arzt riet ihr sehr frühe Spaziergänge nach dem großen +Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen +ärztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab +für mich keinen Grund, diese Spaziergänge zu verhindern, +die morgens vier bis fünf Uhr begannen und ungefähr +drei Stunden währten. Ich wußte nicht, daß Frau +Münchmeyer auch nicht gesund war und daß auch sie +von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frühe +Morgenspaziergänge nach dem Großen Garten zu machen. Erst +nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was während +dieser Spaziergänge geschehen war. Meine Frau war +mir nicht nur seelisch, sondern auch geschäftlich verloren +gegangen. Die beiden Damen saßen tagtäglich früh morgens +in einer Konditorei des großen Gartens und trieben eine +Hausfrauen- und Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich +erst später verspürte. Ich machte Schluß und zog von +Dresden fort, nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt +seiner Vorortsperipherie. + + Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane +für Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf +geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn +man später vor Gericht behauptet hat, daß ich für Münchmeyer +nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich, +mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und +zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat. +Hiermit sei für heut mit meiner "Kolportagezeit" +abgeschlossen. -- -- -- + + _________ + + + VII. + Meine Werke. + + _____ + +Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich +diejenigen meiner Bücher, mit denen sich die Kritik +beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen, über +welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen +hat, können auch hier übergangen werden. Zu diesen +gehören meine Humoresken, meine erzgebirgischen +Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den +Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu +sein. Ich könnte hierzu auch noch meine "Himmelsgedanken" +rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen scheint, seit +es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, daß er sich mit +ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb bekanntlich: +"Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten," +obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges +lyrisches Gedicht befindet! Auch meine sogenannten "Union- +oder Spemannbände" brauche ich hier nicht zu besprechen, +weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur +als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die +einzigen Sachen sind, die ich für die Jugend geschrieben +habe. Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen +"Reiseerzählungen" und um die bei Münchmeyer +erschienenen "Schundromane", welch letztere im nächsten +Kapitel behandelt werden. + + Meine "Reiseerzählungen" haben, wie bereits erwähnt, +bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah +Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und +der Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf +diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen +bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen. +Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem +Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen +diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der "Wüste". +In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der völligen +Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und +den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das +"Ich", die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die +Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein +sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen +Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten +Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi +sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch +niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo +man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man +sieht, daß ich ein echt deutsches, also einheimisches, +psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand +kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen +zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte, +daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also bildlich +resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus +oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. +Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter +ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag. + + Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt +und auch seinen Vater und Großvater noch als Hadschis +hinten anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich +für die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst +zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen +hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, +sondern auch im gelehrten Leben alltäglich, aber man +ist derart blind für diesen Fehler, daß ich eben arabische +Personen und arabische Zustände herbeiziehen muß, um +diese blinden Augen sehend zu machen. Ich schicke darum +diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka, +wodurch seine Lüge zur Wahrheit wird, weil er nun +wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine +"Seele" kennen lernen -- -- -- Hannah [sic], sein Weib. + + Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem +ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und +wie man meine Bücher lesen muß, um ihren wirklichen +Inhalt kennen zu lernen. Ein zweites Beispiel mag +folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen +Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll von dem +Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der +Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum +Schah, um ihn um Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat +aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon +die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, daß +sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun +Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des +Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah +ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese +Erzählung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: +"Euer Vater weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn +bittet!" Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl +May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser, +welches von den Sillan vernichtet werden soll. Ich +erzähle also rein deutsche Begebenheiten im persischen +Gewande und mache sie dadurch für Freund und Feind +verständlich. Ist das nicht Gleichnis? Nicht bildlich? +Gewiß! Und ist es etwa mystisch? Nicht im +Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig +mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere +bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch +erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will. +Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher +Absicht an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres +finden, daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. +Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben +ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmärchen nicht +verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen +und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen +zu bilden haben. Diese Märchen sind es auch, +aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse +meiner letzten Tage zu entwickeln hat. + + Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi +Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von +der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals +wiedergefunden werden kann, außer sie findet sich selbst. +Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die +Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des +Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege +also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so +aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt +worden ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich +gewisse Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht +werden, keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es +einmal wagen, so offen über sich selbst zu sprechen wie +ich über mich, so würde das sogenannte Karl May-Problem +schon längst in jenes Stadium getreten sein, in +welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht. +Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis. +Es ist nichts Anderes, als jenes große, allgemeine +Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon ungezählte Millionen +gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen. +Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir +herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der +traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und +in den Schriften Derer lebe, die sich berufen wähnen, +Probleme zu lösen, dies aber immer nur da tun, wo +keine vorhanden sind. + + Ich nenne ferner das Märchen von "Marah Durimeh", +der Menschheitsseele, von "Schakara", der edlen, +gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner +jetzigen Frau gegeben habe. Das Märchen vom "erlösten +Teufel", vom "eingemauerten Herrgott", vom +"versteinerten Gebete", von den "verkalkten Seelen", +von den "Rosensäulen des Beit-Ullah", von dem "Sprung +in die Vergangenheit", von der "Dschemma der Lebendigen +und Toten", von der "Schlacht am Dschebel Allah", +vom "Mahalamasee", vom "Berg der Königsgräber", +vom "Mir von Dschînnistan", vom "Mir von Ardistan", +von der "Stadt der Verstorbenen", vom "Dschebel Muchallis", +von der "Wasserscheide von El Hadd" und noch +viele, viele andere. Wie man bei einem geistig und +seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Bücher +als "Jugendschriften" und mich als "Jugendschriftsteller" +bezeichnen kann, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht +wüßte, daß Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder +nicht begriffen oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst +"Winnetou", der so leicht zu lesen zu sein scheint, +bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt, +eines Nachdenkens und eines Verständnisses, welches doch +gewiß keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen +ist! Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdrücken +"Jugendschriften" und "Jugendschriftsteller" bleibt, so +muß ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu +dem sich kein anständiger, ernster Kritiker hergeben wird. + + Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu, +daß meine "Reiseerzählungen" nicht als Jugendschriften +verfaßt worden sind, so ist der jetzt landläufig +gewordenen Behauptung, daß sie schädlich sind, aller Boden +entzogen. Es lese sie doch nur der, dem sie nicht +schädlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu! Weshalb +und wozu die Vorwürfe alle, die man mir jetzt in hunderten +von Zeitungen macht? Sieht man sich diese Vorwürfe +aber genauer an, so verlieren sie allen Wert. +Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist +so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder +in das Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht +nur Mode, sondern Mache! Selbst wenn meine Bücher +jetzt von keinem Menschen mehr gelesen würden, könnte +mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich +weiß, daß man sehr bald hinter diese Mache kommen +und sich demgemäß verhalten wird. Ja, hätte ich meinen +Lesern bloß nur Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte +ich von der Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder +aufzutauchen, und würde ganz von selbst so verständig +sein, mich darein zu ergeben. Aber _ich_habe_während_ +_meines_"Lebens_und Strebens"_allzu_viele_und_ +_allzu_große_Fehler_begangen,_als_daß_ich_so_ +_mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_für_immer_ +_verschwinden_dürfte.__Ich_habe_gutzumachen!_ +Was der Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu +sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels +erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod hinüberzunehmen, +sondern sie schon hier zu bezahlen. Das will +ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, +ich behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem +irdischen Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was +es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr +schuldig. Und was über diese von Menschen gestellten +Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem +ich das, was ich noch schreiben werde, dem großen +Gläubiger widme, der ganz genau weiß, ob ich ihm mehr +als jene Andern schuldig bin, die sich besser dünken +als May. + + Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit sie +mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber +auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich +mir keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen +"Reiseerzählungen" erreicht habe, wird erst nach meinem +Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, +die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen +bekommt; veröffentlicht werden sie nicht. Man pries +diese Werke und schwärmte für sie, bis es eines Tages +einem gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu +behaupten, daß ich außer ihnen auch noch andere, aber +"abgrundtief" unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst +wenn dies wahr gewesen wäre, hätte das die "Reiseerzählungen" +weder innerlich noch äußerlich im Geringsten +verändern können. Dennoch wurden sie von jenem Tage +an zunächst mit Mißtrauen betrachtet, dann mehr und +mehr verleumdet und endlich gar für direkt schädlich +erklärt und aus den Bibliotheken gestoßen, in denen sie +früher willkommen geheißen worden waren. Warum? +Waren sie anders geworden? Nein! Hatten sich die +bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze +verändert? Nein! Waren die Bedürfnisse der Leser +andere geworden? Auch nicht! Aber aus welchem Grunde +denn sonst? Einfach einer Schund- und Kolportageklique +wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie +sich selbst auszudrücken pflegte, "kaput zu machen". Aber +ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique +einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf Literatur +und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe +im nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte +scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen +Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu +gebärden! Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen +meiner Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang +mit allen möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage +aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten +Vorwurf gemacht haben. Ich bezeichne das als eine +Schande! + + Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich fünfzig +Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das +ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt. Ein +einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, +kann dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten, +und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma +Münchmeyer achtundfünfzig -- man lese und staune -- +achtundfünfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! +Man rechne; man multipliziere! Welche Verluste! Welch +eine ungeheure Summe von Gift und Unheil! Wie viel +hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran, +dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und nun +schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den +Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich +macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet, +verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May, +immer wieder Karl May und nur und nur Karl May! +Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen, +als nur diesen einen? Was habe ich denn getan, daß +man mich überhaupt zum Schunde zählt? Wo stecken die +zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus, +jahrein rastlos dafür sorgen, daß in Deutschland und +Deutschösterreich der Schund kein Ende nimmt? Vor Gericht, +in "wissenschaftlichen" Werken, bei Kommissionssitzungen, +in öffentlichen Vorträgen, von Schriftstellern, +Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Künstlern, +Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden +Gelegenheiten, wo von "Jugendverderbnis" die Rede ist, +da bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, +nur er! Er ist der Typus der Jugendvergifter! Er ist +der Vater aller ruchlosen Kapitän Thürmers, Nick Carters +und Buffalo Bills! Mein Gott, wissen diese Herren +denn wirklich nicht, was sie tun? Wie sie sich +versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser wissen, +von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen +Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, +daß Jemand durch eines meiner Bücher verdorben worden +ist! Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten +Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen +Band oder einige Bände von Karl May. Den kennt +man, die Andern aber nicht; darum muß er es sein, +dessen Namen man nennt und den man als Täter bezeichnet! +Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus +fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt, +auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen +Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das +ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und +vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum +nennt man ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie +nicht fest? Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten, +die wegen Verbreitung von unzüchtigen Schriften +bestraft worden sind. Und noch größer ist die Zahl +derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben, +nur um Geld zu machen. Warum nennt man sie nicht? +Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem +man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke +duldet? Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern +nur auf mich, den Sündenbock für den ganzen literarischen +Mob? Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! +Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so +viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen +vermag! Ich habe das im nächsten Kapitel des Näheren +zu beleuchten. + + Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, +sind bisher immer nur Behauptungen gewesen. Zu +keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht. +Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezählte meiner +Leser brieflich oder mündlich gefragt, ob es ihnen möglich +ist, mir eine der Reiseerzählungen oder eine Stelle +aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, daß +sie schädlich wirke. Es hat mir Niemand auch nur eine +einzige derartige Zeile nennen können. Ist doch sogar +meine unerbittlichste Gegnerin, die "Kölnische Volkszeitung", +gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen: +"Alles für die Jugend Anstößige _ist_sorgfältig_ +_vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_bloß_für_ +_diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben +aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung +im reichsten Maße geschöpft!" Schon aus diesem +Atteste geht die jetzige "Mache" hervor, denn meine +Bücher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben, +und derselbe Herr, der dieses öffentliche Zeugnis aus +stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat +sich seitdem nicht wieder aufrichten können. + + Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen +mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung +des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion +zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig +verehrte Herr aber wohl verzeihen wird. Doktor +Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres +aus Krieglach: + + "Sehr geehrter Herr! + + Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der + Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder + das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet, + werde ich mit größter Freude davon Notiz nehmen. + + Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als + solcher möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine + Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie + sich am besten rechtfertigen könnten. + + Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles + ausschalten, was sich nicht sachlich auf die + Anschuldigungen bezieht. Das, was Sie aus Ihrer + Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch + abgetan und würde Ihnen kaum ein rechtlich denkender + Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht + tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persönlich + erlebt haben, daß es nur Erzählungen in "Ichform" + sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln. + So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu + erbringen, daß die berührten obszönen Stellen nicht + Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was + die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen + doch Sachverständige entscheiden können, inwiefern es + Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete Stoffe + und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben + mit den neuen Auflagen verglichen, müßte doch + klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und + der Stil der neu eingefügten Sätze sich organisch an + Ihre Art und an das Buch anschließen oder nicht. + Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun + Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen + drängen, daß die Dinge endlich vor Gericht zur + Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer Freunde, + die nur so im Allgemeinen herumreden über die Vorzüge + Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können für + die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere + Wirkung erzielen. + + Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer + gerichtlichen Genugtuung zu kommen. Gelingt das + nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und + gelingt es, so muß doch auch die Presse Ihrer jetzigen + Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und + in das Volk tragen. + + Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen + Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen + entspringt, und seien Sie gegrüßt + + von Ihrem ergebenen + + P e t e r R o s e g g e r." + + Krieglach, 2. 7. 1910. + + Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende +und human denkende geistige Aristokrat, das, was er +über meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan +betrachtet, versteht sich ganz von selbst. In derartigen +Bodensätzen und Rückständen können nur niedrige +Menschen waten. Hierdurch habe ja auch ich selbst schon +längst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden, +der sich mit mir beschäftigt, nach dem Maße zu beurteilen, +welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird. +Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist +im Himmel und auf Erden Recht. + + Was die "Obszönitäten" und den Nachweis betrifft, +daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand +im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine +mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt. +Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese unsittlichen +Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu +beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so +selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen Richter +einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der +spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der +Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der +Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er +unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten +Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen +Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für Münchmeyer +das "Buch der Liebe" geschrieben zu haben. Wie kann +ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, es +wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige +Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, +daß Peter Rosegger den berüchtigten "Venustempel" +geschrieben habe. Würde Rosegger den Beweis antreten, +daß dies eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man +die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? +Ich bin überzeugt, das Letztere. Und so thue [sic] auch ich. +Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte. +Einen andern Beweis kann es nicht geben. + + Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate +betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: +Der Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe +von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben +und ihnen die Drohung vorangeschickt, daß er mir mit +ihnen einen Strick drehen werde, um mich "aus dem +Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Er hat +sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner +Behauptungen, mit denen er mich hierauf überschüttete, war +nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart, +lieblos und tierquälerisch, darum die Leser empörend und +ohne Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer +Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich +des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Mühe gab, +die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. Er sprach +da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter +nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit +erreichen. Die "Grazer Tagespost" schreibt hierüber: + + "Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich unlängst +in echt christlicher Demut selbst das schmückende +Beiwort eines "anerkannten Kritikers" beilegte, hat die +moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht +gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald +vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder +voll usw. usw." + + Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten, +ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch +nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die ich +schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen +lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken +entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht +sehr häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann +niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, +liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile +eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der +Art verwendet, daß sie dann wesentliche Bestandteile des +Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen +Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan +und werde es auch nie tun. Geographische Werke können, +besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind, +ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um +das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen +handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des +Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In +der Einleitung zum Voigtländerschen "Urheber- und +Verlagsrecht" heißt es: + + "Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus +sich selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was +Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben +haben. Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene +Schöpfung. Selbst die am meisten schöpferische Tätigkeit, +die des Dichters, steht dann am höchsten, erreicht +dann ihre größten Erfolge, wenn sie die Weihe der +künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich +sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form +ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird +von der gebildeten Sprache geliefert, "die für dich dichtet +und denkt", und die Manchem, der sich Dichter zu sein +dünkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder +deren Schein leiht. Kurz, der Schriftsteller und Künstler +steht mit seinem Wissen und Können inmitten und auf +der Kulturarbeit von Jahrtausenden. Goethe, auf einer +einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht Goethe +geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet, +daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen +Schritt hat weiter bringen können, weil er an das von +den Vorfahren Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es +nicht mehr als billig, _daß_sein_Werk_zur_gegebenen_ +_Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_ +_diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_ +_Form."_ + + So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm +ist nicht zu widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal +begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollständig +gerechtfertigt. Ein anderer schreibt: "Alles ist mehr oder +weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder +Phantasieproduktion. Der Intellektadel, die obern Träger +der Bildung und Kultur schöpfen ja doch alle mehr oder +minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen +Anderer, Früherer, Größerer gespeist worden ist." + + In Nr. 268 der "Feder", der Halbmonatsschrift für +Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: "Aus +den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic] +Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem +gewissen Grade muß deshalb auch Jeder ein Plagiator +sein. Wenn das eigentliche Gedankengebäude neu ist, +dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von +schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach Emmerson ist +_der_größte_Genius_zugleich_auch_der_größte_ +_Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_ +_darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn +man einen großen Zweck damit erreichen will; aber man +darf es sich nicht merken lassen; man muß mit dem +Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen." + + Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner +Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben +hat. Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn +aus und ließ das Stück ruhig unter seinem Namen +erscheinen. Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied +aus dem Freischütz: "Wir winden dir den Jungfernkranz" +nicht von Weber, sondern von einem fast ganz +unbekannten Gothaer Musikdirektor ist. Weber hörte es +und nahm es in seinen Freischütz auf, ohne sich etwas +aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb +bezeichnet zu werden. Shakespeare war bekanntlich der +größte literarische Entwender, den wir kennen. Wenn +es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen ginge, würden +sogar verschiedene Verfasser biblischer Bücher als +literarische Diebe bezeichnet werden müssen. So könnte ich +noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterführen, +will mich aber damit begnügen, nur noch unsern +Allergrößten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten +Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzuführen. +Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er konnte ohne +fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit +über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist +es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe "Der +Goldkäfer" zu den spannendsten Stellen in seinem "Grafen +Monte Christo" ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, +so zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich +unter der Ueberschrift "Goethe über das Plagiat" durch +die Zeitungen ging: + + "Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage +sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen, +absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der +er diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben +Freund hat Jedermann, der den glücklich entdeckten +Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt. Richard +von Kralik ist unlängst des Plagiates beschuldigt worden, +weil er -- ohne seine Schuld -- mangelhaft zitiert +worden ist. Solchen Plagiatschnüfflern möchten wir die +Ansicht Goethes über das Plagiat in das Gedächtnis +rufen. Der Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und +Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons +angebliche Plagiate. Siehe "Eckermanns Gespräche mit +Goethe", 3. Auflage Band I S. 133. Da sagte Goethe: +"Byron weiß sich auch gegen dergleichen, ihn selbst +betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation +nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken +sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ hätte er sagen +sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_ +_Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_ +_kam_bloß_darauf_an,_daß_ich_es_richtig_gebrauchte!_ +Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem +"Egmont", und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_ +_mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So +hat er auch den Charakter meiner "Mignon" in einem +seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel +Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons "verwandelter +Teufel" ist ein fortgesetzter Mephistopheles, +und das ist recht. Hätte er aus origineller Grille +ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen müssen. +So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, +und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir +die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von +Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es +sollte? Hat daher auch die Exposition meines "Faust" +mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das +wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als +zu tadeln." + + Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen. +Was haben unsere Berühmtesten getan, ohne daß man +sie beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich +als den niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt? +Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner +kleinen, asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen +geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, +welche ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit +angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes +Recht. Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft +mich öffentlich als einen _"Freibeuter_auf_ +_schriftstellerischem_Gebiete,_für_ewige_Zeiten_das_ +_Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson, +der Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika, +sagt: "Der größte Genius ist zugleich auch der größte +Entlehner". Und Goethe sagt: "Was da ist, das ist +mein. Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche +nehme, das ist gleich!" Wie hätte da wohl das +entsprechende Urteil Pater Pöllmanns über diese beiden +Heroen zu lauten? Sie hätten für ihn "für ewige Zeiten +die schlimmsten aller literarischen Bestien" zu sein, stinkend +vor Raubgier und Verworfenheit! Eine Kritik, die so +unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend und so +wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine +Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das ganze +Volk. + + Ich habe in diesen meinen "Reiseerzählungen" genau +so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, +für die Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur +für sie allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben +ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen +und begreifen. Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder. +Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für +Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals +sein und niemals werden. Haben wir es erst so weit +gebracht, daß wir nur noch Musterautoren, Musterleser +und Musterbücher haben, dann ist das Ende da! Ich +bin so kühn, zu behaupten, daß wir uns nicht die +vorhandenen Musterbücher, sondern den vorhandenen Schund +zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen, +was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben. +Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht +liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, +die es verstehen, Hunderttausende und Millionen +Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel +sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt +für die große Seele! Schreibt nicht für die kleinen +Geisterlein, für die Ihr Eure Kraft verzettelt und +verkrümelt, ohne daß sie es Euch danken. Denn gebt Ihr +Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall zu erringen, so +behaupten sie doch, es besser zu können als Ihr, obgleich +sie gar nichts können! Und schreibt nichts Kleines, +wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure Augen +empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es +zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen +wohnt das wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch +Fehler macht, so viele Fehler und so große Fehler wie +Karl May, das schadet nichts. Es ist besser, auf dem +Wege zur Höhe zuweilen zu stolpern und diese Höhe aber +doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu +stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder gar erhobenen +Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator +immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst +anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu +sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale, +hochgelegene Haltepunkte und Ziele. + + Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und +laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; +aber ich befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und +was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche +es nicht zu wiederholen. Und ich habe schon so viele +steile Höhen zu überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich +für einen jener armen Teufel halten kann, die immer +auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt +Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt +Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt +Dritte, die behaupten, daß ich allerdings einen Stil habe, +aber es sei ein außerordentlich schlechter. Die Wahrheit +ist, daß ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. +Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und +ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre. +Ich verändere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also +meine Seele, und nicht mein "Stil", sondern meine Seele +soll zu den Lesern reden. Auch befleißige ich mich keiner +sogenannten künstlerischen Form. Mein schriftstellerisches +Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genäht +und dann gar gebügelt. Es ist Naturtuch. Ich +werfe es über und drapiere es nach Bedarf oder nach +der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, +was ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche +Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will nicht +fesseln, nicht den Leser von außen festhalten, sondern ich +will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in +sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann +und darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen +noch störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie +mich die Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das +haben mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt. +Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich +mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur +allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine +Leser nicht andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche +stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen +Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch höhere Form zu +geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt skizziere ich +noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind. + + Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten +abgerechnet, in meinen Werken keine einzige +Gestalt, die ich künstlerisch durchgeführt und vollendet +hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, +über die ich doch am meisten geschrieben habe. Ich bin +ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender. +Es ist in mir noch Alles in Vorwärtsbewegung, und +alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen +sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht +habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken +sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer +Dichter und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer +großen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er +innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser +Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen +sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir +darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich +gestatten. Was bei Andern selbstverständlich ist, das ist +bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und was bei +Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung +gilt, das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein +einziges Mal etwas künstlerisches schreiben wollen, mein +"Babel und Bibel". Was war die Folge? Es ist als +"elendes Machwerk" bezeichnet und derart mit Spott und +Hohn überschüttet worden, als ob es von einem Harlekin +oder Affen verfaßt worden sei. Da weicht man zurück +und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiß. +Man kann wohl literarische Hanswürste beseitigen, nicht +aber Geistesbewegungen unterdrücken, die unbesiegbar +sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen, +denen doch keine Folge gegeben würde. Unterlassen aber +darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier +berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein einziges, +welches so deutlich spricht, daß ich ohne Weiteres auf +alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein Verein, +dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und +Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich +mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich +stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die +Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen +kursierende Auskunft: "Hierseits wird zwar von dem +weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand +genommen, und werden die Bücher nicht mehr durch unsere +Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht +sagen, daß der Inhalt der Mayschen Reiseerzählungen +zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorständen +unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Bücher aus den +Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige ablehnende +Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der +_Persönlichkeit_ des Verfassers. _Sie_können_also_ohne_ +_Bedenken_die_Bände_weiter_ausleihen."_ Das genügt +gewiß! Meinen Büchern ist nichts anzuhaben; meine +Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum? +Infolge jener "Mache", von der ich schon weiter oben +sprach. Denn man glaube ja nicht, daß die "Karl +May-Hetze", oder, ein wenig anständiger ausgedrückt, das +"Karl May-Problem" eine literarische Angelegenheit sei. +Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder +gar um ethische Gründe, sondern, die Sache beim richtigen +Namen genannt, um eine rein persönliche Abschlachtung +aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen +Gründen. Was man da von sittlichen und journalistischen +Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um +die Wahrheit zu verstecken. Wollte man hierüber einen +Roman schreiben, so könnte dieser der sensationellste aller +Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen würden +folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann +Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Münchmeyer +in Dresden, der Franziskanermönch Dr. Expeditus +Schmidt in München, der aus der christlichen Kirche +ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in +Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Pöllmann in +Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Münchmeyer, +Dr. Gerlach in Niederlößnitz bei Dresden. Dieser +Roman würde für die Beleuchtung der gegenwärtigen +Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein und auch über andere +Verhältnisse, gesellschaftliche, geschäftliche, psychologische, +überraschende Streiflichter werfen. Es würde da +viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts +weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn +auch hier zu erwähnen und zu zeigen habe, mich bemühen, +so schnell wie möglich über ihn hinwegzukommen. + + _________ + + + VIII. + Meine Prozesse. + + _____ + +Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt +in seiner Parabel "Der Schatten" zum Dichter: "Sie +wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und +schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines +und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele +Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem +weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie +wissen nicht, wie manches Menschenglück Sie töten, wie +manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer +stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den +Blumengläsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, +_daß_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_ +_schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend +dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. +Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich, +wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben +je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die +jungen Mädchen sind züchtig oder leichtfertig, wie es die +Weiber sind, die Ihr verherrlicht." + + Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht +ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über +die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat +einen weit größern, entweder schaffenden oder zerstörenden, +reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten +Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere +Psychologie behauptet, nämlich "Nicht Einzelwesen, Drama +ist der Mensch", so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers +unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt +nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt +bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung +bewußt, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald +wir zur Feder greifen. So oft ich dieses Letztere +tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender +nur Gutes, niemals aber Böses zu schaffen. Man kann +sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr, +daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer "abgrundtief +unsittliche" Bücher geschrieben haben solle. Der +Ausdruck "abgrundtief unsittlich" ist von Cardauns, dessen +Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den +übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann +Alles nicht nur erwiesen, sondern "zur Evidenz erwiesen", +nicht ausgesonnen, sondern "raffiniert ausgesonnen", +nicht entstellt, sondern "bis zur Unkenntlichkeit entstellt". +Darum genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, +weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort +"unsittlich" nicht, sondern es war ganz selbstverständlich, +daß sie gleich "abgrundtief unsittlich" sein mußten. + + Die erste Spur von diesen meinen "Unsittlichkeiten" +tauchte drüben in den Vereinigten Staaten auf. +Kommerzienrat Pustet, welcher da drüben Filialen besitzt, +schrieb mir von diesem Gerücht und wünschte, daß ich +mich darüber äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, +daß ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache +untersuchen lassen werde, wenn es sein müsse sogar +gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen. +Damit war für ihn die Sache abgemacht. Er war ein +Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es +niemals eingefallen wäre, durch Hintertüren zu verkehren. +Wir hatten einander gern. Auf ihn fällt ganz gewiß +auch nicht die geringste Spur von Schuld an der +unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen +Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus Amerika kam, +hatte ich zunächst drüben zu recherchieren. Das erforderte +lange Zeit, und es war mir unmöglich, etwas +Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte nur, daß sich das +Gerücht auf meine Münchmeyerschen Romane bezog, +doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die +Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit +lag. Und auf ein bloßes, vages Gerücht hin alle +fünf Romane, also ungefähr achthundert Druckbogen nach +Dingen, die ich gar nicht kannte, mühsam durchzuforschen, +dazu hatte ich keine überflüssige Zeit, und das war mir +auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich +anzuklagen, der mußte die unsittlichen Stellen genau +kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf +wartete ich. Es meldete sich aber Keiner, der es tat. +Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die +angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich. Leider +war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm meine +Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste +Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. +Dieser hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend +gekürzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe +Korrekturen und Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll +mich so kennen lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern +und Schwächen, nicht aber wie der Redakteur mich +zustutzt. Darum teilte ich Pustet mit, daß er von mir +kein Manuskript mehr zu erwarten habe. Er versuchte, +mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam er, +der alte Herr, persönlich nach Radebeul. Das war +rührend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann +seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben +negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die +sich an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der +Richtige, Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, daß +es nie wieder geschehen solle, und daraufhin nahm ich +meine Absage zurück. Man hat mir das von gewisser +Seite bis heut noch nicht vergessen. Man drückt das +folgendermaßen aus: "Heinrich Keiter hat Kotau vor +Karl May machen müssen." Ich besitze hierüber +Zuschriften aus nicht gewöhnlichen Händen. Aber er trug +selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe Heinrich Keiter +geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne alle +seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich +damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging +nicht anders. Ich mußte die Buchform meiner +"Reiseerzählungen" nach dem Texte des "Hausschatzes" drucken +lassen und durfte darum nicht zugeben, daß an meinen +Manuskripten herumgeändert wurde. + + Später schrieb ich für Pustet meinen vierbändigen +Roman "Im Reiche des silbernen Löwen". Ich war +grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da +bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel +des "Hausschatzes" geschickt, dessen Inhalt mich +veranlaßte, meine damalige Absage zu wiederholen. Ich +telegraphierte Pustet, daß ich mitten in der Arbeit +aufhören müsse und kein Wort weiter für ihn schreiben +werde. Er mußte mir sogar das in seinen Händen befindliche, +noch ungedruckte Manuskript wieder senden, wofür +ich ihm das darauf entfallende Honorar wiederschickte. +Ich würde hierüber kein Wort verlieren, wenn +mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings von sehr unmaßgeblicher +Seite, mit Enthüllungen aus jener Zeit gedroht +worden wäre. Ich habe darum die Gelegenheit wahrgenommen, +hier die Wahrheit festzustellen. Und ich stelle +zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn Kommerzienrat +Pustet niemals persönlich gebrochen habe und eine +aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er +nach einer Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen +Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat +Dr. Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in München +sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter des +"Hausschatzes" zu werden. Ich habe ihm daraufhin den +"Mir von Dschinnistan" geschrieben. + + Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der +Cardaunsschen "abgrundtiefen Unsittlichkeit" vorausgeeilt +und kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit +auf Grund und Wurzel zu gehen. Der Grund heißt +Münchmeyer, und die Wurzel heißt ebenso. Die hierher +gehörigen Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange +Kette, deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch +innig ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist +erwiesen. Einiges liegt noch in den Akten, um an das +Tageslicht gezogen zu werden. Ich bin nicht gewillt, +den laufenden Prozessen vorzugreifen, und werde also +nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle Klarheit +herrscht. + + Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine +Vorstrafen kannte. Er wußte sogar Alles, was man +hinzugelogen hatte. Er wünschte sehr, daß ich einen +Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber +entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und +Bekannten meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern +ganz unbefangen davon erzählt und meine Ansichten +über Verbrecher und Verbrechen, Schuld, Strafe und +Strafvollzug ausführlich dargelegt. Kein einziges Glied +der Münchmeyerschen Familie darf behaupten, nicht +davon gewußt zu haben. Auch die Arbeiter der Firma +erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, ebenso die +mitarbeitenden Schriftsteller. "May ist bestraft; er hat +gesessen," das drang bald leiser, bald lauter, aber überall +durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von plötzlichen +"Enthüllungen" oder gar von meiner "Entlarvung" zu +sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt, der lügt. + + Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz ausgesprochene +geschäftliche Vorliebe grad für bestrafte Mitarbeiter +hatte. Geht man die Schriftsteller und Schriftstellerinnen +durch, die für ihn geschrieben haben, so bilden die +Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von ihnen. +Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm +eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von +dem er alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war +vorbestraft. Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion +brachte er mir einen Wiener Postbeamten, der sich +an der Kasse vergriffen hatte, als Mitarbeiter. Als sich +ähnliche Fälle wiederholten und ich ihn nach seinen +Gründen fragte, antwortete er: "Mit einem Schriftsteller, +der bestraft worden ist, kann man machen, was +man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen verraten +werden." "Also auch ich?!" rief ich aus, erstaunt +über diese Aufrichtigkeit. "Unsinn!" entgegnete er. "Mit +Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde! +Und Sie sind doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit +sich machen läßt, was man will! Selbst wenn ich Sie +nicht aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den +Kürzern!" Er gab sich Mühe, das in mir erwachte +Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz +verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich kündigte +und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion aufgab. +Auch später, als ich nach sechs Jahren das "Waldröschen" +für ihn zu schreiben begann, tauchte dieses Bedenken +gegen ihn wieder in mir auf. Aber die Ausnahmestellung, +die er mir persönlich und geschäftlich bei sich +einräumte, das Ausnahmehonorar, welches er mir zahlte, +und vor allen Dingen die Einwürfe, die mir meine Frau +bei jeder Gelegenheit gegen mein Mißtrauen machte, das +alles wirkte dahin, daß ich schließlich zu meinem früheren +Vertrauen zurückkehrte. + + Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen +keine Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte +nicht mehr zurückbekam, habe ich bereits erwähnt. +Ich konnte also nicht kontrollieren, ob der Druck mit +meinem Originalmanuskript übereinstimmte. Doch war +mir hier so bestimmt Ehrlichkeit versprochen worden, daß +ich einen Betrug für ausgeschlossen hielt. Auch daß +Münchmeyer später einmal behaupten könne, meine Romane mit +allen Rechten nicht bloß bis zum zwanzigtausendsten +Abonnenten, sondern für immer erworben zu haben, erschien +mir als unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine +Briefe aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich +miteinander ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte, +und zweitens hatte ich auch noch einen andern vollgültigen +Beweis in der Hand, daß er diese Rechte nicht für immer +besaß. Er hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht, +diese Rechte noch nachträglich zu erwerben. Er hatte das +durch einen Revers getan, den er mir durch jenes +vorbestrafte Faktotum Walter schickte und zur Unterschrift +vorlegen ließ. Ich wies aber diesen außerordentlich +pfiffigen Boten mit seinem Revers zurück. Dieser Walter +war es auch, durch den ich auf meine Anfragen immer +die schriftliche oder mündliche Versicherung bekam, daß +die Zwanzigtausend noch nicht erreicht sei. Uebrigens +hatte ich nicht die geringste Sorge, weder um meine Rechte +noch um meine "feinen Gratifikationen". Meine Rechte +waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich jetzt in +pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich glaubte, mehr +als bloß zahlungsfähig waren. Daß er mit schlechtgehenden +Romanen wieder verlor, was er an gutgehenden +verdiente, und daß er sich auf Wechselreitereien eingelassen +hatte, durch welche seine Kapitalkraft arg geschädigt wurde, +davon wußte ich nichts. Ich war also überzeugt, ruhig +warten zu können und gar keine Veranlassung zu haben, +verfrühte und darum beleidigende Forderungen zu stellen. +Uebrigens war meine Frau so vollständig gegen alles +geschäftliche Drängen und Treiben, daß ich nun auch um +den äußeren häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls +ich gegen Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie +wünschte. Auch behaupten die Kolportageverleger, daß +es in ihrer Buchführung viel schwieriger sei und viel +längere Zeit erfordere, als bei andern Verlegern, +nachzuweisen, wieviel feste Abonnenten man habe. Es springen +beständig welche ab, und es kommen beständig welche +hinzu, darum hatte ich Geduld. + + Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger +F. E. Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich +übergab ihm den Buchverlag der bei Pustet in Regensburg +erschienenen Werke und vereinbarte mit ihm, nach diesen +dann auch die Münchmeyerschen herauszugeben. Er nahm +die ersten sofort in Angriff, und sie gingen ausgezeichnet. +Wir waren beide überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen +nicht weniger Erfolg haben würden, stellten +die letzteren aber bis zur Vollendung der Pustetschen +Serie zurück. Jede der beiden Serien sollte dreißig +Bände umfassen. Was daran fehlte, hatte ich noch +hinzuzuschreiben. Das ergab für die Pustetsche Serie ungefähr +zehn Bände, die ich noch zu liefern hatte. Das war eine +Arbeit, die mir keine Zeit ließ, mich jetzt um meine +Münchmeyerschen Sachen zu bekümmern. Darum mußte mich +auch die unerwartete Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich +gestorben sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen. +Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als +ich hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der +Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt. + + Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline +Münchmeyer schickte mir einen Boten, der den Auftrag +hatte, mich auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein +werde, ihr einen neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote +war auch ein "Vorbestrafter". Ich ließ ihn unverrichteter +Sache wieder gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung +besonders nachzudenken. Ich wußte damals nicht, was +ich erst viel später erfuhr, nämlich daß es mit +Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte. Man +hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem +Entschlusse gelangt, durch einen neuen Roman von Karl +May die Lage zu verbessern. Ich hatte weder Zeit +noch Lust, ihn zu schreiben, beschloß aber für den Fall, +daß man den Versuch erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen +einzutreten, um über die Erfolge meiner bisherigen +Romane etwas Bestimmtes zu erfahren. Und die +Wiederholung des Versuches kam. Frau Münchmeyer +stellte sich selbst und persönlich bei uns ein. Sie besuchte +uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar Vorausbezahlung +des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum Walter +und ließ Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den Bescheid, +daß ich nicht eher etwas Neues liefern könne, als +bis über das Alte volle Klarheit geschafft worden sei. +Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der +Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend +müsse doch schon längst erreicht worden sein. Frau +Münchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau +zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen. +Wir stellten uns ein. Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend +erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht +nur bei einem; nur müsse es erst noch genau berechnet +werden, und das sei in der Kolportage so ungemein +schwierig und zeitraubend. Ich möge mich also in Geduld +fassen. Was meine Rechte betreffe, so fallen diese mir +hiermit wieder zu, ich könne die Romane nun ganz für +mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir meine +Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken +lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde +mir an ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und +sie vorher extra für mich in Leder binden lassen. Das +geschah. Nach kurzer Zeit kamen die Bücher durch die +Post; ich war wieder Herr meiner Werke -- -- -- so +glaubte ich! Freilich war es mir unmöglich, sie sofort +herauszugeben, weil die Pustetschen vorher zu erscheinen +hatten. Ich legte die Bücher also für einstweilen zurück, +ohne mich mit der Prüfung ihres Inhaltes befassen +zu können. Ich hatte meinen Zweck erreicht, und von +der Abfassung eines neuen Romanes war keine Rede +mehr. Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich hören. +Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß nun +doch die "feinen Gratifikationen" fällig waren, deren +Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich +aber drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte +das Geld nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht +übergehen, daß meine Frau während dieser ganzen Zeit +sich alle Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen +Frau Münchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe für +Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund +der sonst unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte. + + Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach +dem Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer +ihr Geschäft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort +einen Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane +mit zu verkaufen. Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche +dar und ging zunächst nach Oberägypten. Von dort nach +Kairo zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich +erfuhr, daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen +sei; der Verkäufer [sic] heiße Fischer. Ich zögerte nicht, an +diesen Herrn zu schreiben. Er antwortete mir im +Kolportageton, daß er das Münchmeyersche Geschäft nur wegen +der Romane von Karl May gekauft habe. Alles Andere +sei nichts wert. Er werde diese meine Sachen so +ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich, falls ich ihn +daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser Ton +fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr +minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mußte diesem +mir vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art +geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit +verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen +Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu berichten. +Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau an. +Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn +Tage, in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und +telegrafierte, doch vergebens; es kam kein Bericht. Endlich +erhielt ich einige Zeilen, in denen sie mir sagte, daß +sie in Paris gewesen sei, aber weiter nichts. Als in +Massaua, der Hauptstadt von Erythräa am roten Meere, mein +arabischer Diener mir die Post brachte, quoll mir eine +Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus denen ich, der +gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat +inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine +Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner +Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit +derartigen Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf +dieses Unternehmen aufmerksam werden mußte. Mein +Name war genannt, obgleich ich diese Romane, nur einen +ausgenommen, pseudonym geschrieben und Münchmeyer +verpflichtet hatte, diese Pseudonymität auf keinen Fall +zu brechen. Zugleich stellte sich heraus, daß mit den +Romanen eine Umarbeitung vorgenommen werden sollte. +Mir wurde himmelangst. Ich schrieb heim und beauftragte +einen dortigen Freund, dem ich vollständig vertrauen +konnte, sich einen Rechtsanwalt zu Hilfe zu nehmen +und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu führen, wenn +nötig sogar gerichtlich. + + Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der +Besitzer der "Sächsischen Verbandstoffabrik" in Radebeul, +die er gegründet hatte. Man wird bald sehen, warum +ich für kurze Zeit bei ihm verweile. Er war außerordentlich +glücklich verheiratet. Seine Familie bestand nur aus +ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir waren +so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du +nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten. +Aber außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu +sagen, das brachte Plöhn nicht fertig. Er versicherte, daß +ihm dies unmöglich sei. Frau Plöhn ist jetzt meine Frau. +Es ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder +gar Vorzügen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische. +Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher +gelesen. Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr +ebenso unbekannt und gleichgültig wie meine Ziele und +Ideale überhaupt. Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin +von mir und besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis +für all mein Hoffen, Wünschen und Wollen. Ihr Mann +freute sich darüber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes +Arbeiten, oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht +hindurch, keine helfende Hand, kein warmer Blick, kein +aufmunterndes Wort; ich stand innerlich allein, allein, +allein, wie stets und allezeit. Das tat ihm wehe. Er +versuchte, durch seine Frau auf die meinige einzuwirken, +damit diese mir wenigstens die störende Korrespondenz +abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu +erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn +eine große Freude sein. Ich gestattete es den beiden +guten Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in +der Hand von Frau Plöhn. Tausenden von Leserinnen +und Lesern ist über der Unterschrift von "Emma May" +geantwortet worden, ohne daß sie wußten, daß es nicht +meine Frau, sondern eine schwesterliche Helferin war, +die mir meine Last erleichterte. Sie arbeitete sich mehr +und mehr in meine Gedankenwelt und meinen Briefwechsel +ein, so daß ich ihr schließlich die ganze, umfangreiche +Korrespondenz getrost überlassen konnte. Ihr Mann +war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter, +eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau, +die gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich +gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die nicht +unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte. + + Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit +so kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und +er tat es, so gut er konnte. Er übergab die prozessuale +Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und +benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich +augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber +nicht zögern werde, mich bei der beabsichtigten +Vergewaltigung zu erwehren. Mehr konnte für den Augenblick +nicht getan werden, weil es mir unmöglich war, meine +Reise abzubrechen. Von meiner Frau bekam ich keine +Nachricht. Es war ihr unmöglich, sich um so ernste, +geschäftliche Angelegenheiten zu bekümmern. Plöhns aber +schrieben, doch konnten mich diese Briefe erst in Padang +auf der Insel Sumatra erreichen. Sie lauteten +aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen +Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in +einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden Gerüchte +über mich verbreitet, die teils lächerlich, teils gewissenlos +waren. Man las in den Zeitungen, daß ich mich gar +nicht im Orient befinde, sondern mich wegen einer +bösartigen Krankheit im Jodbad Tölz, Oberbayern, versteckt +habe. Hätte ich geahnt, daß das in dieser lügenhaften, +gehässigen und böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt +weitergehen werde, so würde ich meine Reise doch +unterbrochen und schleunigst nach Hause zurückgekehrt sein. +Hätte ich das getan, so wären mir alle die unmenschlichen +Martern und Qualen, die ich während dieser langen +Zeit ausgestanden habe, erspart geblieben. Leider aber +wußte ich damals noch nicht, was mit meinen Romanen +vorgegangen war und welche Leitgedanken im Münchmeyerschen +Geschäft über mich kursiert hatten und heute +noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der +Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für +nötig, als eine genaue Information, aus der sich die +einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten. Ich schrieb +also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten +kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen +würde. Sie kamen, aber sehr verspätet, weil +Plöhn unterwegs krank geworden war. Was ich von +ihnen erfuhr, lautete keineswegs günstig und klang +außerdem sehr unbestimmt. Der Rechtsanwalt stand immer +noch erst bei den Vorbereitungen. Fischer hatte erklärt, +sich auf das Aeußerste wehren zu wollen; meine Romane +habe er von Frau Münchmeyer gekauft; sie seien sein +wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er +machen könne, was er wolle. Die Zeitungen waren +gegen mich eingenommen. Meine Münchmeyerschen +Romane wurden als Schundromane bezeichnet. Ich sah +ein, daß ein Prozeß mit Münchmeyers nicht zu umgehen +war, und fragte meine Frau nach den für mich hierzu +nötigen Dokumenten. + + Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers +Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war für einen +Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig, daß ich +ihn glattweg gewinnen mußte. Diese Briefe waren nebst +andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten +Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner +Abreise meine Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt +ganz besonders aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der +Briefe ganz besonders erklärt und sie aufgefordert, dafür +zu sorgen, daß ja nicht das geringste Blättchen davon +verloren gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen +Dokumenten fragte, versicherte sie mir, daß sie noch genau +so lägen, wie ich sie ihr übergeben habe. Kein Mensch +habe sie berührt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete +den sicher gewonnenen Prozeß. Als meine Frau mir +diese Versicherung gab, stand Frau Plöhn dabei und +hörte es. Sie sah sie groß an, sagte aber nichts. Das +fiel mir damals nicht auf; später aber, als ich mich +dieses großen, erstaunten, mißbilligenden Blickes erinnerte, +wußte ich nur allzu gut, was er hatte sagen sollen. +Meine Frau war nämlich eines Abends zu Frau Plöhn +gekommen und hatte ihr mitgeteilt, daß sie soeben unsern +Trauschein verbrannt habe, der Vorbedeutung wegen, +die sich damit verbinde. Und einige Zeit später hatte +sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, daß sie nun +auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten genommen +und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, daß ich +Münchmeyers verklage. Frau Plöhn war hierüber entsetzt +gewesen, hatte aber die vollendete Tatsache nicht zu +ändern vermocht. Jetzt, als sie die Versicherung meiner +Frau mit anhören mußte, daß die Briefe noch unberührt +vorhanden seien, gab es in ihr den ersten Riß zu jener +innern Scheidung, die erst dann auch äußerlich zu Tage +trat, als nichts mehr verheimlicht werden konnte. Wir +reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien, über +Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause. Während +dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen +immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig +unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen. Sie +wurde schließlich zornig und verbat sich jede weitere +Erwähnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster +Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten +-- -- -- leer! Hierüber zur Verantwortung gezogen, +erklärte sie, daß sie die Briefe allerdings verbrannt und +vernichtet habe. Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers +gewesen und sei es auch noch heute. Sie wisse zwar, +daß ich recht habe, aber sie dulde nicht, daß ich +Münchmeyers verklage. Darum habe sie die Papiere +verbrannt. Man kann sich denken, wie mir zu Mute war, +aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon jahrelang +in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war still, +nahm den Hut und ging. + + Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich +immer zahlreicher und deutlicher geworden. Man +beschuldigte mich, zu gleicher Zeit fromm und unsittlich +geschrieben zu haben. Ich nahm die Romane her, die mir +Frau Münchmeyer hatte einbinden lassen, und fand, daß +man von meinen Originalmanuskripten abgewichen war +und sie verändert hatte. Also darum hatte man die +Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben! +Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können! +Das Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon +benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung +abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich +wollte die Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern +des Strafprozesses verfolgen, stieß dabei aber auf solchen +Widerstand bei meiner Frau, daß ich darauf verzichtete. +Ich befragte mich bei verschiedenen Rechtsanwälten, +nicht nur in Dresden, sondern auch in Berlin und +anderswo. Ich hätte so gern gleich direkt wegen der +"abgrundtiefen Unsittlichkeiten", die mir vorgeworfen +wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig versichert, +daß dies unmöglich sei. Eine Klage könne nicht auf +ideale Dinge gerichtet, sondern müsse materiell begründet +sein. Ich müsse vor allen Dingen beweisen, daß ich der +rechtmäßige Eigentümer der betreffenden Romane sei, +und also das Recht besitze, zu verklagen. Am Besten sei +es, die Klage auf "Rechnungslegung" zu richten. Das +geschah. + + Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des +Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir +meldete. Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn +abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war +eine hochinteressante, sowohl psychologisch als auch +prozessual. Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er +wisse, ich sei vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg +am Rocken habe, der solle sich wohl sehr hüten, zu +prozessieren, sonst könne die Sache sehr leicht ein anderes +Ende nehmen, als man denke. Meine Romane seien jetzt +sein Eigentum. Man habe sie schon früher verändert, +und nun lasse er sie von Neuem umarbeiten, ganz so, +wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn prozessiere, so +könne das länger als zehn Jahre dauern; aber bis dahin +sei ich längst kaput. Er sei aber gekommen, mir die +Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich +solle ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf +meine Romane und liefere sie mir mit allen Rechten aus. +Dann sei es mir leicht, die ganze Aufregung der Presse +gegen mich mit einem einzigen Schlage zum Schweigen +zu bringen. Er biete mir seine Hilfe dazu an. Er wisse +mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze Münchmeyerei. +Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter siebzigtausend +Mark könne er nicht verzichten, denn er habe +hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt. + + Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen +Vorschlag nicht einging. Ich erklärte ihm, daß ich keinen +Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei. +Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten +werde, ob gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe. +Er rate mir zu dem Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich +als Zeuge dienen könne, denn er sei mit dieser +Frau keineswegs zufrieden, sondern stehe in +immerwährendem Streit mit ihr. Hierauf entfernte er sich +mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen in +Acht zu nehmen. + + Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen. +Aber meine Frau und, wohl infolgedessen, auch mein +Rechtsanwalt bestimmten mich, hiervon abzusehen. So +wurde also Fischer verklagt. Aber die Witwe schien +keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel +ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei +und ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang +mir, gegen Fischer eine einstweilige Verfügung zu +erreichen, welche ihm verbot, meine Romane weiterzudrucken. +Er durfte nur noch komplettieren. In dieser für ihn +sehr heiklen Lage kam er mit meinem Rechtsanwalt zu +sprechen und klagte über den Verlust, der ihm dadurch +entstehe; dieser betrage schon vierzigtausend Mark. Wenn +das nicht aufhöre, müsse er sich noch ganz anders wehren +als bisher und mich durch die Veröffentlichung meiner +Vorstrafen in allen Zeitungen vor ganz Deutschland +kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese Drohung +mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu begreifen +und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu sondieren. +Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir zustande, +in einer separierten Weinstube, unter vier Augen. +Da wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er +während der Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers +über mich und meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr +den ganzen Feldzugsplan, von dem ich bisher keine +Ahnung gehabt hatte. Es war ihm weisgemacht worden, +ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, weil ich als +Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe. Das +passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen, +daß ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche +das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput. +Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor +solchen Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso +gut wie ich selbst. Was ich mit Münchmeyer über meine +Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig. Münchmeyer +sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwören habe. +Und daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man +zu sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe, +die es gebe. Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung +zu drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück. +Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still. +"Den haben wir in der Hand!" + + In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen, +und daraufhin hatte er das Geschäft gekauft. So +versicherte er mir. Daß meine Romane verändert worden +seien, das wisse er. Nur wisse er nicht genau, von wem. +Wahrscheinlich von Walter. Der habe ja weiter gar +nichts Anderes als solche Sachen zu machen und +dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar +nicht schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur +ein Wort zu ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so +ist die "Unsittlichkeit" da, ohne die es bei solchen +Romanen nun einmal nicht abgehen will. Ich könne diese +Aenderungen sehr leicht nachweisen; ich brauche nur +meine Originalmanuskripte vorzulegen. + + "Aber die sind ja verbrannt!" fiel ich ein. + + Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede. +Er behauptete, sie seien noch da. Er könne sie mir +verschaffen, aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen +nicht, wo ich sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner +einstweiligen Verfügung zugrunde richte. Er könne nur +dann mein Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten, +wenn ich diese Verfügung fallen lasse und mich mit ihm +vergleiche. + + Diese Unterredung war für mich von unendlicher +Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte +mich, ob ich trauen dürfe. Waren die Originalmanuskripte +wirklich noch da, so konnte ich allerdings alle +gegen mich gerichteten Vorwürfe, wie Fischer gesagt +hatte, mit einem Schlage verstummen machen. Aber er +konnte mich täuschen wollen oder auch selbst getäuscht +worden sein. Ich durfte nicht vorschnell entscheiden; ich +mußte beobachten und überlegen, zumal diese Wendung +meiner Angelegenheit in eine Zeit fiel, in der mich +schwere, innerliche Kämpfe derart beschäftigten, daß ich +für Anderes weder Zeit noch Raum zu finden vermochte. +Das war die Zeit meiner Ehescheidung. + + Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen +Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament +sei. Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich +diesen Schritt schon längst getan und nicht erst dann, +als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze +innere und äußere Existenz zu retten galt. Man hat +mir diesen Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr +mit Unrecht. Katholische Kritiker, die anstatt auf +sachlichem Gebiete zu bleiben, ihre Angriffe auf das +persönliche hinüberspielten, haben mir in einem Atem +vorgeworfen, daß ich Protestant sei und mich von meiner +Frau habe scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil +ich als Protestant gelte, hat kein Mensch das Recht, mir +den zweiten Vorwurf zu machen. Für jeden nur einigermaßen +anständigen Menschen ist die Ehescheidung eine +Angelegenheit von selbstverständlichster Diskretion. Die +meinige aber hat man in den Zeitungen herumgetragen, +mit den widerlichsten Randglossen versehen und zu den +ungeheuerlichsten Verdächtigungen ausgenutzt. Ich will +das Alles hier übergehen, um meine Bemerkungen, falls +ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer Stelle zu +machen. Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern +auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil sie ihr +den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte, +wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe +bereits gesagt, daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten +krank geworden sei. Er erholte sich nur scheinbar +wieder. Das Uebel repetierte, nachdem er in die Heimat +zurückgekehrt war. Ein Jahr später kam der Tod. Frau +Plöhn brach fast zusammen. Wäre ihre Mutter nicht +gewesen, so wäre sie ihrem Manne sicher nachgestorben. +Glücklicherweise bot ihr auch die Korrespondenz, die sie +für mich mit meinen Lesern führte, die seelische Erleichterung +und Unterstützung, deren sie bedurfte. Sie besaß +zwei Zinshäuser in Dresden, die sie gern gegen ein ihr +angebotenes Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu +dem Dorfe Niedersedlitz gehörte. Dorthin hatte Fischer +seine Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung +lag da. Frau Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung +dieses Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun +einmal in Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe, +dies Fischer wissen zu lassen. Er lud uns nach seiner +Privatwohnung ein, und es entspann sich da eine +Verhandlung, welche am nächsten Tage zu einem Vergleiche +führte. + + Ich will so kurz wie möglich sein. Fischer klagte +darüber, daß er sich durch den Kauf des Münchmeyerschen +Geschäftes zum "Schundverleger" degradiert habe; +er versicherte, daß er sich heraussehne, und er behauptete, +daß ich ihm dazu behilflich sein könne wie kein Anderer. +Dieses Letztere war auch ich überzeugt. Er hatte die +veränderten Romane erworben, ohne daß Frau Münchmeyer +das Recht besaß, sie ihm zu verkaufen. Wenn er +dafür sorgte, daß ich meine Originalmanuskripte +zurückerhielt, konnte er die Schundarbeiten fallen lassen und +an ihrer Statt meine Originale herausgeben; da war +ihm und zugleich auch mir geholfen; er war kein +Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich nichts +Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke +des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben, +war ich überzeugt, daß aller Streit gehoben sei. Fischer +bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß die +unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane _nicht_aus_ +_meiner_Feder_stammen,_sondern_von_dritter_ +_Hand_hineingetragen_worden_seien._ + + Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als trügerisch. +Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht +bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich +vernichtet. Es war ihm also unmöglich, sich aus einem +"Schundverleger", wie er sich in einem Briefe an mich +bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er +machte zwar den Versuch, auch ohne meine +Originalmanuskripte zu einem Originalroman zu kommen, um +den Schund dann fallenlassen zu können, aber ich mußte +ihm dabei die Hilfe, die er von mir forderte, versagen. +Er verlangte nämlich von mir, daß ich den Schund aus +dem Gedächtnisse in seine frühere, einwandfreie Fassung +zurückverändere; das aber war bei einer Fülle von +ungefähr dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding +der absolutesten Unmöglichkeit. Er bestand aber auf +seinen [sic] Schein, auf unsern [sic] Vergleich, und obgleich er das +nicht leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich +doch Alles tun, was grad seinetwegen unmöglich war. +Daraus ergab sich ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen, +welches sich über seinen Tod hinaus erstreckte und +erst von seinen Erben zum friedlichen Ende geführt worden +ist. Diese sahen klarer als er, und sie waren ruhigen, +unbefangenen Gemütes. Sie waren Fachleute, nämlich +Rechtsanwälte, Kaufleute, Buchdruckerei- und +Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu folgender +Erklärung: + +| "In einem zwischen Herrn Karl May und | +| den Erben des Herrn Adalbert Fischer anhängig | +| gewesenen Rechtsstreite haben die Fischerschen | +| Erben erklärt, daß die im Verlage der Firma | +| H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des | +| Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit | +| durch Einschiebungen und Abänderungen von | +| dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten | +| haben, daß sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr | +| als von Karl May verfaßt gelten können. Herr | +| May ist zur Veröffentlichung dieser Erklärung | +| ermächtigt worden. | + +| Dresden, im Oktober 1907. | + + Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth +verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert, +Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred +Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein, +Rechtsanwalt Dr. Elb. Leichtfertige Menschen +haben behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern +und unmündigen Personen abgegeben worden sei. Man +sieht auch hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich +kämpft. Für mich aber ist die Abteilung Fischer meines +Münchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung +Pauline Münchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr +habe ich mich in Folgendem nun zuzuwenden. + + Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm, +welches ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen, +nämlich: + +| "May ist vorbestraft. Er hat das zu | +| verheimlichen. Wir haben ihn in der Hand. Zwei | +| Zeilen genügen, so ist er still. Wenn er uns | +| verklagt, so machen wir ihn durch Veröffentlichung | +| seiner Vorstrafen in allen Zeitungen | +| durch ganz Deutschland kaput. Was May mit | +| Münchmeyer ausgemacht hat, ist gleichgültig. | +| Hauptsache ist, wer den Eid bekommt. Und daß | +| May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu | +| sorgen wissen." | + + Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim +geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den Akten +festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun neunjährigen +Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt worden. Von dem, +was Rechtsanwalt Dr. Gerlach im Namen seiner Klientin +Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise behauptet +oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen. Mich +aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen +hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig +ist. Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte +hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit +neun Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür bestrafen +lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz +grad jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von +ihm zu dulden, was sich kein Anderer jemals erlaubt. +Von den Richtern wiederholt zurechtgewiesen und von +andern Anwälten zur Rede gestellt, bleibt er dieser seiner +Spezialität doch treu. Zur Ausführung des Münchmeyerschen +Programms war es zunächst nötig, zu meiner +Strafliste zu gelangen. Zu diesem Zweck wurde eine +Beleidigungsklage fingiert, die man sofort zurücknahm, +als der Zweck erreicht war. Von da an tauchten in den +Zeitungen mehr oder weniger verblümte Notizen über +meine Vergangenheit auf. "Ich weiß noch mehr!" schrieb +der Eine; "Sie wissen wohl, was ich meine, Herr May?" +fragte der Andere. Das "Kaputmachen" begann. Aber +der Spiritus rector, der eigentliche Täter, blieb stets +schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte +stets durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit über seine +Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein +sehr umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er +steht mit allen meinen literarischen Gegnern in inniger +Beziehung, und wo in einem Blatt von mir die Rede +ist, da pflegt ein Brief von ihm oder von einem seiner +Vertrauten sich einzustellen. Und man glaubt ihm fast +überall. Man glaubt ihm, wie Cardauns seinerzeit dem +Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß ich die +Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie im Druck +erschienen sind. + + Dieser Herr Dr. Hermann Cardauns ist von dem +sehr dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der +zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze +bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders +gewollt. Er steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er +eigentlich nicht gehört. Er hat auch das gewollt. Sein +niederschmetternder Stil, seine infallible Ausdrucksweise, +seine "abgrundtiefen" oder "evidenten" Verdoppelungsworte +haben Schule gemacht, besonders bei denen, welche +mir Stricke drehen, um mich "aus der deutschen Kunst +hinauszupeitschen." Aber alles, was er in Vorträgen +und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und +zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule, +an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus +lauter vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, +dessen Schnur niemand mehr halten will, es sei denn +Herr Cardauns selbst. Es ist gewiß sehr viel blinder +Glaube dazu nötig, gleich ihm zu denken, daß meine +"Unsittlichkeiten" auch noch in anderer Weise bewiesen +werden können, als nur durch Vorlegung meiner +Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es nicht; auch +Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht bewiesen +werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen +gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen +Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber +bis jetzt habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein +einziges Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser +Herr besitzt einen älteren Münchmeyerschen Druck und +eine spätere Fischersche Ausgabe und hält den ersteren +für gleichlautend mit meinem Originale. Es ist für mich +aber wirklich unmöglich, daß einem "Haupt- oder +Chefredakteur" solche Irrungen passieren können. Ich gebe +ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in +einem berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht +und was für Schwindel da getrieben wird, aber das ist +keine Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn, +denn wenn er das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht +gestatten, Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes +zu ziehen, die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute +ziehen darf. Die ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten +Schundromane hatte Fischer nur den überlauten Trommel- +und Paukenschlägen des Herrn Cardauns zu verdanken. +Selbst der unfähigste Politikus weiß, daß man solche +Dinge durch Schweigen tötet, nicht aber durch Gongs +und Tamtams. Mir aber, der ich durch diese Tamtams, +diese Vorträge und Zeitungsartikel erschlagen werden +sollte, wurde es durch sie unmöglich gemacht, den Schund +so, wie ich wollte, gänzlich aus der Welt zu schaffen. +Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns meine +Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich um +die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben, +welches man ihm nie vergessen wird. Er ist während +der ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion +gewesen, ob gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf +die Wirkung gleich. + + Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende +Champion für die Münchmeyersache ist der aus der +christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. +Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg. Ich gebe über +ihn einen Auszug meines Schriftsatzes an die vierte +Strafkammer des Königlichen Landgerichtes III in Berlin: + + "Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde +am Gardasee von einer heimatlichen Postsendung erreicht, +bei der sich auch eine Zuschrift eines gewissen Lebius +befand, der sich in ganz überschwenglicher Weise als einen +großen Kenner und Bewunderer meiner Werke bezeichnete +und die Bitte aussprach, mich einmal besuchen zu dürfen. +Diese Ueberschwänglichkeit erregte sofort meinen Verdacht. +"Der will Geld, weiter nichts," sagte ich mir. +Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei und ihn +also nicht empfangen könne. Hierauf schrieb er mir am +7. April 1904: + + "Sehr geehrter Herr! + + Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich + Ihnen zu nähern, wovon die inliegende Karte ein + Beweis ist. Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung + herausgegeben, die großen Anklang findet. Können + Sie mir vielleicht etwas für mein Blatt schreiben? + Vielleicht etwas Biographisches, die Art, nach der Sie + arbeiten, oder über derartige Einzelheiten, für die sich + die deutsche May-Gemeinde interessiert. Ich würde + Sie auch gern interviewen. + + _Mit_vorzüglicher_Verehrung_ + Rudolf Lebius, + Verleger und Herausgeber." + + Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig +aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er +unterschrieb sich "mit vorzüglicher Verehrung." Ich sagte +mir wieder: "der will nur Geld." Die Behauptung, daß +seine neue Zeitung "großen Anklang finde", entsprach +der Wahrheit nicht. Ich sollte damit geködert werden. +Man darf den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal +wenn sie mit einer wenn auch noch so kleinen Zeitung +bewaffnet sind, sonst rächen sie sich. Ich schrieb ihm also, +daß er kommen dürfe, und er antwortete am 28. April: + + "Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben. + Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern + Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben, + komme ich am Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen + (Abfahrt 3,31). + + _Mit_großer_Hochachtung_und_Verehrung_ + Rudolf Lebius." + +Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen. +Ich duldete das nicht. Er wurde von meiner Frau, die +ihn empfing, nur unter den Bedingung zu mir gelassen, +daß absolut nichts veröffentlicht werde. Er gab erst ihr +und dann auch mir sein Wort darauf. Er blieb zum +Kaffee, und er blieb bis nach dem Abendessen. Er sprach +sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich war absichtlich +schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt nötig war. +Ich traute ihm nicht und hatte, um später einen Schutzzeugen +zu haben, zugleich mit ihm den Militärschriftsteller +und Redakteur Max Dittrich eingeladen, der an meiner +Stelle die Unterhaltung leitete. + + Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte. +Er wurde um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich +blieb. Er gab sich alle Mühe, mich und meine Frau +davon zu überzeugen, daß er "ein ganzer Kerl" sei. So +lautete sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er +sprach unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten, +seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit, seinen +reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen +als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger, +Herdenführer und Volkstribun. + + Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren, +geschah in einer Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen +Menschen, der so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt +ist, daß er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber +lachen. Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden +seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mußte von seiner +Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis! Denn +er brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er +auf mich gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum +offenbarte er uns in seiner Geldangst seine verborgensten +Geschäfts- und Lebensgrundsätze. Er glaubte infolge des +vielen Weines, uns dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch +aber um so sicherer ab. Da ich mich hier kurz zu fassen +habe, gebe ich von diesen seinen Grundsätzen nur die drei +wichtigsten wieder. Nämlich: + + 1. Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich + kein Geld. Darum dürfen wir uns auch keine eigene + Meinung gestatten. Wir wollen leben. Darum + verkaufen wir uns. _Wer_am_meisten_zahlt,_ + _der_hat_uns! + + 2. Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter + und in seinem Leben. _Auch_jeder_Arbeitgeber,_ + _jeder_Beamte,_jeder_Polizist,_jeder_ + _Richter_oder_Staatsanwalt_hat_solches_Werg_ + _an_seinem_Rocken._ Das muß man klug und + heimlich zu erfahren suchen. Keine Mühe darf dabei + verdrießen. Und ist es erforscht, so hat man + gewonnenes Spiel. Man bringt in seinem Blatte + eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, daß + man alles weiß, doch so, daß er nicht verklagen + kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann + mit ihm machen, was man will. Er gibt klein + bei. In dieser Weise habe ich meinen Lesern schon + außerordentlich viel genützt! + + 3. Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in + Schafe und Böcke, in Herren und Knechte, in + Gebietende und Gehorchende. Wer aufhören will, + Herdenmensch zu sein, _der_hat_das_ + _Herdengewissen_bei_Seite_zu_legen._ Wenn er das + tut, dann laufen alle, die dieses Gewissen noch mit + sich schleppen, hinter ihm her. Es ist ganz gleich, + zu welcher Herde er gehören will. Er kann von + einer zur anderen übertreten, kann wechseln. Das + schadet ihm nichts. Nur hat er dafür zu sorgen, + daß es mit der nötigen Wärme und Ueberzeugung + geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die + Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen + nach! + + Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten, +brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau +war still vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den +Ekel zu verwinden! Lebius bekam infolge dessen weder +Geld noch sonst etwas von mir. Da sah er ein, daß +diese beispiellose Selbstentlarvung nicht nur ganz umsonst +gewesen sei, sondern daß er sich durch sie in unsere Hände +geliefert hatte. Wir drei waren nun die gefährlichsten +Menschen, die es für ihn gab. _Er_durfte_uns_nie_ +_vor_Gericht_zu_Worte_kommen_lassen,_ sondern mußte +alles tun, _uns_als_unglaubhafte,_eidesunwürdige_ +_Personen_hinzustellen._ Ich lege großen Wert darauf, +dies ganz besonders zu betonen, denn + | es ist der einzig richtige Schlüssel zu seinem | + | ganzen späteren Verhalten, welches man | + | ohne diesen Schlüssel wohl kaum begreifen | + | könnte, weil der Haß dieses Mannes gegen | + | uns drei fast unmenschlich erscheint. | + + Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich +entfernte, beklagte ich mich absichtlich über die vielen +Zuschriften, in denen man mich, den gar nicht reichen Mann, +mit Bitten um Geld überschüttet, und tat dies in einer +Weise, die jeden gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten +mußte, mir mit ähnlichen Wünschen zu kommen. Schon +gleich am nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief: + + "Dresden-A., den 3. 5. 04. + + Sehr geehrter Herr Doktor! + + Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen + Empfang und die erwiesene Gastfreundschaft danke, + bitte ich Sie, wenn Sie die Kunstausstellung besuchen + oder sonst einmal nach Dresden kommen, bei uns zu + Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen. + + In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen + widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann + ich nicht annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig für die + Zeile, was wohl derselbe Preis sein wird, den Sie + von anderen Blättern erhalten haben. + + Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute + noch einmal überdacht. Es will mir scheinen, als ob + trotz des kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz + noch erheblich gesteigert werden könnte. Meine + Buchhändler- und Verlagserfahrungen haben mich gelehrt, + daß der Wert einer richtig geleiteten Propaganda + und direkten Reklame gar nicht überschätzt werden kann. + + Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten + Frau Gemahlin und Ihnen in _Verehrung_ und + _Dankbarkeit_ ergebenst + + Rudolf Lebius." + + Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich "Doktor" +titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches bedeutet +hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat +dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als +Waffe gegen mich dienen! + + Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre +über mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig, +das Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort +nach Radebeul geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich +dafür zu verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das +Werk in Verlag gebe. Er wurde ganz selbstverständlich +mit dieser Bitte abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max +Dittrich, daß ich niemals wieder mit ihm verkehren würde, +wenn es ihm einfalle, diesem Manne die Broschüre zu +überlassen. + + Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens +zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine +Photographie, die er mir entwendet hatte. Er durfte +nie wiederkommen. Trotzdem hat er wiederholt behauptet, +in meinem Hause vielfach verkehrt zu sein und mich sehr +genau studiert zu haben. + + Am folgenden Tage schrieb er mir: + + "Dresden-A., 12. 7. 04. + Fürstenstraße 34. + + Sehr geehrter Herr Doktor! + + _Ich_möchte_sehr_gern_die_Dittrichsche_ + _Broschüre_verlegen_und_würde_mir_auch_die_größte_ + _Mühe_geben,_sie_zu_vertreiben._ Durch den Rücktritt + von der "Sachsenstimme" -- offiziell scheide ich + erst am 1. Oktober d. J. aus -- bin ich aber etwas + kapitalschwach geworden. + + _Würden_Sie_mir_vielleicht_ein_auf_drei_ + _Jahre_laufendes,_5prozentiges_Darlehen_ gewähren? + Ich zahle Ihnen die Schuld vielleicht schon + in einem Jahre zurück. + + | Als Dank dafür würde ich die Broschüre | + | so lancieren, daß alle Welt von dem Buche | + | spricht. Ich habe ja auf diesem Gebiete | + | besonders große Erfahrung. | + + Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf + ganz solider Basis. Nun heißt es arbeiten und zeigen, + _daß_man_ein_ganzer_Kerl_ist_ usw. usw. Beste + Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin + + Ihr Ihnen ergebener + Rudolf Lebius." + + Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, daß +jemand, der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht +weitergehen könne, zumal ich Herrn Lebius _mit_der_ +_Broschüre_total_abgewiesen_hatte._ Aber am 8. August +schrieb er trotzdem wieder: + + "Die "Sachsenstimme" ist am 4. d. zu vorteilhaften + Bedingungen an mich allein übergegangen. Ich kann + jetzt schalten und walten, wie ich will. Um mich von + dem Drucker etwas unabhängig zu machen, _würde_ + _ich_gern_einige_tausend_Mark_(3--6)_auf_ein_ + _halbes_Jahr_als_Darlehen_aufnehmen._ Ein + Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jüdischen + Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison + bewiesen hat, in weitgehendem Maße unterstützten. Das + Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. _Würden_ + _Sie_mir_das_Darlehen_gewähren?__Zu_Gegenleistungen_ + _bin_ich_gern_bereit._ Die große Zahl + von akademischen Mitarbeitern erhebt mein Blatt über + die Mehrzahl der sächsischen Zeitungen. Wir können + außerdem die Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300 + oder mehr deutsche und österreichische Zeitungen versenden + und den betreffenden Artikel blau anstreichen. So etwas + wirkt unfehlbar. In Dresden lasse ich mein Blatt + allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit vorzüglicher + Hochachtung Rudolf Lebius." + + Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts +besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, daß +er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß er +überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar Honorar +schuldig bleibe. Daß seine Zeitung eine solide Basis habe, +war unwahr, ebenso die "große Zahl der akademischen +Mitarbeiter" und Anderes. Dergleichen absichtliche +Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt. +Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam: +"Sehr geehrter Herr . . . . Mit vorzüglicher +Verehrung!" "Mit großer Hochachtung und Verehrung!" +"Sehr geehrter Herr Doktor . . . . In Verehrung +und Dankbarkeit." Als er sah, daß diese Höflichkeiten +nicht zogen, schrieb er nicht mehr an mich, sondern +an Dittrich. So am 15. August 1904: + + "Werter Herr Dittrich! + + Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent. + _Mehr_als_10_000_Mk._brauche_ich_nicht._ Ich + würde aber auch mit weniger vorlieb nehmen. Das + Honorar sende ich am 20. d. wie verabredet. + + Können Sie nicht Dr. May _b_e_a_r_b_e_i_t_e_n,_ daß + er mir Geld vorschießt? + + Freundlichen Gruß R. Lebius." + + Dann am 27. August: + + "Werter Herr Dittrich! + + Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn + Dr. Klenke, einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei + dieser Gelegenheit gibt sie Ihnen Ihr Honorar. Sie + haben meine schriftliche Zusage, daß ich Ihnen 1 Prozent + von dem Gelde gebe, welches Sie mir von H. V. + oder Dr. M. (May) vermitteln. Sie erhalten das + Geld sofort . . . . + + Freundlichen Gruß Lebius." + + Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar +von 37 Mark 45 Pfennigen schuldig, welches er trotz +der Kleinheit dieses Betrages nicht bezahlen konnte. Es +wurde ihm daraufhin ein Spiegel gerichtlich abgepfändet. +Als er von Dittrich, anstatt der 10 000 Mark von mir, +eine Mahnung um diese 37 Mark 45 Pfennig bekam, +schrieb er ihm am 3. September: + + "Geehrter Herr Dittrich! + + Ich habe Herrn Dr. med. Klenke ersucht, Ihnen + 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten + mir gegenüber finde ich höchst sonderbar, um + nicht zu sagen beleidigend. + + Achtungsvoll + R. Lebius." + + Diesem Dr. Klenke fiel es aber auch nicht ein, die +Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in +logischer Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer +Postkarte folgende Drohung bei mir an: + + "Werter Herr! + + Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der "Sachsenstimme", + erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel + gegen Sie schreibt. Ich habe es im Lokal gerade + gehört. Es warnt Sie ein Freund vor dem Manne. + + B." + + Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte +war ich mir natürlich sofort im Klaren. Auch das +Gutachten der _vereideten_Sachverständigen_ lautet dahin, +_daß_sie_unbedingt_von_Lebius_selbst_geschrieben_ +_ist._ Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf +diese Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde. +Gab ich sie nicht, so waren mir nicht nur der jetzt +angedrohte, sondern noch weitere Racheartikel sicher und +auch noch anderes dazu, was mich in Besorgnis setzen +mußte. Aber ich ließ auch jetzt nichts von mir hören +und sah mit gutem Gewissen dem unvermeidlichen Artikel +entgegen, der am 11. September 1904 in Nummer 33 +des Lebiusschen Blattes, der "Sachsenstimme" erschien +und die dreifache Ueberschrift hatte: + +| "Mehr Licht über Karl May | +| 160 000 Mark Schriftstellereinkommen | +| Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller." | + + Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort +gegeben, nichts zu veröffentlichen. Er war sogar nur +unter diesem Versprechen bei uns hereingelassen worden, +und nun veröffentlichte er doch, und zwar in welcher +Weise und aus welchen Gründen! Er stellte alles auf +den Kopf; er drehte alles um! Er legte uns alles, was +ihm beliebte, in den Mund, und was wir wirklich gesagt +hatten, das verschwieg er, um sich nicht zu blamieren. +Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische Unsauberkeiten, +Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das war +nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach. +Dieser Artikel in Nr. 33 der "Sachsenstimme" war so +gehalten, daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich +das Geld nun endlich noch gab. Und schon in Nr. 34 +kam ein sehr deutlicher Wink, der mir sagte, was +geschehen werde, falls ich mich nicht zum Zahlen bewegen +lasse. Dieser Wink bestand in einer Münchmeyerschen +Annonce, die ganze Bände zu mir sprach. Der Besitzer +der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir gesagt: +"Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen +noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem "Verlorenen +Sohn" fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren! +Der wird so happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist, +als Schriftsteller weiter zu existieren!" Und dieser +"Verlorene Sohn" wurde jetzt in Nr. 34 der "Sachsenstimme" +annonciert. Das war genau so, als ob mir mit +Riesenbuchstaben geschrieben worden wäre: "Nun aber endlich +Geld her, sonst geht es in diesem Tone weiter!" Der +gefährlichste Erpresser ist der, welcher es in dieser +raffinierten Weise anfängt, die noch deutlicher ist, als das +gesprochene Wort, aber von keinem Staatsanwalt verfolgt +werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts. Da +kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein +drittes und in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde +mir die Verbindung des Herrn Lebius mit der Firma +Münchmeyer schon deutlicher gezeigt, denn es wurde da +gesagt, der Inhaber dieser Firma habe einen ganzen +Haufen alter Briefe von mir in der Hand und könne +also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn er +nur wolle. In Wahrheit aber besaß er nicht einen +einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau, +daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen Programms, +mich durch meine Vorstrafen "in den Zeitungen +vor ganz Deutschland kaput zu machen", übernommen +hatte. Ich war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000 +Mark ihn sofort zum Schweigen bringen würde, hätte +mich aber vor mir selbst geschämt, ihm auch nur einen +einzigen Pfennig zu geben. + + Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die +Nr. 48 brachte die ohne alle Veranlassung frei aus der +Luft niederfallende Verkündigung: "Die vier Jahre, die +Herr Karl May in Waldheim verbüßte, waren nach +unserer Information die Folge eines Einbruchdiebstahls +in einem Uhrenladen." Ich habe aber niemals einen +Einbruch verübt. Man sieht, daß es nicht auf die Wahrheit +ankam, sondern nur auf das "Kaputmachen". Diese +Nr. 48 erschien am Weihnachtsheiligenabend. Da hingen +an den Fenstern der Dresdener Buchhandlungen Plakate +aus, auf denen die "Sachsenstimme" mit den großen +roten Buchstaben _"Die_Vorstrafen_Karl_Mays"_ +angekündigt wurde. Einen schreienderen Beweis, daß es +sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um die +Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es +wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des +grausamen Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten +des Herrn Lebius einzeln aufzuzählen. Ich will nur in +Summa sagen, daß er in dieser Weise fortfuhr, bis er +nach einiger Zeit aus Dresden verschwinden mußte. Ich +habe die Unwahrheiten, die er in seinen Dresdener +Artikeln über mich verbreitete, zusammengestellt, um sie +gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer trotz der Kürze der +Zeit nicht weniger als hundertzweiundvierzig. Mehr hat +bisher wohl noch kein Mensch geleistet! Ich betone aber +ausdrücklich, daß diese Aufstellung nicht etwa alles, sondern +nur eine Auswahl enthält. Ich könnte diese Ziffer trotz +ihrer Höhe gut verdoppeln. Ich habe lange dazu +geschwiegen, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Da +mußte ich mich endlich wehren. Ich erstattete bei der +Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Erpressung. Ich legte +seine Briefe bei. Auch die drohende Karte vom 7. September +1904. Die Sachverständigen erklärten, daß Lebius +sie unbedingt geschrieben habe. Die erwähnte Behörde +aber war der Ansicht, daß dies nicht zureiche, eine +Untersuchung zu eröffnen. Und Lebius gab sich bei seinen +Auskünften die größte Mühe, mich als einen Menschen +hinzustellen, dem man nicht glauben dürfe. Das Meisterstück +hat er dabei abgelegt, indem er der Königlichen +Staatsanwaltschaft in Dresden berichtete, daß der Wirt +des Hotels auf dem Berge Sinai in Dresden gewesen +sei und sich sehr schlecht über mich ausgesprochen habe. +Nun weiß aber Jedermann, daß es auf dem Berg Sinai +bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben hat! Ich +zeige damit wohl zur Genüge, was man von der +Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann. +Ich erhob zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog +ich während der Verhandlung aus reinem Ekel vor dem +Schmutz, in dem ich da waten sollte, zurück. Die andere +brachte ihm in der ersten Instanz eine Geldstrafe von +30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er +freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und +einen Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne +orientiert zu sein. + + Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen +wie unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe. +Gewiß wenig genug! Daß ich Berichterstattern Auskunft +gab, wenn sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz +von selbst. Es kann mir niemand zumuten, diesen Herren +aus Angst vor Herrn Lebius die Unwahrheit zu sagen. +Dennoch behauptet er noch heute, daß nicht ich von ihm, +sondern er von mir verfolgt und angegriffen werde. + + Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer +ganz bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten +seine Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwähne da +nur den Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch +den er ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg. +Ich schwieg selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen +"Wahrheit" in Berlin einen geradezu empörenden +Angriff gegen mich brachte, in dem er mich als "atavistischen +Verbrecher" brandmarkte, der wegen "fortgesetzter +Einbruchdiebstähle" fast ein Jahrzehnt im Gefängnis +und Zuchthaus gesessen habe! Er behauptete da, daß +ich eine schwere, chronische Krankheit durchgemacht habe, +die "offenbar kulturhemmend" gewirkt habe. Hiermit +hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk +in Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich +gezwungen, ihn dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem +großen Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten +hatte, die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem +Zwecke mit meiner Frau nach Berlin. Wir entdeckten +seine Wohnung. Wir hörten, daß er ein neues Blatt +herausgab, der "Bund" genannt. Wir telefonierten +ihm. Er bestellte uns nach Café Bauer. Wir folgten +dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau und +deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht. +Er leugnete alles. Ich sagte ihm, daß ich sein neues +Blatt sehen möchte. Das war ganz ehrlich und gut +gemeint, ohne alle böse Absicht. Er aber begehrte sofort +zornig auf und fragte drohend: "Haben Sie etwas vor? +Dann gehe ich auf der Stelle von neuem gegen Sie los! +Hier in Berlin gibt es über zwanzig Blätter wie die +"Dresdener Rundschau". Die stehen mir alle zu Gebote, +wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das gar +nicht lang!" + + Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder +in den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu +seiner Frau in ruhiger, freundlicher Weise, daß es die +schönste Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu +wirken und die Härten des Lebens zu mildern; dann +entfernten wir uns. + + Das war am 2. oder 3. September. _Einen_Monat_ +_später,_ am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin; +ich war verreist: + + Geehrter Herr! + + Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei + Ihnen einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen + über einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden, + machen könnten. Genannter Herr, ehemaliger + Sozialdemokrat, hat gegen mich als den seinerzeit + verantwortlich zeichnenden Redakteur des "Vorwärts" + die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es wird vor + Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als + "Ehrenmann" zu kennzeichnen. Auf den Rat eines + Dresdener Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an + Sie, ob Sie mir über diesen Herrn vielleicht einige + Auskunft geben könnten. Sollte dies der Fall sein, + so sehe ich Ihrer Freundlichkeit sehr verbunden + entgegen. + + Mit größter Hochachtung + Carl Wermuth, + Redakteur des "Vorwärts". + + Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf +dessen Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht +eingehen konnte. Am 5. April 1908, also +| ein volles halbes Jahr später, | +erhielt ich von der Redaktion des "Vorwärts" eine weitere +Zuschrift: + + _"Zu_unserem_Bedauern_haben_Sie_es_bisher_ + _unterlassen,_sich_ über die gegen Sie gerichteten + Angriffe des Lebius _zu_äußern_ resp. _uns_die_ + _notwendigen_Beweismittel_ der ehrenabschneiderischen + Tätigkeit des Lebius in Bezug auf Ihre Person _zur_ + _Verfügung_zu_stellen._ Wie ich von meinem Kollegen + Wermuth erfuhr, hat Ihre Frau mitgeteilt, daß + Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden und _nicht_in_ + _der_Lage_seien,_uns_mit_dem_gewünschten_ + _Material_gegen_Lebius_zu_versehen._ Ich hoffe, + daß Sie inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind + und nunmehr . . . ." + + Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen, _daß_ +_nicht_ich_Herrn_Lebius_verfolge,_sondern_er_mich._ +Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am Sedanstage, +an ihn gemacht habe, um dem "Vorwärts" beizustehen. +Hier beweise ich, daß ich damals von jener +Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern +daß der "Vorwärts" es mir erst einen Monat später +mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten +_noch_gar_keine_Antwort_bekommen_hat!_ Ich hatte +also Herrn Lebius volle sechs Monate geschont, wo es +mir doch durch die Sozialdemokratie so bequem und leicht +gemacht worden war, mich an ihm zu rächen. _Daß_ich_ +_ihn_nicht_verfolge,_sondern_von_ihm_fort_und_ +_fort_zur_Notwehr_gezwungen_werde,_ ist übrigens +auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis heut +umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit +dieser Zeugenschaft für den "Vorwärts"-Redakteur hatte +es damals folgende Bewandtnis: + + Lebius hatte den "Vorwärts" wegen Beleidigung +verklagt, und der "Vorwärts" hatte mich, natürlich ohne +erst viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das +Gewissen des Lebius sagte ihm, daß er von diesem Zeugen +wohl nicht viel freundliches zu erwarten habe. Ja, es +kam ihm sogar der Gedanke, daß ich von dieser Zeugenschaft +schon im Café Bauer gewußt habe. Das erzürnte +ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach +Radebeul, um mir zu drohen. Meine Frau wünschte diese +Zusammenkunft in meinem Hause; aber darauf ging Frau +Lebius nicht ein. Die beiden Frauen trafen sich im +Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau Lebius +uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und +wie ich als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte +ich vor Gericht erklären, daß er jene drohende Postkarte +vom 7. September in Dresden nicht geschrieben habe. +Tue ich das nicht, so müsse er den alten Kampf gegen +mich von Neuem beginnen. Meine Frau lehnte das ganz +entschieden ab, denn wir waren jetzt mehr als je überzeugt, +daß er der Verfasser sei. Seine Frau kehrte also +unverrichteter Sache nach Berlin zurück. + + Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß +er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine +Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge +aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte. Da aber +diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen +war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des +Verfassers nach sich zog, die Lebius von sich abwenden +wollte, so sah er sich nach einem Strohmanne um, der +ihn und Karl May noch nicht kannte und unerfahren, +vertrauensselig und bedürftig genug war, sich für einige +Hundert Mark _völlig_ungeahnt_ in die ganz sicher zu +erwartende _Gefängnisstrafe_stürzen_zu lassen._ Er +fand ihn in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus +Basel, zog ihn in sein Netz und umspann ihn derart mit +Selbstvergötterungs- und Lügenfäden, daß der junge, +völlig ehrliche Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in +den Dienst eines so bedeutenden, geistig, sozial und auch +juristisch hervorragenden Mannes stellen zu dürfen. + + Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei +außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er +verschwieg anfänglich, daß es sich _nur_ um eine Broschüre +gegen _mich_ handle. Er machte dem jungen Manne +weis, daß er ein w i s s e n s ch a f t l i c h e s Werk über +berühmte resp. berüchtigte Männer schreiben solle. Er +nannte ihm die Namen derselben; darunter befand sich +auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk +machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten +diese so, daß nach und nach alle diese "Berühmten und +Berüchtigten" verschwanden und nur Karl May allein +übrig blieb. Aus dem "wissenschaftlichen" Werke aber +sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten +Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag +immer deutlicher. Er begann zu ahnen, daß er mit aller +Liebenswürdigkeit in das Verderben geführt werden solle. +Als er das Herrn Lebius zu verstehen gab, hielt dieser +es für geraten, ihm den ganzen Zweck der Broschüre +einzugestehen. Er gab folgendes zu: + +| Lebius hat den Redakteur des "Vorwärts" | +| wegen Beleidigung verklagt. | + +| Der "Vorwärts" hat Karl May als Zeugen | +| gegen Lebius angegeben. | + +| Darum ist es für Lebius notwendig, Karl | +| May kaput zu machen. | + +| Um das zu erreichen, gibt er die hier in | +| Arbeit liegende Broschüre heraus. | + +| Der Termin, in dem Karl May als Zeuge | +| verhört wird, findet anfangs April statt. | + +| Darum muß die Broschüre ganz unbedingt | +| bis zum 1. April fertig zum Versenden sein. | + +| Wenn die Broschüre erst später fertig wird, | +| hat sie keinen Zweck; dann braucht man sie | +| überhaupt gar nicht erst zu schreiben. | + +| Sie wird an die Zeitungen versandt, die | +| darüber berichten. Das soll auf die Richter | +| wirken. | + +| Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. | +| Sobald dies geschieht, ist May als Zeuge kaput. | + + Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden +seine Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren. +Als er diese äußerste und seiner Besorgnis, gerichtlich +bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm +folgendes vor: + +| Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets | +| mit einem Fuße im Gefängnisse. | + +| Bestraft zu sein ist für uns eine gute | +| Reklame. Auch ich bin schon oft vorbestraft. | + +| Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht | +| zu fürchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie | +| dürfen schwören. May aber darf nicht schwören. | + +| May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm | +| verboten, in einer Stadt zu wohnen. Darum | +| wohnt er in Radebeul. | + +| I ch b i n e i n g r o ß e s, f o r e n s i s ch e s | +| T a l e n t. W e n n i ch a n f a n g e z u s p r e ch e n, | +| s i n d d i e R i ch t e r a l l e m e i n! | + +| W e n n m a n i n e i n e m P r o z e s s e st e ck t | +| u n d m a n s ch r e i b t e i n e s o l ch e B r o s ch ü r e, | +| d a s w i r k t u n g e h e u e r b e i d e n R i ch t e r n! | + +| Die Frau May hat mich mit Tränen in den | +| Augen um Gnade für ihren Mann gebeten. | + +| May muß durch die Broschüre totgemacht | +| werden. Alles übrige ist Beiwerk, u m d e n | +| w a h r e n Z w e ck z u v e r s ch l e i e r n! | + + Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren +Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von dieser +Sache zurückzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm +zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese Broschüre +zu mißbrauchen. Er richtete ganz dasselbe Verbot +auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher +aus diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber +er kannte Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht. +Die Broschüre erschien, und zwar genau am ersten April. +Ihr Titel war: + +| K a r l M a y, | +| ein Verderber der deutschen Jugend | + von +| F. W. Kahl-Basel. | + + Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß +die Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter +seinem Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte. +Der von Lebius gefürchtete Termin, an dem ich als +Zeuge vernommen werden sollte, hat nicht stattgefunden. +Ob er den Herren Richtern die Broschüre dennoch vorgelegt +hat oder nicht, ist mir unbekannt. Aber an die +Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, und zwar mit +Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren verleumderischer +Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur +folgende Zeilen liest, die er an die "Neue Züricher +Zeitung" schickte: + + "Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß +er durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung +untergrub und mich in den Bankrott trieb. Sobald ich +in einer andern Stadt festen Fuß gefaßt hatte, erschien +er wieder auf der Bildfläche, um dasselbe Manöver zu +wiederholen. Dabei liebt er es, bevor er zu einem neuen +Schlage gegen mich ausholt, mich jeweils in meiner +Wohnung aufzusuchen und mit tränenden Augen um Frieden +zu bitten." + + Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier +nicht zu sprechen. Ganz selbstverständlich waren meine +Vorstrafen aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu. +Das schickte er in alle Welt hinaus, um mich nach +Münchmeyerschem Rezept "kaput" zu machen. Ich erlangte +eine einstweilige Verfügung gegen sie. Sie durfte +nicht weitergedruckt und weiterverarbeitet werden. Und +ich erhob Privatanklage wegen Beleidigung gegen ihn. +Diese Privatklage konnte nicht zur Verhandlung kommen, +weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, und deren +waren weit über hundert, verloren hatte. Sie fanden +sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder. Ich +war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche +der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle +seine Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück, +drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben, +und versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das +tat er durch seine Unterschrift. Es war mir unmöglich, +einem solchen, vor Gericht gegebenen Versprechen nicht +zu glauben. Und doch war es eine Untreue und +Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er mir dieses +Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders geben, +als _in_der_Absicht,_es_nicht_zu_halten._ Er hatte +sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung +gesetzt. Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen, +eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen Mann; +die trachtete er, für sich auszunutzen. Er suchte sie in +Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und +zufrieden von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr +gab, obgleich ich ihr nichts zu geben brauchte, weil sie +die Alleinschuldige war. Auch hatte ich sie in jeder Weise +reichlich ausgestattet. Da kam dieser Mann zu ihr und +entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, um daraus mit +Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und Verdrehungen +einen Strick für mich zu fertigen. Er versprach ihr +ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts, +gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und +schrieb für seinen "Bund" vom 28. März 1909 einen +Aufsatz unter der Ueberschrift "Ein spiritistisches +Schreibmedium als Hauptzeuge der "Vorwärts"-Redaktion." Mit +diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau +gemeint. + + Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da +über mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und +zwar mit raffinierter Benutzung und Bearbeitung der +Bitterstoffe, die im Gemüte geschiedener Frauen vorhanden +sind. Als das arme, unglückliche Weib das las, erschrak +sie. Er schwieg also nicht! Er hatte nicht Wort +gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach Berlin, um ihn zur +Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort. Er übergab +sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem früher +gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm +ihr Beistand wurde. Beide veranlaßten sie zunächst, auf +ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie +sodann, ihre Pretiosen zu versetzen, damit es "nach außen +einen besseren Eindruck mache". Das heißt doch wohl, +damit man denken möge, daß ich es sei, der diese Frau +in solche Armut und solches Elend gestürzt habe! Das +hat Lebius in seinem Briefe an die Kammersängerin vom +Scheidt, welcher den Gegenstand der vorliegenden Privatklage +bildet, wörtlich eingestanden, und der Vorsitzende +der ersten Instanz hat ihn gelobt, indem er öffentlich +sagte: "Das ist sehr edel von Ihnen!" + + Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles +Einkommen war und vor dem Nichts stand, eine Rente für +das ganze Leben von monatlich 100 Mark versprochen, +er, der wegen zwei oder drei Mark vergeblich ausgepfändet +worden ist! Sie hat es ihm zunächst geglaubt; +er aber hat sehr wohl gewußt, daß dieses Versprechen +nicht rechtsverbindlich war. Nichts als Spiegelfechterei! +Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben zu +können. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur +200 Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur +geliehen, denn als er merkte, daß sie von ihm weg und +wieder zu mir strebte, drohte er ihr, sie wegen dieser +200 Mark um 300 Mark zu verklagen. + + Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes +Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen, +wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge +sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und versetzte? +Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das Rachewerkzeug des +Herrn Lebius wurde, daß er sie abrichtete, so über mich zu +denken, zu sprechen und zu schreiben, wie es ihm beliebte, +und daß sie ihm und seinem Schwager Medem in jeder +Beziehung gänzlich in die Hand gegeben war. Denn als ich +infolge des obigen Artikels im "Bund" gezwungen war, +meine geschiedene Frau zu verklagen, machten Lebius und +Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß Lebius für seine +Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon hatte und +sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren Zweck +und Tragweite sie keine Ahnung besaß! Es kam vor, +daß sie unter Tränen sich sträubte, einen derartigen +Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber doch! +Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich auf diesem +Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn sie +nicht vollständig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete +sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte +das arme, verführte Weib. Ich nahm den Strafantrag +und den Beleidigungsprozeß gegen sie zurück. Und nun +erfuhr ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius +aus ihrer sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt +worden war, um wirtschaftlich vernichtet und +moralisch ausgebeutet resp. gegen mich ausgespielt zu +werden. Er sagt in seinem Briefe, welcher den +Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens bildet: + +| "Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe | +| ich allerdings im Hinblick auf meine gerichtliche | +| Einigung mit May verlangt, daß Frau Emma | +| erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, | +| weil das nach außen hin einen bessern Eindruck | +| macht." | + + Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe, +weil er mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat +und weil er gerichtlich versprochen hat, mich nun für +immer in Ruhe zu lassen, also darum, _"im_Hinblick_ +_darauf"_ mußte die Frau nun ihre Kleinodien versetzen, +damit man _mich_ als den Schurken bezeichne, +durch den sie in solches Elend getrieben worden sei! Wie +nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in +dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und +um ihre Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem +seinem Briefe: "Ich habe auch durch meinen Syndikus +Herrn Geheimrat Ueberhorst Schritte vorbereiten lassen, +_um_wieder_zu_meinem_Gelde_zu_kommen!"_ Gibt +es hier überhaupt einen Ausdruck, durch den man +imstande wäre, die Lebiussche Denk- und Handlungsweise +erschöpfend zu charakterisieren? + + Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung vollständig +ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder +einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um +seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz +besondere taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene +Frauen gegen ihre Männer auszuspielen. Das eklatanteste +Beispiel hiervon ist der Fall "Max Dittrich". +Indem ich ihn hier kurz erwähne, bitte ich um _ganz_ +_besondere_Aufmerksamkeit,_ weil er für die +Beurteilung des Herrn Lebius _von_allergrößter_ +_Wichtigkeit_ist._ + + Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch +bei mir machte, den Redakteur und Militärschriftsteller +Max Dittrich als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen +und Vorsicht, um gegen etwaige spätere Lügen und +Schwindeleien des Herrn Lebius durch einen vollgültigen +Zeugen geschützt zu sein. Herr Dittrich war damals +vom Anfang bis zum Ende anwesend und hatte jedes +von mir gesprochene Wort gehört. Einen solchen Zeugen +zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer +peinlicher, immer gefährlicher. Er beschloß darum, _ihn_ +_eidesunwürdig_zu_machen,_ also ganz dasselbe, was +er auch bei mir getan hat _und_noch_heute_tut._ Es +ist das, wie sich später zeigen wird, _ein_persönlicher_ +_Trick_ von ihm, den er _für_unfehlbar_ hält -- -- -- +eidesunwürdig machen! + + Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während +seines Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder +Polizist und Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken, +hat eine Schuld auf sich, die er verheimlichen muß. +Man muß das _entdecken_ und _in_die_Zeitung_bringen;_ +dann wird man Herrscher und als _"tüchtiger_Kerl"_ +bekannt. So tat Herr Lebius auch hier. Die erste Frau +Max Dittrichs war gestorben; von der zweiten Frau +hatte er sich scheiden lassen; jetzt war er infolge eines +Schiffbruchs, bei dem er nur gefährlich verletzt dem +Tode entging, schwer nervenkrank geworden. Das gab +ein hochinteressantes Material, aus dem sich jedenfalls +etwas machen ließ! Herr Lebius ging also aus, um +nach dem "Werg am Rocken", nach der "heimlichen" +Schuld und Sünde zu suchen. Er forschte überall, +schriftlich, mündlich, persönlich. Er stellte sich überall ein, +wo er glaubte, etwas erfahren zu können. Er scheute +sich nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er +schlich sich zu Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs +Neffen und Nichte, sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die +wieder verheiratet war und in glücklicher, stiller Ehe +lebte. Er forschte sie aus, ohne daß sie ahnten, warum +und wozu. Sie antworteten vertrauensvoll und +unbefangen. Aber als er plötzlich zu ihrem Entsetzen die +Worte "Gericht" und "Eid" fallen ließ, da fühlten sie +die Krallen, in die sie geraten waren. Sie hatten nichts +Böses sagen können und baten, sie aus dem Spiele zu lassen. +Er versprach es ihnen. Besonders entsetzt über die Aussicht, +in diesen Lebiusschen Schmutz verwickelt zu werden, +war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger Mann war ein +lieber, guter, aber in Beziehung auf die "Ehre" sehr +streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in +_solcher_ Angelegenheit an Lebius' Seite, das wäre +unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie +gewesen! Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu +verwickeln, und er scheute sich nicht, es ihr hoch und +heilig zu versprechen. Dann aber ging er schleunigst hin +und brachte in Nummer 12 seiner "Sachsenstimme" +einen Bericht, dem ich nur einige Punkte entnehme, die +nicht einmal die schlimmsten sind, nämlich: + + "Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine +Kinder, wohl aber zwei von seiner Stieftochter, bevor +diese das 16. Lebensjahr erreichte." + + "Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen +ihres Mannes zu Tode." + + "Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb +Dittrich es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung +unvermeidlich wurde." + + "Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden +Nichte seiner Frau unterhielt er ein mehrjähriges +Verhältnis." + + "Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen +Mädchen an." + + "Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau +beobachten." + + "Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich +mit seiner Braut zusammen und hatte auch seine +Tochter bei sich." + + "Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen +Nervenleidens Halbinvalide" usw. + + Man kann sich den Schreck der Verwandten denken, +als sie das lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert +wurden, weil Max Dittrich ganz selbstverständlich +Herrn Lebius verklagte! Die Nichte mußte im Hause +vernommen werden; sie lag krank. Die geschiedene Frau +Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter und +sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein +absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe sei; +sie werde das wohl kaum überleben. Dieser vortreffliche +Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu +auch ein menschliches Herz in der Brust und erledigte +die Vernehmung in entsprechender humaner Weise. + + Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen +Punkte alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl +für jeden nur einigermaßen gebildeten und nicht verrohten +Menschen die Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher +Dinge _gesetzlich_ resp. _preßmoralisch_statthaft_ sei. +Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius, diese +Frage mit einem "Nein!" beantworten wird. Das +würde zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls +genügen, ist aber noch lange nicht alles, denn wenn man +Gelegenheit findet, die Akten Dittrich contra Lebius +aufzuschlagen, so sieht man am Schlusse derselben Herrn +Lebius in noch ganz anderer Weise beleuchtet. Er +gesteht da nämlich ein, daß seine Verleumdungen gegen +Max Dittrich +| nicht wahr gewesen seien, | +und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu +tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, +um diesen Herrn nun zu kennen. + + Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den +anderen ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines +Rowdyblattes heraus die Menschen niederknallt, so oft +es ihm beliebt, das wird von der Strafgesetzgebung der +Zukunft wohl ganz anders betrachtet und ganz anders +behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt es, +Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und menschheitsethische +Instanzen, welche den Totschlag einer Menschen_seele_ +für wenigstens ebenso strafbar halten wie die +Ermordung eines Menschen_körpers._ + + Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten +Anklagen in seiner "Sachsenstimme" gegen +Max Dittrich geschleudert, und am 18. November darauf +erklärte er in der zweiten Strafkammer des Königlichen +Landgerichtes Dresden zu Protokoll: + +| "Ich erkläre, daß ich die gegen den | +| Privatkläger in der "Sachsenstimme" vom 27. März | +| 1905 erhobenen, beleidigenden Behauptungen | +| ! ! ! als unwahr ! ! ! | +| hiermit zurücknehme und mein Bedauern über | +| die gemachten Aeußerungen in der "Sachsenstimme" | +| ausdrücke und den Privatkläger deshalb | +| ! ! ! um Verzeihung bitte ! ! ! | + + Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin +Streit und Prozesse mit dem "Vorwärts" begann, gab +dieser den Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen +ihn an. Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten +Trick, Zeugen durch die Presse unschädlich zu machen. +Er veröffentlichte genau dasselbe wieder, was er damals +über Dittrich veröffentlicht und dann vor dem Dresdener +Landgericht +| ! ! ! als unwahr ! ! ! | +mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte. +Dittrich war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu +verklagen und auf jene Zurücknahme und Bitte um +Verzeihung hinzuweisen. Was tat Lebius? Er erklärte in +seinem an das Königliche Amtsgericht Charlottenburg +gerichteten Schriftsatz vom 24. Dezember 1909, daß er +damals jene Abbitte und jenes Eingeständnis der +Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich +| "aus Gründen wirtschaftlicher Natur" | +abgelegt habe. Seine Verhältnisse seien damals so +bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen +nach Dresden habe reisen können. Er selbst also ist es, +der das folgende moralische Porträt von sich liefert: + +| Lebius verleumdet den Militärschriftsteller | +| Dittrich 1905 in seinem Dresdener Blatte. | + +| Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener | +| Landgericht, daß diese Verleumdungen erlogen | +| seien, und bittet um Verzeihung. | + +| Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte | +| jene von ihm als Lügen bezeichneten | +| Verleumdungen als Wahrheiten wieder. | + +| Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an | +| das Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals | +| das Landgericht Dresden angelogen habe. | + + Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht! +Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch +Ehr- und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als +Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als Lüge +bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf +diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage; +| ! ! ! er hatte kein Geld ! ! ! | + + Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für +ihn vollständig genügender Grund, _Richter_und_ +_Gerichtsämter_zu_belügen_und_sich_als_einen_ +_Charakter_hinzustellen,_dem_kein_vorsichtiger_ +_Mensch_mehr_etwas_glauben_kann!_ + + Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise +von Lebius zu erzählen. Für meine heutigen Zwecke aber +genügt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir +die Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete, +notiert, nicht alle, sondern nur die augenfälligsten. Es +sind jetzt _über_fünfhundert,_ die ich ihm gerichtlich +beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei +Wochen vier Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich +an diesen Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt +man Hinrichtung! Und dabei legt er, wie bereits +erwähnt, den größten Nachdruck immer darauf, daß ich +ihn verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und +fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe +ich nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal +beim Gericht Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen +seinen ferneren Angriffen geschwiegen, bis er mich durch +die angebliche Kahl-Broschüre zwang, mich zu verteidigen, +weil ich _"vor_den_Richtern_kaput_gemacht"_werden_ +_sollte._ Und selbst da habe ich ihm verziehen, habe mich +mit ihm verglichen, habe gegen sein Versprechen, mich +fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag zurückgezogen, +obgleich der betreffende Richter sagte, daß Lebius +_eine_schwere Strafe_ erleiden werde, falls es zur +Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 B. 254 08/34, +gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen, daß +Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich künftig +in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich +verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer +Schmucksachen beraubte _und_sie_fast_an_den_Bettelstab_ +_brachte._ Sie wurde von ihm zu gerichtlichen +Schritten gegen mich verleitet, die man fast wahnsinnig +nennen muß. Und dabei hatte er den Mut, in der ersten +Instanz des vorliegenden Beleidigungsprozesses zu +behaupten, + | "daß er ihre Interessen vertreten habe und | + | also den Schutz des § 193 beanspruchen dürfe!" | + + Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen +worden als diese! Lebius hat durch die Verführung der +Frau Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen +verfolgt, _die_Interessen_dieser_armen_Frau_ +_aber_geradezu_mit_Füßen_getreten._ Es ist unerhört, +daß er dafür auch noch den Schutz des § 193 +verlangt! + + Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet +worden, daß er ein Mensch sei, "der über Leichen +geht." Meine geschiedene Frau hat anstatt "Mensch" +sogar ein anderes, äußerst schlimmes Wort gebraucht, +ohne daß er es gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu +belangen. Ob dieser Vorwurf wahr ist oder ob er zu +viel sagt, das könnte ich mit vielen Beispielen belegen; +ich will aber nur das eine bringen: Nach der in den +Blätterberichten völlig korrumpierten Charlottenburger +Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte der +"Boston American" in Boston, Massachusetts, folgende +ihm aus Berlin zugegangene Depeschennotiz: + + "Autor frommer Bücher, ein Bandit. Berlin -- +-- -- Herr Charles May, der Millionär, Philanthrop, +Autor frommer Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit +Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der +Verüber vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend +des südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine +Räuberbande anführte, gebrandmarkt. _May_brach_zusammen_ +_und_wurde_unter_den_Schutz_seiner_Freunde_gestellt,_ +_um_zu_verhindern,_daß_er_Selbstmord_begehe_ +usw." Sich solche monströse Unwahrheiten aussinnen, +um mich "kaput zu machen", das ist doch wohl +über Leichen gegangen. Oder nicht? Doch hiermit genug +über diesen Herrn Lebius. Alles Andere gehört vor das +Gericht, nicht aber hierher. Um meine Leser klar sehen +zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, daß der Münchmeyersche +Rechtsanwalt Dr. Gerlach auch sein Rechtsanwalt +ist und daß Beide einander gegenseitig die weitgehendste +Hilfe und Unterstützung leisten. Ich habe noch +zwei äußerst interessante Münchmeyersche Champions zu +erwähnen, die in Beziehung auf geistige Bedeutung zwar +weder an Gerlach noch an Lebius kommen, aber als +fromme, katholische Klosterbrüder mitten unter protestantischen +oder gar aus der Kirche ausgetretenen Kolportageinteressenten +doch einen frappierenden Eindruck machen. + + Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar +Pöllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem +Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden. Der +hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als Professor. +Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im "Stern der +Jugend" gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei +Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste +hin und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren. +Da stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht besaß, +einen Professortitel zu führen. Er leistete mir folgende +schriftliche Abbitte: + + "Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten + Bezeichnungen "Professor" und "Jugendschriftsteller" + auf Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an + der Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau + und Korrespondent der Jugendzeitschrift "Stern der + Jugend" bin, erkläre ich hiermit der Wahrheit gemäß, + daß ich die in genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25) + enthaltene Notiz über Krankheitserscheinungen des + Schriftstellers Karl May bedauere und die von ihm gerichtlich + inkriminierten Worte in aller Form zurücknehme. + + Seckau, den 20. Oktober 1904. + + Pater Willibrord Beßler + O.S.P." [sic] + + Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich +gerichtlich belangen muß! Der Abt scheint hier wie dort +Ildefons Schober zu heißen. Ist es vielleicht derselbe? +Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts, +haben die Benediktiner mir meine "Reiseerzählungen" +ohne mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen +untersagte. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein +Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und +verbreiten und mich doch so öffentlich beleidigen und +verfolgen resp. mich und meine selben Werke in Acht und +Bann erklären kann! Ich bemühe mich vergeblich, beides +logisch zusammen zu bringen. Denn daß ich diesen +Nachdruck unmöglich dulden konnte, versteht sich ganz von +selbst! Uebrigens ist dieser Beuroner Pater derselbe, der +mir "einen Strick drehen will, um mich damit aus dem +Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Also, erst +druckt man meine Bücher nach, ohne mich zu fragen, und +dann peitscht man mich hinaus! In dieser Weise charakterisiert +Pater Pöllmann seinen eigenen Orden, der sich doch +wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere Literatur +erworben hat, als daß er von einem seiner Angehörigen +in dieser Weise beleumundet werden sollte! + + Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift +"Ueber den Wassern" eine Reihe von Artikeln gegen mich +geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener "Freistatt" +geantwortet. Damit wären wir nun eigentlich mit +einander fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und +mir zu entscheiden. Aber während ich in meinen Antworten +ganz selbstverständlich so sachlich und höflich wie +möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen +fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem +Gang vor das Gericht zu bequemen haben wird. Und +außerdem ist sein persönliches und literarisches Verhältnis +zu Herrn Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem +Münchmeyerschen Programm, mich in den Zeitungen "kaput +zu machen", festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius, +Gerlach u. s. w. in Beziehung zu stehen; es sind ihm +aber derartige Beziehungen ganz unschwer nachzuweisen. +Hierüber ist Klarheit zu schaffen. Denn daß er in dieses +"Kaputmachen" auf das Kräftigste mit eingegriffen hat, +kann nicht einmal er selbst in Abrede stellen. Seine +"Wasser"-Artikel werden sowohl im Lebius- als auch im +Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das Eifrigste gegen +mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge oder +"Sachverständiger" benannt und wird als solcher in Berlin +auszusagen haben. + + Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern +Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht gutheißen +kann. Ich muß mich fragen, ob es in dieser seiner Taktik +liegt, das Leserpublikum irre zu führen. Zuerst erschienen +von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben herab +klingende Notizen darüber, daß ich es unterlassen habe, +meine Drohung, ihn zu verklagen, auszuführen. Und +nun sich herausstellt, daß ich dieses Versprechen doch +gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich gesinnten +Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine Beleidigungsklage +bald hier bald dort zurückgewiesen worden sei und +ich sämtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht +fair, vielleicht sogar unwürdig. Es handelt sich hier um +die Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den +Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich +in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen +wurde das Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich +jetzt nun zuständig bin. Darum fragt es sich, ob die +Sache infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu +verhandeln ist. Bis das entschieden ist, hat sie zu ruhen. +Wer es anders darstellt, kann nur entweder unwissend +oder böswillig sein. Von Kosten weiß ich kein +Wort. + + Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage +gegen Pater Expeditus Schmidt in München. Sie wurde +in Dresden eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig +verhandelt. Auch hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben +worden, doch nicht von mir. Mir kann es sehr gleichgültig +sein, an welchem Orte das Urteil gesprochen wird, +denn meine Sache ist gerecht. Ich habe nicht nötig, +spitzfindig zu erwägen, an welchem Orte, bei welchem Gerichte +und in welchem Falle ich meinen Prozeß gewinne oder +verliere. Ich habe mich nicht an solche Nebendinge +zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre +Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den +Richtern. + + Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern +förderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, +die Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen +Dingen hat es sich herausgestellt, daß die beiden Pater +Schmidt und Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen +und der Sache Münchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht +in Verbindung mit dem Münchmeyerschen und Lebiusschen +Rechtsanwalt. Ich werde die Beweise erbringen, und +dann wird sich der Zusammenhang mit dem Münchmeyerschen +Programm, mich "in allen Zeitungen vor ganz +Deutschland kaput zu machen", ganz von selbst ergeben. +Um einen kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der +Dinge zu ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem +Artikel, den das "Wiener Montags-Journal" am 17. +Oktober dieses Jahres brachte. Er lautet: + +| Karl May als Schriftsteller. | + (Eine Genugtuung.) + + Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die +Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen +Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung. +Denn nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines +Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und +hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur +Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausführliche Würdigung +der so reichen Phantasie eines deutschen Romanziers +eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das Wort zu +einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den erfolgreichen +Prozessen gegen seine hämischen und boshaften Widersacher, +zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt uns: + + Die ganze sogenannte "Karl May-Hetze" ist auf +Unwahrheiten aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist, +daß ich Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen +für unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten +dieser Erzählungen sind im "Deutschen Hausschatz" +erschienen, der doch gewiß niemals eine Knabenzeitung +gewesen ist. Und den später erschienenen Bänden sieht jedes +ehrliche Auge sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen +Leuten verstanden werden können. Hiermit fallen +alle Vorwürfe, die man mir als angeblichem "Jugendverderber" +macht, in sich selbst zusammen. Wenn die Jugend +meine Bücher trotzdem liest, und zwar sehr gerne, so +beweist das doch nicht, daß ich sie für sie bestimmt habe, +sondern daß die Jugendseele in ihnen findet, was ihr von +andern vorenthalten wird. + + Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen +meinen Reiseerzählungen schwindle. Wer das behauptet, +ahnt gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner +eigenen Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick +eines Tertianers aus, zu erkennen, daß alles, was ich +erzähle, nur mit den Wurzeln in das reale Leben greift, +im übrigen aber nach Regionen strebt, die nicht alltäglich +sind. Jeder Leser, der mich begreift, weiß, daß ich Länder +und Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen +existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der +absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was +anderen noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und +beschreibe, kann dies nur für unwissende oder übelwollende +Menschen ein Grund sein, zu behaupten, daß ich schwindle. + + Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser +beleidigenden Weise über mich zu urteilen. Wer mich nicht +begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine +sehr ausgiebige sei. Erst als die größte aller Unwahrheiten, +die es über mich gibt, verbreitet wurde, nämlich +die, daß ich "abgrundtief unsittliche Schundromane" +geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen Tone mit +mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von +einer Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es +lag, sie zu verbreiten, um durch meinen Namen möglichst +viel Geld zu verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns, +dem damaligen Hauptredakteur der "Kölnischen Volkszeitung", +den Mann, der durch seine Veröffentlichungen für +diese Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar +unternahm, die sogenannten "Beweise" zu liefern, daß die +betreffenden Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur +aus meiner Feder stammen. Ganz selbstverständlich konnte +der wahre, unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung +der von mir geschriebenen Originalmanuskripte geführt +werden. Jeder andere Beweis konnte nur durch absichtliche +Täuschung oder Selbstbetrug ermöglicht sein und +mußte sich schließlich zur Spiegelfechterei gestalten. + + Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns? +Er brachte Behauptung über Behauptung. Er führte eine +ganze Reihe von "inneren Gründen" an, hinter denen sich +der Mangel an wirklichen Gründen versteckte. Er sprach +von Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und +dergleichen. Das Wiener "Neuigkeits-Weltblatt" weist ihm +sogar die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege +dafür, daß May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann +mußte hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte +in den Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal +die Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir +die Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten. +Er machte mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere +täuschten sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von +selbst zur richtigen Einsicht kamen. Heute glauben nur +noch Wenige seinen Ausführungen. Andere akzeptieren +sie aus prozessualen und ähnlichen guten Gründen. Ob +Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann, +meine beiden neuesten Gegner, wirklich an ihren Cardauns +glauben, das weiß ich nicht; ich kann da nur vermuten. +Was sie behaupten, gilt für mich noch lange nicht als +Beweis. Aber sie fußen in allem, was sie gegen mich +tun, auf altem Cardaun'schem Grund und Boden und +scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich nächstens unter +ihren und den Anschuldigungen ihrer Verbündeten +zusammenbrechen werde. + + Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau +Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten, +von der Polizei konfiszierten "Venustempels". Ferner +der Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden, +der nun schon seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im +Felde liegt. Und endlich der wohlbekannte Herr Rudolf +Lebius in Charlottenburg, der aus der christlichen Kirche +ausgetretene Sozialist, dem ich 3000 bis 6000 Mark und +dann sogar 10 000 Mark geben sollte, dafür wolle er mich +in seinem Blatt loben und preisen. Ich gab ihm nichts. +Da ging er zu Münchmeyers über und war seitdem der +unermüdlichste meiner Gegner. Ich bemerke ausdrücklich, +daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum Anwalt hat. +Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser Münchmeyersche +Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater von Pater +Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist, so +ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin +vollständig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns, +Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat +Gerlach, Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann. +Diese alle sind jederzeit schußbereit. Sie leugnen zwar +den gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren +Prozessen gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und +helfen einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen +mich und bei der Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen +für das Gericht. Der Ueberragendste von ihnen +ist aber dieser Münchmeyersche Advokat, der alles und +alle dirigiert, sogar die beiden Patres. Der unschädlichste +und erfreulichste aber ist Herr Cardauns, der meines +Wissens niemals zu dem Eingeständnis gebracht werden +konnte, daß er meine Originalmanuskripte nicht besitze, +kürzlich aber in Bonn in meiner Gegenwart vor dem +beauftragten Richter als Zeuge zugeben mußte, daß er sie noch +nie gesehen habe. + + Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf +weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen +wird, ist eine schon längst entschiedene Frage. Kein Kenner +der Verhältnisse stellt sie mehr auf. -- -- + + Radebeul-Dresden, Oktober 1910. + Karl May. + + _________ + + + IX. + Schluß. + + _____ + +Wie meine "Reiseerzählungen" nur Skizzen sind, so ist +auch das vorliegende Werk nur Skizze. Es kann gar +nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch nicht +zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener +Prozesse wie drohende Revolver auf mich gerichtet sind. +Außerdem verhindern mich brutale Körperschmerzen, in +der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang +täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen +erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude +überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules aus. +Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir +nicht das Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und +meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen. +Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden, +hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. +Seit einem Jahre ist mir der natürliche Schlaf versagt. +Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu +künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur +betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann +ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, +gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, +fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts +mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal +aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß +brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht +sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das +alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben, +und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil +meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine +Aufgabe lösen. + + Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe +ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie +ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. Ich +sagte bereits: Das Karl May-Problem ist, wie das +Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem +im Einzelnen. Aber während die meisten Menschen nur +dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse +Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es noch +Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild +desselben zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im +Einzelnen, sondern im Ganzen zu liefern. Die Vielen +stellen Menschheitsteile, diese Wenigen aber stellen +Menschheitsbilder dar. Die Vielen können ihren engen +Kreis sauber halten; sie sind Dutzendmenschen; sie können +sogar als Mustermenschen erscheinen. Den Wenigen aber +ist die Tugend und die Sünde, die Reinheit und der +Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhältnisse +wie dieser zugeteilt; sie können berühmte Feldherren oder +rohe Mörder, große Diplomaten oder berüchtigte +Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige +Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden. +Ihnen ist nicht das wohltuende Glück der unbewußten +Mittelmäßigkeit beschieden. Ist das Leben mächtiger als +sie, so werden sie zwischen Tugend und Laster, zwischen +Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin- +und hergezerrt, bis sie über den Wolken zerstäuben oder +in den Schluchten zerschellen. Sind sie stärker als das +Leben und sind sie im Glücke geboren, so werden sie in +stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie +aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und +der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, +weil sie es erreichen müssen, aber der Widerstand, den +sie zu überwinden haben, wird ein grausamer, ein +unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren +Siegesruf erschallen lassen können, werden sie ermattet +zusammenbrechen, um die Augen für diese Welt zu +schließen. + + Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von +diesen Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch +wenigstens verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. +Das habe ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung +gekommen, daß ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück +zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend +in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um +mich ebenso beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm +emporzuarbeiten, wie die Menschheit Ströme von Schweiß +und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich +aus dem ihrigen zu erheben. Ebenso bin ich überzeugt, +daß es mir beschieden war, dabei den hartnäckigen +Widerstand zu finden, der sich mir auch heute noch +entgegenstellt, und daß ich mich nicht über ihn beschweren +darf, weil ich ihn mir ebenso selbst bereitet habe, wie +die Menschheit schneller vorwärtskommen würde, wenn +sie endlich aufhören wollte, sich ihren eigenen Weg mit +Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich keinen +anderen, als nur mich selbst anklage. + + Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf +gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so +war dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern +die immer noch nicht ganz überwundene Anima ist es +gewesen, die es mir diktierte. So lange sich der Mensch +im Niedrigen bewegt, und das mußte ich in dieser meiner +Lebensbeschreibung doch mehr als reichlich tun, hat das +Niedrige Macht über ihn, und ich durfte nicht unwahr +sein; ich mußte so schreiben, wie das Milieu es mit sich +brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und bessere, +reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und +freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft +zurück, alles das, was mich verbittern will, zu +überwinden. + + Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam +Grund vorhanden. Ich spreche da nur von den +letztvergangenen zehn Jahren und den Begleiterscheinungen +des Münchmeyerprozesses. Dieser wurde von Seiten +meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in +einer Weise geführt, die ich vorher für vollständig +unmöglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie weitgehender +Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt schützt. +Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter +herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst +Niemand erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des +Paragraphen 193, denn er handelt im Interesse seines +Klienten. Ich bringe eine Musterauswahl der Ausdrücke, +die ich mir vom Münchmeyerischen Advokaten Dr. Gerlach +gefallen lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner +Eigenschaft als Anwalt bediente: + + Er beschuldigte mich "frecher Anzapfungen", "unberechtigter +Forderungen", zahlreicher "Dreistigkeiten" +und "faulen Zaubers". Er nannte mich "raffiniert", +"frech", "dreist", "verleumderisch", "pathologisch zur +Unwahrheit reizend", "Lügner", "Lügenmay", Renommist", +"Münchhausen", "Aufschneider", "Betrüger", "Lump", +"Schwindler", "Allerweltsschwindler", "Einbrecher", +"Hochstabler" [sic], "Zuchthäusler" usw. usw. Ich frage: +Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die +Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt? +Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich +ihrer schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr +vor Gericht sind sie gestattet, denn ich habe diesen +Anwalt auf sie hin wegen Beleidigung verklagt und bin +abgewiesen worden. Aber noch mehr: Er erhob auf +diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und +diese wurde nicht zurückgewiesen. Der Richter ist hieran +völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz +verlangt es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen für +die Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen +waren, sagte dieser Anwalt zum Richter: "Aber es ist +doch ganz unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie +May, den Prozeß gewinnen kann!" "Das haben Sie +abzuwarten," antwortete ihm der Richter. Ich stand +dabei und mußte mir die Beleidigung gefallen lassen, +denn das Gesetz erlaubte sie ihm. Das ist nun fast zehn +Jahre lang so gegangen und geht noch heut in diesem +Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch stehender +Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem Rechtsanwalt: +"Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir eine +Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May. +Was muß dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er +hätte getrost hinzufügen können: "Was leidet er noch, +und was wird er noch weiter leiden!" Dieser Richter +kannte meine Vorstrafen genau; er hatte die hierüber +vorhandenen Akten studiert. Ich gewann trotzdem und +trotz aller gegnerischen Schmähungen den Prozeß in +sämtlichen Instanzen, gewiß ein laut sprechender Beweis, +daß der deutsche Richter sich durch anwaltliche Invektiven +nicht beeinflussen läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich +sie doch und habe ich sie noch heut. Und sie wirken, +wenn nicht auf das Urteil, so doch ganz bestimmt nach +anderer Seite hin. Sie verrohen den Parteiverkehr und +greifen aus dem Verhandlungszimmer hinaus in das +öffentliche und hinein sogar in das private Leben. Man +wird alle die beleidigenden Ausdrücke über mich, die ich +oben angeführt habe, schon in den Zeitungen gelesen +haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet +sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die +jeder übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen +darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter führt +als die Humanität. Er schreibt diese Roheiten in seine +Schriftsätze und lanciert sie von da als beweiskräftiges +Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder er schickt +sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in gedruckter +Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, daß +sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte +einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder +Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede +Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu +erschüttern oder wohl gar zu vernichten. "In den Zeitungen +von ganz Deutschland kaput machen," nennt man das. +Und das Gesetz begünstigt dieses Treiben! + + Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes +Beispiel nahe, welches nichts weniger als empfehlend für +mich klingt. Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn +ich der Allgemeinheit nützen will, nicht fragen darf, ob +ich mir selbst etwa dadurch schade. Meine erste Frau +hatte die Frau eines Dresdener Schriftstellers beleidigt, +welcher von Münchmeyers aus wußte, daß ich vorbestraft +bin. Er rächte sich dadurch, daß er mich bei einem +deutschen Fürsten denunzierte und ihm mitteilte, daß seine +Verwandten meine Bücher läsen und mich auch persönlich +besuchten. Der Fürst antwortete durch Schweigen. +Da kam eine zweite Denunziation, und nun war der +Fürst gezwungen, sich nach Dresden zu wenden, um zu +erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei. Er erhielt +die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach +Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu +erkundigen. Er erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei, +weshalb ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause +bleibe, und daß ich in meinen Büchern über Länder +schreibe, in denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was +ich da berichte, sei nicht wahr. Infolge dessen steht in +den Dresdener Polizeiakten über mich verzeichnet, daß ich +einen unsoliden Lebenswandel führe und ein literarischer +Hochstabler [sic] sei. Das wurde dem Fürsten mitgeteilt, und +einer der betreffenden Verwandten erzählte es mir bei +nächster Gelegenheit sehr ausführlich wieder. Er wußte +sehr wohl, was an der Sache war, bat mich aber um +Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber zu +schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil +ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den +verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören. Jetzt +aber werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht +und von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet. +Wie kommt ein aus der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat +a. D. zu diesen geheimen Dresdener Polizeiakten? +Das Gesetz gestattet es! Ganz selbstverständlich fühle +ich mich nun nicht mehr zur Diskretion verpflichtet und +werde darauf dringen, daß diese Akten revidiert und +berichtigt werden. + + Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich +wie auf Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig +Jahren auf ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das +ist so lange her, daß die betreffenden Gerichtsakten längst +vernichtet worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt, +daß solche Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer +seien, und diese Dauer ist vorüber. Wer hat nun daran +gedacht, daß auch bei der dortigen Polizei Notizen +hierüber gemacht worden und vielleicht noch vorhanden sein +können? Herr Lebius hat sie kürzlich veröffentlicht! Wie +kommt ein Mann, wie er, nun auch zu den Leipziger +Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt es! + + Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht. +Sie sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn +gar nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm! + + Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine +prozessualen Verhältnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das, +und wer ermöglicht es ihm? Das Gesetz und der Münchmeyersche +Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige ist. +Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand. +Es ist sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene +Frau in Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts +veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum +Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für +sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke paßte. +Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner reichen, +persönlichen Erfahrung dafür, daß das Gesetz Dinge nicht +nur erlaubt, sondern sogar begünstigt, die es eigentlich +auf das strengste verbieten sollte. Dem steht selbst der +rechtlichste und humanste Richter machtlos gegenüber, und +das war es, woran ich dachte, als ich weiter oben sagte, +daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt habe. +Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren unfreiwillig +da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, denen +es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung +zurück zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und +ich weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die, +welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder +niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit +besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu ihnen +hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht gezwungen, +sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse. Ich +will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen +wagte, nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn +sie sich nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren +sind, außer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch +engsten Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen +mein Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. +Will ihnen zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe +fruchtet, wenn bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen +zeigen, daß ein einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser +eine, einzige Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten +und die besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen +Liebe und der Humanität mit einem Schlage zunichte +zu machen. Ich will ihnen sagen, daß es eine Sünde +von der Menschheit ist, ihre Mitschuld an der Schuld +der Schuldigen zu verbergen. Daß es aber auch von +diesen ein Fehler ist, zu verheimlichen, daß sie einst +schuldig waren. Unser Leben, mein Leben, ihr Leben soll +frei vor Gottes Auge liegen, besonders aber auch frei vor +unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir nicht, und dann +grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum +wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und +sehen wir das ein, so können wir uns selbst verzeihen, +und wer sich selbst verzeihen darf, dem wird verziehen +werden. Weg also mit der falschen Scham, und heraus +mit der Offenheit! Nur das Geheimnis, in das wir uns +hüllen, gibt jenem Paragraphen und jedem gewissenlosen +Menschen die Macht, sich höher und besser zu dünken +als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu sein! + + Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie +alles Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur +Skizze sein. Aber ich fühle das Bedürfnis, das, was +Andere Böses an mir taten, für meine Mitmenschen in +Gutes zu verwandeln. Ich werde es denjenigen, die +gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermöglichen, aus der +unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlüsse zu +ziehen, die ihnen heilsam sind. Was nützt alle sogenannte +"Gerechtigkeit", alle sogenannte "Milde des Gerichtes", +alle sogenannte "Humanisierung des Strafvollzuges", alle +sogenannte "Fürsorge für entlassene Strafgefangene", +wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder +eines einzigen fragwürdigen Paragraphen bedarf, um all +das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in +einem einzigen Augenblicke zu vernichten? Wie kann +man von dem Gefallenen verlangen, daß er wieder aufstehe +und sich bessere, wenn man es unterläßt, auch die +Verhältnisse, in die man ihn zurückversetzt, zu verbessern? +Ist es eine Ermunterung für ihn, zu wissen, daß er trotz +aller Besserung doch, so lange er lebt, der Geächtete, der +Unterdrückte, der Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, +weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich +alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut, +ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche +ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, sein gutes Recht +zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt +ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich von +einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein +"wissenschaftlichen" Gründen an diesen Pranger genagelt +worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht +einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen +Gesetzesparagaphen zu dieser Vivisektion berechtigt +worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanität +sprechen, ganz unwillkürlich in das Gesicht, ob sich +da nicht etwa ein sardonisches Lächeln zeigt, welches +verrät, wie es eigentlich steht. Und da fühlt man mit den +Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende +Bedürfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der +gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht +zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen müssen, um +durchschaut zu werden -- -- -- vor die Oeffentlichkeit, +vor den Reichstag! + + Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen +hat. Es hat schon Einige gegeben, die als "entlassene +Gefangene" ihre Erfahrungen niedergeschrieben +haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend, +daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte. +Hier genügt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen, +sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch +im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind. _Und_ +_das_meinige_ist_ein_solches._ Ich fühle mich +verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der +Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das wird +man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen. + + Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die +Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl +May, sondern auch mit dem Menschen May befaßte und +daß Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf +den letzten Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das +Eine war berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, +Schinder- und Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen +lassen mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld +von dieser Qual und Marter zu befreien. Das war die +Geisterschmiede meines Märchens, in der man auf mich +losschlug, daß die Funken durch alle Zeitungen flogen. +Sie fliegen sogar noch heut. Doch wird bald Ruhe +werden. Die Zeit des Hammers ist vorüber; es kommt +nur noch die Feile, und dann ist es gut. Daß all das +Leid, welches über mich kam, auch meine andere, die +schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen mußte, versteht sich +ganz von selbst. Auch da gab es Schlacken, und zwar +mehr als genug. Auch sie mußten herunter. Es flog +der Ruß, der Schmutz, der Staub, der Hammerschlag. +Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird +ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne. + + Es war überhaupt ein großes, ein schweres und +ein höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen. Nicht +nur in meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern, +in meiner Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner +Ehe. Alles, was mich in die Schmiede und dem Schmerze +in die Arme getrieben hatte, mußte weichen. An seine +Stelle trat, was rein und ehrlich war und mit nach oben +strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, dem Land der +Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und +Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt werden +konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen vorüber. +Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes Wasser, irgend +ein Beleidigungsprozeß, eine Staatsanwaltschaftsanzeige, +doch auch das geht bald vorbei, und dann wird Ruhe +und Friede um mich sein, so daß ich endlich, endlich Zeit +und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches, +an mein einziges und letztes "Werk" zu gehen. + + Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin +ich voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine +"Hetze" wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde +steht, noch nie in der Literatur irgend eines Landes, eines +Volkes gegeben. Das gab Zeitungsstürme, Stürme in +den Gerichtssälen, Stürme im eigenen Hause und Stürme +im eigenen Innern. Mein alter, treuer, guter Freund, +der Körper, behauptet zwar, nicht länger mitmachen zu +können, aber ich bin überzeugt, daß er doch wieder so +bereitwillig und verständig wird, wie er immer gewesen +ist. Er hat ertragen müssen, was eigentlich wohl nicht +zu ertragen war. Zunächst sechs Jahre lang die drei +Instanzen des ersten Münchmeyerprozesses mit allen +Aufregungen und Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren. +Sodann die zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung +wegen Meineid und Verleitung dazu. Denn der +Münchmeyersche Rechtsanwalt hatte, nachdem der Prozeß +für ihn verloren war, mich und meine Zeugen beim +Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt. Der Staatsanwalt +war, nach seiner eigenen Aussage auf diese Anzeige +eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen. +Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz +selbstverständlich damit, daß man weder mir noch meinen Zeugen +etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch +nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast +noch schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten +Lebiusangriffe. Eine doppelseitige Lungenentzündung, die +mich monatelang zwischen Tod und Leben schweben ließ. +Die Beschuldigungen, welche meine geschiedene Frau auf +mich, meine jetzige Frau und ihre Mutter wälzte und +mit denen sie uns in schwere Strafe bringen wollte. Die +Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann wegen dieser +Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben +ließ. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in +Berlin wiederholt. Glücklicher Weise hatte diese geschiedene +Frau Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete, +während des Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten +und ohne all mein Zutun freiwillig erzählt und +eingestanden, so daß sie zu diesem späteren Leugnen nur +verführt sein konnte. Die Vorlegung dieser Beweise zeigte +alle Anklagen gegen mich als Lügen. Ferner der Antrag +des Lebius an die Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus +zu sperren. Sein Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich +verfolgen zu lassen. Die zahllosen Artikel gegen +mich in seinem Blatte, der "Bund". Seine Flugblätter +mit den gräßlichsten Unwahrheiten, welche die Runde durch +Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Italien, Frankreich, +England, Nord- und Südamerika machten. Da beschuldigte +er mich sogar, meinen Schwiegervater erwürgt +zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit. +Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des +Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier +Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich +wegen Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren +Zuchthaus bestraft wird. Man sieht, daß man zu den +alleräußersten Mitteln greift, mich "kaput zu machen"! +Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den +Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und +Lebenskraft zu verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum +jeder fähig ist. Ich habe es ertragen, ohne mich zur +Selbsthilfe reizen zu lassen, weil ich keinen Augenblick +lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und +weil mir in dieser überschweren Zeit ein Wesen zur Seite +gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende Seele mich wie +auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, dem ich verfallen +sollte, nämlich meine jetzige Frau. Wenn man berechtigt +gewesen ist, Bücher über das Thema "die Bestie im Weibe" +zu schreiben, so könnte ich mich wohl verpflichtet fühlen, +demgegenüber ein Buch zu veröffentlichen, welches den +Titel "Der Himmel im Weibe" führt. + + Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine +Quelle alles menschlich Reinen, menschlich Edeln und +menschlich Ewigen ist, läßt sich in Beziehung auf das +Erdenleid Alles erlangen und in Beziehung auf die noch +vor mir liegende Arbeit Alles leisten, was menschenmöglich +ist. Ich bin nicht mehr so fürchterlich allein. +Ich habe nicht mehr immer nur aus mir selbst herauszuschöpfen, +sondern es hat sich mir ein köstlich reiches +seelisches Leben zugesellt, durch dessen Einfluß sich Alles, +was in mir zum guten Ziele führt, verdoppelt. Körperlich +schwer leidend, bin ich geistig frisch und seelisch +wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der Jugendzeit. +Ich bin nicht töricht genug, mir zu verheimlichen, daß +man mich als einen Ausgestoßenen betrachtet, ausgestoßen +aus Kirche, Gesellschaft und Literatur. Der Eine schlägt +auf mich los, weil er mich für einen verkappten +Katholiken oder gar Jesuiten halt; der Andere greift zum +Prügel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich +Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig bringen, +sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen +sie die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als +gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe +nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft +gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen +war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten +Leute, meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das +Innenleben aneinander so vollauf genug, daß wir es gar +nicht fertig bringen, uns nach "Gesellschaft" zu sehnen. +Und was meine literarische Ausstoßung betrifft, so kann +ich mich auch mit ihr zufrieden geben. Den Weg, auf +dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen; +ich wäre also auch ohne den Haß, den man auf mich +richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein. Auch bin ich +überzeugt, daß später, wenn man mich und das, was ich +will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht +sogar Viele von dem großen Haufen absondern werden, +um sich mir zuzugesellen. Alte Wege können höchstens +zu alten, toten Schätzen führen. Wer aber nach neuen, +lebendigen Schätzen sucht, der soll auch neue, nicht alte +Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das +Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch +ihren Wert oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. +Taugen sie etwas, so werden sie bleiben, ganz gleich, +ob man sie gegenwärtig lobt oder tadelt. Taugen sie +nichts, so werden sie verschwinden, ganz gleich, ob man +sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die Hauptsache +ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert bestimmt, +bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er +literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann auch +nur den geringsten Einfluß darauf haben. Das klingt +stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind +Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen +auf Späteres. Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles, durch +was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man +jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man will. + + Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung +auf die Münchmeyerromane übrig. Einer meiner +erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem +weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in +unsittliche verwandeln könne; das würde eine Riesenarbeit +sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint so +glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines Schundverlages +unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der Zeit +und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben, +so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und +der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman +umzuändern! Zweitens erfordert eine solche Umänderung +keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner +anzunehmen scheint. Die Einfügung von einigen Worten +genügt vollständig, einen "moralischen" Druckbogen in +einen "unmoralischen" zu verwandeln. Drittens sind +Kräfte mehr als genug für solche Umarbeitungen vorhanden, +und sie besitzen eine so erstaunliche Routine darin, +daß selbst der Kenner sich über die Masse, die sie +bewältigen, wundert. Ich habe hierüber Beweise erbracht +und werde auch noch weitere bringen. Das oft erwähnte +Faktotum Walther saß bei Münchmeyers täglich von früh +bis abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann +die Korrektur zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen +bekam. Was erst Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen +Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben +mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und +gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Münchmeyers +Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß +bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand ganze +Kapitel verändert hat. Ein anderer Zeuge hat beschworen, +Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er an meinen +Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme, ohne +es mir sagen zu dürfen. Ich brauche hier wohl nicht +noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen, +anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich absolut +die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren +Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa +die dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man +es zumutet, sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu +der damaligen Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden. +Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf +von meinem Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir +versichern, ganz genau sagen zu können, wo die Fälschung +beginnt und wo sie endet. + + Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick +meiner Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam +zu machen, den man anwendet, um meine den höhern +Kreisen angehörenden Leser gegen mich zu empören. Da +wird zum Beispiel an auffälliger Stelle gesagt, daß ich +in hervorragender Gesellschaft in Dresden verkehre und +daß ich mir überhaupt die größte Mühe gebe, mit +hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein +Wort, kein Buchstabe wahr. Bin ich "Hans für mich", +so fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser +Beziehung weiter nichts, als "Hans für mich" zu bleiben. +Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis +liefern wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich +aufgedrängt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet, +daß ich an "Höfen" verkehre. Das ist erst recht nicht +wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit, +die zu irgend einem "Hofe" gehört, meine Bücher liest +und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad +ich der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich "bei +Hofe verkehre". Es kann diesen Behauptungen, die pure +Erfindungen sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich +den betreffenden Kreisen als indiskret oder gar als Lügner +zu kennzeichnen und mich selbst da zu schädigen, wohin +ich absolut nicht gehöre. -- -- -- + +-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + + Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang +zurück, auf mein altes, liebes Märchen von "Sitara", +von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, +so wird man dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen, +und zwar als die greifbarste, die es gibt. Es ist die +Aufgabe des begonnenen, gegenwärtigen Jahrhunderts, +unsere ungeübten Augen für die große, erhabene Symbolik +des alltäglichen Lebens zu schärfen und uns zu der +beglückenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß +es höhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als +diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschäftigt. +Die Skizzen, die ich zeichnete und veröffentlichte, +sollen der Vorbereitung zu dieser Erkenntnis dienen. +Darum sind sie symbolisch geschrieben und, um verstanden +zu werden, nur bildlich zu nehmen. Man möchte sich +eigentlich darüber wundern, daß dies dem gewöhnlichen +Leser so schwer zu fallen scheint. Es ist doch wohl keine +allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines Gleichnisses irgend +etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das Land +der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das +Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine, +so kann es doch keiner geradezu akademischen Bildung +bedürfen, einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise +von Ardistan nach Dschinnistan beschreibe. Der Leser +hat sich einfach aus seiner Alltagswelt in meine +Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch wohl auch nicht +schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu verlassen, +um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen. + + Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, +so will ich durch meine Erzählungen das Innere meiner +Leser vom äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken +klingen hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es +einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser +klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn +entläßt. So leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich +zu nehmen, so leicht ist es auch, meine Bücher zu +verstehen und ihren Inhalt zu begreifen. Ich will, daß +meine Leser das Leben nicht länger als ein nur materielles +Dasein betrachten. Diese Anschauung ist für sie ein +Gefängnis, über dessen Mauern sie nicht hinaus in das von +der Sonne beschienene freie, weite Land zu schauen +vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien. +Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich +selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen, +seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im +Gefängnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze +der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich, +der zu mir in die Zelle trat. Da durfte mich niemand +berühren. Da war es keinem erlaubt, den Werdegang +meines inneren Menschen zu stören. Kein Schurke hatte +Macht über mich. Was ich besaß und was ich erwarb, +das war mein sicheres, unantastbares Eigentum, bis ich +-- -- entlassen wurde, länger nicht! Denn mit dieser +Entlassung verlor ich meine Freiheit und meine Menschenrechte. +Was andere, die nur materiell zu reden wissen, +als Freiheit bezeichnen, das ist für mich ein Gefängnis, +ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in dem ich nun +schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet habe, ohne, +außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen Menschen zu +finden, mit dem ich hätte sprechen können wie damals +mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten. Ich +lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für Andere. +Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich +mir sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit +mir machen, was ihm beliebte, denn überall fand er einen +Anwalt, der seine Sache führte. Ein Jeder durfte mich +verdächtigen, mich beleidigen, auf mich einschlagen, denn +überall gab es einen Paragraphen, der ihn schützte. Ich +mußte um meines Eigentums willen sechs Jahre lang +prozessieren, und als ich den Prozeß gewonnen hatte, +bekam ich noch lange nichts und wurde wegen Meineides +zweiundzwanzig Monate lang in Voruntersuchung genommen. +Nun prozessiere ich schon fast zehn Jahre lang +und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will +es nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein +Züchtling gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern +darf, wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich +mit einem jener Paragraphen zu bewaffnen, welche die +Ideale aller "schneidigen" Anwälte sind. Jawohl, ich +bin Gefangener, Zuchthäusler, noch immer! Ein Dutzend +Prozesse haben mich festgehalten, damit ich ja nicht +entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir wollte, aber +keines bekam, hat sich als Zuchtmeister gebärdet und auf +mich eingeschlagen. Ich habe das Beste aller derer, für +die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und äußeres Heil, +ihr gegenwärtiges und ihr zukünftiges Glück. Was gab +man mir für diesen meinen guten Willen? Verachtung, +Spott und Hohn! Als ich Zuchthäusler war, da war +ich keiner. Und nun ich aber keiner bin, da bin ich einer. +Warum? + + Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe? Ist +für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht selbst die +Hölle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die Hölle, +wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer, +wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn +ich symbolisch von meiner "Geisterschmiede" erzähle, deren +fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden haben +werde. Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es mußte +so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen +und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen +und durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit +zu verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne +meine Schuld. Und was andere gezwungen an mir taten, +das trage ich nicht nach. Ich bitte nur um das Eine: +Laßt mir endlich, endlich Zeit, mit dieser Arbeit +zu beginnen! + + _________ + + + Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag + Soll Feierabend sein im heil'gen Alter. + Und was ich hier vielleicht noch schauen mag, + Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter. + Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt; + Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden, + Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt, + So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden. + + Nach meines Lebens schwerem Leidenstag + Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände. + Und was mich hier vielleicht noch treffen mag, + Das führe er in mir zum frohen Ende. + Ich hab' die Schuld, die Ihr auf mich gelegt, + Gewißlich nicht allein für mich getragen, + Doch was dafür sich irdisch in mir regt, + Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen. + + Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag + Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen, + Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag, + Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen. + Ich juble auf. Des Kerkers Schloß erklirrt; + Ich werde endlich, endlich nun entlassen. + Ade! Und wer sich weiter in mir irrt, + Der mag getrost mich auch noch weiter hassen! + + E n d e. + + _________ + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 *** diff --git a/2779-h/2779-h.htm b/2779-h/2779-h.htm new file mode 100644 index 0000000..c56002d --- /dev/null +++ b/2779-h/2779-h.htm @@ -0,0 +1,10747 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" +"http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> +<head> +<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=utf-8" /> +<meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> +<title>Mein Leben und Streben | Project Gutenberg</title> + +<style type="text/css"> + +body { margin-left: 20%; + margin-right: 20%; + text-align: justify; } + +h1, h2, h3, h4, h5 {text-align: center; font-style: normal; font-weight: +normal; line-height: 1.5; margin-top: .5em; margin-bottom: .5em;} + +h1 {font-size: 300%; + margin-top: 0.6em; + margin-bottom: 0.6em; + letter-spacing: 0.12em; + word-spacing: 0.2em; + text-indent: 0em;} +h2 {font-size: 150%; margin-top: 2em; margin-bottom: 1em;} +h3 {font-size: 130%; margin-top: 1em;} +h4 {font-size: 120%;} +h5 {font-size: 110%;} + +.no-break {page-break-before: avoid;} /* for epubs */ + +div.chapter {page-break-before: always; margin-top: 4em;} + +hr {width: 80%; margin-top: 2em; margin-bottom: 2em;} + +p {text-indent: 1em; + margin-top: 0.25em; + margin-bottom: 0.25em; } + +p.poem {text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + font-size: 90%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.letter {text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.noindent {text-indent: 0% } + + +p.center {text-align: center; + text-indent: 0em; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.right {text-align: right; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.footnote {font-size: 90%; + text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +a:link {color:blue; text-decoration:none} +a:visited {color:blue; text-decoration:none} +a:hover {color:red} + +</style> +</head> +<body> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div> + +<h1>Mein Leben und Streben</h1> + +<h3>Selbstbiographie</h3> + +<h2 class="no-break">von<br/> +Karl May</h2> + +<hr /> +<hr /> + +<p class="center"> +<b>Band I</b><br/> +<br/> +<br/> +<br/> +</p> + +<p class="center"> +Freiburg i. Br.<br/> +Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld<br/> +<br/> +Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.<br/> +<br/> +<br/> +<br/> +</p> + +<p class="poem"> +Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,<br/> + So gehe ruhig fort, und laß das Klagen.<br/> +Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst<br/> + Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen. +</p> + +<p class="right"> +(Karl May „Im Reiche des silbernen Löwen”) +</p> + +<hr /> + +<div class="chapter"> + +<h2><b> I n h a l t. </b></h2> + +<table summary="" style=""> + +<tr> +<td><a href="#chap01">I. Das Märchen von Sitara</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap02">II. Meine Kindheit</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap03">III. Keine Jugend</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap04">IV. Seminar- und Lehrerzeit</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap05">V. Im Abgrunde</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap06">VI. Bei der Kolportage</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap07">VII. Meine Werke</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap08">VIII. Meine Prozesse</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap09">IX. Schluß</a></td> +</tr> + +</table> + +<hr /> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap01"></a>I.<br/> +Das Märchen von Sitara.</h2> + +<hr /> + +<p class="noindent"> +Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht +und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so +kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches +Wort und bedeutet eben „Stern”. +</p> + +<p> +Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist +1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst +und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen +Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder +weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen +aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile +zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise +gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur +einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein +der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen +schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden +sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden +Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. +Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich +bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose +Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was +nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan +ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich +auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der <b>Gewalt- und +Egoismusmenschen.</b> Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und +schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des +menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. +Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und +bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das +Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten +nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke +des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe +bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge +aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der +<b>Edelmenschen.</b> +</p> + +<p> +Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, +selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: +„D u s o l l st d e r T e u f e l d e i n e s N ä ch st e n +s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t z u m E n g e l +w e r d e st!” Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über +Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten, +deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet: „D u s o l l st +d e r E n g e l d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u +n i ch t d i r s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!” +</p> + +<p> +Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein +jeder Bürger und eine jede Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich +und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein. +Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine +tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach +Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es da ein Wunder, daß da unten im +Tieflande eine immer größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Daß +die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu +befreien und zu erlösen suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den +Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht +anders haben. Sie würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren +können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch +die Mächtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, die +Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen +arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche +Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die +Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen +unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen +diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr gäbe? Darum ist es +Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem +Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen +den, der es wagt, nach dem Lande der Nächstenliebe und der Humanität, nach +Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird +ergriffen und nach der „Geisterschmiede” geschafft, um dort gemartert und +gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend +in das verhaßte Joch zurückzukehren. +</p> + +<p>Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan, +jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen +Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und +beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches +Wort; es bedeutet „Mann”. Märdistan ist das Zwischenland, +in welches sich nur „Männer” wagen dürfen; jeder +Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil +dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der „Wald von +Kulub”. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl +des deutschen Wortes „Herz”. Also in den Tiefen des Herzens +lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen +hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und +mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, +von dem es in „Babel und Bibel,” Seite 78 heißt:</p> + +<p class="poem"> +„Zu Märdistan, im Walde von Kulub,<br/> +Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.<br/> +Da schmieden Geister?” +</p> + +<p class="poem"> + „Nein, man schmiedet sie!<br/> +Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,<br/> +Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.<br/> +Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.<br/> +Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.<br/> +Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.<br/> +Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug<br/> +Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.<br/> +Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.<br/> +Man stößt dich in den Brand; die Bälge +knarren.<br/> +Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,<br/> +Und Alles, was du hast und was du bist,<br/> +Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,<br/> +Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,<br/> +Gedanken und Gefühle, Alles, Alles<br/> +Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert<br/> +Bis in die weiße Glut -- -- --” + „Allah, Allah!”<br/> +„Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!<br/> +Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,<br/> +Wird weggeworfen in den Brack und Plunder<br/> +Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.<br/> +Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,<br/> +Die in der Faust der Parakleten funkelt.<br/> +Sei also still! Man +reißt dich aus dem Feuer -- --<br/> +Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest.<br/> +Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.<br/> +Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.<br/> +Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.<br/> +Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- --<br/> +Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,<br/> +Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.<br/> +Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.<br/> +Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,<br/> +Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- --<br/> +Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied<br/> +Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual<br/> +Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag<br/> +Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.<br/> +Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.<br/> +Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg<br/> +Was noch -- -- --” +</p> + +<p class="poem"> + „Halt ein! Es ist genug!”<br/> +„Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,<br/> +Der schraubt sich tief -- -- --”<br/> + „Sei still! Um Gottes willen!”<br/> + u. s. w. u. s. w. +</p> + +<p>So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im +Innern der „Geisterschmiede von Kulub” zu! Jeder Bewohner des +Sternes Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller +bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel +herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, +welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in +Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme +Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, +wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes +Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von +oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, +und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder +gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen +Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft +nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es +ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er +doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede +geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis +er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben.</p> + +<p>Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach +Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so groß und +so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste +Pein der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen +Gesellen „aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig +dankbar froh entgegenlächelt”. Einer solchen Himmelstochter +kann selbst dieser größte Schmerz nichts anhaben, sie +ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer +vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und sind +alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr +zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan +gehört. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr +hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach +Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines +Nächsten ist. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap02"></a>II.<br/> +Meine Kindheit.</h2> + +<p class="noindent"> +Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, +der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren +beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines +Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um +Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom +Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des „Krähenholzes”, aus der +er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte +lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man +seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die +Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen. +</p> + +<p>Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr +ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen +Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren +Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater, +meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern +und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte +für die Leute und spann Watte. Es kam vor, daß sie +sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie +splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier +Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und +altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fünf Kinder. +Sie war eine gute, fleißige, schweigsame Frau, die niemals +klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die +eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man +gegenwärtig diskret als „Unterernährung” zu +bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Großmutter, die +Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht +hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin, +eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer +eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch +ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus +ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem +sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre +Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr +davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig +rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen saß +und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr +eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie +gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit +einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort +verwischt.</p> + +<p>Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele +unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im +Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß +hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben +waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule +besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend lesen und +sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was +nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, +das machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er +doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine +Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, +und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht +so übel. Als ich eine Geige haben mußte und er kein +Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. +Dem fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und +Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung +zu erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich +sein Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn +Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen +vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. +Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm +auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. +Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe +uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue +Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der +wohlbekannte „birkene Hans”, vor dem wir Kinder uns besonders +scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im +großen „Ofentopfe” einzuweichen, um ihn elastischer und +also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden +vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten; +wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns +an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir +selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das +Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von +Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man +den Strick oder den „Hans” so lange, bis Vater nicht mehr +konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes, +heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als +Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem +Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach +Hause kam, als ihr erlaubt worden war.</p> + +<p>Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, +wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht +etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder +mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, +daß durch die Art und Weise, in der man mich umstürmt, +jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich +schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn die +kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht erst +nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben. +Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st +w i l l e n, um über mich klar zu werden und mir über +das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, +Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber +ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht +einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern ich +beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden +sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend +sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, sondern +heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. +Ich spreche hier nicht nur für dieses, sondern auch für +jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem +ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als +das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir +wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem oder +in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz +andere, in die richtigen Hände, nämlich in die +Hände des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der +es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und +Wahrheit gibt. Da läßt sich nichts verschweigen und +nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und +ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch +noch so pietätlos und tue es auch noch so weh. Man hat den +Ausdruck „Karl May-Problem” erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an +und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen +denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen oder +nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen. Das +Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem +großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die +einzelne Individualität transponiert. Und genauso, wie +dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist auch das Karl +May-Problem zu lösen, anders nicht! Wer sich unfähig +zeigt, das Karl May-Rätsel in befriedigender, humaner Weise +zu lösen, der mag um Gottes Willen die schwachen Hände +und die unzureichenden Gedanken davon lassen, über sich +selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen +Menschheitsfragen zu befassen! Der Schlüssel zu all diesen +Rätseln ist längst vorhanden. Die christliche Kirche +nennt ihn „Erbsünde”. Die Vorväter und Vormütter +kennen, heißt, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der +Humanität, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es +gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um +auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können. +Den Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das +Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine +Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die +meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag +man dies für unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht +nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr +zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in +seinem Falle das Richtige zu tun. -- --</p> + +<p>Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten +ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer +dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer +lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem +vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im +fünften und letzten fanden sich zehn alte +Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf +Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermögen! Das +erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus +nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, +dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben +unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern +bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. +Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, +wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. +Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die +für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet +wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle +zehn, zwölf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das +förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock +wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem +Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von +Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die +eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns +zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. +Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die +gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen +Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser +wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns +gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir +fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu +stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen +Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen +Wassertümpel gab, den wir als „Teich” bezeichneten. Der +Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns +erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn +das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern an, zu +husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte +immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl +wußten, daß die Aepfel gleich nach der Blüte am +besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. +Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie +gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand +wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch +mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den +„Teich” betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider +nicht mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir +alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen +zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit +Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten +Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen +Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren +uns auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie kamen +an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. Einige +ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche +Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. +Keine Sennerin kann sich mehr über ihre Zither freuen als +wir über unsere Frösche. Wir wußten ganz genau, +welcher es war, der sich hören leß <tt>[sic]</tt>, ob der Arthur, der Paul oder Fritz, +und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, +so sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, um +mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und uns dahin +zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider aber +kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, um +sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte +überall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie +gefühllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern +schönen Tümpel sah, die Hände über dem Kopf +zusammen und erklärte, daß dieser Pest- und +Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten +Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn +Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und +drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie +zu töten sei, bei fünfzehn „Guten Groschen” Strafe. +Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! Ja, +wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen wäre, dann +herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen, +wurde ausgeführt. Der Tümpel wurde so weit +ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen konnten. +Sie wurden in den großen Deckelkorb getan und dann hinaus +hinter das Schießhaus nach dem großen Zechenteich +getragen, Großmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder +einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das +Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel +Tränen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile +dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefällt worden sind, +das ist jetzt, nach über sechzig Jahren, wohl kaum mehr +festzustellen. Doch weiß ich noch ganz bestimmt, daß +Großmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen, +uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn +Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem +fünfmal größeren Garten erben, in dem es einen +zehnmal größeren Teich mit zwanzigmal +größeren Fröschen gebe. Das brachte in unserer +Stimmung eine ebenso plötzliche wie angenehme Aenderung +hervor. Wir wanderten mit der Großmutter und dem leeren +Deckelkorb vergnügt nach Hause.</p> + +<p>Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und +schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit +irgendeinem vererbten körperlichen Fehler behaftet. Vater +und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie +sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer +Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir +unbedingt verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt +sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre +siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein +örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und +der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald +ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das +Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger +und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit +jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst +berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu +bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.</p> + +<p>Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden +geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, daß wir +eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter +war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem +maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem +Fleiße, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der +Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein +konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden frei +zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, +plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt +zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. +Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem +Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte +Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen, +was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während +er, nicht schlafen könnend, im Bette lag und darüber +nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten +über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren +wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem +Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, die +Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte +Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das +geringste verstand. Er hatte gehört, daß da sehr viel +Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, daß er auch +ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, +jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden +vertrieben und Tauben angeschafft.</p> + +<p>Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu +bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel opfern, +vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an +den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an +ihnen fanden. Am meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir +beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider +veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure +„Blaustriche” gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. +Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige +Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie waren +nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren +„Blaustriche” entpuppten sich als ganz wertlose +Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, +jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler +fünfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich +heraus, daß der Täuberich altersblind war. Er ging +nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und +ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, +daß Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um +den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab +sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er +besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften, +um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; +bald kaufte er Wicken, die er „halb geschenkt” erhalten hatte. +Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem +Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und +Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer +gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und +wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses +unstäte <tt>[sic]</tt>, +unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß +das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die +übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie +härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen +wäre, weiter zu tragen. Da faßte sie einen +Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich +in diesem Falle viel, viel vernünftiger als damals gegen +unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie +sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, +aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten +müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher +erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne +noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr +Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie +sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu +sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und +zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. +Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz +dachte nach; dann sagte er: „Meine liebe Frau May, ich kenne +Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. +Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen +nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich +werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück, +so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. +Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir +Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie +Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte +mit ihm zu reden!”</p> + +<p>Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten +Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; +sie wurde angestellt. Während ihrer Abwesenheit führte +Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, +eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir +Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über +Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte +sich der Blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen +verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren +vollständig verschwunden. Der Arzt mußte durch +Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens +ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt +heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder +krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt +geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.</p> + +<p>Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz +vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden +großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß +und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden +Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem +elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben +erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu +bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das +geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge. +Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen gesundend, +heim. Aber das Alles hatte große, große Opfer +gefordert, freilich nur für unsere armen Verhältnisse +groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben +willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise +unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir +zogen zur Miete. -- --</p> + +<p>Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den +tiefsten und größten Einfluß auf meine +Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer +Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die +„Hohensteiner Großmutter” genannt wurde, stammte die +Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als +„Ernsttaler Großmutter” bezeichnen lassen. Diese Letztere +war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast +möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von +Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus +dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals +ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles? Sehr +einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige +Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der +tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum +sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erlösung sehnenden +Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben +vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor +sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die +Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter früh verloren +und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen +konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, +ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn +mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die +Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer +Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle +Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur +den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge +nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der +es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie +wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave +Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb +ihr treu.</p> + +<p>Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch +älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene +Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch +weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie +noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren +gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten. +Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst +gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das +Reifröckchen *)</p> + +<p class="footnote"> +*) Kleines Oellämpchen. +</p> + +<p class="noindent"> +angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das +Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon +zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich +dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und +auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten +gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr +abgegriffener Band, dessen Titel lautete: +</p> + +<p class="center"> +<b>Der Hakawati</b><br/> +d.i. +</p> + +<p class="letter"> +der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, +Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, +<tt>explanatio</tt> und <tt>interpretatio</tt> auch viele +Vergleychung und Figürlich seyn +</p> + +<p class="center"> +von<br/> +Christianus Kretzschmann<br/> +der aus Germania war.<br/> +Gedruckt von Wilhelmus Candidus<br/> +<tt>A. D: M. D. C. V.</tt> +</p> + +<p class="center"> +*<br/> +* * +</p> + +<p>Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller +orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern +Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese +Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich +wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in +denen sie es für nötig hielt, gab sie Aenderungen und +Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist +dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau +wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen +von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die +Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein +ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.</p> + +<p>Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die +Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tode +nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener +Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim. +Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe, +wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor +ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat +und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht, +daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei +uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts +verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das +Häßliche schön zu malen. Aber kurz nach der +Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche +Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzählte. Der +brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die +tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren +beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst +nach langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher +Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre +der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege +und der Hungersnot. Es war Alles verwüstet. Es gab nirgends +Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer +Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm +nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst +keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das +erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde +wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte, +Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe, +einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte +<tt>[sic]</tt> Mehl, eine Düte +<tt>[sic]</tt> Graupen, ein Scheibchen +Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell +fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder +gesehen; Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht +vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. +Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso +wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie +hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er +wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft +zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern +eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern +unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen +Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich +nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs +oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle +satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit +ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not!</p> + +<p>Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der +Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der +besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie +Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine +Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre +Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im +Stillen und belohnte sie dadurch, daß er ihren Kindern in +jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen. +Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er aß mit +seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur +Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde- sondern mit +in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen +Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich +ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die +große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner +Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und +gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu +schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so +nützliche Bücher!</p> + +<p>Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit +gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich +kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der +jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und +er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen. +Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald +wußte er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und +Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in +seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre +Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese +Wißbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des +Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen +mit sich gehen zu lassen. Ich muß das erwähnen, um +Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige +Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen +Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte +auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.</p> + +<p>In dieser Zeit war es, daß Großmutter während +des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden +sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. +Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach +drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein +Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz +geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das +Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches +gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher +kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie +hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am +Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die +Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der +Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu +nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Nächte +lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch +irgendeine Bewegung zu zeigen, daß sie noch lebe -- -- +vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung +möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab +es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, daß +sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz +unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem +Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum +letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste +Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an +Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken +aus: „Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich +festhalten!” Und richtig, man sah, daß die scheinbar +Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd +öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte +nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden +andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber von da +an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als +vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen +unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und +Leben gedacht und empfunden hatte. Es muß schrecklich +gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch +fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie +nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den +sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte +jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und +zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu +verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube, +nicht aber an den Tod.</p> + +<p>Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz überwunden, +als Großmutter infolge der Versetzung und +Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden Kindern +in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen +wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder +jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver +Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, hielt um ihre Hand +an. Jedermann redete ihr zu, sie müsse ihren Kindern doch +einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und +hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit +wieder Witwe. Er starb und hinterließ ihr alles, was er +besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven, +fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um +sie. Sie tat ihr Mädchen zu einer Nähterin und ihren +Knaben zu einem Weber, der ihn von früh bis abends am +Spulrad beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter +nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz +von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während seines +Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen; er hatte +sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiß +erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses +ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam, +sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat +er sowohl als Knabe wie auch als Jüngling seine Pflicht. Er +war fleißig und wurde ein tüchtiger Weber, dessen Ware +so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, daß jeder +Unternehmer ihn gern für sich arbeiten ließ. In seinen +Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu +botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich +bei dem Oberförster erworben hatte Darum machte es ihm +große Freude, daß sich unter der oben erwähnten +Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante +Bücher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen +Freibeschäftigungen von großem Nutzen war. Ich denke +da besonders an einen großen, starken Folioband, der gegen +tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte:</p> + +<p class="center"> +Kräutterbuch +</p> + +<p> +Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn <tt>Dr. +Petri Andreae Matthioli</tt>. Jetzt widerumb mit vielen +schönen newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen / +vnnd andern guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern +Fleiß gemehret vnnd verferdigt / +</p> + +<p class="center"> +Durch<br/> +Joachimum Camerarium,<br/> +der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct. +</p> + +<p> +Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der +Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann die +Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben +genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brennöfen. +</p> + +<p class="center"> +Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio,<br/> +in keinerley Format nachzudrucken.<br/> +Gedruckt zu Franckfurt am Mayn<br/> +M. D. C.<br/> +<br/> +*<br/> +* * +</p> + +<p>Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses Buch +sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt +sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der +Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch, +böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was +später besonders mir ganz außerordentlich +vorwärts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses +köstlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, +viel mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die +Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer +ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer +Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft +und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche +sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch +wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten +Freuden, und ich kann wohl sagen, daß Vater mich dabei +vortrefflich unterstützte.</p> + +<p>Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer +Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der +xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das +Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz +vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses +und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der +Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. +Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem +Jahre das Werk stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn +sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser +Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit +komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter +für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche +Gabe, zu erzählen.</p> + +<p>Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie +schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der +widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren +Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder +einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie +erzählte, ganz nur für ihn allein erzählte. Und +das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer +reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am +Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, +der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, +daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der +Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im +höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, daß sie +das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie +nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war +Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am +sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. +Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem +eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine +Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was +sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im +Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.</p> + +<p>In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von +Sitara, sondern das Märchen „von der verloren gegangenen +und vergessenen Menschenseele” auf. Sie tat mir so unendlich +leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen +Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese +Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich +das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen +eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, daß die +Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen +wurde und daß alle unsere Psychologie bisher nicht imstande +war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner +Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die +Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin +die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte +sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß, +küßte mich auf die Stirn und sagte: „Sei still, mein +Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie +ist da!” „Wo?” fragte ich. „Hier, bei mir”, antwortete sie. +„Du bist diese Seele, du!” „Aber ich bin doch nicht +verloren,” warf ich ein. „Natürlich bist du verloren. Man +hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. +Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen +haben, Gott hat dich nicht vergessen.” -- Ich begriff das damals +nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später. +Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes +lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es +gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder +Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und +Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber +das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. +Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein +Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur +innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. +Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, +sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, sondern sein +Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, +nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen +gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist +der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der +Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung +zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir +tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und +nur wer eine so tief gegründete und so mächtige +Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend +wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt +beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich +plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die +Fähigkeit, mich zu kritisieren, <b>sonst keiner!</b></p> + +<p>Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern +bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, +meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, +der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich +und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz +selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte, +das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine +kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich +erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir +kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in +Großmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel +duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir +den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. +So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich +wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben +worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und +klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand, +einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es +hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder. +Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider +besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der +Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit +der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir +bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, +daß ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später +doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu +werden.</p> + +<p>Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart +entwickelt und in seinen späteren Grundzügen +festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun +vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den +Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. +Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so +größeres Kind, je größer ich wurde, und +zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß +und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die +Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals +bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch +richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich +unausgesetzt die Erfahrung gemacht, daß es dem Volke genau +ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus +äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst +heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und +schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus +geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so +stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig +bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem +großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke +nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir hunderte von +Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und +tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir +werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, +falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in +unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in +den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen +kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin +selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum +weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine +Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben +keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will +Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen +Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, +weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was +ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird. +Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, +Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus +köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt +überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst +besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler +und Dummheiten machen läßt, vor denen er die +jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er +läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß +der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah, +obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun +seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier +liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu +drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte +Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber +lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.</p> + +<p>Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am +Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war +der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich +die älteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum +Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive +Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht +wollte, so machte man keinen „Summs”; der wurde +fortgeprügelt und kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber +kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, +obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die Andern aber +dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch +niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren +Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich +still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen +kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht +übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt +die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann +aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage +ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere +Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich +leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter +arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen +hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir +unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an +das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch „Der +Hakawati” gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß +dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich +vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war +die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß +ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den +Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der +Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen +hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und +Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie +erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen +vermochte.</p> + +<p>Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die +Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr +an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn +Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern +erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam +Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf +zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch +von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und +schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und +dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, +was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich +an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte. +Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere +Verhältnisse tun dürfen. Und er mußte immer daran +denken, daß es unter unsern Vorfahren bedeutende +Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen +mußten, daß wir ihrer nicht würdig seien. Er +hatte das werden gewollt, war aber von den Verhältnissen +gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das +ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen +Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, was er +war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug +seine Wünsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich. +Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nichts zu +versäumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm +versagt gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich +von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche +Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut +und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und +glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß ich, +ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine +„Kindheit” jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. Sie +starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen +öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen +bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid +und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich +schier ohne Ende peinigt. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap03"></a>III.<br/> +Keine Jugend.</h2> + +<p class="noindent"> +Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft +mich über dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du +nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht +neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz +in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben +Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und +ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und +Wärme. Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser +Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in +sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann +es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, +wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch +der immer nur Empfangende! +</p> + +<p>Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich +über mich befindet, gleich von vornherein aufzuklären. +Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar +für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte +bisher nur mein „gutes Auskommen,” weiter nichts. Selbst +hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die +nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch +erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit +dem Gedanken vertraut, daß ich genau so sterben werde, wie +ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender +Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich. +Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts +ändern.</p> + +<p>Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß +mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem +raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein +scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, +diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in +Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte sehr wohl, was er +tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lanzierte. Er +erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind +gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind +jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von +Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos +gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und +humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. +Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem +anderen Falle als litararische <tt>[sic]</tt> Kavaliere erweisen, auf diesem +ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein +schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital +als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von +dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht grad +aus für meinen bescheidenen Haushalt und für die +schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu +bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge +tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner +Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört. +Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge +jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld +von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und +fast ein Jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich +enttäuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, daß +jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu +schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle +gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten +zusammengenommen.</p> + +<p>Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, +nun wieder zurück zur „Jugend” dieses angeblichen +„Millionärs”, der nach ganz anderen Schätzen strebt +als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.</p> + +<p>Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen +Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem +gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich +vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger +Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, +Mißwuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte +erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des +Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von +unserem Nachbarn, dem Gastwirt „Zur Stadt Glauchau”, des +Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die +vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. +Wir gingen nach der „roten Mühle” und ließen uns +einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend +etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir +pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen +Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu +kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der +Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder +drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie +nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise +gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, +auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz +zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so +außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den +Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, +solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da +saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh +bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte +die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen +mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die +Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten wir +alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar auch +zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür +gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf +fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr +gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung +für die verflossene und Anregung für die kommende +Woche.</p> + +<p>Während wir in dieser Weise fleißig daheim +arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu +tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. +Es galt nämlich, den König Friedrich August und die +ganze sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten. +Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der +König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande +gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in +Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurück, +und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war +nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten +sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da +kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie +fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und +Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen +wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten +sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen +auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen +Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie +baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich zu +ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt +Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist +Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen +Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte +ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die +Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden, +vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches +derart beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte, +sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, +daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von +der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, +er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es +nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu +vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt +Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten +geschehe, und da allüberall vom Kampf und Krieg und Sieg +gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, daß +auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen, +sondern auch in kriegerische Gewänder und kriegerische +Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn +ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mußte +Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels +standen überall an den Ecken und Winkeln herum, +erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern +gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen +über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und +die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte, +böse Frau war man empört. Die war an Allem schuld. Sie +hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des +Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser +niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine +Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter +Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand fürchtete, +auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloß die +allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In +Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und +eine Gardekompagnie. Die erstere schoß nach einem +hölzernen Vogel, die letzere <tt>[sic]</tt> nach einer hölzernen Scheibe. Zu +diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere +gegründet werden, besonders auch eine polnische +Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich +denn heraus, daß es in unserem Städtchen eine ganz +ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch +veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte +keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren +dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich +glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen +Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den +Schützen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so +ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreißig Offiziere +waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde +ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen +ganz selbstverständlich nur klein bemessen sein konnte; aber +der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim +Militär gestanden und darum alle dreiunddreißig +Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur +vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger +Leute könnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so +blieb es bei dem, was beschlossen worden war.</p> + +<p>Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam +einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser +Charge nicht zufrieden; er trachtete nach höherem. Darum +beschloß er, sobald er ausexerziert war, sich ganz +heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas davon bemerkte, im +„höheren Kommando” einzuüben. Und da er mich +ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen +vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte mit ihm +tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von +Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen +Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald +Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die +sächsische Armee. Ich wurde erst als „Zug”, dann als ganze +Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, +Brigade und Division. Ich mußte bald reiten, bald laufen, +bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach +links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf +den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich +war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem +jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es +mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der +einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, +gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der +militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich +weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine +sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch +ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater +Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: „Junge, dazu hast +du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour +werden!” Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen +ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese Püffe, +Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohle und +zur Rettung des Königs von Sachsen und seines Ministeriums +empfangen zu haben! Wenn er das wüßte!</p> + +<p>Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der +Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm +behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene +Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin später, als +ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe, +Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese +Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf Kompagnieen +taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast täglich, wozu +mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie +wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt +haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein +Wunder vor. Es gab auch an andern Orten „Königsretter”. +Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, +sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen +und für den König alles zu wagen, unter Umständen +sogar das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser +Befehl. Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten. +Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf dem +Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war +Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und saß +da mitten drauf. Es war keine leichte Sache für ihn, +zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den +Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als +der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke +und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war +geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch +gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war +überhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz! +Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und Kindern besonders +Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an +allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein +grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die +Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: „Achtung -- -- Augen +rechts, rrrricht’t euch -- -- Augen grrrade aus -- -- G’wehr bei +Fuß -- -- G’wehr auf -- -- G’wehr präsentiert -- -- +G’wehr über -- -- Rrrrechts um -- -- Vorwärts marsch!” +Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die +Musikanten mit dem türkischen Schellenbaum, die Tamboure, +sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die +Schützen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so +marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts zur +damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vorüber, +dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach +Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der +Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte +hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des +Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem +ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser +Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine +Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie +hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen +wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich +glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle +meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln +oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht, +monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück +zu zwei Pfennige. Die mußte ich ihm vom Krämer holen, +weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er +rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht +vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer +Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte +er:</p> + +<p>„Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche +Begeisterung für Gott, für König und +Vaterland!”</p> + +<p>„Aber was bringt sie ein?” fragte die Frau Kantorin.</p> + +<p>„Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre +Glück!”</p> + +<p>Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu +streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein +Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte +über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, +König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre +Glück; das wollte und mußte ich mir merken! +Später hat dann das Leben an diesen drei Worten +herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die +Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.</p> + +<p>Von allen, die heut ausgezogen waren, um große +Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul +zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten +übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als +Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das +Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar +erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister +Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen +Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein +Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel +geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus +triftigen Gründen entlassen worden waren und die die +Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz +bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg <tt>[sic]</tt> geschickt habe, das dortige +Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die +überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, +daß man aus Freiburg <tt>[sic]</tt> die Weisung erhalten habe, sofort +wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die +Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe +für den König und die Regierung nicht das Geringste +mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es +heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich +empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß +einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels +zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden +Vätern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde +ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder +Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter +klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg +hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um +uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend +in Empfang zu nehmen.</p> + +<p>Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des +tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die +Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals +zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was +später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick +im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich +gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der +Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir +selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der +frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf +mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors +vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu +Geist und Seele geworden sind.</p> + +<p>Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, +früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder +Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte +dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige +Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem +guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen +nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell +treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So kam +es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli +übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für +teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor +mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht +angängig war, da komponierte er selbst. Und er war +Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammt aus dem +kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen, +ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium +förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor +wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden +können und sah einen Taler für ein Vermögen an, +von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die +Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu +machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher +Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die +komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und +hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, +wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre. +Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden +Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz +sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und +einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er +sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von +Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders +auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein +wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als +zweiunddreißigfüßiger „Prinzipal” +ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer +sanften <tt>„Vox humana”</tt> zugebilligt wurde. Sie +besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, +deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit +verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder +teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits +erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben, +als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich +hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als +Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. +Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal +gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen +Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete +keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen +verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen +Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat +sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, +ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht +daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es +ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu +sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den +begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen +kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter +Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine +ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine +Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein +armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und +außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen +war.</p> + +<p>Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. +Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine +selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz +selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn +zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht +einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der +Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau +Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der +Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der +Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: „Es +gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike +hält es nicht aus; sie hat Migräne”. Manchmal +hieß es auch „sie hat Vapeurs”. Was das war, wußte +ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem, +was ich auch nicht wußte, nämlich von der +Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, +wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der +gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach +und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der +Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren +brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so +weit bin ich jetzt noch nicht.</p> + +<p>Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in +dem, was er meine „Erziehung” nannte. Notabene mich „erzog” +er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte +alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das +erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich +nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig +höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm +nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein +sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er +aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der +geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im +Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken +vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein +hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine +Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein +Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in +andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht +wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er +glaubte stets an das, was er wünschte, und war +vollständig überzeugt, es erreichen zu können. +Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und +über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, +nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse, +die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum +größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, +daß selbst das allergrößte Opfer eines armen +Teufels dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein +Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine +Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er dazu +gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. +Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie +möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und +hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.</p> + +<p>Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der +man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir +leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester +ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben +gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die +ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald +klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein +großes, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so +viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht +einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da +begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung +aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr +lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die +nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren +waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so +drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge +darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger +Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß. +In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer +Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies +allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen +großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich +bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, +zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den +Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, +für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der +andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter +Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und +schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen +Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich +von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr +klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich +verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich +bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige, +höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der +Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele +auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr +ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes +Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es +ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, +was man als „Jugend” bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein +echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie +beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, +daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat +fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; +man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, +daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen +gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben +vermag.</p> + +<p>Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, +beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf +die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten +Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein +oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er +brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder +gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser +behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte +Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte +Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie +Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, +mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter +einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht +mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir +dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es +war eine Verfütterung und Ueberfütterung +sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zu Grunde +gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der +äußerst schmalen Kost so überaus kräftig +entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen +ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden +der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und +keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er +pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich +die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt +wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen +seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es +wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte +Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr +Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der +Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um +Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets +dabei und ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich +gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben +zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm, +in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch +nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein +Verständnis. Ich konnte da Dinge hören, und +Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten +blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten +Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn +niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein +regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für +sieben Pfennige und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder +für sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei +besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen +für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, +mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen, +selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen +einstellte. Diese Herren wenigstens mußten doch wissen, +daß ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen +Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer +Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die +mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht +frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf +Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu +hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus +meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg +gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben +mußten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich +mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei +ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten +konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, daß +dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. +Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es +konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis +emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so +nötig war.</p> + +<p>Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich +seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur +ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch +Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei +Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen +Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit +Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige +für uns beide. Es wurde gegeben: „Das +Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena.” Meine Augen +brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber +sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und +haßten; sie duldeten; sie faßten große, +kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf König und +für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals +gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause +gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie +die Puppen bewegt werden.</p> + +<p>„An einem Holzkreuze,” erklärte sie mir. „Von diesem +Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder +der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das +Kreuz bewegt.”</p> + +<p>„Aber sie sprechen doch!” sagte ich.</p> + +<p>„Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen +hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen +Leben.”</p> + +<p>„Wie meinst du das?”</p> + +<p>„Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber +verstehen lernen.”</p> + +<p>Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals +zu gehen. Es wurde gespielt „Doktor Faust oder Gott, Mensch und +Teufel.” Es wäre ein resultatloses Beginnen, den Eindruck, +den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. +Das war nicht der Göthesche Faust, sondern der Faust des +uralten Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze +Philosophie eines großen Dichters aufgestapelt wurde und +auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten +Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um +Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich +hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn +mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals +wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust hätte +mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt mir, +aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der +Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese +Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was sie sagten, das +war groß, unendlich groß, weil es so einfach, so +unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott +zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und +die Fäden, diese Fäden; die alle nach oben gehen, +mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten +bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am +Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist +überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel +tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch +nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in +dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht +direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich +mußte als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die +Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, +jemals einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber +ich bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller +Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich +tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie +damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das +Theater bis auf den heutigen Tag als eine Stätte erschienen, +durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber, +häßlich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor +fragte, wer dieses Theaterstück ausgesonnen und +niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner +Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein +großer, berühmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe +geheißen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht, +welches nicht für Puppen, sondern für lebende Menschen +geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: „Herr Kantor, ich will +auch so ein großer Dichter werden, der nicht für +Puppen, sondern nur für lebende Menschen schreibt! Wie habe +ich das anzufangen?” Da sah er mich sehr lange und unter einem +fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: „Fange es an, +wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen +sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.” Diesen +Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen; +aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf +meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine +Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, +daß die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht +von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was +ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob +ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der +Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in +den Händen hält, um das Volk der Menschen zu +beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst +später an den Folgen zu ersehen.</p> + +<p>Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die +nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das +Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem +ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ +sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernsttal +nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um +ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als +mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25 +Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10 +Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb +täglich über die Hälfte der Sitze leer. Die +„Künstler” fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde +himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen; +da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war -- -- -- ich. +Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine +Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß Vater +schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: „Karl, hole deine +Trommel herunter; wir müssen sie putzen!” „Wozu?” fragte +ich. „Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal +über die ganze Bühne herumzutrommeln”. „Wer ist die +Preziosa?” „Eine junge, schöne Zigeunerin, die eigentlich +eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt. +Jetzt kommt sie zurück und findet ihre Eltern. Du bist der +Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit +weißer Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt +gemacht. Wird das „Haus” voll, so gibt der Herr Direktor dir +fünf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du +nichts. Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe.”</p> + +<p>Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne +schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Knöpfe! +Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne herum! +Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht sehr +wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr pünktlich zur +Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich gefiel sämtlichen +Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau Direktorin +streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein +intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles +Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht. +Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit +dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. +Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter, +denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt und +ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die +fünfzig Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen +Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die +Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der jenseitigen +Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schloßvogt Pedro +spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das +Zeichen für mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach +einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu +verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht +irren. Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe +mit. Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über +dreißig Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf +meine Weste. Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut +mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster +hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich +eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da +wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichtes +empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart +gefüllt, daß schnell ganz vorn noch einige „Logen” +eingerichtet wurden mit dem Preise von zehn Neugroschen pro +Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und +Großmutter hatten Freiplätze bekommen. Ich war eben an +diesem Tage ein höchst wertvolles Menschenkind. Diese +Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, daß die Frau +Direktorin sich bewogen fühlte, mir meine fünf +Neugroschen schon ehe der Vorhang zum ersten Male aufging, in die +rechte Hosentasche zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit +und meine künstlerische Begeisterung bedeutend.</p> + +<p>Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke +meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte in +Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in der +Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der Bühne +gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel +an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don +Fernando und Donna Klara und noch irgend wer standen auf der +Bühne. In der gegenüberliegenden Kulisse lehnte der +Schloßvogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er +sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, daß er +glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. +Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber +nahm das ganz selbstverständlich für das verabredete +Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen, +begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um +die Bühne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor +Schreck ganz starr. „Lausbub!” schrie mir der Schloßvogt +zu, als ich an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse +heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon +war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte man mir, +doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem, +was ausgemacht worden war, nämlich dreimal rund um die +Bühne herum. „Lausbub!” brüllte der Schloßvogt, +als ich zum zweiten Mal an ihm vorüberkam, und zwar tat er +das so laut, daß es trotz des Trommelwirbels auch hinaus- +und über den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes +Gelächter antwortete von dorther; ich aber begann meine +dritte Runde. „Bravo, bravo!” erklangen die Beifallsrufe des +Publikums. Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn +Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, +faßte meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und +die Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich +an:</p> + +<p>„Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch +auf!</p> + +<p>„Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!” rief +man im Zuschauerraum lachend.</p> + +<p>„Ja, weiter, immer weiter!” antwortete auch ich, indem ich +mich von ihm losriß. „Die Zigeuner haben zu kommen! Raus +mit der Bande, raus mit der Bande!”</p> + +<p>„Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!” schrie, +brüllte und johlte das Publikum.</p> + +<p>Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von +neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen, +voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die Andern alle +hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rund +um und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich +das Publikum nicht zufrieden. Es rief: „Heraus mit der Bande, +heraus!” und wir mußten den Umzug von neuem beginnen und +immer wieder von neuem. Und am Schluß des Aktes mußte +ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich +eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr +Direktor ließ mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze +Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der +Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine +Sache gut machen würde, versprach er mir noch weitere +fünfzig Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf +mein Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der +Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal +trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die +„hohen Herrschaften” zu bitten, sich noch nicht gleich zu +entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu +Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts zu verkaufen, so +billig, wie sie morgen, übermorgen und auch fernerhin +unmöglich abgegeben werden könnten. Als Reminiszenz auf +den Wortlaut des heutigen Beifalles hatte der Herr Direktor dem +Schlusse dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: „Also +rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, +rrrraus!”</p> + +<p>Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem +Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten Erfolg. +Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion +als auch diejenigen aller übrigen Künstlerinnen und +Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam +nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, sondern dazu auch +noch ein Freibillett, welches für den ganzen, diesmaligen +Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es wiederholt +benutzt, und zwar für Stücke, in welche Vater mich +gehen lassen konnte. Uebrigens gab es bei dieser braven Truppe +wohl kaum eine sittliche Gefahr für die Zuhörerschaft, +denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben +beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er +alle zärtlichen Liebesszenen so ängstlich aus seinen +Stücken streiche, antwortete er: „Teils aus moralischem +Pflichtgefühl und teils aus kluger Erwägung. Unsere +erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu +häßlich für solche Rollen.”</p> + +<p>In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach +dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen hangen. +Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer späteren +Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott, +den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir +sogar noch heut sehr häufig, obwohl diese drei Foktoren +<tt>[sic]</tt> nicht nur die +bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren +Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt, +als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon +und ließ mir von der leeren, hohlen Oberflächlichkeit +gewaltig imponieren, wie jedes andere größere oder +kleinere Kind. Die Menschen, die solche Stücke schrieben, +die auf die Bühne gegeben wurden, kamen mir wie Götter +vor. Wäre ich ein so bevorzugter Mensch, so würde ich +nicht von geraubten Zigeunerinnen erzählen, sondern von +meinem herrlichen Sitara-Märchen, von Ardistan und +Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der +Erlösung aus der Erdenqual und allen anderen, ähnlichen +Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener +Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und +der auch mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, +in die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten +Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch +Anderes kam hinzu.</p> + +<p>Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß +war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, genoß +evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich +vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch +konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen +Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns +weder für besser noch für berufener als sie. Unser +alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es +gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche seines Kirchenamtes +religiösen Haß zu säen. Unsere Lehrer dachten +ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich +Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei +ursprünglich tief religiös aber von jener angeborenen, +nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit +einläßt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe +stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich +dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich +hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über +religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: „Ein +Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.” Das habe ich mir +gemerkt. Ich habe bereits gesagt, daß ich an jedem Sonn- +und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein +oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe +täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch +heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang +beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe +und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch +unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.</p> + +<p>Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und +zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine +jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir +heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an +denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz +besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war +folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet +worden waren, beteiligten sich am darauf folgenden grünen +Donnerstag zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen +Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung, +sonst während des ganzen Jahres nicht, standen die ersten +vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares, +um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, +Priesterrock, Bäffchen <tt>[sic]</tt> und weißes Halstuch. Sie +standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden +Kommunikanten und hielten schwarze, goldgeränderte +Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten +heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende +gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe +ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen, +gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare wirken noch +heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.</p> + +<p>Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am ersten +Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des +Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu +besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis +mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser +Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht +selten vor, daß der Organist dem kleinen Sänger zur +Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren. +Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die +Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir +fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner +Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner +Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden +und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden +Gemeinde gesungen hat, daß ein helles Licht erscheine und +von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn +er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von +Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, +wenn alle andern Sterne verlöschen.</p> + +<p>Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt +wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf einen +der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach +dem andern unter den Füßen hinweggenommen wurde, so +daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu +schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde +mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein +Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu, +dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm +emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen +sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten würden, von allem +Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu +sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner +sogenannten Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut +noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, +durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen +Qual geworden ist.</p> + +<p>Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim +richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa +hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet, +sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam +und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters. +Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns +führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen, +das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen +unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen +Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im +Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher, +die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa +eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle +Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten +bis zum letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt das +für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch +der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, wenn auch nur +scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle +Beteiligung an den „Unarten” anderer Knaben. Er erzog mich, wie +man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich +mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu +„lernen”! Von dem Handschuhnähen wurde ich nach und nach +befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine +Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine +Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und +lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, +mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, +war dies höchst gefährlich. Saß ich dann +betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem +Buche, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür +hinaussteckte und erbarmend sagte: „So geh schnell ein +bißchen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst +schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!” O, +diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da +wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der +schlage in meinen „Himmelsgedanken” das Gedicht auf Seite 105 +auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine +Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah +Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen +Königstochter, die für mich und meine Leser als +„Menschheitsseele” gilt.</p> + +<p>Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von +Büchern jeden Genres in Privathänden befand, +zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben +resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab +deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des +Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich +auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte, +Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur +Bücher zum Lernen, und für diese letzteren sei ich +jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, +denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr +nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge +in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch +war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt +fehlte, doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:</p> + +<p class="poem"> +„Ein <tt>buer</tt> <tt>[sic]</tt> lernen muß,<br/> +Wenn er will werden <tt>dominus</tt>,<br/> +Lernt er aber mit Verdruß,<br/> +So wird er ein <tt>asinus</tt>!” +</p> + +<p>Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und +meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein +<tt>asinus</tt>, sondern ein <tt>dominus</tt> werde. Also nun +schnell und fleißig lateinisch lernen!</p> + +<p>Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den +Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika +auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist +so viel wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich +ganz von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet +auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch +in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder mit +Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin +gedruckt und „Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm, +Prinz von Preußen” gewidmet. Darum mußte es gut und +von sehr hohem Werte sein! Der Titel lautete: <tt>„Chansons +maçonniques”,</tt> und zu der Melodie, die mir am besten +gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste +hierhergesetzt sein mag:</p> + +<p class="poem"> +„Nons vénérous de l’Arabie<br/> +La sage et noble antiquité,<br/> +Et la célèbre Confrairie [sic]<br/> +Transmise à la postérité”. +</p> + +<p>Das Wort „Freimaurerlieder” reizte ganz besonders. Welch +eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu +können! Glücklicherweise erteilte der Herr Rektor +für Privatschüler auch französischen Unterricht. +Er gestattete mir, in diesem „Zirkle” einzutreten, und so kam +es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und +Französischen zugleich zu befassen hatte.</p> + +<p>Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen +weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. Sein +Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte von +geographischen und ethnographischen Werken, die er meinem Vater +alle für mich zur Verfügung stellte. Ich fiel über +diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr +freute sich darüber, ohne irgendein doch so naheliegendes +Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte, +war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer +freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in +seinen Worten, als vielmehr in den Büchern aus, die er +besaß. Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr +Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph, +sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit +ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich schon +gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zunächst +alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei +Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und +andern guten Menschen fügte. So kam es, daß ich vom +Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen +Wohltätigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor +daneben einen Missionsbericht, in welchem über das +offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit +bittere Klage geführt wurde. In der Bibliothek des einen +lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene „Großen” +kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen, +und in der Bibliothek des zweiten alle jene andern +„Großen”, denen die religiöse Offenbarung himmelhoch +über jedem wissenschaftlichen Ergebnisse steht. Und dabei +war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz +dummer Junge; aber noch viel törichter als ich waren die, +welche mich in diese Konflikte fallen und sinken ließen, +ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so +verschiedenen Büchern stand, konnte gut, ja konnte +vortrefflich sein; mir aber mußte es zum Gifte werden.</p> + +<p>Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche +Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt +werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise +zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner +Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer +gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Uebung besaß, +und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr +viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch +außerdem dafür geopfert! Der Kegelschub war ein +vielbesuchter, zugebauter und heizbarer, so daß er zur +Sommer- und zur Winterszeit und bei jeder Witterung benutzt +werden konnte. Es wurde täglich geschoben. Von jetzt an +hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen +Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und +dauerte bis zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war +der Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, an dem die +Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen, +ihre Einkäufe zu machen und -- <tt>last not least</tt> -- +eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden +fünf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen +Montagen vor, daß ich mich von Mittags zwölf Uhr an +bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur fünf +Minuten ausruhen zu können. Zur Stärkung bekam ich des +Nachmittags und des Abends ein Butterbrod <tt>[sic]</tt> und ein Glas abgestandenes, +zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein +mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte, +mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister +anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen +Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig +man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da +wöchentlich zusammenbrachte, war gar nicht unbedeutend. Ich +bekam pro Stunde ein Fixum und außerdem für jedes +Honneur, welches geschoben wurde, einen festbestimmten Satz. +Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert, +so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache Höhe. Es +hat Montage gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach +Hause brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu +unserer Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.</p> + +<p>Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht +den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches, +billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde +an anderer Stelle nachweisen, daß es sich hier nicht um +Leute handelte, welche das kannten, was man unter Rücksicht +oder gar Zartgefühl versteht. Man platzte mit allem, was auf +die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich +da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute +Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches da +vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu +mir. Alles, was Großmutter und Mutter in mir aufgebaut +hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das +empörte sich gegen das, was ich hier zu hören bekam. Es +war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene +kräftige, kerngesunde Fröhlichkeit wie z. B. bei einem +oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute, +welche aus der brusttötenden Atmosphäre ihres +Webstuhles direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich +für einige Stunden ein Vergnügen vorzutäuschen, +welches aber nichts weniger als ein Vergnügen war, für +mich jedenfalls eine Qual, körperlich sowohl als auch +seelisch.</p> + +<p>Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel +schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche +böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was +für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und +äußerlich geradezu ruppige, äußerst +gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals +gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war +die einzige, die es in den beiden Städtchen gab. +Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Veränderung, die sie +erlitt, war die, daß die Einbände immer schmutziger +und die Blätter immer schmieriger und abgegriffener wurden. +Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von neuem +verschlungen, und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und +zu meiner Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich +einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden +steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, +mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der +Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo +Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der +wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle +auf dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige <tt>[sic]</tt> Bandit. Die schöne +Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der +Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von +Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsrück oder +der Raubritter als Beschützer der Armen. Emilia, die +eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der +Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der König als +Mörder. Die Sünden des Erzbischofs u. s. w. u. s. +w.</p> + +<p>Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da +waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen +darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne sie alle +lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las sie; +ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm +sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang, +glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts +dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl +verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten +gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche +Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was +da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen +Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, +noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, +nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.</p> + +<p>Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung +begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu +unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie +scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man +behauptet, daß der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama +sei. Soll ich mich dem anschließen, so darf ich das, was +auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist und das, +was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander +verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen +gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur +das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was +für eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monströs +dicken, wasserköpfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt +worden. Der sehr gut, ja vielleicht außergewöhnlich +veranlagte Knabe hatte sich zu einer unartikulierten geistigen +Mißgestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besaß +als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat, +ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erwähnten starken, +unzerreißbaren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der +Erde festgehalten, daß ich für König und +Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als +materielle Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an +denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet hatten, +den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und seine Regierung +von dem Untergange zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser +Halt genommen, und zwar durch die Lektüre dieser +schändlichen Leihbibliothek. Alle die Räuberhauptleute, +Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle +Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte +Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die +grausame Obrigkeit geworden. Sie besaßen wahre +Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose +Wohltätigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller +Armen, aller Bedrückten und Bedrängten auf. Sie zwangen +die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser +herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders +die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. +Und vor allen Dingen die Fülle des Lebens, der +Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern +herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas +Hochinteressantes, irgend eine große, schwere, kühne +Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den +Büchern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah +in den Traktätchen des Pfarrers? In seinen langweiligen, +nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz +guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? Da waren +große, weite und ferne Länder beschrieben, aber es +ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und +Völker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten +nichts. Das war alles nur Geographie, nur Geographie, weiter +nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnographie, nur +Ethnographie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott, +kein Mensch und auch kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden +in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es +gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt, +nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er +allein es ist, für den die Bücher geschrieben werden. +Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab, +denn diese bedeutet für sie den Tod. Welch ein Reichtum des +Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen +auf die Eigenheiten und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch +in die Hände nimmt! Kaum fühlt er während des +Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und +welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. +Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal +Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder +böse Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, +Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt +bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche +Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit +und Unumstößlichkeit der göttlichen und der +menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch +unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den +Rinaldo Rinaldini geschrieben!</p> + +<p>Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in +meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner +Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam +die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in +hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und +Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur +Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je +länger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern +überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, +von „edlen” Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer +verschenkten. Daß sie diese Reichtümer vorher andern +abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns +irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige +Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und +gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und +bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo +Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür +hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch +zählte und dabei sagte; „Das ist für euren Knaben; er +mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke +schreibt!” Das letztere war mir nämlich, seit ich den +„Faust” gesehen hatte, zum Ideal geworden.</p> + +<p>Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen +Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich +zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in +anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar +nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche +Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren, +und schließlich bleibt nur die traurige Negation +zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen +verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die +Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung +zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! das +führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, +die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon +ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer, +immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.</p> + +<p>Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was nach +der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich +gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber +hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mußte mit +meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim +Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen +uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, +mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm +verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte +ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er +versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität +und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns +nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir +recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem +Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur +eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das +hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir +glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur +einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer +Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte +sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich +ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns +fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn +wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung +bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange +Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: „Meine +liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind +arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe, +und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen +weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muß für +sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen. +Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht +fleißig, so wird sich ganz gewiß zur rechten Zeit +jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!”</p> + +<p>Das war abends. Ich saß da und las in einem +Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was Herr +Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus Empörung über +solche Art der Frömmigkeit, als über die Abweisung +selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand er auf und +ging. Unter der Tür aber sagte er: „Einen solchen Versuch +machen wir nicht mehr! Karl geht auf das Seminar, und wenn ich +mir die Hände blutig arbeiten soll!” Als er fort war, +saßen wir andern noch lange Zeit traurig beisammen. Dann +gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. +Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, in +dem ich gelesen hatte, führte den Titel „Die +Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller +Bedrängten.” Als Vater nach Hause gekommen und dann +eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich aus der +Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: „Ihr +sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich gehe nach +Spanien; ich hole Hilfe!” Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, +steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu +einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, +öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und +schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es +höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz +hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der +über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, +nach Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus der +Not. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap04"></a>IV.<br/> +Seminar- und Lehrerzeit.</h2> + +<p class="noindent"> +Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten +aufzuspeichern hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie +entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in +dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen, +aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als +mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er +in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm +alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die +Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer +den Heimatboden und die Jugendatmosphäre eines „Gewordenen” genau kennt und +richtig zu beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, welche +Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile +aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine +der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die +Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht +geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit +aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese +Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, +die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und +gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben +„Nächsten”, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die +Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen +sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld. +</p> + +<p>Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen +ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen, +so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend welchen Teil +meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen, +sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu +zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die +Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung +und Entwicklung hin genau zu untersuchen.</p> + +<p>Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe bei einander +liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre +Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände +zwischen einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der +Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen +Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden, +dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus +zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus +Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist +Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände +zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier +weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem +ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, „das +erste Licht der Welt erblickte”. Die ersten und ältesten +Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer +beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern +auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so +viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. +Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar +einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an +der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete +die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft +überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es +wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit. +Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig +heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte +man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche +Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der +Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten, +damit, wenn die Haussuchung kam, nichts gefunden werden +könne. Es galt für die armen Weber, fleißig zu +sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug +ein jeder sein „Stück zu Markte”. Für jeden Fehler, +der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte +gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann wurde +ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der Heiterkeit und -- -- -- +dem Schnaps gewidmet. Man fand sich beim Nachbar ein. Da ging die +Bulle rundum. Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen +Familien sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern +regierte die Karte. Da wurde „gelumpt”, „geschafkopft” oder +gar „getippt”. Das letztere ist ein verbotenes +Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche +opferte. Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von +Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während der +Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem Gang in das +Freie war man mit Branntwein versehen. Da saß man im +Grünen und trank. Schnaps war überall dabei; man mochte +ihn nicht entbehren. Man betrachtete ihn als den einzigen +Sorgenbrecher und nahm seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich +das so ganz von selbst verstände.</p> + +<p>Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über +die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in ganz +geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden +Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, die +man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht. +Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch +gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt, +dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen, +sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war die ganze +Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige und der +allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, die man jetzt kaum +mehr für möglich hält. Im persönlichen +Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als die +wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, welches ich +da anführe, diene der Name Wolf. Es gab einen +Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, einen +Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter Wölfe. Die +Häuser waren klein, die Gassen eng. Ein jeder konnte in die +Fenster des andern sehen und alles beobachten, was geschah. So +wurde es fast zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu +haben. Und da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder +seinen Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg. +Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ +man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch +zur immerwährenden, aber stillen Hechelei <tt>[sic]</tt>, zur niedrigen Ironie, zu einem +scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles +an sich hatte. Das war ungesund und griff immer weiter um sich, +ohne daß man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie +Gift. So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein +lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, +verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel zu +pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der +Zubereitung und im Gebrauch von falschen Karten zu üben. Sie +etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie +schickten Zubringer aus, um Opfer einzufangen. Da saß man +nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da +mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben war +im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von jedem +neuen Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten +Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man +diese Betrügereien verwarf. Man verkehrte mit den +Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen +Vorschub. Ja, man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und +man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen +wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze +Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer +beteiligt wurde und daß jedermann, der von diesen +Gaunereien wußte, sich, streng genommen, als Hehler zu +betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals +gesagt hätte, daß dies einen beklagenswerten, +allgemeinen moralischen Tiefstand bedeute, der wäre wohl +ausgelacht worden, oder gar noch Schlimmeres. Das allgemeine +Rechtsgefühl war irregeführt. Man bewunderte die +Falschspieler, wie man die Rinaldo Rinaldini’s und die Himlo +Himlini’s der alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände +man verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden +Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der +Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener +Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um +ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der +ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man +ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das +alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck +gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und +sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie +wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich +sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht +gehabt hat oder nicht?</p> + +<p>Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden +Namen „Batzendorf” und die „Lügenschmiede”. Der erstere +leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und schweizer +Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war +eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals +beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig +zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen +Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene +Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden +Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das +der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde +zum Batzendorfer Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm +darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der +alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie +war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war +Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und +tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief +herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das +alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war +Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die +tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu +werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, +Verheiratung zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne +Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung +eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar +sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden +und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte +von allem das Beste. Er sagte immer: „Nur nicht +übertreiben, nur nicht übertreiben!” Damit glaubte er, +seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor +schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich +mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er +den Mut, meinen Vater zu warnen: „Machen Sie nicht mit, Herr +Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie +und auch nicht gut für den Karl. Was man da treibt, ist +alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und +Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand +rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen +noch zu hören bekommen!”</p> + +<p>Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses „Batzendorf”, in dem man +nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren +bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere +Wirkung gehabt. Da lockerten sich „die Bande frommer Scheu”. Da +gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die +Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und +höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen +bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer +Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und +Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte +es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche +nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden +auch mit hinein geführt und haben sehr viel von unserer +Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten +schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt +in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage +treten, nicht mehr einzudämmen sind.</p> + +<p>Die „Lügenschmiede” war etwas neueren Datums. Indem ich +von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das, +was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen +Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute, +welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr +achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in +andern, größeren Verhältnissen durch diese +Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie +unten in den kleinen Verhältnissen hangen und konnten also +auch nur Kleinliches und Gewöhnliches, oft sogar nur sehr +Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!</p> + +<p>Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste, +brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in +diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für +Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu +errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese +wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration +hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so +wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man +nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt, +den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen +Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein +Anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er +etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn +los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, +der nicht zu widerstehen war. Er wurde „gemacht”, wie man es +nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen +stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine +wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er +mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich, +mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er +zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche +beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. Diese +Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden +kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit +dem Wirt und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine +Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.</p> + +<p>Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte +einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen +Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten +Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und +Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu +bezahlen, denn Jeder wußte, die Blamage kommt dann +hinterher. Bessere Gäste hatten keine so gewöhnlichen +Witze zu befürchten. Die ließ man warten. „Der +muß erst noch reif werden,” pflegte der Lügenschmied +zu sagen. Und Jeder wurde reif, Jeder, mochte er sein, wer oder +was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt +oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber +mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast, +der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei +nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war +aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den +Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne +daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der +Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen, +vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht +sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der +Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheiter als alle, +ihn könne niemand foppen. Einem andern Gaste wurde +weisgemacht, sein Bruder sei heut’ Vormittag auf dem Jahrmarkt +verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen +und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe +ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen +müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam +aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden +Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde +verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu +Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet +wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und +oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse zu +verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne +unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie Alles, was +unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze +wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich +verausgabt. Und ein Jeder, der die Lügenschmiede betrat, +glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu +dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher +Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und +Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur +Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur +unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede +ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht. +Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei +nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken +fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün +und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele +hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten +Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, leider bin +auch ich einer von denen, die sehr und schwer darunter zu leiden +hatten und noch heutigen Tages leiden müssen. Daß +meine Gegner es wagen konnten, den Karl May, der ich in +Wirklichkeit und Wahrheit bin, in die verlogenste aller +Karikaturen zu verwandeln und mich sogar als Marktweiberbandit +und Räuberhauptmann durch alle Zeitungen zu schleppen, das +wurde zum größten Teil durch die Lügenschmiede +ermöglicht, deren Stammgäste gar nicht bedachten, was +sie an mir begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen +über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten traktierten. +Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück und habe hier +noch ganz kurz zu sagen: Was ich über jene +Falschspielergesellschaft, über „Batzendorf” und über +die „Lügenschmiede” zu berichten hatte, sind nur einige +kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner +Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus +erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich +und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in den meine +Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, will dies aber +gern und mit Vergnügen unterlassen, weil ich kürzlich +zu meiner Freude gesehen habe, wieviel sich dort verändert +hat. Ich hatte meine Vaterstadt schon lange Zeit gemieden und +wollte sie auch ferner meiden, als ich durch eine Rechtssache +gezwungen wurde, sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm +enttäuscht. Das meine ich nicht äußerlich, +sondern innerlich. Ich habe der Städte und Orte genug +gesehen; da kann mich nichts überraschen und auch nichts +enttäuschen. Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir +bisher fremden Menschen zunächst und vor allen Dingen seine +Seele kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden Ortes, +den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals war zwar +noch die alte; das sah ich sofort; aber sie hatte sich gehoben; +sie hatte sich gereinigt; sie hatte ein anderes, besseres und +würdigeres Aussehen bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie +einige Tage lang beobachten zu können, und darf wohl sagen, +daß mir diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand +Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich begegnete +einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie +früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, mehr +Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse +zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in das Ideale. +Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich gehoben und zeigte die +Fähigkeit, sich auch fernerhin und zusehends zu veredeln. +Ich begegnete alten Bekannten, aus denen in Wirklichkeit „Etwas +geworden” war. Das war mir eine Genugtuung, die ich nicht +erwartet hatte. Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten +Gesichter mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, +sondern die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, +von gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War +dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her? +Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet +werden kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben +auffrischend, stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe +aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen +Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere und von +Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare +Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder sein +möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten +vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit +jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit dem Erfolg +kommt auch der Segen.</p> + +<p>Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst +zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus +Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen +Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht, +daß dies eine „verrückte” Idee gewesen sei. Ich war +geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch +schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge +des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben +hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die +überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte +die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.</p> + +<p>Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend +von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein. +Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu +bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und +gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien +liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und +machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen, +sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den +Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit, +wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren +arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei +ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach +entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie +wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir +anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für +sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der +jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz +anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte +mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich +und sagte: „Mach so Etwas niemals wieder, niemals!” Dann ging +er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.</p> + +<p>Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit +still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand. +Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich +eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und +hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor, +ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir +erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken +sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach +Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner +Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich +müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort +gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener +verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen +war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande +der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte +ein gutes Wort für mich bei unserem Kirchenpatron, dem +Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine +Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, +die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu +besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis +bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu +Waldenburg und wurde dort interniert.</p> + +<p>Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht +akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch! +Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich +dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige +Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf +sie bezog. Freilich stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im +Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das +über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem +ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke +für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und +Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als +gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich, +daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich +zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch +meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich +an sich und bat:</p> + +<p>„Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in +Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg +wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an +die, welche dich zurückhalten wollen!”</p> + +<p>„Und die Geisterschmiede?” fragte ich. „Muß ich da +hinein?”</p> + +<p>„Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,” +antwortete sie. „Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben +ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.”</p> + +<p>„Ich will aber hinein; ich will!” rief ich mutig aus.</p> + +<p>Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte +lächelnd:</p> + +<p>„Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn +nie in deinem Leben!”</p> + +<p>Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich +ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer +geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit +dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt +hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der +auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, +sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche +Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es +mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich +diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu +geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist +es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von +außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, +daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte +ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie +und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab +täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder +Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz +richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich <tt>in +corpore</tt> in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. +Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für +Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und +zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche +Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich +ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und +Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es +gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen +religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab +keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine +Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es +fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu +begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren +diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu +erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die +Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu +Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten +und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab, +das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz +unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das +klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie +gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in +sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer +andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von +Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe +unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der +jemals ein sympathisches Wort über diese Art des +Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen +gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien +Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich +selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das +auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar +habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner +Mitschüler fürchtete.</p> + +<p>Ich hätte gern über diese religiösen +Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich +die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen +inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. +Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar +vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige +reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man +sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein +Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit +meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich +erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich +vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und +ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war. +Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir +selbst.</p> + +<p>Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf +ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was +ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine +regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir +nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. +Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren +Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an +und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv +heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr +beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten +zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag +wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres +Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich +fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und +sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine +stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen +Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider +nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich +aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames +Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer +wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich +absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den +Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren +Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des +hiesigen Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als +daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam. +Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als +vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man +lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das +Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu +schmerzende Trockenheit des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen +fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften +zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. +Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich +hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber +keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In +meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf +das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder +innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und +darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen +vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose +Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer +krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers +vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und +fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit +keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch +bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl +sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, +welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich +fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie +beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was +ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen +versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr +und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und +arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich +innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, +ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja +auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer +Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so +unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, +keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine +Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach +stehen lassen.</p> + +<p>Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach +geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte +demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja, +ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte, +wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das +sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas +Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz +selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz +selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz +selbstverständlich von der „Gartenlaube”, die vor einigen +Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann +gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das +Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf +ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich +nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach +weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück, +um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief +von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten +lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu +schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz +tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig +schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft +alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in +der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin +milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem +dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er +nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich +nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte +von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber +daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse +gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den +ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für +einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr +unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich +stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite +Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes +Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so +überklingendes Kapital geschlagen haben.</p> + +<p>Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die +Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem +eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als „Wochner” +bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen +„Ordnungswochner” und in der zweiten einen „Lichtwochner”, +welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu +übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe +von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein +anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte +täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter +vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den +steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste +wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu +Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren +allgemein als wertlos anzusehen.</p> + +<p>Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, +Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie +jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen +unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern, um +meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches +ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft +es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg +machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal +kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es +stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen +Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, +für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. +Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert +<tt>[sic]</tt> werden konnte nichts, gar +nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter +für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel +der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen +Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für +fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige +zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man +sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand +das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich +soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte. +„Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte +machen?” fragte sie. „Ganz leicht,” antwortete ich. „Man +braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter +nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist +nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.” „Wenn +auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für +die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?” „Eigentlich +Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn +wegwirft oder nicht, ist seine Sache.” „Also wäre es wohl +nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach +Hause nähmen?” „Gestohlen. Lächerlich! Fällt +keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige +wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei +kleine Weihnachtslichte.”</p> + +<p>Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist +stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse +über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein +Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit +an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich +dabei, ging fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor +kam in eigener Person, den „Diebstahl” zu untersuchen. Ich +gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den +„Raub”, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte +wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen +„infernalischen Charakter” und rief die Lehrerkonferenz +zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon +nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war +aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir +beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester -- -- -- in die +heiligen Christferien -- -- -- ohne Talg für die +Weihnachtsengel -- -- -- es waren das sehr trübe, dunkle +Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, +daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, +nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen +löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert +gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen +Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die +unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken +und Heiden verfahren würden.</p> + +<p>Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus +und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, +verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich +erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen +Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in +dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach +zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich +meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach +Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren +Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen +Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu +beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit +gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern +mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.</p> + +<p>Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen +hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere +Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als +Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine +wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und +andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht +bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das +heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und +nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig +umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf +das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht +absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die +doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat, +fast unentbehrlich ist.</p> + +<p>Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte +kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte +sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies +Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein +besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit +mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und +seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, +und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich +ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahelag, +sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien. +Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm +möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah, +daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des +Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die +Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen +Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun +nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. +Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie +mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab, +denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue, +bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich +zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir +den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu +mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet +sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der +ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule +zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später +unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der +Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie +nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern +lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf +Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner +Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder +gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete +mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich +merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht +behage.</p> + +<p>Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die +Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete +mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich +abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. +Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach +Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr +zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht +gedacht. Als ich bemerkte; daß sie sich in meiner Tasche +befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht +der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei +den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die +Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam +Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger +Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung +vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft, +über meine Ideale, die für mich alle im hellsten +Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die +Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue +Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich +noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über +mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich +bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, +vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und +mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller +werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! +Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten +Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für +Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken +schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der +Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem +Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur +Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen +Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies +bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu +kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. +Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde +zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. +Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber +bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte +meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit +angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, +und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das +benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:</p> + +<p>„Sie sind arretiert! Wissen Sie das?”</p> + +<p>„Nein,” antwortete ich, tödlich erschrocken. +„Warum?”</p> + +<p>„Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen +haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis +und werden als Lehrer abgesetzt!”</p> + +<p>Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe +mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte +an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, +und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!</p> + +<p>„Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!” +stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.</p> + +<p>„Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm +heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, +schnell!”</p> + +<p>Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger +klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb +aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die +Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck +wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, +nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht +gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm +zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun +geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den +Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach +ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, +anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war +ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den +Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage +anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und +wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich +mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu +irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt +meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage +sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig +entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen +Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie +möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das +Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, +über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben +werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß +nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und +daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders +der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt +hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich +nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes +Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die +Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, +noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich +ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir, +mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der +Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns +erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er +versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher, +so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat +mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er +keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere +verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere +verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst +wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch +Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des +Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder +gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant +und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf +der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen +Vorwurf zu machen.</p> + +<p>Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht. +Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß +die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und +daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher +aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die +Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern +vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten +hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu +zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals +wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die +es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie +gelöst. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap05"></a>V.<br/> +Im Abgrunde.</h2> + +<p class="noindent"> +Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die +schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist. Es liegt mir +in der schreibenden Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung jene +psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung zu geben, welche am +besten geeignet wäre, das, was damals in mir vorgegangen ist, für den Fachmann +begreiflich zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen +Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine Bücher gelesen werden, und +habe mich also aller Versuche, Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde +infolge dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen bildlichen +Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der nicht allgemein verständlich ist. +</p> + +<p>Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie ein +Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter +dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach +zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur +äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer +Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es +grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung +verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, ob ich +Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein Rechtsmittel +ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß nur +noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, zwei +andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. Man +schien mich also für ungefährlich zu halten, sonst +hätte man mich nicht mit Personen zusammengesperrt, die noch +nicht abgeurteilt waren. Der Eine war ein Bankbeamter, der Andere +ein Hotelier. Weshalb sie in Untersuchung saßen, das +kümmerte mich nicht. Sie zeigten sich lieb zu mir und gaben +sich Mühe, mich aus dem Zustande innerlicher Versteinerung, +in dem ich mich befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich +verließ die Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben +Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging +heim, zu den Eltern.</p> + +<p>Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter noch +den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe zu machen. Und das +war geradezu entsetzlich! Als ich damals in meinem kindlichen +Unverstand nach Spanien wollte und Vater mich heimholte, hatte +ich mir vorgenommen, ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu +betrüben, und es war so ganz anders und so viel schlimmer +gekommen! Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir +nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun +da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht erst +seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für +immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende die Ideale +lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug. +Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am +Großen, Schönen, Edlen mich emporarbeiten aus der +jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen +lernen, und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! Und am +Schlusse dieses schweren, arbeitsreichen Lebens für die +andere Bühne schreiben, für das Theater, um dort die +Rätsel zu lösen, die mich schon seit frühester +Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar fühlte, aber +noch lange, lange, lange nicht begriff!</p> + +<p>Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang +war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich +aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das +strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige +freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige +Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie +hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur +auf die Seele, nicht auch auf den Geist. Ich war seelenkrank, +aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu +jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen +Aufgabe. Ich hatte den schärfsten Einblick in alles, was +außer mir lag; aber sobald es sich mir näherte, um zu +mir in Beziehung zu treten, hörte diese Einsicht auf. Ich +war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu +verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen +kam ein Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu +wissen, was ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten +bis zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich +ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem Buche gelesen +hatte. Und ich war mir dieses seelischen Zustandes geistig sehr +wohl bewußt, besaß aber nicht die Macht, ihn zu +ändern oder gar zu überwinden. Es bildete sich bei mir +das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, +sondern eine gespaltene Persönlichkeit, ganz dem neuen +Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der +Mensch. In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde +Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch +sehr genau voneinander unterschieden.</p> + +<p>Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das +Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es +steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es besaß +große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte alle seine +Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets nur in der Ferne. Es +glich einer Fee, einem Engel, einer jener reinen, +beglückenden Gestalten aus Großmutters +Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte, wenn +ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam war. Die +dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern +seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, +häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster +und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich +sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich +hörte sie auch; sie sprach. Sie sprach oft ganze Tage und +ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie +das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich +war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst +jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie einmal +still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt und aufmerksam +zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut und so bekannt vor, +als ob ich sie schon tausendmal gesehen hätte. Dann +wechselte ihre Gestalt, und es wechselte auch ihr Gesicht. Bald +stammte sie aus Batzendorf, aus dem Kegelschub oder aus der +Lügenschmiede. Heut sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, +morgen wie der Raubritter Kuno von der Eulenburg und +übermorgen wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem +Talgpapiere stand.</p> + +<p>Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit einem Male, +sondern nach und nach. Es vergingen viele, viele Monate, bis sie +sich in mir so weit entwickelt hatten, daß ich sie mit dem +geistigen Auge fassen und durch das Gedächtnis festhalten +konnte. Und da begann ich zu begreifen, um was es sich eigentlich +handelte. Was sich in jedem Menschen vollzieht, ohne daß er +es bemerkt oder auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich +es sah und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade? +Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig, +sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese +Beobachtungen mit einer Objektivität und +Kaltblütigkeit, als ob es sich nicht um mich selbst, sondern +um einen ganz anderen, mir vollständig fremden Menschen +handle. Und ich lebte das gewöhnliche, alltägliche +Leben ganz so, wie jede gesunde Person es lebt, die von +derartigen psychologischen Vorgängen nicht angefochten wird. +Es kehrte mir die Kraft und der Wille zum Leben zurück. Ich +arbeitete. Ich gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich +dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine +Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, einzuüben +und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder dieser +Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, mit dem ich +öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. Und ich +begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann +„Erzgebirgische Dorfgeschichten”. Ich hatte nicht die geringste +Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind +äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen +gingen aus einer Zeitung in die andere. Es war eine Freude, zu +sehen, wie sich das so vortrefflich entwickelte. Aber diese +Freude wurde in der grausamsten Weise durch eine andere +Entwicklung vergällt, die sich zu gleicher Zeit und dem +konform in meinem Innern vollzog. Die Spaltung dort griff weiter +um sich. Jede Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen +zu wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, +mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten. +Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören. +Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher außer mir +selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die helle und die +dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen. Und je länger +es dauerte, daß sie sich von einander unterschieden, um so +deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften da zwei einander +feindliche Heerlager gegen einander: Großmutters helle, +lichte Bibel- und Märchengestalten gegen die schmutzigen +Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner +Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die übererbten +Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren wurde, gegen die +beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. Die +Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit gegen die +reinen, beseligenden Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich +in die Zukunft schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das +Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen +die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um +zum Edelmenschen zu werden.</p> + +<p>Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, der +vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es Gedanken und +Empfindungen, die gegeneinander streiten. Bei mir aber hatten +diese Gedanken und Regungen sich zu sichtbaren und hörbaren +Gestalten verdichtet. Ich sah sie bei geschlossenen Augen, und +ich hörte sie, bei Tag und bei Nacht; sie störten mich +aus der Arbeit; sie weckten mich aus dem Schlafe. Die dunklen +waren mächtiger als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit +gab es keinen Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte +Ruhe in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu +arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede wollte +die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam es sehr auf das +Thema an, welches ich behandelte. Gegen eine lustige Humoreske +hatte niemand etwas. Die konnte ich ohne Streit und Störung +vollenden. Bei einer ernsten Dorfgeschichte aber erhoben sich +zahlreiche Stimmen für und gegen mich. In diesen +Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß +Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genauso +straft, wie man sündigt. Hiergegen empörten sich +gewisse Gestalten in mir. Den größten Widerstand aber +fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten oder meiner Lektüre +noch höhere Linien bestieg. Wenn ich mir ein religiös +oder ethisch oder ästhetisch hohes Thema stellte, +empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit aller Macht +dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz unaussprechlich sind. +Um zu zeigen, in welcher Weise das vor sich ging und was für +Qualen das waren, will ich ein erläuterndes Beispiel +bringen: Ich hatte den Auftrag erhalten, eine Parodie von „des +Sängers Fluch” von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die +Parodie bekam den Titel „des Schneiders Fluch”. Ein Schneider +verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen +und winziges Gärtchen, in dem nur zwei +Stachelbeerbüsche standen. Bei der Verfluchung des +Häuschens kam es zu folgenden Zeilen:</p> + +<p class="poem"> +„Die Hypotheken lauern<br/> + Schon heut auf euern Sturz.<br/> +Ihr hörts, verruchte Mauern,<br/> + Ich mach’ es mit euch kurz!” +</p> + +<p class="noindent">Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich +dabei gestört zu sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht +die geringste Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt +verschwand; sie trauerte, denn mein Können reichte zu +Besserem und Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein +Lehrgedicht zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende +Strophen gegenwärtig sind:</p> + +<p class="poem"> +„Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,<br/> + Das euer Heiland euch gelehrt<br/> +Und es in euren eig’nen Landen<br/> + Befolgt und mit Gehorsam ehrt,<br/> +Dann einet sich zu einem Strome<br/> + Die Menschheit all von nah und fern<br/> +Und kniet anbetend in dem Dome<br/> + Der Schöpfung vor dem einen Herrn.<br/> +Dann wird der Glaube triumphieren,<br/> + Der einen Gott und Vater kennt;<br/> +Die Namen sinken, und es führen<br/> + Die Wege all zum Firmament.” +</p> + +<p>Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu diesem +hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat eine seltene +Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln der lichten +Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken eilten herbei, um +von mir aufgenommen zu werden. Ich griff zur Feder. Da aber war +es plötzlich, als ob ein schwarzer Vorhang in mir +niederfalle. Die Klarheit war vorüber; die lichte Gestalt +verschwand; die dunkle tauchte auf, höhnisch lachend, und +überall, durch mein ganzes inneres Wesen, erscholl es wie +mit hundert Stimmen „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, +des Schneiders Fluch u. s. w.!” So klang es stunden- und +stundenlang in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die +geringste Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern +wirklich, wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir, +sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich +gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch war +das, solange ich die Feder in der Hand hielt und zum Schreiben +sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich aufstand, klangen sie +fort, und nur als mir der Gedanke kam, auf das Lehrgedicht zu +verzichten, trat augenblicklich Schweigen ein. Da ich aber mein +Versprechen, es anzufertigen, halten mußte, so griff ich +bald wieder zur Feder. Sofort erklang der Stimmenchor von neuem +„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!” und als ich +trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte, +kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu „Die Hypotheken +lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte Mauern, +ihr hörts, verruchte Mauern!” Das ging den ganzen Tag und +die ganze Nacht hindurch und auch dann noch immer weiter. Kein +anderer Mensch sah und hörte es; Niemand ahnte, was und wie +furchtbar ich litt. Jeder Andere hätte das als Wahnsinn +bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und +beobachtete mich. Ich setzte es trotz aller Gegenwehr durch, +daß mein Gedicht zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber +derartige Siege hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach +dann innerlich zusammen.</p> + +<p>Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung +meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und +Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch auf +meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun. Es war, +als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs Wochen lang +eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge unsichtbarer +Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, die es nun als +ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir einzunisten und mich +ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich sah sie nicht; ich sah nur die +finstere, höhnische Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf +und den Hohensteiner Schundromanen; aber sie sprachen auf mich +ein; sie beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen +sträubte, so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und +so zu ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand +verlor. Die Hauptsache war, daß ich mich rächen +sollte, rächen an dem Eigentümer jener Uhr, der mich +angezeigt hatte, nur um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, +rächen an der Polizei, rächen an dem Richter, +rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an +jedermann! Ich war ein Mustermensch, weiß, rein und +unschuldig wie ein Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine +Zukunft, um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß +ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein +Verbrecher.</p> + +<p>Das war es, was die Versucher in meinem Innern von mir +forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte, so weit meine +Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich damals schrieb, +besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng +gesetzliche, eine königstreue Tendenz. Das tat ich, nicht +nur andern sondern auch mir selbst zur Stütze. Aber wie +schwer, wie unendlich schwer ist mir das geworden! Wenn ich nicht +tat, was diese lauten Stimmen in mir verlangten, wurde ich von +ihnen mit Hohngelächter, mit Flüchen und +Verwünschungen überschüttet, nicht nur +stundenlang, sondern halbe Tage und ganze Nächte lang. Ich +bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und +hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen. Es hat +mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat +fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es +zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand erfuhr, was +in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich +kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch +eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein +fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden, +sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt. +Ob irgend Jemand an meiner Stelle das ausgehalten hätte, +daß weiß ich nicht, ich glaube es aber kaum. Ich war +sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar +ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder +und müder. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze +Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da +wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In +solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig +verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es +ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes +tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie +im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens +Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der +tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben. +Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin +mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der +ich gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin +mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen +habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich +habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn +für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz +unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. +Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar +nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich +auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich habe bis +jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre Gefängnis +betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber in den +Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber gewesen. Doch +das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß der Abgrund nicht +vergeblich für mich offengestanden hatte. Ich war +hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis Zwickau +eingeliefert.</p> + +<p>Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite, habe +ich mich gegen einige Vorurteile und falsche Anschauungen zu +wenden, die sich gegen Alles, was mit dem Strafvollzug +zusammenhängt, richten und mit denen nun doch endlich einmal +aufgeräumt werden sollte. Ich habe manchen gebildeten +Mitgefangenen in begreiflicher, aber unberechtigter Erbitterung +drohen hören, daß er nach seiner Entlassung ein Buch +über seine Gefangenschaft schreiben werde, um die ebenso +schweren wie unzähligen Mängel unserer Rechtspflege und +unseres Strafvollzuges aufzudecken. Ein verständiger Mann +lächelt über solche Drohungen, die zwar ausgesprochen, +aber nur höchst selten ausgeführt werden. Jeder +entlassene Gefangene, der Ehrgefühl besitzt, ist froh, die +Zeit der Strafe hinter sich zu haben. Es fällt ihm nicht +ein, das, was bisher doch nur wenige wußten, nun, da es +überstanden ist, an die volle Oeffentlichkeit zu bringen. Er +schweigt also. Und das ist gut, weil sein Buch, wenn er es +schriebe, gewiß beweisen würde, daß unter +tausend Gefangenen kaum einer ist, der über sich und seine +Bestrafung unbefangen und sachgemäß zu urteilen +vermag. Ich aber glaube, mich zu dieser Sachlichkeit und +Unbefangenheit emporgearbeitet zu haben; ich halte mein Urteil +für wohlerwogen und richtig und fühle mich +verpflichtet, hier folgende Punkte festzustellen:</p> + +<p>Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als +„Verbrecherschulen” bezeichnet werden durften, sind längst +vorüber. In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger +moralisch und nicht weniger human als in der Freiheit zu.</p> + +<p>Das, was man einst als „Verbrecherwelt” brandmarkte, gibt es +nicht mehr. Die Bewohnerschaft der heutigen Strafhäuser +rekrutiert sich aus allen Ständen des Volkes. Sie setzt sich +in Beziehung auf Beruf und Intelligenz aus denselben +Prozentsätzen zusammen wie die der „Unbestraften”.</p> + +<p>An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. Sie +hat ihn um ihrer selbst willen zu „ent”-schuldigen.</p> + +<p>Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses Satzes +wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter kennen +gelernt, auch unter denen, welche gegen mich entschieden, dem ich +einen Vorwurf machen könnte. Die zahlreichen Prozesse, zu +denen meine Gegner mich förmlich zwingen, geben mir +reichlich Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, und ich muß +sagen, daß ich alle diese Herren, sowohl Straf- als auch +Zivilrichter, nur hochachten kann. Ich habe sogar den Fall +erlebt, daß ein Dresdener Richter mir recht gab, obwohl +alle seine Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in +diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung und welch +ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand dies erweckt, das +weiß nur der, der Gleiches wie ich erlebte.</p> + +<p>In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe +auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft nicht +einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher kennen gelernt, der mir +in Beziehung auf Gerechtigkeit und Humanität Grund zu irgend +einem Tadel gegeben hätte. Ich behaupte sogar, daß die +Aufseher die Strenge des Dienstes viel stärker empfinden als +der Gefangene selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte, +eine Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich +gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und +kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in +welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen hat. +Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies zu +sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle mögliche +Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, vergessen zu machen. +Es gab Beamte, die ich herzlich lieb gewann, und ich bin +vollständig überzeugt, daß ihre Erwiderung dieser +meiner Zuneigung nicht etwa nur vorgetäuscht, sondern +ehrlich und aufrichtig war.</p> + +<p>Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres +Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns +wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch +nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die Ursachen +sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der +Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten +Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu +tief eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch in +unserer sogenannten, hochgepriesenen „Kriminalpsychologie”, an +welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht aber der wirkliche +Menschenkenner und noch viel weniger der, um den es sich hier +eigentlich handelt, nämlich der sogenannte -- -- -- +Verbrecher.</p> + +<p>Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue Straftaten +und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst +alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser +einzudämmen und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll +ich sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der +letzten, der „Kriminalpsychologie”, beginnen, so liegen vor mir +mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst +strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen +dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der Herren +Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet sich durch seine +zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung und den Strafvollzug +in mildere, humanere Bahnen zu lenken. Er hat sich dadurch einen +Namen gemacht. Er wird, wann und wo es sich um diese +Humanisierung handelt, oft genannt und würde ein Segen auf +diesem Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das +wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der +Humanität aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen +Namen, denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die +Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grade +beachtenswert, kann er als „Seelenforscher” in fast noch +höherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem er seine +öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen versucht, +läßt er sich so weit hinreißen, Personen, die +vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden sind, nun +aber sich in mühsam errungener, öffentlicher Stellung +befinden, mit in seine „psychiatrischen” Betrachtungen zu +ziehen und sie in seinen Schriften derart kenntlich zu machen, +daß jedermann weiß, wen er meint. Von einem +Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt, antwortete er, +daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt sei; es gebe +einen Paragraphen, der ihm das erlaube. Ich unterlasse es, +kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen. Aber selbst wenn es +wahr wäre, daß es einen solchen Paragraphen gibt, wer +zwingt den Herrn Staatsanwalt, einen derartigen Paragraphen +zuliebe gegen seine eigene, sonstige Humanität zu handeln +und Menschen, die ihm nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm +als dem Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem +Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser Paragraph in +Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für den Reichstag +höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu unterwerfen. +Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag er sich noch so hoch +emporgearbeitet haben, durch das Gesetz gezwungen ist, es sich +gefallen zu lassen, daß die Herren Kriminalpsychologen ihn +öffentlich an den wissenschaftlichen Pranger stellen, so +darf man sich gewiß nicht darüber wundern, daß +die Kriminalistik keine Neigung zur Besserung zeigt. Ich werde im +Verlaufe meiner Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen +müssen.</p> + +<p>Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, so brauche +ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der +Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber +hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen +Anwalt in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er +verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der arme +Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein Ehrenmann, +aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, den B. zu +vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen und sich von +ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann als Beschuldigter, +daß die Strafakten des Klägers vorgelegt werden. Das +geschieht. Sie werden in öffentlicher Verhandlung +vorgelesen. A. bekommt zehn Mark Beleidigungsstrafe; B. aber ist +in die frühere Verachtung und in das frühere Elend +zurückgeworfen und wird nun darauf schwören, daß +für den einmal Bestraften alle Vorsätze, sich zu +„bessern”, nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig wird, +ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider nicht wenige +Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken zu dem höchst +unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die in sachlicher Weise +nicht zu gewinnen sind, in persönlich gehässiger, +rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst habe +es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer gesehen, +daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz niemals +beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade +diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn +endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen, +durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken +ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst +Gesühntes wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende +Zahl der sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in +Wegfall kommen.</p> + +<p>Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des +„lieben Nächsten” anführte, geschah mit vollstem +Rechte. Sie ist und bleibt die Hauptursache der +Mißstände, die hier zu besprechen sind. Ich will +keineswegs behaupten, daß dies auf einem ethischen Mangel +beruht. Ich meine vielmehr, es liegen alte Vorurteile vor, die +sich so tief eingefressen haben, daß man sie gar nicht mehr +als Vorurteile erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an +denen niemand zu rütteln vermag. Der „Verbrecher” war +einst vogelfrei; er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf +ihn ein; ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er +suche Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem +andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und aberhundert +Punkte, von denen aus er als minderwertiger Mensch betrachtet und +behandelt wird, und es bedarf von seiner Seite einer +ungewöhnlichen Seelenruhe und einer seltenen Willenskraft, +dies immer wieder und immer weiter zu ertragen, ohne sich auf die +alte Bahn zurückwerfen zu lassen. Die größte +Gefahr für ihn liegt darin, daß ihm von dem lieben +Nächsten das Ehrgefühl nach und nach abgestumpft oder +gar getötet wird. Läßt er es so weit kommen, so +ist er verloren, und die Kriminalistik gibt ihr entweder +erbittertes oder vollständig gleichgültig gewordenes +Opfer nie wieder her. Dies wird und kann gar nicht anders werden, +so lange an dem alten, ebenso unsinnigen wie grausamen Vorurteil +festgehalten wird, daß jeder bestrafte Mensch für die +ganze Zeit seines Lebens als „Verbrecher” zu betrachten sei. +Kürzlich kam in Charlottenburg der Fall vor, daß +jemand, der vor über vierzig Jahren bestraft worden war, +sich seitdem aber gut geführt hatte, von einem +übelwollenden Menschen als „geborener Verbrecher” +bezeichnet wurde. Der Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch +dieser wurde freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen +Menschen, der sich mit äußerster Willenskraft aus dem +Abgrund emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt +hat, mit brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --</p> + +<p>Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter +berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der Weise zu +tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne Leser +es wünschen. Es ist mehr als genug, wenn man solche Dinge +nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie zum zweitenmale zu +erleben, indem man sie für andere niederschreibt, so besitzt +man gewiß die Berechtigung, sich so kurz wie möglich +zu fassen. Von dieser Berechtigung mache ich hiermit +Gebrauch.</p> + +<p>Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt eine +ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer höflich +ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer Weise +immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über Härte +zu klagen haben. Was die Beschäftigung betrifft, die man +für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube +zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich die +Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion +berücksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fürsoge +in meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nämlich ich +versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als +unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener das +Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte ich nicht +fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es mit mir eine +ganz besondere Bewandtnis haben müsse, denn schreiben +mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand besonderer +Beachtung. Man gab mir andere Arbeit, und zwar die +anständigste Handarbeit, die man hatte. Ich kam in den Saal +der Portefeuillearbeiter und wurde Mitglied einer Riege, in +welcher feine Geld- und Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese +Riege bestand mit mir aus vier Personen, nämlich einem +Kaufmann aus Prag, einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte +war, das konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. +Diese drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten +schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den +Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle mögliche +Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere Zeit +so leicht wie möglich zu machen. Nie ist ein unschönes +oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen. Unser Arbeitssaal +faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich habe unter ihnen +nicht einen einzigen bemerkt, dessen Verhalten an die Behauptung +erinnert hätte, daß das Gefängnis die hohe Schule +der Verbrecher sei. Im Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt +bemüht, einen möglichst guten Eindruck auf seine +Vorgesetzten und Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer +Pläne für die Zukunft habe ich während meiner +ganzen Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte +irgend einer gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er, +wenn nicht angezeigt, so doch auf das energischste +zurückgewiesen worden.</p> + +<p>Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt wurde, +dieser Visitation hieß Göhler. Ich nenne seinen Namen +mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er hatte mich zu +beobachten und kam, obwohl er von Psychologie nicht das geringste +verstand, nur infolge seiner Humanität und seiner reichen +Erfahrung meinem inneren Wesen derart auf die Spur, daß +seine Berichte über mich, wie sich später +herausstellte, die Wahrheit fast erreichten. Er hatte, wie wohl +alle diese Aufseher, früher beim Militär gestanden, und +zwar bei der Kapelle, als erster Pistonbläser. Darum war ihm +das Musik- und Bläserkorps der Gefangenen anvertraut. Er gab +des Sonntags in den Visitationen und Gefängnishöfen +Konzerte, die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei +Kirchenmusik die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu +begleiten. Leider aber besaß weder er noch der Katechet, +dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen +Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten, +für die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der +fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren. Darum +hatten beide Herren schon längst nach einem Gefangenen +gesucht, der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war +aber keiner vorhanden gewesen.</p> + +<p>Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner +Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich in +sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das vielleicht +von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei der Direktion an +und bekam die Erlaubnis. Dann fragte er mich, und ich sagte ganz +selbstverständlich auch nicht nein. Ich trat in die Kapelle +ein. Es war gerade nur das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein +Althorn in den Händen gehabt, blies aber schon bald ganz +wacker mit. Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich +noch mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre +getrieben habe und Musikstücke arrangieren könne. Er +meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die +Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des +Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich +damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neue zu +arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen +von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.</p> + +<p>Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen +Arbeiten nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs +von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder Gefangene pro Tag +zu liefern hat, wenn er vermeiden will, sich Unannehmlichkeiten +auszusetzen. Dieses Pensum ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder +Arbeitswillige kann es liefern. Wer geschickt ist, der liefert es +sogar in wenigen Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit +für meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die +ich nicht aufgab, auch als ich aus der Visitation der +Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir +nämlich mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu +werden.</p> + +<p>Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine Zelle +für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses +Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, da man +über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultate +kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und unmittelbar neben +dem Arbeitsraume des Inspektors desselben einquartiert. Er war +ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr, +dessen besonderer Schreiber ich wurde. Das war eine Stelle, die +es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den +psychologisch bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich +zur Zeit meiner Einlieferung vollständig unfähig +gewesen war, Schreiber zu sein, nun aber für fähig +gehalten wurde, eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche +große geistige Um- und Einsicht erforderte und die +höchste Vertrauensstelle war, die es in der ganzen Anstalt +gab. Mein Inspektor war nämlich neben seiner Direktion des +Isolierhauses noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese +seine Tätigkeit bezog sich auf die besondere Statistik +unserer Anstalt und auf das Wesen und die Aufgaben des +Strafvollzuges überhaupt. Er schrieb die hierauf +bezüglichen Berichte und stand mit allen hervorragenden +Männern des Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine +Aufgabe war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre +Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu +vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. Das war +an und für sich eine sehr schwere, anstrengende und +scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem +Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen und +diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, ihnen Sprache zu +verleihen, das war im höchsten Grade interessant, und ich +darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr viel gelernt habe +und daß mich diese Arbeiten in stiller, einsamer Zelle in +Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts +gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen +wäre. Daß mir hierzu nur die besten und +zuverlässigsten Unterlagen zu Gebote standen, versteht sich +ganz von selbst. Es sind mir da ganz eigenartige Lichter +aufgegangen. Ich habe da in die tiefsten Tiefen des +Menschenlebens geschaut und Dinge gesehen, die andere niemals +sehen werden, weil sie keine Augen dafür haben. Ich habe da +erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit +sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein +ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die +Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben +nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur +Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur +Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir von +größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst +befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von denen ich +weiter oben sprach, auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit +ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. Sie +kehrten zwar zurück; sie ließen sich wieder +hören, doch in immer längern Zwischenräumen, bis +ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für +immer stumm geworden seien.</p> + +<p>Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen zu +verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen. +Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa nur auf +Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren alle +Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen, +inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert +und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur die Werke +der Anstaltsbibliotheken, die mir zur Verfügung standen, +sondern man zeigte sich auch gern bereit, mir solche von +auswärts zugängig zu machen. Es war mir ein +unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und Ungestörtheit +der Zelle so viel wie möglich für mein geistiges +Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten hatten ihre +Freude daran, mir hierzu in jeder, den Anstaltsgesetzen nicht +widersprechenden Weise behilflich zu sein. So verwandelte sich +für mich die Strafzeit in eine Studienzeit, zu der mir +größere Sammlung und größere +Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler +jemals in der Freiheit findet. Ich werde über diesen +großen, unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft +mir brachte, noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz +besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten +war, mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch +den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten zu +legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten sind, sondern +ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes Genre bilden sollen. Doch +ist es für jetzt nicht meine Absicht, mich über diese +meine Studien zu verbreiten, sondern ich habe mich hier allein +und ganz besonders mit dem Umstand zu befassen, daß die mir +anvertraute Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit +zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen gab, unter +deren Einfluß meine schriftstellerische Tätigkeit sich +zu der gestaltete, die sie geworden ist.</p> + +<p>Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen +Bedürfnisse, oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der +Volksseele kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst zu +nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder Volksbibliothekar +und jeder Leihbibliothekar genau dieselben Erfahrungen machen +könne, denn das ist nicht wahr. Ein Leser in Freiheit und +ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei +dem Letzteren kann das Lesen geradezu zum seelischen +Existenzbedürfnisse werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt +sich um. Die äußere Persönlichkeit hat unter der +Anstaltszucht ihre Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. +Und diese ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung +erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich +große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll, +moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen der +Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die sich beide +aneinander versündigten. Dieses Hervortreten der innern +Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme, in der +Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene hat während +seiner Detention auf alle seine leiblichen Sonderrechte zu +verzichten. In leiblicher Beziehung ist er nicht mehr Person, +sondern nur noch Sache, eine Nummer, die in den Büchern +eingetragen wird und bei der man ihn auch nennt. Um so +kräftiger, ja ungestümer tritt seine innere Gestalt, +seine Seele hervor, um sich, ihre Rechte und Bedürfnisse +geltend zu machen. Der Leib ist gezwungen, sich in die +Gefängniskleidung und Gefängniskost zu fügen. +Wehe, wenn man den Fehler begeht, den gleichen Zwang auch auf die +Seele ausüben zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem +Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach +einer Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um +sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu +befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das +Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im +tiefsten Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur +körperlich sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der +scheinbar Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, +hungrige Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich +gut im ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den +sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen +Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? Aus dem +Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man beantworte diese +Fragen, wie man will, die Hauptquelle aller Erziehung, Besserung +und Emporhebung kann bei derartig gegebenen Verhältnissen +nur die Bibliothek sein. Der Gefangene, der sich so führt, +daß ihm das Lesen nicht verboten werden muß, bekommt +pro Woche ein Buch. Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang +die seelische Kost für den nach Nahrung Schmachtenden. Er +darf sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er +bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann ihm zum +Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe sein, kann +ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, ihn aber auch +empören und verhärten. Einer meiner Mitgefangenen, ein +geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre lang weiter nichts +als alte „Frauendorfer Blätter” zu lesen bekommen, +trockene Unterweisungen im Gartenbau, die ihn weder interessieren +noch ihm irgendeinen Nutzen bringen konnten. Er trug es in +steigender Erbitterung, bis ich die Bibliothek überkam <tt>[sic]</tt> und ihm Passenderes gab. Einen +Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias Gotthelfs +Erzählungen derart außer sich gebracht, daß er +nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu werden. Das +letzte, was er hatte lesen müssen, hatte den Titel gehabt +„Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich +umkommen.” Als ich ihm einen Band von Edmund Höfer gab, war +er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen geschenkt +hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister war einer +langen Reihe von Erbauungsbüchern zum Opfer gefallen. Er +schwor mir wütend zu, daß es schon um dieser +Bücher willen keinen Herrgott geben könne. Er habe nur +aus bitterer Not Bankrott gemacht; die Verfasser und Herausgeber +dieser Schriften aber seien aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut +bankrott und verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe +wie er.</p> + +<p>Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich +zunächst meine Bibliothek und sodann auch die +Bedürfnisse ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit +ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen verbunden +und führte zu dem betrübenden Schlußresultate, +daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten, +nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht nur in unserer +Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch überhaupt in der +Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, an die +Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund, der mich +da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich verglich. Da +dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner +der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch +ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter +Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur +allzu fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die +Bewohner der Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden +muß, damit der höhere, von oben stammende Teil unseres +Wesens zur Geltung kommen möge? Muß nicht +überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen +Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch +die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen +Ideale, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es +nicht die Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher +Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der +auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, mit +angehöre!</p> + +<p>Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich zu +Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst +seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren. Es +wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie weiteten +sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich erkannte ich die +zwar verborgenen aber doch innigen Zusammenhänge zwischen +dem Kleinsten und dem Größten, dem Körperlichen +und dem Seelischen, dem Leiblichen und dem Geistigen, dem +Endlichen und dem Unendlichen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich +begann, die lieben, alten Märchen meiner Großmutter in +ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach +und dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, +verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und +alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor. Ich +stellte mir vor, die verloren gegangene Menschenseele zu sein, +die niemals wiedergefunden werden kann, wenn sie sich nicht +selbst wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann nie hoch oben in +Dschinnistan, sondern nur hier unten in Ardistan geschehen, im +Erdenleid, in der Menschheitsqual, bei der Träberkost des +verlorenen Sohnes unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie +begann, das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen +und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. Aber +nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in +jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als +Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine Marah +Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, der ich die +Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da tauchte zum +ersten Male mein Tatellah-Satah in mir auf, jener geheimnisvolle +„Bewahrer der großen Medizin”, den meine Leser im +dreiunddreißigsten meiner Bände kennen gelernt haben. +Und da wurde auch der Gedanke „Winnetou” geboren. +Wohlverstanden, nur der Gedanke, nicht aber er selbst, den ich +erst später fand. Damals habe ich die psychologischen Werke +der Beamtenbibliothek und alle andern, die mir zugängig +wurden -- fast verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber +das würde nicht wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort +für Wort zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer +Bedachtsamkeit in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich +nicht allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und +mit einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, meine +Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu werden. Und +als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen Wege zu befinden, da +griff ich in meine Kinderzeit zurück und holte den alten, +kühnen Wunsch hervor, „ein Märchenerzähler zu +werden, wie du, Großmutter bist.” Ich befand mich ja an +einem der größten und reichsten Fundorte alles dessen, +was da zu erzählen war, im Gefängnisse. Da kondensiert +und verdichtet sich alles, was draußen in der Freiheit so +leicht und so dünn vorüberfließt, daß man +es nicht ergreifen und noch viel weniger betrachten kann. Und da +erheben sich die Gegensätze, die draußen sich wie auf +ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, daß in dieser +Vergrößerung Alles offenbar wird, was anderwärts +in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich hatte sie vor mir +aufgeschlagen, die anspruchsvollen, hochgelehrten Werke über +Psychologie, besonders über Kriminalpsychologie. Fast jede +Zeile war mir eingeprägt. Sie enthielten die Theorie, ein +Konglomerat von Rätseln und Problemen. Die Praxis aber lag +rund um mich her, in ebenso klarer wie erschütternder +Aufrichtigkeit. Welch ein Unterschied zwischen beiden? Wo war die +Wahrheit zu suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in +der aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft ist +wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft irrt, und das +Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege führen über den +Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie sich treffen. Wo diese +Wahrheit liegt und wie sie lautet, das können wir nur ahnen. +Es ist nur einem einzigen Auge vergönnt, sie vorauszusehen, +und das ist das Auge des -- -- Märchens. Darum will ich +Märchenerzähler sein, nichts Anderes als +Märchenerzähler, ganz so, wie Großmutter es war! +Ich brauche nur die Augen zu öffnen, so sehe ich sie +aufgespeichert, diese Hunderte und Aberhunderte von +fleischgewordenen Gleichnissen und nach Erlösung trachtenden +Märchen. In jeder Zelle eins und auf jedem Arbeitsschemel +eins. Lauter schlafende Dornröschen, die darauf warten, von +der Barmherzigkeit und Liebe wachgeküßt zu werden. +Lauter in Fesseln schmachtende Seelen, in alten Schlössern, +die in Gefängnisse umgewandelt sind, oder in modernen +Riesenbauten, in denen Humanität von Zelle zu Zelle, von +Schemel zu Schemel geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des +Aufwachens und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen +Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse und +Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit +liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu erschauen vermag. +Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines +Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich getroffen +hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich will die Strenge +des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid +mit allen denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und +Barmherzigkeit, vor der es schließlich kein „Verbrechen” +mehr und keine „Verbrecher” gibt, sondern nur Kranke, Kranke, +Kranke.</p> + +<p>Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich +erzähle, nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn +wüßte man das, so würde ich nie erreichen, was +ich zu erreichen gedenke. Ich muß selbst zum Märchen +werden, ich selbst, mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine +Kühnheit sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was +aber liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es +sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen +Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksälchen eines +verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so +und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise, in +der man über das „Verbrechen” denkt und spricht, nicht +baldigst ändert!</p> + +<p>Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam, sich +aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ. Er +gewann Macht über mich; er wurde groß. Er nahm endlich +meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb, weil er in sich die +Erfüllung alles dessen barg, was schon von meiner Kindheit +an Wunsch und Hoffnung in mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen +Gedanken; ich erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn +aus. Er hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide +identisch. Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte +eine lange, lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch +schwerere Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich +meinen Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, +daß an ihm nichts mehr zu ändern war. Ich nahm mir +vor, zunächst noch weiter an meinen Humoresken und +erzgebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen +Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich mich +absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege. Dann aber +wollte ich zu einem Genre greifen, welches im allgemeinsten +Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit +besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen +Erzählungen wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht +absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse und nur +Märchen sein, allerdings außerordentlich vielsagende +Gleichnisse und Märchen. Trotzdem aber waren Reisen +wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen +Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten sich zu +bewegen hatten. Vor allem galt es, sich tüchtig +vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde treiben. +Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben +meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets +der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich +erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich +mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu +fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu +verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen. +In die Prärie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des +Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des Wilden +Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste +Mitgefühl der Lesenden erwecken, so und nicht anders +mußten alle meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit +ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu +hatte ich in allen den Ländern, die zu beschreiben waren, +wenigstens theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein +Europäer es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, +schwer und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und +dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem +ich lebte, grad so die richtige Stelle.</p> + +<p>Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische +Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch die +Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung gegeben. Die +Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu beweisen; was die +Offenbarung behauptet, wird von den Gelehrten höchstens als +glaubhaft, nicht aber als bewiesen betrachtet. So eine himmlische +Wahrheit steigt an den Strahlen der Sterne zur Erde nieder und +geht von Haus zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden. +Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein, +aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation +besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von +Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen zu werden. Da +steigt sie am Strahl der Sterne wieder himmelan und kehrt zu dem +zurück, von dem sie ausgegangen ist. Sie klagt ihm weinend +ihr Leid. Er aber lächelt mild und spricht: „Weine nicht! +Geh’ wieder zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, +dessen Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn, dich +in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche dann +dein Heil noch einmal!” Sie gehorcht. Der Dichter nimmt sie +liebend auf und kleidet sie. Sie beginnt ihren Gang als +Märchen nun von Neuem, und wo sie anklopft, ist sie jetzt +willkommen. Man öffnet ihr die Türen und die Herzen. +Man lauscht mit Andacht ihren Worten; man glaubt an sie. Man +bittet sie, zu bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber +muß weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr +aufgetragen worden ist. Doch geht sie nur als Märchen; als +Wahrheit aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht +sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle +Folgezeiten.</p> + +<p>So, das ist das Märchen! Aber nicht das +Kindermärchen, sondern das wahre, eigentliche, wirkliche +Märchen, trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die +höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm +wohnenden Seele gemäß. Und einer jener Dichter, zu +denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, wollte +ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit des war. +Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten. Die Wahrheit ist +so verhaßt und das Märchen so verachtet, wie ich +selbst es bin; wir passen zueinander. Das Märchen und ich, +wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil +man nicht in die Tiefe dringt. Wie man behauptet, daß das +Märchen nur für Kinder sei, so bezeichnet man mich als +„Jugendschriftsteller”, der nur für unerwachsene Buben +schreibe. Kurz, ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, +daß ich so verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und +Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein „Leben +und Streben” schon an und für sich selbst einem +Märchen, und sind es doch fast unzählige Fabeln und +Märchen, mit denen meine Person von gegnerischer Seite +umkleidet worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so +glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen glaubt. +Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich einmal zur +Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur Wahrheit werden, und +was man mir heut nicht glaubt, das wird man morgen glauben +lernen.</p> + +<p>Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben +beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie +sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag. Ich +wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser mit dem +Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu verwickeln. Und was ich +zu sagen hatte, das mußte ich suchen lassen; ich durfte es +nicht offen vor die Türen legen, weil man Alles, was man so +billig bekommt, liegen zu lassen pflegt und nur das zu +schätzen weiß, was man sich mühsam zu erringen +hat. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, gleich von +vornherein anzudeuten, daß meine Reiseerzählungen +bildlich zu nehmen seien. Man hätte mich einfach nicht +gelesen, und Alles, was ich lösen wollte, wäre Fabel +und Märchen geblieben. Der Leser mußte ungeahnt +finden, was ich gab; er betrachtete es dann als wohlerrungen und +hielt es für das Leben fest.</p> + +<p>Aber was war denn eigentlich das, was ich geben wollte? Das +war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich wollte +Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel +lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es gewollt; ich +habe es versucht und werde es weiter versuchen. Ob ich es +erreiche, kann weder ich noch ein Anderer wissen. Es mag bei der +Ausführung dann wohl mancher Fehler untergelaufen sein, denn +ich bin ein irrender Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein +gewesen. Ich wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur +Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft +worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das nicht noch +lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man es dafür +halten; ich aber habe an hundert und wieder hundert +unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum in +das Unglück geraten waren und nur darum darin stecken +blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen der ganzen +irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt +worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete +Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde und +frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind alle Schulen +da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis hinauf zur +Universität, für die Seele aber keine einzige. Für +den Geist werden Millionen Bücher geschrieben, wie viele +für die Seele? Dem Menschengeiste werden tausend und +abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen die, welche +bestimmt sind, die Menschenseele zu verherrlichen? Wohlan, sage +ich mir, so will ich es sein, der für die Seele schreibt, +ganz nur für sie allein, mag man darüber lächeln +oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum werden viele meine Werke +entweder nicht oder falsch verstehen, aber das soll mich ja nicht +hindern, zu tun, was ich mir vorgenommen habe.</p> + +<p>Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber ich +wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. Ich sah um +mich herum das tiefste Menschenelend liegen; ich war für +mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch über uns lag die +Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir +emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war aber nicht allein die +unsrige, sondern sie ist allen Menschen erteilt; nur daß +wir, die wir um so viel tiefer lagerten als die Andern, weit mehr +und weit mühsamer aufzusteigen hatten als sie. Aus der Tiefe +zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern +Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen +müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem +orientalischen und an einem amerikanischen. Ich teilte mir die +Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, +in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt +die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. An +diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine Gedanken +und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es, mich vor +allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen und den +Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare +Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube an den +„großen, guten Geist” der Andern harmonierte mit meinem +eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In Amerika sollte +eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal +bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken +hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh +geworden. Im Westen soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der +Savanne und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten +Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten hat sie sich +das Treiben der Wüste bis nach dem hohen Gipfel des Dschebel +Marah Durimeh zu erheben. Darum beginnt mein erster Band mit dem +Titel „durch die Wüste.” Die Hauptperson aller dieser +Erzählungen sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, +ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen +Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte +er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara Ben Nemsi +heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein hatte, +verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst +erzählend, also als „Icherzähler” dargestellt werden. +Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische +Imagination. Doch, wenn dieses „Ich” auch nicht selbst +existiert, so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus +der Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden. +Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, also dieses +„Ich” ist als jene große Menschheitsfrage gedacht, welche +von Gott selbst geschaffen wurde, als er durch das Paradies ging +um zu fragen: „Adam, d. i. Mensch, wo bist Du?” „Edelmensch, +wo bist Du?” Ich sehe nur gefallene, niedrige Menschen!” Diese +Menschheitsfrage ist seitdem durch alle Zeiten und alle +Länder des Erdkreises gegangen, laut rufend und laut +klagend, hat aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat +Gewaltmenschen gesehen zu Millionen und Abermillionen, die +einander bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie +aber einen Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich +und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder +Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich selbst +zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und wird die +Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf die bis +dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende +Antwort erfolgt: „hier bin ich. Ich bin der erste Edelmensch, +und Andere werden mir folgen!” So geht auch Old Shatterhand und +so geht Kara Ben Nemsi durch die Länder, um nach +Edelmenschen zu suchen. Und wo er keinen findet, da zeigt er +durch sein eigenes edelmenschliches Verhalten, wie er sich ihn +denkt. Und dieser imaginäre Old Shatterhand, dieser +imaginäre Kara Ben Nemsi, dieses imaginäre „Ich” hat +nicht imaginär zu bleiben, sondern sich zu realisieren, zu +verwirklichen, und zwar in meinem Leser, der innerlich Alles +miterlebt und darum gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich +veredelt. In dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung +der großen Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch, +also der niedrige Mensch, zum Edelmenschen entwickeln +könne.</p> + +<p>Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte ich gar +wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer Gefahr +aussetzen würde, die für mich keine geringe war. Wie +nun, wenn man diese Imagination nicht verstand und dieses „Ich” +also nicht begriff? Wenn man glaubte, ich meine mich selbst? Lag +es da nicht nahe, daß ein Jeder, dem es an Intelligenz oder +gutem Willen fehlte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu +unterscheiden, mich als Lügner und Schwindler bezeichnen +würde? Ja, das lag allerdings in der Möglichkeit, aber +für wahrscheinlich hielt ich es nicht. Ich hatte dieses +„Ich,” also diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit +allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit im +Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. Mein Held +mußte die höchste Intelligenz, die tiefste +Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in +allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der +Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, +das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn ich, wie +ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig +Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen, +daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde, +daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne. +Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler +sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig +ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest +überzeugt, trotzdem ich mit dem „Ich” mich nicht selbst +meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können, +daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt +oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder +doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es +für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und +vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen, +daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar +niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus +seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem +imaginären „Ich”, also von der großen +Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme +richtig war, wird bald die Folge zeigen.</p> + +<p>Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in +orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich ganz +selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die +Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als +unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich +ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die +Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem +es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, +machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit +will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht länger +Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in +meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern +jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients +zu erwecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man +versichert mir heut, dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei +Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, +dies zu glauben.</p> + +<p>Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher +geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk, +für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile +desselben, für einzelne Stände, für einzelne +Altersklassen. Vor allen Dingen nicht etwa allein für die +Jugend! Auf diese letztere Versicherung habe ich das +größte Gewicht und den schärfsten Ton zu legen. +Wäre es meine Absicht gewesen, Jugendschriftsteller sein +oder werden zu wollen, so hätte ich ganz notwendigerweise +auf die Ausführung aller meiner Pläne und auf die +Erreichung aller meiner Ideale für immer verzichten +müssen. Und dies zu tun, ist mir niemals eingefallen. Zwar +hatte ich auch an die Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur +zeitlich die erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus +der sich das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie +ist es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten und +den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern Pionieren neu +gesichtete Terrain schnellsten Tempo’s zu besetzen. Aber wie sie +nur einen Teil des Volkes bildet, so konnte das, was ich an sie +zu richten hatte, auch nur ein Teil dessen sein, was ich für +das Volk als Ganzes schrieb. Wenn ich sage, daß ich +für das Volk schreiben wollte, so meine ich damit, für +den Menschen überhaupt, mag er so jung oder so alt sein, wie +er ist. Aber nicht jedes meiner Bücher ist für jeden +Menschen. Und doch auch wieder ist es für jeden Menschen, +aber nach und nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt, +je nachdem er älter und erfahrener wird, je nachdem er +fähig geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu +begreifen. Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben +begleiten. Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, +als Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer +Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit Ueberlegung +und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt, und zwar wahllos +verschlingt, um den ist es vielleicht schade; auf alle Fälle +aber ist es noch mehr schade um sie! Wer sie mißbraucht, +der soll nicht mich oder sie, sondern sich selbst zur +Verantwortung ziehen. Ich erinnere da an das Rauchen, an das +Essen und Trinken. Rauchen ist ein Genuß. Essen und Trinken +ist unerläßlich. Aber jederzeit zu rauchen, zu essen, +zu trinken, und Alles, was einem geboten wird, zu rauchen und zu +verzehren, würde nicht nur töricht, sondern sogar +schädlich sein. Eine gute, interessante Lektüre soll +man genießen, aber nicht wie ein Haifisch verschlingen! Da +meine Bücher nur Gleichnisse und Märchen enthalten, +versteht es sich ganz von selbst, daß man reiflich +über sie nachdenken soll und daß sie nur in die +Hände von Leuten gehören, die nicht nur nachdenken +können, sondern auch nachdenken wollen.</p> + +<p>Als ich damals diese Gedanken erwog und meine Pläne +faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben und +an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch nicht +eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als Künstler +zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller muß doch +zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich noch nicht +einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern nur erst +für einen außerhalb der Zunft herumtastenden +Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht. +Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende +Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so +hätte mir eigentlich himmelangst werden sollen, denn es +gehörten jedenfalls mehrere arbeitsreiche, ungestörte, +glückliche Menschenleben dazu, den vor mir liegenden Stoff +echt literarisch, also künstlerisch zu bewältigen. Aber +es wurde mir doch nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig +dabei. Ich fragte mich: Muß man denn Schriftsteller sein, +und muß man denn Künstler sein, um solche Sachen +schreiben zu dürfen? Wer will und kann es Einem verbieten? +Machen wir es ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen +wir es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, was +es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler mich als +„Kollegen” gelten lassen würden, das mußte mir +damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen Stolz +besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von Kunst +dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber diese meine +Gedanken waren anders als diejenigen anderer Leute, besonders der +Fachgenossen. Künstler zu sein, dünkte mich das +Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief in meinem Herzen +der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen, und sollte +es erst noch in der letzten Stunde vor meinem Tode sein. Jener +Kindheitsabend, an dem ich den „Faust” zu sehen bekam, stand +noch unvergessen in meiner Seele, und die Vorsätze, die ich +an ihn geschlossen hatte, besaßen noch ganz denselben +Willen und dieselbe Macht über mich wie vorher. Für das +Theater schreiben! Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt +wird, wie der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem +Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des niedern +Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße. Um so +Etwas schreiben zu können, muß man Künstler sein, +und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich nur da als +Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes als das, was die heutige +Kritik als Kunst bezeichnet, und so blieb mir weiter nichts +übrig, als alle meine Wünsche, die sich darauf bezogen, +als Literat ein Künstler, und zwar ein wahrer, wertvoller +Künstler sein zu dürfen, für lange, lange Jahre +zurückzustellen und bis dahin zu bleiben, was ich eben war, +nämlich ein unzünftiger Anfänger, der nicht die +geringste Prätentien <tt>[sic]</tt> +besaß, ein Zunftgenosse zu werden. Wie ich stets, seitdem +ich lebte, abgesondert und einsam gestanden hatte, so war ich +schon damals überzeugt, daß auch mein Weg als Literat +ein einsamer sein und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. +Was ich suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was +ich wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen +vollständig Fernliegendes. Und was ich für richtig +hielt, das war höchst wahrscheinlich für andere Leute +das Falsche. Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es +mir nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren +Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf Kunst war +ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die andern +recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt mich +mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach vollendeter Reife, +ein großes, schönes Dichterwerk zu schaffen, eine +Symphonie erlösender Gedanken, in der ich mich erkühne, +Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen, Glück aus +meinem Unglück, Freude aus meiner Qual. Dies für +später, wenn mir der Tod einst seinen ersten Wink erteilt. +Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu lernen und auf +dieses Werk vorzubereiten, damit es nicht mißlinge. Jetzt +Märchen und Gleichnisse geben, um dann am Schlusse des +Lebens aus ihnen die Wahrheit und die Wirklichkeit zu ziehen und +auf die Bühne zu bringen!</p> + +<p>Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke wie +z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern lange +Erzählungen, in denen viele Personen handelnd auftreten. Und +ihre Zahl ist groß; sie sollen eine ganze Reihe von +Bänden füllen und das Material für jene +spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine +Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine +sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur +Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an welche +nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur für +ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will und darf kein +kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern meine Aufgabe ist, aus +hochgelegenen Marmor und Alabasterbrüchen die Blöcke +für spätere Kunstwerke zu brechen, deren Form ich +höchstens andeuten kann, weil mir die Zeit zur +Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese Andeutung +gebe ich eben in Märchen, die meinen erzählenden +Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte bilden, um welche +sich das Interesse des Lesers konzentriert. Die +künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen +Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine +Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar +Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, schlichten Arm- +oder Fußringen der Araberinnen zu gleichen, die weiter +nichts sein sollen, als eben nur silberne Ringe. Der Wert liegt +im Metall, nicht in der Arbeit. Der Maler, welcher flüchtige +Skizzen zeichnet, um ein großes Gemälde vorzubereiten, +würde sich gewiß über den Kritiker verwundern, +der an diese Skizzen denselben Maßstab legen wollte, den er +dann später an das Gemälde zu legen hat.</p> + +<p>Soviel über die Pläne, welche damals in mir +entstanden und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf den +heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie kamen nicht +in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam, einer nach dem +andern. Und sie reiften nicht eilig aus, sondern es dauerte +monate- und jahrelang, ehe ich mir von dem einen Punkt bis zum +nächsten klar geworden war. Ich hatte aber auch genugsam +Zeit dazu. Ich legte mir eine Art von Buchhaltung über diese +Pläne und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig +aufgehoben und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde in +seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. Ich +stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den Inhalt +aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. Ich bin +zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen gegangen, aber +es hat mir doch viel genützt, und ich zehre noch heut von +Sujets, die schon damals in mir entstanden. Auch schriftstellerte +ich fleißig; ich schrieb Manuskripte, um gleich nach meiner +Entlassung möglichst viel Stoff zur Veröffentlichung zu +haben. Kurz, ich war begeistert für mein Vorhaben und +fühlte mich, obgleich ich Gefangener war, unendlich +glücklich in der Aussicht auf eine Zukunft, die, wie ich +wohl hoffen durfte, keine ganz gewöhnliche zu werden +versprach.</p> + +<p>Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden +zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für alles Leid +entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene Gabe: Ich +wurde begnadigt. Die Direktion hatte für mich ein +Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein volles Jahr meiner +Strafzeit erlassen bekam. Ich stand in der ersten +Disziplinarklasse und erhielt ein Vertrauenszeugnis ausgestellt, +welches mir den Rückweg in das Leben glättete und mich +aller polizeilichen Scherereien überhob. Der Kenner +weiß, was das bedeutet!</p> + +<p>Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt +verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen +Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach Hause geschrieben, um die +Meinigen von meiner Heimkehr zu benachrichtigen. Wie freute ich +mich auf das Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich +nicht zu haben; dies war ja schon längst durch Briefe +geordnet. Ich wußte, daß ich willkommen sei und +daß man mir mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten +freute ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich +gegrämt und gehärmt haben! Und wie gern würde sie +mir ihre alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie +entzückt würde sie über meine Pläne sein! Wie +sehr würde sie mir helfen, sie auszudenken und so tief wie +möglich auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach +Ernsttal, also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe +gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es +läßt sich denken, was für Gedanken mich auf +diesem Weg begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem +Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges +zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten! +Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für +deren Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr +zu leisten vermag? Das „Märchen von Sitara” tauchte vor +mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen, +wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend +zu schleudern, so daß sie verloren gehen? Alles +Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem +Untergange geweiht. Gilt das auch mir?</p> + +<p>Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr ich +mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von dort aus +böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe Zuversicht schien +mich verlassen zu wollen; ich mußte mir Mühe geben, +sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe aus schaute ich +über das Städtchen hin. Da schlängelten sich vor +meinen Augen die Wege, die ich damals so oft gegangen war, in +heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen inneren Stimmen +liegend, die mir Tag und Nacht hindurch in einem fort die Worte +„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders +Fluch” zuriefen. Und was war das? Indem ich hieran dachte, +hörte ich ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz +deutlich, wie erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu +nähern, „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des +Schneiders Fluch!” Sollte und wollte sich das etwa wiederholen? +Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte von +dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die Höhe +hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, nach Hause, +nach Hause!</p> + +<p>Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern wohnten +noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg die Treppe empor +und dann gleich noch eine zweite hinauf nach dem Bodenraume, wo +Großmutter sich immer am liebsten aufgehalten hatte. Ich +wollte zunächst zu ihr und dann erst zu Vater, Mutter und +Geschwistern. Da sah ich die wenigen Sachen, die sie besessen +hatte; sie selbst aber war nicht da. Da stand ihre Lade, mit +blauen und gelben Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der +Schlüssel abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war +leer. Ich eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die +Eltern. Die Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie +hatten gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar +nicht und fragte, wo Großmutter sei. „Tot -- -- -- +gestorben!” lautete die Antwort. „Wann?” „Schon voriges +Jahr.” Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den +Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir verschwiegen, um +mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft nicht noch zu +erschweren. Das war ja recht gut gedacht; nun aber traf es mich +um so wuchtiger. Sie war nicht eigentlich krank gewesen; sie war +nur so hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!</p> + +<p>Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die +Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir +später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige +einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des +Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu. +Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich +gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den +Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz +verbergen. Ich wollte nur von Großmutter wissen, jetzt +weiter nichts, und man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von +mir gesprochen, aber niemals ein Wort, welches mich hätte +kränken müssen, wenn ich dabeigewesen wäre. Und +sie hatte nie geklagt oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun +wisse sie, daß ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer +Geburt zur falschen Stelle geschleudert werden, um dort +vernichtet zu werden. Nun sei sie überzeugt, daß ich +durch die Geisterschmiede müsse, um alle irdischen Qualen +über mich ergehen zu lassen. Aber sie wisse, ich werde nicht +schreien, ich werde tragen, was zu tragen ist, und mir den Weg +nach Dschinistan <tt>[sic]</tt> +erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto +ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt +und desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An +einem der letzten Tage erzählte sie, daß der +längst verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen +sei. Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser +stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel +die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, aber nicht +in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, welches sie +noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, sei der Herr Kantor +erschienen. Er haben genauso ausgesehn wie damals, als er noch +lebte. Er sei langsam bis an ihr Bett gekommen, habe sie +freundlich lächelnd gegrüßt, wie es immer seine +Art und Weise war, und dann gesagt, daß sie sich ja nicht +um mich sorgen solle; ich könne wohl stürzen wie jeder +Andere, nicht aber liegen bleiben; es werde mir zwar schwer +gemacht, doch erreiche ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten +nickte er ihr wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie +er gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie +schloß sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde +wieder dunkel.</p> + +<p>Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob ein +Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes auf ihrem +Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch noch dann +darauf, als sie die Augen geschlossen hatte und nicht mehr +atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein friedlicher, ein seliger +gewesen; mir aber war gar nicht friedlich und gar nicht selig zu +Mute, als man mir von ihm erzählte. Es tauchten +Vorwürfe in mir auf, aber keine Vorwürfe, die nur +Gedanken sind, wie bei andern Leuten, die nicht von derselben +Veranlagung sind wie ich, sondern Vorwürfe viel +wesentlicherer, viel kompakterer Art. Ich sah sie in mir kommen, +und ich hörte, was sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, +jedes Wort! Das waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, +wirkliche Wesen, die nicht die geringste Identität mit mir +zu besitzen schienen und doch identisch waren. Welch ein +Rätsel! Aber welch ein ungewöhnliches, furchtbar +beängstigendes Rätsel! Sie glichen jenen in mir +schreienden, dunkeln Gestalten von früher her, mit denen ich +-- -- -- mein Gott, kaum hatte ich an sie gedacht, so waren sie +wieder da, ganz so, wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in +meinem Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre +Stimmen so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an +Stelle der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie +blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir schlafen. +Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht +schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere +Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten, +die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht +entdecken konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie +schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner +Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. Und +doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, weil +das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von meinem Willen +war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Der vor +mir liegende Teil meines Lebens sollte ein ganz anderer sein, als +der, welcher hinter mir lag. Diese Stimmen aber waren +bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit +zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß +ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen, +für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit! +Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich aber stemmte mich gegen +sie; ich tat, als ob ich nichts, gar nichts höre. Das war +aber selbst bei der größten Kraftaufwendung nicht +länger als höchstens nur einige Tage lang auszuhalten. +Indessen besuchte ich einige Verleger, um mit ihnen über die +Herausgabe der im Gefängnisse geschriebenen Manuskripte zu +verhandeln. Hierbei stellte es sich heraus, daß +während dieser meiner Abwesenheit die inneren Stimmen um so +mehr verstummten, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, +und wieder um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder +näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort +seßhaft seien und nur dann über mich herfallen +könnten, wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort +einzufinden. Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich +kassierte meine Honorare ein und machte eine längere +Auslandsreise. Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses Werkes +zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren Ergebnissen +ein größerer Raum gewidmet werden soll, als ich ihnen +hier gewähren könnte. Während dieser Reise +verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde +vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein +ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat +zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker +Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark, +daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. Ich +kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich Alles, +was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen +begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, +an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar +dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich +fühlte, daß ich, falls ich diesem Befehle Gehorsam +leiste, ein höchst gefährlicher Mensch sein werde, und +nahm alle mir gegebene Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche +Schicksal anzukämpfen.</p> + +<p>Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, +daß ich meinen Zustand keineswegs für pathologisch +hielt. Alle meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl +körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es +gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser Beziehung mir +angeheftet hatte, das war gewiß nicht von innen heraus +erzeugt, sondern von außen her an mich herangetreten. Ich +arbeitete fleißig, fast Tag und Nacht, wie ich +überhaupt an der Arbeit stets meine größte Freude +gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. Ich litt also +keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern wohnte, die sich jetzt +auch besser standen als früher. Ich hätte +vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts +verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was ich +schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas +Gewöhnliches schrieb, stellte sich nicht die geringste +Hinderung ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema +stellte, eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere +Aufgabe, wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen +empörten und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande +zu bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die +trivialsten, blödesten oder gar verbotensten Gedanken +dazwischenwarfen. Ich sollte nicht empor; ich sollte unten +bleiben. Hierzu gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter +Hallunke, dem Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so +schmeichelt; ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist +mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei. +Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, und auch +für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, welche man +empfinden muß, um ein Trinker zu werden. Jetzt aber +fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, wenn +ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause +vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht mehr +arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder hinzulegen und +in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat es aber nicht. Vater tat +es. Er konnte sein Glas einfaches Bier und sein Schnäppschen +<tt>[sic]</tt> nicht gut entbehren. Ich +aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das war mir nicht +etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa schwer, o nein. Ich +erzähle es nur des psychologischen Interesses wegen, weil es +mir höchst sonderbar erscheint, daß dieser meiner +ganzen Natur widersprechende und mir sonst vollständig +fremde Durst nach Spirituosen immer nur dann auftrat, wenn jene +Stimmen die Oberhand in mir hatten, sonst aber nie!</p> + +<p>Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter meine +Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich sprach +hierüber also mit den Eltern und Geschwistern. Vater hatte +jetzt Anderes zu denken. Er war in einer Art sozialer Mauserung +begriffen und darum für mich nicht zu haben, zumal er des +Abends nie daheim blieb. Auch die Schwestern hatten andere +Interessen. Mein ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb +mir nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem +Strickstrumpf still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte ihr +so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder +beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte +einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein +liebes, tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch +sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und sie +wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden +möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie fest +und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, da +glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter sein kann, +deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, auf die +Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. Ich aber +fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen +Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte +verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese +Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer +Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. Nichts war +mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. Aber ich +stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich +stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen +wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. Und mitten +in dieser Schutzlosigkeit wurde ich nun auch von andern Feinden +gepackt, die, obgleich sie keine inneren, sondern +äußerliche waren, doch ebenso wenig mit den +Händen gefaßt werden konnten.</p> + +<p>Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt in +andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. Man hatte +sie gern. Man teilte ihr Alles mit, ohne daß man sie um +Verschwiegenheit zu bitten brauchte. Sie erfuhr Alles, was im +Städtchen und in der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo +einen Einbruch gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter +war entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise +ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich +von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene gesetzt. Ich +hörte gar nicht hin, als man es erzählte, bemerkte aber +nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster als +gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu +sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich blieb +anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem +Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten; ich bat +aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein Gerücht, +ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher +sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen +Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber +war ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es +brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die +Stimmen schrien mir zu: „Wehre dich, wie du willst, wir geben +dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir zwingen dich, dich zu +rächen! Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein +Schurke bleiben, wenn du Ruhe haben willst!” So klang es bei +Nacht. Wenn ich am Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts +fertig. Ich konnte nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater +gesagt. Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu +nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten ja +genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus dem +Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles im Vertrauen +gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum gab es keinen Punkt, an +dem ich zugreifen konnte, mich zu wehren. Aber es kam schlimmer. +Die heimatliche Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit +Vertrauenszeugnis entlassen worden und darum ihrer Aufsicht +entgangen. Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich mit mir +zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche vor, +deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen Intelligenz +behaftet waren. Man glaubte, dies auf mich deuten zu müssen. +Das war zu derselben Zeit, in der sich die schon erwähnte +„Lügenschmiede” zu bilden begann. Neue Gerüchte +kursierten, romantisch ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister +erkundigte sich unter der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der +und der Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich +sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute +man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein guter Kerl, +ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt hatte und auch jetzt +noch an mir hing. Der war sprichwörtlich unbeholfen und +unverzeihlich aufrichtig. Er hielt grob sein für +Menschenpflicht. Der konnte es nicht länger aushalten. Er +kam zu mir und erzählte mir auf Handschlag und +Schweigepflicht Alles, was gegen mich im Schwange ging. Das war +so dumm und doch so empörend, so leichtsinnig und +gewissenlos, so -- -- so -- -- so -- -- so -- -- -- ich fand +keine Worte, dem armen, wohlmeinenden Menschen für seine +schmerzhafte Aufrichtigkeit zu danken. Aber als er mein Gesicht +sah, machte er sich so schnell wie möglich von dannen.</p> + +<p>Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es trieb +mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät +abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu +haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn, +fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem +Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom +Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; wohin, +wohin, das beachtete ich gar nicht. Es kam mir vor, als ob die +inneren Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir +herliefen. Voran der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, +der mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von +Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf +die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und +Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das verfolgte +mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und +jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die +Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen +Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte +nicht weiter. Da hatten sie mich fest, und da ließen sie +mich nicht wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde, +bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern +herunterholten. Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den +ganzen Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen +und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf einem +Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden Roggenfeldern. Ein +Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, und der Gewitterregen +floß in Strömen herab. Ich eilte fort und kam an ein +Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus. +Mit der kam ich in den Wald, kroch unter die dicht bewachsenen +Bäume und aß. Hierauf schlief ich wieder ein. Aber ich +schlief nicht fest; ich wachte immer wieder auf. Die Stimmen +weckten mich. Sie höhnten unaufhörlich „Du bist ein +Vieh geworden, frissest Rüben, Rüben, Rüben!” Als +der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe, kehrte +in den Wald zurück und aß. Dann suchte ich mir eine +lichte Stelle auf und ließ mich von der Sonne bescheinen, +um trocken zu werden. Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir +Ruhe. Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen +Schlaf, während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite +auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern +gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald ein +Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus Preziosa und +bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser Schlaf ermüdete mich +nur noch mehr, statt daß er mich stärkte. Ich entwand +mich ihm, als der Abend anbrach, und verließ den Wald. +Indem ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel +blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein +Feuer. Das war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich +wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer +zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt vorkam. +Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte in die Glut. +Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir. Und der Rauch, +dieser dicke, erstickende Rauch! Der war nicht da drüben +beim Feuer, sondern hier bei mir. Der hüllte mich ein, und +der drang mir in die Seele. Dort ballte er sich zu Klumpen, die +Arme und Beine und Augen und Gesichtszüge bekamen und sich +in mir bewegten. Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst +später, viel später klar über die Entstehung +solcher innerer Schreckgebilde geworden. Damals war ich es noch +nicht, und so konnten sie die entsetzliche Wirkung +äußern, gegen welche meine auf das Aeußerste +angespannten Nerven keine Widerstandskraft mehr besaßen. +Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben +zusammenfiel, als die Flammen niedriger und niedriger wurden und +endlich erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war +auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm. Mein +Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel +umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich suchte auch gar nicht +danach. Ich wankte beim Gehen. Ich lief irr. Ich torkelte weiter, +bis ich endlich einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die +Straße, auf der ich mich befand, vorüberführte. +Ich lehnte mich an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war +wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu +verhindern. Diese Tränen waren keine erlösenden. Sie +brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine Augen +zu reinigen und zu stärken. Ich sah plötzlich, +daß es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er +war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag; heut +aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.</p> + +<p>Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, über +den Markt hinüber und öffnete leise die Tür +unseres Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der +Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne +Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht. +Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür. +Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres +Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die +Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber +leise:</p> + +<p>„Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?”</p> + +<p>„Nein,” antwortete ich.</p> + +<p>„Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach +Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man +dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!”</p> + +<p>„Fort? Warum?” fragte ich.</p> + +<p>„Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses +Feuer!”</p> + +<p>„Was ist es mit dem Feuer?”</p> + +<p>„Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im Walde -- -- auf +dem Felde -- -- und gestern auch bei dem Haus, bevor es +niederbrannte!”</p> + +<p>Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!</p> + +<p>„Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!” stotterte ich. „Glaubst du +etwa, daß -- -- --”</p> + +<p>„Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater +auch,” unterbrach sie mich. „Alle Leute sagen es!”</p> + +<p>Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie +jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie +fuhr in demselben Atem fort:</p> + +<p>„Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen +Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute +aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier +warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht +länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, +kommst du wieder!”</p> + +<p>Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich +berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu +warten. Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach +dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und +Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht +etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war +der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung +aussah, wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!</p> + +<p>Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den Kleiderschrank zu +öffnen und einen andern, saubern Anzug anzulegen. Dann bin +ich fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im +Stich. Ich war wieder krank wie damals. Nicht geistig, sondern +seelisch krank. Die inneren Gestalten und Stimmen beherrschten +mich vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene +Zeit zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig +Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach dieser +Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah +und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir +geblieben, doch so undeutlich, daß ich nicht behaupten +kann, was wahr daran ist und was nicht. Ich habe in jener Zeit +jenen dunklen Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich +beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen +unglaublich. Man beschuldigte mich, einen Kinderwagen gestohlen +zu haben! Wozu? Ein leeres Portemonnaie mit nur drei Pfennigen +Inhalt! Anderes ist schon glaublicher und Einiges direkt +erwiesen. Man hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen +war, da transportierte man mich als „hoffentlichen Täter” +hin. Das war eine hochinteressante Zeit für die +Habitu<tt>é</tt>s der Ernsttaler Lügenschmiede. Da +wurde fast täglich Neues erzählt oder Altes variiert, +was ich begangen haben sollte. Jeder Vagabund, der in den +Ortsbereich dieser Märchen kam, legte sich meinen Namen bei, +um auf meine Rechnung hin zu sündigen. Das war selbst +für einen äußerlich und innerlich Gefangenen +zuviel. Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln +und verschwand. Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in +dem ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu +berichten. Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu +erwähnen, nämlich, daß ich seelisch um so freier +wurde, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, daß +mich draußen in der Ferne ein unwiderstehlicher Trieb zur +Heimkehr packte und daß ich innerlich wieder um so freier +wurde, je mehr ich mich der Gegend meines Geburtsortes +näherte. Gibt es Jemand, der das zu ergründen vermag? +Ich folgte teils jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich +freiwillig zurück, und zwar um meiner guten Pläne und +um meiner Zukunft willen. Hatte ich gesündigt; so hatte ich +zu büßen; das verstand sich ganz von selbst. Und bevor +diese Buße nicht erledigt war, konnte es für mich +keine ersprießliche Arbeit und keine Zukunft geben. Ich +kehrte also nach fünf Monaten wieder heim, um mich dem +Gericht zu stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es +richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren +Gewalten, die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu +tun, was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war, +daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen +wurde. Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die +Strenge des Richters, der mein Urteil fällte, +vollständig begreife. Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt +zu begreifen, der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt +wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, und zwar +in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein, bei dieser +billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben zu können +oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm nicht mehr als Alles, +was nötig ist, um eine solche Aufgabe auch nur +einigermaßen zu lösen. Ich hätte gar wohl leugnen +können, gab aber Alles, dessen man mich beschuldigte, +glattweg zu. Das tat ich, um die Sache um jeden Preis los zu +werden und so wenig wie möglich Zeitverlust zu erleiden. +Dieser Advokat war unfähig, mich oder überhaupt ein +nicht ganz alltägliches Seelenleben zu begreifen. Das Urteil +lautete auf 4 Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So +schwer es mir fällt, dies für die Oeffentlichkeit +niederzuschreiben, ich kann mich nicht davon entbinden; es +muß so sein. Nicht mich bedaure ich, sondern meine armen, +braven Eltern und Geschwister, welch erstere mir noch im Grabe +leid tun, daß ihr Sohn, auf den sie so große, +vielleicht nicht ganz unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die +unendliche Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse +gezwungen ist, derartige Geständnisse zu machen.</p> + +<p>Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir +vorgeworfen werden, hier aufzuzählen. Mein Henker, Schinder +und Abdecker zu sein, überlasse ich jener abgrundtiefen +Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an das Kreuz +geschlagen und während dieser Zeit keinen Augenblick lang +aufgehört hat, immer neue Qualen für mich zu ersinnen. +Sie mag in diesen Fäkalienstoffen weiterwühlen, zum +Entzücken aller jener niedern Lebewesen, denen diese Stoffe +Lebensbedingungen sind. Und ebensowenig bin ich gewillt, mit +dieser meiner jetzigen Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich +habe schlicht und einfach über sie zu berichten, die +Wahrheit zu sagen und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen +Abgrund, der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer +Valet zu sagen.</p> + +<p>Meine Strafe war schwer und lang, und der auf zwei Jahre +Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir bei meiner +Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. Ich war also auf +strenge Behandlung gefaßt. Sie war ernst, aber sie tat +nicht weh. Eine Anstaltsdirektion handelt ganz richtig, wenn sie +sich nicht voreingenommen zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und +wie der Eingelieferte sich fügt. Nun, ich fügte mich! +Freilich wurde für dieses Mal auf meinen Stand keine +Rücksicht genommen. Man teilte mich derjenigen +Beschäftigung zu, in der grad Arbeiter gebraucht wurden. Ich +wurde Zigarrenmacher. Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete +es mir. Ich habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke +noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an sie +zurück, welche man stillen, nicht grausamen +Leidensstätten schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie +war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak kennen +und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der billigsten bis zur +teuersten. Das tägliche Pensum war nicht zu hoch gestellt. +Es kam auf die Sorte, auf den guten Willen und auf die +Geschicklichkeit an. Als ich einmal eingeübt war, brachte +ich mein Pensum spielend fertig und hatte auch noch stunden- und +halbe Tage lang übrige Zeit. Diese Zeit für mich +verwenden zu dürfen, war mein innigster Wunsch, und der +wurde mir eher, viel eher erfüllt, als ich es für +möglich hielt.</p> + +<p>Ich betone hier ein für allemal, daß es für +mich keinen Zufall gibt. Das weiß ein jeder meiner Leser. +Für mich gibt es nur eine Fügung. So auch in diesem +Falle. Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische +und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet +(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen +Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der Zeit so +mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet +worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter +suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen die +Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch noch die Orgel +übernehmen konnte. Die Direktion billigte ihm zu, sich einen +Vertreter unter den Gefangenen zu suchen. Er tat es. Es gab eine +ganze Anzahl bestrafter Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden +geprüft. Warum keiner von ihnen genommen wurde, das +weiß ich nicht. Sie waren alle länger da, als ich, +hatten also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches +zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war mit +nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte der +zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und +hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem +Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich, keinen +Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der Katechet kam in +meine Zelle, unterhielt sich eine Weile mit mir und ging dann +fort, ohne mir etwas zu sagen. Einige Tage später kam auch +der katholische Geistliche. Auch er entfernte sich nach kurzer +Zeit, ohne daß er sich über den Grund seines Besuches +äußerte. Aber am nächsten Tage wurde ich in die +Kirche geführt, an die Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt +und mußte spielen. Die Herren Beamten saßen unten im +Schiff der Kirche so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war +nur der Katechet, der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die +Prüfung und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir +eröffnete, daß ich zum Organisten bestellt sei und +mich also sehr gut zu führen habe, um dieses Vertrauens +würdig zu sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr +viel für mich und mein Innenleben entwickelte.</p> + +<p>Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer katholischen +Kirche! Das brachte mir zunächst einige Bewegungsfreiheiten +innerhalb der Anstaltsgebäude. Man konnte mir doch keinen +Aufseher mit an die Orgel stellen! Aber es brachte mir noch mehr, +nämlich Achtung und diejenige Rücksichtnahme, nach der +ich in Beziehung auf gewisse Aeußerlichkeiten strebte. Der +Aufseher unserer Visitation war ein stiller, ernster Mann, der +mir sehr wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich +katholischer Organist geworden sei, kam er verwundert in meine +Zelle, um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen +Einlieferungsakten ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als +evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. Da +sah er mich groß an und sagte:</p> + +<p>„Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt du -- -- -- +hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!”</p> + +<p>Die Gefangenen werden natürlich „Du” genannt; von jetzt +an aber sagte er „Sie”, und Andere taten ihm das nach. Das war +eine scheinbar kleine, aber trotzdem sehr wertvolle +Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere folgerte. Bald stellte +sich zu meiner freudigen Ueberraschung heraus, daß mein +Aufseher der Dirigent des Bläserkorps war. Ich erzählte +ihm von meiner musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da +brachte er mir schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu +erteilen. Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war +dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in +meiner freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher +ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und wir +haben, als er später pensioniert war und nach Dresden zog, +noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit einander +verkehrt.</p> + +<p>Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur Lehrer, +ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder +Beziehung, human wie selten Einer und von einer so reichen +erzieherischen, psychologischen Erfahrung, daß das, was er +meinte, einen viel größeren Wert für mich +besaß, als ganze Stöße von gelehrten +Büchern. Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit +mir. Er hielt mich für einen Protestanten und machte nicht +den geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung einzuwirken. +Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich zu ihm. Nie habe ich +ihm eine Frage nach dem Katholizismus vorgelegt. Was ich da +wissen mußte, das wußte ich bereits oder konnte es in +anderer Weise erfahren. Mir war das schöne Verhältnis +heilig, das nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne +daß sich störende Gegensätze in das rein +menschliche Wohlwollen schleichen durften. Er tat seinen +Kirchendienst, ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die +Religion zwischen uns vollständig unberührt und konnte +also umso direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein +Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen, +und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen +Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das Kleinste +groß zu nehmen weiß.</p> + +<p>Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt lernte +ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige Musikstücke +bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, Musikverständnis +zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache Katechet gab mir Nüsse +zu knacken, die mir sehr zu schaffen machten. Was Musik +eigentlich ist, das begann ich erst jetzt zu ahnen, und die Musik +ist nicht etwa das allergeringste Mittel, durch welches die +Kirche wirkt.</p> + +<p>Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn eine +besondere Feststellung in Beziehung auf die Orgelbegleitung +nötig war. Er sprach nur das Allernötigste, über +Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat war es stets, +als ob bei mir die Sonne zu scheinen beginne. Solche +Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte eigentlich +jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn der Laie ist nur +allzusehr geneigt, die Kirche so zu betrachten und zu beurteilen, +wie ihre Priester sich zu ihm stellen. Ueber den Unterschied +zwischen dem protestantischen und dem katholischen Gottesdienst +gehe ich hinweg, aber jeder vernünftige Mensch wird es +für ganz naturgemäß und selbstverständlich +halten, daß ich nicht vier Jahre lang an dem letzteren +teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm beteiligt sein konnte, ohne von +ihm beeinflußt zu werden. Wir sind doch keine Steine, von +denen alles Weiche abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, +wenn der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste waren +ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine unendliche Dankbarkeit +für diese Wärme und diese Güte in mir, die sich +meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf für mich hatte, +als alles Andere gegen mich war. Ich habe sie gesegnet bis auf +den heutigen Tag und werde sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm +müssen doch die Menschen innerlich sein, welche behaupten, +daß ich katholisiere! Es ist ganz unmöglich, daß +sie die Menschenseele und die in ihr liegenden Heiligtümer +kennen. Uebrigens habe ich über den katholischen Glauben gar +nichts geschrieben, über den mohammedanischen aber ganze +Bände. Der Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint +also viel berechtigter, als der, daß ich katholisiere. +Warum macht man mir diesen nicht? Die Madonna ist von hundert +protestantischen Malern dargestellt und von hundert +protestantischen Dichtern, sogar von Goethe, behandelt worden. +Warum sagt man von diesen nicht, daß sie katholisieren? Ich +habe der katholischen Kirche für die hochsinnige +Gastfreundlichkeit, die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre +lang erwies, durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich +für meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich der +religiösen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des Geldes +wegen! Ich wiederhole: Wie arm müssen diese Menschen sein, +wie unendlich arm! -- --</p> + +<p>Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der +ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich +sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben. Es stand mir jedes +Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien brauchte. +Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und begann dann mit +der Ausführung derselben. Ich schrieb Manuskripte. Sobald +eines fertig war, schickte ich es heim. Die Eltern vermittelten +dann zwischen mir und den Verlegern. Ich schrieb diesen nicht +direkt, weil sie jetzt noch nicht erfahren sollten, daß der +Verfasser der Erzählungen, die sie druckten, ein Gefangener +sei. Einer aber erfuhr es doch, weil er persönlich zu den +Eltern kam. Das war der später noch viel zu erwähnende +Kolportagebuchhändler H. G. Münchmeyer in Dresden. Er +war Zimmergesell gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das +Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In dieser +Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal und lernte in +einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd kennen, die er +heiratete. Das fesselte ihn an die Gegend. Er wurde da bekannt +und erfuhr auch von mir. Was er da Tolles hörte, schien ihm +außerordentlich passend für seine Kolportage. Er +suchte meinen Vater auf und machte sich vertraut mit ihm. So +kamen ihm meine Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war +ihm zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er +sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und +bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und legte das +Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht. Er schob es +zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich zu +geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Münchmeyer sehr +gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann, den er gebrauchen +könne; er werde mich nach meiner Heimkehr aufsuchen und +alles Nähere mit mir besprechen.</p> + +<p>Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest. Es +ist für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu +wissen, daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, +wie sie in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles +gehört hatte, was hinzugelogen worden war.</p> + +<p>Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich Ruhe, +vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der letzten +vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die dunklen +Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen +belästigt hatten; das hatte aber nach und nach +aufgehört und war schließlich still geworden, ohne +sich wieder zu regen. Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf +psychologische Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht, +daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie +man in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber die +letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder +schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der Katechet war +derselben Meinung. Ich hatte ihm von meinen inneren Anfechtungen +nichts erzählt, wie ich in rein persönlichen und +familiären Dingen überhaupt nie einen Menschen zu +meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen fiel doch ein Wort, +welches nicht andeuten sollte, aber doch andeutete. Er wurde +aufmerksam. Einmal kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, +von meinen dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu +sprechen; aber ich tat so, als ob ich von einem Andern +spräche, nicht von mir selbst. Da lächelte er. Er +wußte gar wohl, wen ich meinte. Am nächsten Tage +brachte er mir ein kleines Buch, dessen Titel lautete: „Die +sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der +Menschheitsspaltung überhaupt.” Ich las es. Wie +köstlich es war! Welche Aufklärung es gab! Nun +wußte ich auf einmal, woran ich mit mir war! Nun mochten +sie wiederkommen, diese Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu +fürchten! Später, als er sich das Buch wieder holte, +dankte ich ihm, der Freude entsprechend, die ich darüber +empfand. Da fragte er mich:</p> + +<p>„Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie +erzählten?”</p> + +<p>„Ja,” antwortete ich.</p> + +<p>„Haben Sie alles verstanden?”</p> + +<p>„Nein, noch nicht.”</p> + +<p>„Dieses hier?”</p> + +<p>Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: „Wer an diesen +schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor der Stelle, +an der er geboren wurde. Er wohne niemals längere Zeit dort. +Und vor allen Dingen, wenn er einmal heiratet, so hole er sich +seine Frau ja nicht von diesem Orte!”</p> + +<p>„Nein, das verstehe ich noch nicht,” gestand ich ein.</p> + +<p>„Ich auch nicht,” gab er zu. „Aber denken Sie darüber +nach!”</p> + +<p>Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich zu +keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein psychologische +Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende Lehrerin, und +diese Erfahrung mußte ich machen, ehe ich es begriff, +leider, leider! -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap06"></a>VI.<br/> +Bei der Kolportage.</h2> + +<p class="noindent"> +Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war ein stürmischer Frühlingstag, es +regnete und schneite. Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht +ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine Manuskripte gelesen und meine +Briefe fast auswendig gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine +Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei dieser Gelegenheit auch auf +Münchmeyer zu sprechen und darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle. +</p> + +<p>„Das wird vergeblich sein,” sagte ich. „Dieser Mann will +Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche +Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß +ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man über mich faselt, +einen Kolportageroman zusammenzuflicken, der ihm allerdings viel +Geld einbringen, mich aber vernichten würde. Da irrt er +sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!”</p> + +<p>Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt angekommen +waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem +nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes, +neugebautes Haus und fragte mich:</p> + +<p>„Kennst du das dort?”</p> + +<p>„Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?”</p> + +<p>„Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer +es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter sehr rasch +verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du. +Mutter wird es dir erzählen.”</p> + +<p>„O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie, +daß sie hierüber schweigen soll!”</p> + +<p>Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der +Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf +er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre lang; er +lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er kam schon am andern +Vormittag und warf sich derart in die Brust, daß man es +wirklich keinem in dieser Weise behandelten Menschen +übelnehmen kann, wenn er dadurch rückfällig wird. +Er behauptete, zwei Jahre lang mein Vorgesetzter zu sein, bei dem +ich mich täglich zu melden habe. Dann zog er die +betreffenden Gesetzesparagraphen aus der Tasche, um mir eine +Vorlesung über meine Pflichten zu halten. Ich sagte kein +Wort, sondern öffnete die Tür und gab ihm einen Wink, +sich zu entfernen. Als er das nicht sofort tat, tat ich es. Ich +ging zum Bürgermeister und machte kurzen Prozeß. Ich +forderte einen Auslandspaß, und als mir die Auskunft wurde, +daß dies nicht so ohne weiteres möglich sei, war ich +schon am nächsten Tage ohne Paß unterwegs.</p> + +<p>Im Zuge saß ich in einem sonst leeren +Coup<tt>é</tt>. Es ging über die Grenze. Da begann es +plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu +schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem +die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte +von Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen das +kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber +ließ es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht +hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. Ich +reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach ganz von +selber still werden.</p> + +<p>Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite +Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um nach mir zu +fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er das Honorar und ging +unverrichteter Sache wieder heim. Ungefähr dreiviertel Jahre +später erschien er wieder, und zwar nicht allein, sondern +mit seinem Bruder. Dieses Mal fand er mich daheim, denn ich war +wieder da, um meine „Geographischen Predigten” zu schreiben und +in Druck zu geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann +auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut +gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in +Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte einen +Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das war mir +unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie etwas zu tun +gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und +weder ihn noch seine Lage kannte. Er erklärte sie mir. Er +war ein klug berechnender, sehr beredter Mann, und sein Bruder +sekundierte ihm in so trefflicher Weise, daß ich beide +nicht kurzer Hand abwies, sondern sie aussprechen ließ. +Aber als sie das getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, +obgleich ich es nie für möglich gehalten hätte, +daß ich jemals zu der „Kolportage” in irgend eine +Geschäftsbeziehung treten könne.</p> + +<p>Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden +Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was er +herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er sprach +von einem sogenannten „Schwarzen Buch” mit lauter +Verbrechergeschichten, von einem sogenannten „Venustempel”, der +eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen Werken gleicher +Art. Für heut aber handle es sich um ein Wochenblatt, +welches er unter dem Titel „Der Beobachter an der Elbe” +herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes sei ein aus +Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr +geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher +Beziehung höchst gefährlicher Mensch. Dieser habe sich +mit ihm überworfen, sei plötzlich aus der Redaktion +gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein +ganz ähnliches Blatt wie den „Beobachter an der Elbe” +herausgeben, um ihn tot zu machen. „Wenn ich nicht sofort einen +anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist und +es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!” schloß +Münchmeyer seinen Bericht.</p> + +<p>„Aber wie kommen Sie da grad auf mich?” erkundigte ich mich. +„Ich bin weder Redakteur noch in irgend einer Weise +bewährt!”</p> + +<p>„Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel von Ihnen +gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre Manuskripte +gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!”</p> + +<p>„Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur Kolportage +wird mich niemand bringen!”</p> + +<p>„Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch Gutes mit ihr +leisten. Was haben Sie denn vor?”</p> + +<p>Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; er +begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten, +die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom Niedrigen +leben.</p> + +<p>„Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!” rief er aus. +„Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am besten und +schnellsten bei mir!”</p> + +<p>„Wieso?”</p> + +<p>„Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen diesen +Freytag und sein neues Blatt damit tot!”</p> + +<p>„Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr +,Beobachter an der Elbe’ nicht gefällt? Ich kenne ihn ja +nicht.”</p> + +<p>„So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein neues +Blatt an seiner Stelle!”</p> + +<p>„Was für eines?”</p> + +<p>„Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke +paßt!”</p> + +<p>Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon +mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne +ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch weitere +Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht machte, auf +seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine eigenen +Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet die +prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die +Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher +Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte +für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde mir +wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den <tt>[sic]</tt> Münchmeyer mir zahlen konnte, +war zwar nicht bedeutend, aber es flossen mir ja außerdem +derartige Honorare zu, daß ich ihn eigentlich gar nicht +brauchte. Und ich war gar nicht gebunden. Er bot mir +vierteljährige Kündigung an. Ich konnte also alle drei +Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.</p> + +<p>„Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!” forderte er mich auf, +indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.</p> + +<p>„Wann hätte ich anzutreten?” fragte ich.</p> + +<p>„Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag +darf uns nicht vorauskommen.”</p> + +<p>„Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!”</p> + +<p>„Ich weiß Alles. Das tut aber nichts.”</p> + +<p>„Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!”</p> + +<p>„Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut nichts. +Grad weil dies so ist, sind Sie mir der Allerliebste! Schlagen +Sie ein!”</p> + +<p>Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand hin; +Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab ich ihm den +Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.</p> + +<p>Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein +möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald +mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur Verfügung, und ich +kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand den Verlag ganz ungemein +häßlich. Das „Schwarze Buch” war geradezu +empörend verbrecherisch. Der „Venustempel” zeigte sich als +ein scheußliches, auf die niedrigste Sinnenlust berechnetes +Unternehmen mit zotenhaften Beschreibungen und entsetzlich +nackten, aufregenden Abbildungen. Beigegeben war eine +Hausapotheke für Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen +verdient wurden, die mir fast unglaublich erschienen. Diese +schamlosen Hefte und Bilder lagen überall umher. Die +Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier +Töchter Münchmeyers, damals noch im Schul- und +Kindesalter, lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau +Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: „Was +denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine Masse +Geld!” Ich nahm mir vor, dies müsse entweder anders werden +oder ich würde ohne Kündigung wieder fortgehen. Was den +„Beobachter an der Elbe” betrifft, dessen Redaktion ich +übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick, +daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so +vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen das Blatt +eingehen, und ich gründete drei andere an seiner Stelle, +nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter, +welche „Deutsches Familienblatt” und „Feierstunden” betitelt +waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt für Berg-, +Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die Ueberschrift +„Schacht und Hütte” gab. Diese drei Blätter waren +darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der +Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und +Herzen zu bringen. In Beziehung auf „Schacht und Hütte” +bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die großen +Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür zu +interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis +war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte. +Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu +Weihnachten ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab +sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, +mußte sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen +lassen.</p> + +<p>In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß +Münchmeyer von auswärtigen Behörden wegen der +Verbreitung des „Venustempels” angezeigt wurde. Verfasser +dieses Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, der +nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil dieser ihn +an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht partizipieren +ließ. Das Buch enthielt eine lüstern geschriebene +Abteilung über „die Prostitution”, die zu Polizeianzeigen +allerdings direkt herausforderte. Es wurde Münchmeyer von +irgend einer Seite verraten, von welcher, das weiß ich +nicht, daß eine Haussuchung nach dem „Venustempel” +stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte +Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu +verhüten. Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir +aber sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen +Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte ganze +Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern +Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte jede +verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der gefährdeten +Bücher in die Privatwohnungen und verbarg sie sogar unter +den Betten der Kinder. Das ging so schnell und gelang so gut, +daß die Polizei, als sie sich einstellte, kaum eine ganz +geringe Nachlese fand, und noch lange hat man sich im +Münchmeyerschen Hause des Schnippchens gerühmt, welches +damals der sonst so findigen Dresdener Behörde geschlagen +worden sei. Ich erfuhr erst später, viel später hiervon +und zog meine Konsequenzen. Meines Bleibens war hier nicht. Ich +wollte aus dem Abgrund heraus, nicht aber wieder hinunter!</p> + +<p>Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig +gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die +Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag +zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir, +daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb, +so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann +gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten +Blätter mit der Ausführung meiner literarischen +Pläne. Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser +Beziehung mein Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, +nämlich auf die Indianer und auf die islamitischen Volker +richten wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das +„Deutsche Familienblatt” für die Indianer und die +„Feierstunden” für den Orient. Im ersteren Blatte begann +ich sofort mit „Winnetou”, nannte ihn aber einem anderen +Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich +war überzeugt, daß diese beiden Blätter eine +Zukunft hätten, und ich bildete mir ein, für eine ganze +Reihe von Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da +gab es Raum und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz +selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, +die ich wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich +bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, weit +ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes +Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt war, +ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine Anerkennung, eine +Förderung bedeuten. Man machte mir nämlich, um mich an +die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau +Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen, +meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als +Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau +Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte +grad das Gegenteil. Ich sagte „nein” und kündigte, denn +nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben +konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen +Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das +Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen zu +schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das Vierteljahr +vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht +von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im +geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige +Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt +berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht +geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und +Münchmeyer, der Verleger des „Venustempels”, wegen dieses +Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man +mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses +Venustempels hineingeheiratet zu haben!</p> + +<p>Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte +ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein +verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und +lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz +eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses +meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare +Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als +körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein +Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser +meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine +häßliche Person schön und eine schöne +häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir +die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren +Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht +begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie +abstoßend wirken; ich kann nichts dafür. Und mit dem +Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine +andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich, +vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich +eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um +meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich +über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende +stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden +sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler +und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die +man bald als Barbier, bald als Feldscheer <tt>[sic]</tt>, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er +barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch +weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine +Tochter, die man für das schönste Mädchen der +beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt +begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch +zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine +dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für +eine Leiche sei.</p> + +<p>„Pollmers Tochter,” antwortete eine der beiden ersten +Frauen.</p> + +<p>„Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die +gestorben?”</p> + +<p>„An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses +wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem +die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann +nur Unheil.”</p> + +<p>„Was ist denn der Vater?”</p> + +<p>„Der? Es hat ja keinen!”</p> + +<p>„Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich +besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!”</p> + +<p>Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus. +Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der +Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den +Armen trug. Das war das Kind, der „Nickel”, der seine eigene +Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich +verstand von dem allem nichts. Was weiß ein +vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von +Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und +ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich +später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage, +warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und +schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. +Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was +die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von +Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis und an den +unglückseligen „Nickel” dachte. Sobald ich später +über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz +unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube +des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren +sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens, +herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das +Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas +Wohltuendes noch etwas Fürchterliches an sich. Später +begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten, +hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr +zwölfjähriges Mädchen an der Hand führte. Das +war der alte Pollmer mit seinem „Nickel”. Der Alte sah sehr +ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte +gar nichts an sich, was verriet, „daß seine Mutter an ihm +gestorben war”. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen, +als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen, +überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig +gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß +dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur +unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei +meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen +einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein +„Fräulein Pollmer” befand. Das war der „Nickel”; aber er +sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und +bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer +Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir. +Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz +eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort +über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, +gar nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so +herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das +gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, +nämlich Pollmer, meine „Geographischen Predigten” gelesen +hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie +erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den +Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur +einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag +psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste +oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land +war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, +dieses Land kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer +wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich +nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn +und eigentlich viel weniger als das.</p> + +<p>Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie +hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt, +mich nach der Lektüre meiner „Predigten” nun auch +persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir befriedigt zu +sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich +tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann, +als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging, +sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen +verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich +bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte +jemals gedacht, daß ich mit dem „Nickel”, der Einem „nur +Unheil bringt”, in Korrespondenz treten würde!</p> + +<p>Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten +Eindruck. Sie sprach da von meinem „schönen, hochwichtigen +Beruf”, von meinen „herrlichen Aufgaben”, von meinen „edlen +Zielen und Idealen”. Sie zitierte Stellen aus meinen +„Geographischen Predigten” und knüpfte Gedanken daran, +deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur +Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur +ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter, +solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht +möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu +halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lobe +„Fräulein Pollmers” über und lud mich für die +Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich +vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten +freundlich gesinnt gewesen ist und daß ich vor der Stelle, +an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht +entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort +verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf +Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat +einstellte, um das Seelenstudium des „Nickels”, der nun „mein +Nickel” werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu +dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie +sonst nur auf der Bühne zu sein pflegt. Nämlich als +Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und +lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer, +und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. +Ich wußte, daß er sich überall nur höchst +lobend über mich aussprach, und daß meine Vorstrafen +ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten, +vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte +auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und +wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt und daß er ganz +märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung +hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlende +Beaut<tt>é</tt>s der größte Reichtum ihrer +Familie seien und nur möglichst reich und vornehm +verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich +konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine +Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und +vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einflusse zu +entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu +Mittag zu essen:</p> + +<p>„Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht +nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen +darf.”</p> + +<p>Er horchte überrascht auf.</p> + +<p>„Um Emmas willen?” fragte er.</p> + +<p>„Ja.”</p> + +<p>„Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie +sie etwa heiraten?”</p> + +<p>„Allerdings.”</p> + +<p>„Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist aber +doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie dazu?”</p> + +<p>„Sie ist einverstanden.”</p> + +<p>Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot im Gesicht und +rief aus:</p> + +<p>„Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht +dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem +armen Teufel durch das Leben schindet! Die kann andere +Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten, +der, wenn es gut geht, nur von seiner Berühmtheit und nur +vom Hunger lebt!”</p> + +<p>„Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?” fragte +ich. „Das würde ich gelten lassen!”</p> + +<p>„Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen +Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das Zuchthaus +gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz andere +Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!”</p> + +<p>Er rief das sehr laut aus.</p> + +<p>„Oho!” antwortete ich.</p> + +<p>„Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole Ihnen, Sie +bekommen meine Tochter nicht!”</p> + +<p>Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck zu +verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. Es juckte +mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die Achsel zu legen +und ihm lachend zu sagen: „Gut, so behalten Sie sie!” Aber +dagegen bäumte sich das väterliche Erbteil in mir auf, +der zähe, unbedachte Zorn, der niemals das Richtige tut. Ich +brauste nun auch auf:</p> + +<p>„Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!”</p> + +<p>„Versuchen Sie das!”</p> + +<p>„Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde es tun, +wirklich tun!”</p> + +<p>Da lachte er.</p> + +<p>„Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte mir von +jetzt an jeden Besuch!”</p> + +<p>„Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage Ihnen im +voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu mir kommen und +mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt aber leben Sie wohl!”</p> + +<p>„Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!”</p> + +<p>Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte sie seiner +Tochter. Die lauteten: „Entscheide zwischen mir und Deinem +Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; wählst Du +mich, so komm sofort nach Dresden!” Dann reiste ich ab. Sie +wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen +hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich +fühlte mich als Sieger. Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, +die zwei erwachsene, hochgebildete Töchter besaß. +Durch den Umgang mit diesen Damen wurde es ihr möglich, sich +Alles, was sie noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von +da aus bekam sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft +führen zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit +sehr gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr +anständige Honorare. Ich hatte mit meinen +„Reiseerzählungen” begonnen, die sofort in Paris und Tours +auch in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich +herum; das imponierte sogar dem „alten Pollmer”. Er hörte +von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender, +vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da schrieb er an seine +Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen +verlassen hatte, und forderte sie auf, nach Hohenstein zu kommen, +ihn zu besuchen, mich aber mitzubringen. Sie erfüllte ihm +diesen Wunsch, und ich begleitete sie. Aber ich ging nicht zu +ihm, sondern nach Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach +mir; ich aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt +habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse er +persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!</p> + +<p>Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von +mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt, +daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen +werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese +Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen worden +war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer Verheiratung bei ihm in +Hohenstein zu bleiben. Ich hatte nichts dagegen und gab mein +Logis in Dresden auf, um bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es +war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und +äußerer Entwicklungen für mich. Ich schrieb und +machte Reisen. Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr +ich, kaum aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der +„alte Pollmer” gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. +Ich eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel gesagt. Er +war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber weder sprechen noch +sich bewegen. Sein Enkelkind saß in einer seitwärts +liegenden Stube bei einer klingenden Beschäftigung. Sie +hatte nach seinem Gelde gesucht und es gefunden. Es war nicht +viel; ich glaube kaum zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, +zu dem Kranken hinüber. Er erkannte mich und wollte reden, +brachte es aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem +Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde Arzt. +Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen untersucht, tat +dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, daß alle +Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt hatte, glitt die +Tochter des Sterbenden vor mir nieder und bat mich, sie ja nicht +zu verlassen. Ich versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich +habe sogar noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt, +in Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine Etage des +oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich leben +können, wenn uns ein solches Glück beschieden gewesen +wäre.</p> + +<p>Ich schrieb damals schon einige Jahre für Pustet in +Regensburg, in dessen „Deutschem Hausschatz” meine +„Reiseerzählungen” erschienen. Die Firma Pustet ist eine +katholische und der „Deutsche Hausschatz” ein katholisches +Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war +mir höchst gleichgültig. Der Grund, warum ich dieser +hochanständigen Firma treugeblieben bin, war kein +konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher. +Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei der +zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur Vinzenz +Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine +Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen Verlag +senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren +Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe er +sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel Geld! Es +wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem ein solches +Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden darauf ein. Rund +zwanzig Jahre lang ist das Honorar, wenn ich das Manuskript heute +zur Post sandte, genau übermorgen eingetroffen. Ich erinnere +mich keines einzigen Males, daß es später gekommen +wäre. Und niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch +nur die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe nie +mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und als Pustet es +mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus eigenem, freiem +Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf bezüglichen +Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern bleibt man +treu, auch ohne nach ihrem Glauben und ihrer Konfession zu +fragen.</p> + +<p>Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für +mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt +waren und sicher an- und aufgenommen wurden. Das machte es mir +möglich, meine auf die „Reiseerzählungen” +bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es war +mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit hinaus +sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen dann +später in Buchform herausgeben würde, war eine Frage, +die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt feindselige +Menschen, welche behaupten, daß ich mich nur um des Geldes +willen an diesen katholischen Verlag herangemacht habe. Das ist +eine Unwahrheit, für deren Gewissenlosigkeit und +Verwerflichkeit ich keine Worte finde. Ich habe ganz das +Gegenteil von dem getan, dessen man mich da beschuldigt. Ich habe +dem „Deutschen Hausschatz” und seinem Herausgeber Opfer +gebracht, von deren Größe die Familie Pustet keine +Ahnung hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef +Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem +ich sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich schrieb. Es +handelte sich um die bei Spemann in Stuttgart erscheinende Revue +„Vom Fels zum Meere”, für welche ich mitgearbeitet habe. +Der Brief lautet wie folgt:</p> + +<p class="center"> +„Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="letter"> +Sie haben inzwischen schon wieder für andere +Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich mit +dem längst Versprochenen noch immer im Stiche ließen. +Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte Sie dringend, nun +Ihr Versprechen mir gegenüber wahr zu machen. Ich will diese +Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, +ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden, +fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich +würde I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend +Mark pro „Fels”-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas +Derartiges schreiben würden.</p> + +<p class="center"> +In vorzüglicher Hochachtung +</p> + +<p class="right"> +Ihr ergebenster <br/> +Josef Kürschner. +</p> + +<p>Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war gegen diese +tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich scheue, seinen +Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet trotzdem vorgezogen habe, +so ist das ein gewiß wohl mehr als hinreichender Beweis, +daß ich für den „Hausschatz” nicht geschrieben habe, +um „mehr Geld zu machen, als ich von Andern bekam”. Auch meine +andern Verleger zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß +ich, um diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, +hiermit konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner +Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich +habe, der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet +zurück zu Münchmeyer zu wenden.</p> + +<p>Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau auf einer +Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte ihr Münchmeyer so +lebhaft geschildert, daß sie sich ein ganz richtiges Bild +von ihm machen konnte, obgleich sie ihn noch nicht gesehen hatte. +Sie wünschte aber sehr, ihn kennen zu lernen, von dem ihr +auch Andere gesagt hatten, daß er ein hübscher Kerl, +ein glanzvoller Unterhalter und für schöne Frauen +begeistert sei. Er pflegte in dieser Jahreszeit um die +Dämmerstunde in einer bestimmten Gartenrestauration zu +verkehren. Als ich ihr das sagte, bat sie mich, sie +hinzuführen. Ich tat es, obgleich es mir widerstrebte, ihm +diejenige zu zeigen, die ich seiner Schwägerin vorgezogen +hatte. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast +im ganzen Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig; +das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch +geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar so +zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den Kopf +in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich froh +und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er machte mir in +seiner Kolportageweise die unmöglichsten Komplimente, eine +so schöne Frau zu haben, und meiner Frau gratulierte er in +denselben Ausdrücken zu dem Glück, einen so schnell +berühmt gewordenen Mann zu besitzen. Er kannte meine +Erfolge, übertrieb sie aber, um uns beiden zu schmeicheln. +Er machte Eindruck auf meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er +begann, zu schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden. +Sie sei schön wie ein Engel, und sie solle sein +Rettungsengel werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in +seiner jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten, +indem sie mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und +nun erzählte er:</p> + +<p>Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen +passenden Redakteur für die von mir gegründeten +Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. +Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab; +sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte +überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust, +und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder +Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe +soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen +oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien +wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse +er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch +einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute +Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in +seinen Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese +derben Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau +vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch +zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise +vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen +schlimmen Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles +außerordentlich gut gestanden; aber daß ich seine +Schwägerin nicht habe heiraten wollen und aus der Redaktion +gegangen sei, das habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das +wieder gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu +verpflichtet, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.</p> + +<p>Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich gar +wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte damals meine +Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau Münchmeyer zu +heiraten, für so selbstverständlich gehalten, daß +überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß ich +den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen, +sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche +Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld +trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz +dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß +wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde auseinander +gegangen waren. Es konnte also wohl einen geschäftlichen, +nicht aber einen persönlichen Grund geben, seinen Wunsch +zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher Beziehung +lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. Zeit hatte ich; +ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In dem Umstand, daß +Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für +mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen +Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas +Besseres sein, eine organische Folge von Reiseerzählungen, +wie ich sie Pustet und anderen Verlegern lieferte. Tat ich das, +so war damit zugleich auch meinem Lebenswerke gedient, und ich +konnte das, was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso +später für mich in Bänden erscheinen lassen, wie +das für meine Hausschatzerzählungen bestimmt worden +war.</p> + +<p>Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während +Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. Ich +erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht +entschließen können, den gewünschten Roman zu +schreiben, doch nur unter der Bedingung, daß er nach einer +bestimmten Zeit mit sämtlichen Rechten wieder an mich +zurückfalle. Es dürfe an meinem Manuskripte absolut +kein Wort geändert werden; das wisse er ja von früher +her. Münchmeyer erklärte, hierauf einzugehen, doch +möge ich ihn mit dem Honorar nicht drücken. Er sei in +Not und könne nicht viel zahlen. Später, wenn mein +Roman gut einschlage, könne er das durch eine „feine +Gratifikation” ausgleichen. Das klang ja gut. Er bat, ihm keine +Zeit zu setzen, an welcher der Roman wieder an mich +zurückzufallen habe, sondern lieber eine Abonnentenzahl, +nach welcher, sobald sie erreicht worden sei, er aufzuhören +und mir meine Rechte wiederzugeben habe. Er berechnete, daß +er mit sechs- bis siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung +komme; was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug +ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, solle +Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten gehen +dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine „feine +Gratifikation” zu zahlen, und der Roman falle mit allen Rechten +an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das entsprechende +Honorar bei ihm oder bei einem anderen Verleger weiter erscheinen +lasse, sei lediglich meine Sache. Hierauf ging Münchmeyer +sofort ein, ich aber gab meine Zusage noch nicht definitiv; ich +erklärte, mir die Sache erst noch reiflich überlegen +und meine Entscheidung dann morgen geben zu wollen.</p> + +<p>Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser Hotel, +um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, halb freiwillig +und halb gezwungen. Meine Frau hatte nicht nachgelassen, bis ich +ihr das Versprechen gab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er +bekam den Roman zu den erwünschten Bedingungen, nämlich +nur bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er +für die Nummer 35 Mark zu bezahlen und beim Schluß +eine „feine Gratifikation”. Er gab den Handschlag. Unser +Kontrakt war also kein schriftlicher, sondern ein +mündlicher. Er sagte, wir seien beide ehrliche Männer +und würden einander nie betrügen. Es klinge für +ihn wie eine Beleidigung, von ihm eine Unterschrift zu verlangen. +Ich ging aus zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich +erstens durften nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel +eines Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt +werden; Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich +sein wollte, nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens +konnte ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht +und unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine +Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so +einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles +enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das habe ich +denn auch getan und seine Antworten mir heilig aufgehoben.</p> + +<p>Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort +beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst nach +Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine Frau +trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er hatte eine +persönliche Vorliebe für den nichtssagenden Titel „Das +Waldröschen”. Ich ging auch hierauf ein, hütete mich +aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen zu machen. Schon +nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman +„ging”. Dieses „ging” ist ein Fachausdruck, welcher einen +nicht gewöhnlichen Erfolg bedeutet. Ich bekam weder +Korrektur noch Revision zu lesen, und das war mir ganz lieb, denn +ich hatte keine Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil +sie mich verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare +nach Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit war +ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine Gelegenheit, +mein Originalmanuskript mit dem Druck zu vergleichen, aber das +machte mir keine Sorge. Es war ja bestimmt worden, daß mir +kein Wort geändert werden dürfe, und ich besaß +damals die Vertrauensseligkeit, dies für genügend zu +halten.</p> + +<p>Der Erfolg des „Waldröschens” schien nicht nur ein +guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer +zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er schrieb +wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer Zeit +für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman +so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte +den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben, +sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner +Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken mit +Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell +wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich +keineswegs. Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit +mehr und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem +Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, dieser +Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, an der ich +geboren worden war, seßhaft niedergelassen, sondern mir +auch eine Frau von dort genommen. Ich war für einige Zeit +geneigt gewesen, den Inhalt dieser Buchstelle als Aberglauben zu +betrachten, sah sie aber gar bald wieder mit dem Auge des +Psychologen an und wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen +gezwungen, einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer +unbedingt leichter über trübe Gewässer +hinüberlangt, als wenn er eine zweite Person mitzunehmen +hat, die weder schwimmen kann noch schwimmen will. Darum war mir +diese Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht +nicht nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir +Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da +sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es +entwickelte sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr +zwischen ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast +keine Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell +vorwärts, und sein Erfolg wuchs derart, daß +Münchmeyer mich bat, noch einen zweiten und womöglich +noch einige weitere zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß +meine Entscheidung über diesen seinen Wunsch eine für +mich hochwichtige sei und daß sie mir, falls sie bejahend +ausfallen sollte, zu einer Quelle unsagbaren Elendes und +unaussprechlicher Qual werden könne. Ich betrachtete nur die +angeblichen Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.</p> + +<p>Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus meinen +literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte diese +Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. Er +erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht +ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm +aufgab. Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein freier +Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, das zu tun, was +ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich brauchte das, was ich +schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge +auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg +hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman +erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte +mich. Hierzu kam das beständige Zureden meiner Frau, welche +die geringen Einwände, die ich zu erheben hatte, sehr leicht +zum Schweigen brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch +einige Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen +wie das „Waldröschen”. Diese Arbeiten hatten mir also auch +nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten mit allen Rechten wieder +zuzufallen, und dann war mir eine „feine Gratifikation” zu +zahlen. Es gab nur eine einzige Aenderung, nämlich die, +daß ich für diese Romane ein Honorar von fünfzig +Mark pro Heft bezog, anstatt nur fünfunddreißig bei +dem „Waldröschen”.</p> + +<p>Infolge dieser Abmachungen begann für mich von jetzt an +eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, zugleich aber +auch nicht ohne tiefe Beschämung denken kann. Ich frage +nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit blamiere; meine +Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter nichts. Es war ein +fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich damals arbeitete. Ich +brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach +Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von +ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu +finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig +durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu +schreiben. Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich +weder rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war +es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es +für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das, +welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so viel +und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß +ermöglichte es mir, zu vergessen, daß ich mich in +meinem Lebensglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer +lebte, als es vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, +innere Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede +auszufüllen, zu rastlosem Fleiße und machte mich +leider gleichgültig gegen die Notwendigkeit, +geschäftlich vorsichtig zu sein. Es kam bei Münchmeyer +so viel vor, was mich veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, +daß mehr als genugsam Grund vorlag, die Zukunft und +Integrität alles dessen, was ich für ihn schrieb, so +sicher wie möglich zu stellen. Daß ich hieran nicht +dachte, war ein Fehler, den ich zwar entschuldigen, mir aber +selbst heut noch nicht verzeihen kann.</p> + +<p>Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. Er hatte sich +in Blasewitz eine Art Gar<tt>ç</tt>onlogis gemietet, um +seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns verbringen zu +können. Er kam auch an Abenden der andern Tage und brachte +fast immer seinen Bruder, sehr oft auch andere Personen mit. Er +wünschte zwar, daß ich mich dadurch ja nicht in meiner +Arbeit stören lassen möge, doch konnte mich das nicht +hindern, Herr meiner Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies +nicht mehr möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und +aus Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue Wohnung +lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen, und mein +neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und +Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm +und überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause. +Grad das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und +äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. +Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür +aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen von +Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen durch +Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen waren ihr vom Arzt +geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte. Ich +mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil +dies der Wunsch meiner Frau war, deren Gründe ich leider +nicht zu würdigen verstand. Sie fand sich nicht in die +Abgeschiedenheit unserer jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit +dem Wirte. Ich mußte kündigen. Wir zogen aus, nach +einer Radauwohnung des amerikanischen Viertels, die über +einer Kneipe lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da +wurde sie krank. Der Arzt riet ihr sehr frühe +Spaziergänge nach dem großen Garten, dem weltbekannten +Dresdener Park. Solchen ärztlichen Verordnungen hat man zu +gehorchen. Es gab für mich keinen Grund, diese +Spaziergänge zu verhindern, die morgens vier bis fünf +Uhr begannen und ungefähr drei Stunden währten. Ich +wußte nicht, daß Frau Münchmeyer auch nicht +gesund war und daß auch sie von ihrem Arzt die Weisung +erhalten hatte, frühe Morgenspaziergänge nach dem +Großen Garten zu machen. Erst nach langer, sehr langer Zeit +erfuhr ich, was während dieser Spaziergänge geschehen +war. Meine Frau war mir nicht nur seelisch, sondern auch +geschäftlich verloren gegangen. Die beiden Damen saßen +tagtäglich früh morgens in einer Konditorei des +großen Gartens und trieben eine Hausfrauen- und +Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich erst später +verspürte. Ich machte Schluß und zog von Dresden fort, +nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt seiner +Vorortsperipherie.</p> + +<p>Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane für +Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf +geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn man +später vor Gericht behauptet hat, daß ich für +Münchmeyer nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so +bitte ich, mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und +zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat. +Hiermit sei für heut mit meiner „Kolportagezeit” +abgeschlossen. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap07"></a>VII.<br/> +Meine Werke.</h2> + +<p class="noindent"> +Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich diejenigen meiner Bücher, +mit denen sich die Kritik beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen, +über welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen hat, können auch +hier übergangen werden. Zu diesen gehören meine Humoresken, meine +erzgebirgischen Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den +Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu sein. Ich könnte hierzu +auch noch meine „Himmelsgedanken” rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen +scheint, seit es Herrn Herman <tt>[sic]</tt> Cardauns +passierte, daß er sich mit ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb +bekanntlich: „Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,” +obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges lyrisches Gedicht +befindet! Auch meine sogenannten „Union- oder Spemannbände” brauche ich hier +nicht zu besprechen, weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur +als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die einzigen Sachen sind, +die ich für die Jugend geschrieben habe. Es handelt sich also nur um die +Fehsenfeldschen „Reiseerzählungen” und um die bei Münchmeyer erschienenen +„Schundromane”, welch letztere im nächsten Kapitel behandelt werden. +</p> + +<p>Meine „Reiseerzählungen” haben, wie bereits +erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel +Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der +Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege +soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis +des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die +Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum +beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der +„Wüste”. In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der +völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die +Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das +„Ich”, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die +Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, +ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen +Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten +Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei, +obgleich er schließlich zugeben muß, daß er +noch niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo +man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man sieht, +daß ich ein echt deutsches, also einheimisches, +psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand +kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen +zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte, +daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also +bildlich resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus +oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. Meine Bilder +sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter ihnen gar +nichts Mystisches zu verstecken vermag.</p> + +<p>Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt und auch +seinen Vater und Großvater noch als Hadschis hinten +anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich für +die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst zu +wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen hat. Dies +geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im +gelehrten Leben alltäglich, aber man ist derart blind +für diesen Fehler, daß ich eben arabische Personen und +arabische Zustände herbeiziehen muß, um diese blinden +Augen sehend zu machen. Ich schicke darum diesen Halef gleich in +den ersten Kapiteln nach Mekka, wodurch seine Lüge zur +Wahrheit wird, weil er nun wirklich Hadschi ist, und lasse ihn +dann sofort seine „Seele” kennen lernen -- -- -- Hannah <tt>[sic]</tt>, sein Weib.</p> + +<p>Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem ersten +Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und wie man meine +Bücher lesen muß, um ihren wirklichen Inhalt kennen zu +lernen. Ein zweites Beispiel mag folgen: Kara Ben Nemsi befindet +sich bei dem persischen Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll +von dem Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der Ustad, +der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum Schah, um ihn um +Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat aber den Schah noch nicht +erreicht, so kommen ihm schon die Heerscharen desselben entgegen, +die ihm sagen, daß sie vom Schah gesandt worden seien, den +Dschamikun Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des +Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah ist +aber Gott, und so interpretiere ich durch diese Erzählung +die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: „Euer Vater +weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn bittet!” +Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl May, und die +Dschamikun sind das Volk seiner Leser, welches von den Sillan +vernichtet werden soll. Ich erzähle also rein deutsche +Begebenheiten im persischen Gewande und mache sie dadurch +für Freund und Feind verständlich. Ist das nicht +Gleichnis? Nicht bildlich? Gewiß! Und ist es etwa mystisch? +Nicht im Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so +wenig mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das +Erstere bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch +erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will. +Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher Absicht +an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres finden, +daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. Und ist +er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben ihm ganz sicher +die zahlreichen Himmelsmärchen nicht verborgen, die in +diesen Gleichnissen eingestreut liegen und den eigentlichen, +tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen zu bilden haben. +Diese Märchen sind es auch, aus denen sich mein eigentliches +Lebenswerk am Schlusse meiner letzten Tage zu entwickeln hat.</p> + +<p>Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi +Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von +der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals wiedergefunden +werden kann, außer sie findet sich selbst. Und dieser +Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May! +Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine +eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und +so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden +ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich gewisse +Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht werden, +keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es einmal wagen, so +offen über sich selbst zu sprechen wie ich über mich, +so würde das sogenannte Karl May-Problem schon längst +in jenes Stadium getreten sein, in welches es zu treten hat, mag +man wollen oder nicht. Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein +Gleichnis. Es ist nichts Anderes, als jenes große, +allgemeine Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon +ungezählte Millionen gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares +zu erreichen. Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir +herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der traurigen +Karikatur, als die ich in den Gehirnen und in den Schriften Derer +lebe, die sich berufen wähnen, Probleme zu lösen, dies +aber immer nur da tun, wo keine vorhanden sind.</p> + +<p>Ich nenne ferner das Märchen von „Marah Durimeh”, der +Menschheitsseele, von „Schakara”, der edlen, gottgesandten +Frauenseele, der ich die Gestalt meiner jetzigen Frau gegeben +habe. Das Märchen vom „erlösten Teufel”, vom +„eingemauerten Herrgott”, vom „versteinerten Gebete”, von den +„verkalkten Seelen”, von den „Rosensäulen des +Beit-Ullah”, von dem „Sprung in die Vergangenheit”, von der +„Dschemma der Lebendigen und Toten”, von der „Schlacht am +Dschebel Allah”, vom „Mahalamasee”, vom „Berg der +Königsgräber”, vom „Mir von +Dsch<tt>î</tt>nnistan”, vom „Mir von Ardistan”, von der +„Stadt der Verstorbenen”, vom „Dschebel Muchallis”, von der +„Wasserscheide von El Hadd” und noch viele, viele andere. Wie +man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren +Inhalte meine Bücher als „Jugendschriften” und mich als +„Jugendschriftsteller” bezeichnen kann, würde +unbegreiflich sein, wenn man nicht wüßte, daß +Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen +oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst „Winnetou”, der +so leicht zu lesen zu sein scheint, bedarf, wenn er sich im +vierten Bande zum Schlusse neigt, eines Nachdenkens und eines +Verständnisses, welches doch gewiß keinem Quartaner +und keinem Backfisch zuzutrauen ist! Wenn man trotzdem noch +ferner bei den Ausdrücken „Jugendschriften” und +„Jugendschriftsteller” bleibt, so muß ich das als einen +gewollten Unfug bezeichnen, zu dem sich kein anständiger, +ernster Kritiker hergeben wird.</p> + +<p>Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu, +daß meine „Reiseerzählungen” nicht als +Jugendschriften verfaßt worden sind, so ist der jetzt +landläufig gewordenen Behauptung, daß sie +schädlich sind, aller Boden entzogen. Es lese sie doch nur +der, dem sie nicht schädlich sind; ich zwinge ja keinen +Andern dazu! Weshalb und wozu die Vorwürfe alle, die man mir +jetzt in hunderten von Zeitungen macht? Sieht man sich diese +Vorwürfe aber genauer an, so verlieren sie allen Wert. +Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist so +Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder in das +Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht nur Mode, sondern +Mache! Selbst wenn meine Bücher jetzt von keinem Menschen +mehr gelesen würden, könnte mich das doch nicht im +Geringsten beunruhigen, denn ich weiß, daß man sehr +bald hinter diese Mache kommen und sich demgemäß +verhalten wird. Ja, hätte ich meinen Lesern bloß nur +Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte ich von der +Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder aufzutauchen, und +würde ganz von selbst so verständig sein, mich darein +zu ergeben. Aber <b>ich habe während meines „Lebens und +Strebens” allzu viele und allzu große Fehler begangen, als +daß ich so mir nichts, dir nichts untergehen und für +immer verschwinden dürfte. Ich habe gutzumachen!</b> Was der +Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu +sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels +erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod +hinüberzunehmen, sondern sie schon hier zu bezahlen. Das +will ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, ich +behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem irdischen +Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was es von mir +zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr schuldig. Und was +über diese von Menschen gestellten Paragraphen hinausgeht, +das werde ich begleichen, indem ich das, was ich noch schreiben +werde, dem großen Gläubiger widme, der ganz genau +weiß, ob ich ihm mehr als jene Andern schuldig bin, die +sich besser dünken als May.</p> + +<p>Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit +sie mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber +auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich mir +keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen +„Reiseerzählungen” erreicht habe, wird erst nach meinem +Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, die aber +selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen bekommt; +veröffentlicht werden sie nicht. Man pries diese Werke und +schwärmte für sie, bis es eines Tages einem +gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu behaupten, +daß ich außer ihnen auch noch andere, aber +„abgrundtief” unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst wenn +dies wahr gewesen wäre, hätte das die +„Reiseerzählungen” weder innerlich noch +äußerlich im Geringsten verändern können. +Dennoch wurden sie von jenem Tage an zunächst mit +Mißtrauen betrachtet, dann mehr und mehr verleumdet und +endlich gar für direkt schädlich erklärt und aus +den Bibliotheken gestoßen, in denen sie früher +willkommen geheißen worden waren. Warum? Waren sie anders +geworden? Nein! Hatten sich die bibliographischen +Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze verändert? Nein! +Waren die Bedürfnisse der Leser andere geworden? Auch nicht! +Aber aus welchem Grunde denn sonst? Einfach einer Schund- und +Kolportageklique wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie +sich selbst auszudrücken pflegte, „kaput zu machen”. Aber +ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique +einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf +Literatur und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe im +nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte +scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen +Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu gebärden! +Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen meiner +Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang mit allen +möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage aber noch +nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten Vorwurf gemacht +haben. Ich bezeichne das als eine Schande!</p> + +<p>Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich +fünfzig Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das +ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt. +Ein einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, kann +dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten, und es +gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma Münchmeyer +achtundfünfzig -- man lese und staune -- achtundfünfzig +solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! Man rechne; man +multipliziere! Welche Verluste! Welch eine ungeheure Summe von +Gift und Unheil! Wie viel hunderte, ja tausende von Menschen +arbeiten daran, dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und +nun schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den +Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich +macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet, +verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May, immer wieder +Karl May und nur und nur Karl May! Wo sieht und liest man jemals +einen andern Namen, als nur diesen einen? Was habe ich denn +getan, daß man mich überhaupt zum Schunde zählt? +Wo stecken die zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, +welche jahraus, jahrein rastlos dafür sorgen, daß in +Deutschland und Deutschösterreich der Schund kein Ende +nimmt? Vor Gericht, in „wissenschaftlichen” Werken, bei +Kommissionssitzungen, in öffentlichen Vorträgen, von +Schriftstellern, Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, +Künstlern, Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden +Gelegenheiten, wo von „Jugendverderbnis” die Rede ist, da +bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, nur er! Er ist der +Typus der Jugendvergifter! Er ist der Vater aller ruchlosen +Kapitän Thürmers, Nick Carters und Buffalo Bills! Mein +Gott, wissen diese Herren denn wirklich nicht, was sie tun? Wie +sie sich versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser +wissen, von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen Fall, +wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, daß Jemand +durch eines meiner Bücher verdorben worden ist! Hunderte von +Schundgeschichten der verderblichsten Art hat so ein Bube +gelesen, dabei auch einen Band oder einige Bände von Karl +May. Den kennt man, die Andern aber nicht; darum muß er es +sein, dessen Namen man nennt und den man als Täter +bezeichnet! Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus +fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt, +auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen +Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das +ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und +vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum nennt man +ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie nicht fest? Es gibt +hunderte von Verlegern und Literaten, die wegen Verbreitung von +unzüchtigen Schriften bestraft worden sind. Und noch +größer ist die Zahl derer, die in voller Absicht +Jugendschund herausgeben, nur um Geld zu machen. Warum nennt man +sie nicht? Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem man +ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke duldet? Warum +wirft man sich nicht auf sie, sondern nur auf mich, den +Sündenbock für den ganzen literarischen Mob? Sehr +einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! Und es kann nichts +Anderes als Mache sein, weil so viel, wie man auf mich wirft, +kein Einzelner zu begehen vermag! Ich habe das im nächsten +Kapitel des Näheren zu beleuchten.</p> + +<p>Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, sind bisher +immer nur Behauptungen gewesen. Zu keiner von ihnen wurde ein +wirklicher Beweis erbracht. Ich habe infolge dieser +Anschuldigungen Ungezählte meiner Leser brieflich oder +mündlich gefragt, ob es ihnen möglich ist, mir eine der +Reiseerzählungen oder eine Stelle aus ihnen zu nennen, von +der man behaupten darf, daß sie schädlich wirke. Es +hat mir Niemand auch nur eine einzige derartige Zeile nennen +können. Ist doch sogar meine unerbittlichste Gegnerin, die +„Kölnische Volkszeitung”, gezwungen gewesen, mir das +Attest auszustellen: „Alles für die Jugend +Anstößige <b>ist sorgfältig vermieden,</b> +obgleich Mays Werke <b>nicht etwa bloß für diese</b> +bestimmt sind; <b>viele tausend Erwachsene</b> haben aus diesen +bunten Bildern schon Erholung und Belehrung im reichsten +Maße geschöpft!” Schon aus diesem Atteste geht die +jetzige „Mache” hervor, denn meine Bücher sind seit jener +Zeit genau dieselben geblieben, und derselbe Herr, der dieses +öffentliche Zeugnis aus stellte <tt>[sic]</tt>, war der Erste, der dieser Mache +erlag und hat sich seitdem nicht wieder aufrichten +können.</p> + +<p>Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen mich +erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung des +nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion zu begehen, +die mir der von mir hoch und aufrichtig verehrte Herr aber wohl +verzeihen wird. Doktor Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli +dieses Jahres aus Krieglach:</p> + +<p class="center"> +„Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="letter"> +Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der Charlottenburger +Gerichtsverhandlung, und sobald wieder das Gericht, und zwar zu +Ihren Gunsten, entscheidet, werde ich mit größter +Freude davon Notiz nehmen.<br/> + Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als solcher +möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine Meinung zu sagen +darauf hin, in welcher Weise Sie sich am besten rechtfertigen +könnten.<br/> + Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles +ausschalten, was sich nicht sachlich auf die Anschuldigungen +bezieht. Das, was Sie aus Ihrer Jugendzeit selbst eingestanden +haben, ist damit wohl auch abgetan und würde Ihnen kaum ein +rechtlich denkender Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das +Gericht tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht +persönlich erlebt haben, daß es nur Erzählungen +in „Ichform” sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln. +So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu +erbringen, daß die berührten obszönen Stellen +nicht Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was die +Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen doch +Sachverständige entscheiden können, inwiefern es +Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete +Stoffe und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben mit +den neuen Auflagen verglichen, müßte doch klar zu +stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und der Stil der neu +eingefügten Sätze sich organisch an Ihre Art und an das +Buch anschließen oder nicht. Auf solche Wirklichkeiten, +meine ich, sollten Sie nun Ihre ganze Abwehr konzentrieren und +ununterbrochen drängen, daß die Dinge endlich vor +Gericht zur Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer +Freunde, die nur so im Allgemeinen herumreden über die +Vorzüge Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können +für die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere +Wirkung erzielen.<br/> + Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer gerichtlichen +Genugtuung zu kommen. Gelingt das nicht, so ist absolutes +Schweigen das Beste, und gelingt es, so muß doch auch die +Presse Ihrer jetzigen Gegner die gerichtliche Ehrenrettung +anerkennen und in das Volk tragen.<br/> + Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen Sie diese +Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen entspringt, und seien Sie +gegrüßt</p> + +<p class="center"> +von Ihrem ergebenen +</p> + +<p class="right"> + P e t e r R o s e g g e r.” +</p> + +<p class="letter"> +Krieglach, 2. 7. 1910. +</p> + +<p>Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende +und human denkende geistige Aristokrat, das, was er über +meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan betrachtet, +versteht sich ganz von selbst. In derartigen Bodensätzen und +Rückständen können nur niedrige Menschen waten. +Hierdurch habe ja auch ich selbst schon längst meinen Strich +gemacht und habe einen Jeden, der sich mit mir beschäftigt, +nach dem Maße zu beurteilen, welches mir hier in Roseggers +Brief gegeben wird. Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht +verziehen; das ist im Himmel und auf Erden Recht.</p> + +<p>Was die „Obszönitäten” und den Nachweis betrifft, +daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen +Gegenstand im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier +eine mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt. +Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese +unsittlichen Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir +zu beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so +selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen +Richter einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der +spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der +Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der +Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er +unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten +Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen +Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für +Münchmeyer das „Buch der Liebe” geschrieben zu haben. Wie +kann ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, +es wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der +wahnsinnige Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, daß +Peter Rosegger den berüchtigten „Venustempel” geschrieben +habe. Würde Rosegger den Beweis antreten, daß dies +eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man die +Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? Ich bin +überzeugt, das Letztere. Und so thue <tt>[sic]</tt> auch ich. Ich verlange die Vorlegung +meiner Originalmanuskripte. Einen andern Beweis kann es nicht +geben.</p> + +<p>Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate +betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: Der +Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe von +Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben und ihnen die +Drohung vorangeschickt, daß er mir mit ihnen einen Strick +drehen werde, um mich „aus dem Tempel der deutschen Kunst +hinauszupeitschen”. Er hat sich da des richtigen Bildes bedient, +denn jede seiner Behauptungen, mit denen er mich hierauf +überschüttete, war nichts weiter als ein +Peitschenknall, spitz, scharf, hart, lieblos und +tierquälerisch, darum die Leser empörend und ohne +Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer Knall mit der +Knabenpeitsche war es auch, als er mich des Plagiates bezichtigte +und sich erfolglose Mühe gab, die Wahrheit seiner Behauptung +zu beweisen. Er sprach da wie ein Unwissender und konnte darum +auch weiter nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit +erreichen. Die „Grazer Tagespost” schreibt hierüber:</p> + +<p>„Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich +unlängst in echt christlicher Demut selbst das +schmückende Beiwort eines „anerkannten Kritikers” +beilegte, hat die moralische Niederlage, die er in seiner +Schimpfschlacht gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, +sehr bald vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder +voll usw. usw.”</p> + +<p>Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten, +ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch +nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die +ich schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen +lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken +entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht sehr +häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann niemals +Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, liegt nur +dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile eines +Gedankenwerkes aneignet und diese in der Art verwendet, daß +sie dann wesentliche Bestandteile des Werkes des Plagiators +bilden und dabei als seine eigenen Gedanken erscheinen. So Etwas +habe ich aber nie getan und werde es auch nie tun. Geographische +Werke können, besonders wenn sie geistiges Allgemeingut +geworden sind, ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich +nicht um das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen +handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des +Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In +der Einleitung zum Voigtländerschen „Urheber- und +Verlagsrecht” heißt es:</p> + +<p>„Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus sich +selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was Andere vor ihm +oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben haben. Dann erst, im +besten Falle, beginnt seine ureigene Schöpfung. Selbst die +am meisten schöpferische Tätigkeit, die des Dichters, +steht dann am höchsten, erreicht dann ihre +größten Erfolge, wenn sie die Weihe der +künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich +sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form ist +ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird von der gebildeten +Sprache geliefert, „die für dich dichtet und denkt”, und +die Manchem, der sich Dichter zu sein dünkt, mehr als die +Form, die ihm auch Gedanken oder deren Schein leiht. Kurz, der +Schriftsteller und Künstler steht mit seinem Wissen und +Können inmitten und auf der Kulturarbeit von Jahrtausenden. +Goethe, auf einer einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht +Goethe geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet, +daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen Schritt hat +weiter bringen können, weil er an das von den Vorfahren +Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es nicht mehr als +billig, <b>daß sein Werk zur gegebenen Zeit wieder Andern +zu zwangslosem Gebrauche diene, nicht nur der Inhalt, sondern +auch die Form.</b>”</p> + +<p>So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm ist nicht zu +widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal begangen habe, was er +hier gestattet, bin also vollständig gerechtfertigt. Ein +anderer schreibt: „Alles ist mehr oder weniger Plagiat an +errungener Kultur-, Geistes- oder Phantasieproduktion. Der +Intellektadel, die obern Träger der Bildung und Kultur +schöpfen ja doch alle mehr oder minder aus <b>einem</b> +Reservoir, welches von den Leistungen Anderer, Früherer, +Größerer gespeist worden ist.”</p> + +<p>In Nr. 268 der „Feder”, der Halbmonatsschrift für +Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: „Aus den +Fingern kann sich der popularwissenschaftliche <tt>[sic]</tt> Schriftsteller nun einmal nichts +saugen, und bis zu einem gewissen Grade muß deshalb auch +Jeder ein Plagiator sein. Wenn das eigentliche +Gedankengebäude neu ist, dann ist man wohl berechtigt, +passende Zierformen von schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach +Emmerson ist <b>der größte Genius zugleich auch der +größte Entlehner.</b> Es kommt da ganz auf das Wie an. +<b>Man darf das Gute nehmen, wo man es findet,</b> wenn man einen +großen Zweck damit erreichen will; aber man darf es sich +nicht merken lassen; man muß mit dem Entlehnten etwas +wirklich Neues hervorbringen.”</p> + +<p>Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner +Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben hat. +Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn aus und +ließ das Stück ruhig unter seinem Namen erscheinen. +Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied aus dem +Freischütz: „Wir winden dir den Jungfernkranz” nicht von +Weber, sondern von einem fast ganz unbekannten Gothaer +Musikdirektor ist. Weber hörte es und nahm es in seinen +Freischütz auf, ohne sich etwas aus der Gefahr zu machen, +als Plagiator und Dieb bezeichnet zu werden. Shakespeare war +bekanntlich der größte literarische Entwender, den wir +kennen. Wenn es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen +ginge, würden sogar verschiedene Verfasser biblischer +Bücher als literarische Diebe bezeichnet werden müssen. +So könnte ich noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen +weiterführen, will mich aber damit begnügen, nur noch +unsern Allergrößten, den Altmeister Goethe und den +erfolgreichsten Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas +anzuführen. Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er +konnte ohne fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit +über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist +es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe „Der +Goldkäfer” zu den spannendsten Stellen in seinem „Grafen +Monte Christo” ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, so +zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich unter der +Ueberschrift „Goethe über das Plagiat” durch die Zeitungen +ging:</p> + +<p>„Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage +sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen, +absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der er +diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben Freund hat +Jedermann, der den glücklich entdeckten Plagiator an den +vermeintlichen Pranger stellt. Richard von Kralik ist +unlängst des Plagiates beschuldigt worden, weil er -- ohne +seine Schuld -- mangelhaft zitiert worden ist. Solchen +Plagiatschnüfflern möchten wir die Ansicht Goethes +über das Plagiat in das Gedächtnis rufen. Der +Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und Eckermann am 18. +Januar 1825 waren Lord Byrons angebliche Plagiate. Siehe +„Eckermanns Gespräche mit Goethe”, 3. Auflage Band +<tt>I</tt> S. 133. Da sagte Goethe: „Byron weiß sich auch +gegen dergleichen, ihn selbst betreffende unverständige +Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte +sich stärker dagegen ausdrücken sollen. <b>Was da ist, +das ist mein,</b> hätte er sagen sollen. <b>Ob ich es aus +dem Leben oder aus dem Buche genommen habe, das ist gleichviel; +es kam bloß darauf an, daß ich es richtig +gebrauchte!</b> Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem +„Egmont”, und er hatte ein Recht dazu, <b>und weil es mit +Verstand geschah, so ist er zu loben.</b> So hat er auch den +Charakter meiner „Mignon” in einem seiner Romane nachgebildet, +ob aber mit ebenso viel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord +Byrons „verwandelter Teufel” ist ein fortgesetzter +Mephistopheles, und das ist recht. Hätte er aus origineller +Grille ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen +müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von +Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir +die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von +Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat +daher auch die Exposition meines „Faust” mit der des „Hiob” +einige Aehnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin +deswegen eher zu loben als zu tadeln.”</p> + +<p>Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen. Was haben +unsere Berühmtesten getan, ohne daß man sie +beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich als den +niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt? Ich habe, +ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner kleinen, +asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen +geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, welche +ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit +angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes Recht. +Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft mich +öffentlich als einen <b>„Freibeuter auf +schriftstellerischem Gebiete, für ewige Zeiten das +Musterbeispiel eines literarischen Diebes!</b> Emerson, der +Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika, sagt: „Der +größte Genius ist zugleich auch der größte +Entlehner”. Und Goethe sagt: „Was da ist, das ist mein. Ob ich +es aus dem Leben oder aus dem Buche nehme, das ist gleich!” Wie +hätte da wohl das entsprechende Urteil Pater Pöllmanns +über diese beiden Heroen zu lauten? Sie hätten für +ihn „für ewige Zeiten die schlimmsten aller literarischen +Bestien” zu sein, stinkend vor Raubgier und Verworfenheit! Eine +Kritik, die so unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend +und so wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine +Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das +ganze Volk.</p> + +<p>Ich habe in diesen meinen „Reiseerzählungen” genau so +geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, für die +Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur für sie +allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben ist, soll +es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen und begreifen. +Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder. Ein +Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für Musterleser +schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals sein und niemals +werden. Haben wir es erst so weit gebracht, daß wir nur +noch Musterautoren, Musterleser und Musterbücher haben, dann +ist das Ende da! Ich bin so kühn, zu behaupten, daß +wir uns nicht die vorhandenen Musterbücher, sondern den +vorhandenen Schund zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen +wollen, was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben. +Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, +sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es +verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen! +Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke +und Ziele. Schreibt für die große Seele! Schreibt +nicht für die kleinen Geisterlein, für die Ihr Eure +Kraft verzettelt und verkrümelt, ohne daß sie es Euch +danken. Denn gebt Ihr Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall +zu erringen, so behaupten sie doch, es besser zu können als +Ihr, obgleich sie gar nichts können! Und schreibt nichts +Kleines, wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure +Augen empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es +zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen wohnt das +wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch Fehler macht, so +viele Fehler und so große Fehler wie Karl May, das schadet +nichts. Es ist besser, auf dem Wege zur Höhe zuweilen zu +stolpern und diese Höhe aber doch zu erreichen, als auf dem +Wege zur Tiefe nicht zu stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder +gar erhobenen Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen +Aequator immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst +anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu +sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale, hochgelegene +Haltepunkte und Ziele.</p> + +<p>Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und laufe +darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; aber ich +befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und was +ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche es nicht +zu wiederholen. Und ich habe schon so viele steile Höhen zu +überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich +für einen jener armen Teufel halten kann, die immer auf +ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt Leute, welche +meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt Andere, welche sagen, +ich habe keinen Stil; und es gibt Dritte, die behaupten, +daß ich allerdings einen Stil habe, aber es sei ein +außerordentlich schlechter. Die Wahrheit ist, daß ich +auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. Ich schreibe nieder, +was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie +ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie, und ich +feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein +„Stil”, sondern meine Seele soll zu den Lesern reden. Auch +befleißige ich mich keiner sogenannten künstlerischen +Form. Mein schriftstellerisches Gewand wurde von keinem Schneider +zugeschnitten, genäht und dann gar gebügelt. Es ist +Naturtuch. Ich werfe es über und drapiere es nach Bedarf +oder nach der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, was +ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche +Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will +nicht fesseln, nicht den Leser von außen festhalten, +sondern ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, +in sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann und +darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen noch +störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie mich die +Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das haben +mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt. +Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich +mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur allein +durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine Leser nicht +andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche +stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen +Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch +höhere Form zu geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt +skizziere ich noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie +sind.</p> + +<p>Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten +abgerechnet, in meinen Werken keine einzige Gestalt, die ich +künstlerisch durchgeführt und vollendet hatte, selbst +Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, über die ich doch am +meisten geschrieben habe. Ich bin ja mit mir selbst noch nicht +fertig, bin ein Werdender. Es ist in mir noch Alles in +Vorwärtsbewegung, und alle meine inneren Gestalten, alle +meine Sujets bewegen sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis +ich es erreicht habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine +Gedanken sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer Dichter +und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer großen +Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er innerlich reif +geworden ist, aber ich bin auch in dieser Beziehung als Outsider +zu betrachten, werde von Vielen sogar als Outlaw oder Outcast +bezeichnet und darf mir darum noch lange nicht erlauben, was +Andere sich gestatten. Was bei Andern selbstverständlich +ist, das ist bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und +was bei Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung gilt, +das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein einziges Mal etwas +künstlerisches schreiben wollen, mein „Babel und Bibel”. +Was war die Folge? Es ist als „elendes Machwerk” bezeichnet und +derart mit Spott und Hohn überschüttet worden, als ob +es von einem Harlekin oder Affen verfaßt worden sei. Da +weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt +gewiß. Man kann wohl literarische Hanswürste +beseitigen, nicht aber Geistesbewegungen unterdrücken, die +unbesiegbar sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen +aufzustellen, denen doch keine Folge gegeben würde. +Unterlassen aber darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des +hier berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein +einziges, welches so deutlich spricht, daß ich ohne +Weiteres auf alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein +Verein, dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und +Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich +mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich +stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die +Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen +kursierende Auskunft: „Hierseits wird zwar von dem weitern +Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand genommen, und werden die +Bücher nicht mehr durch unsere Verzeichnisse angeboten, +damit wollen wir aber nicht sagen, daß der Inhalt der +Mayschen Reiseerzählungen zu verwerfen ist, und wir muten +auch den Vorständen unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese +Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige +ablehnende Stellungnahme gilt nicht den <b>Schriften,</b> sondern +der <b>Persönlichkeit</b> des Verfassers. <b>Sie können +also ohne Bedenken die Bände weiter ausleihen.</b>” Das +genügt gewiß! Meinen Büchern ist nichts +anzuhaben; meine Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum? +Infolge jener „Mache”, von der ich schon weiter oben sprach. +Denn man glaube ja nicht, daß die „Karl May-Hetze”, oder, +ein wenig anständiger ausgedrückt, das „Karl +May-Problem” eine literarische Angelegenheit sei. Es handelt +sich hier keineswegs um schriftstellerische oder gar um ethische +Gründe, sondern, die Sache beim richtigen Namen genannt, um +eine rein persönliche Abschlachtung aus moralisch ganz +niedrigen, prozessualen Gründen. Was man da von sittlichen +und journalistischen Notwendigkeiten sagt, ist nichts als +Spiegelfechterei, um die Wahrheit zu verstecken. Wollte man +hierüber einen Roman schreiben, so könnte dieser der +sensationellste aller Kolportageromane werden, und die +Hauptpersonen würden folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. +<tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. +Pauline Münchmeyer in Dresden, der Franziskanermönch +<tt>Dr.</tt> Expeditus Schmidt in München, der aus der +christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf +Lebius in Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar +Pöllmann in Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse +Münchmeyer, <tt>Dr.</tt> Gerlach in Niederlößnitz +bei Dresden. Dieser Roman würde für die Beleuchtung der +gegenwärtigen Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein +und auch über andere Verhältnisse, gesellschaftliche, +geschäftliche, psychologische, überraschende +Streiflichter werfen. Es würde da viel Schmutz, sehr viel +Schmutz zu sehen sein, der nichts weniger als appetitlich ist, +und so will ich, da ich ihn auch hier zu erwähnen und zu +zeigen habe, mich bemühen, so schnell wie möglich +über ihn hinwegzukommen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap08"></a>VIII.<br/> +Meine Prozesse.</h2> + +<p class="noindent"> +Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt in seiner Parabel „Der +Schatten” zum Dichter: „Sie wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und +schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie +wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem +weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches +Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in +Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern +und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, <b>daß wir Andern das leben, was Ihr +Dichter schreibt.</b> Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches +wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; +wir sind unsittlich, wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach Eurem +Glauben oder Eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder +leichtfertig, wie es die Weiber sind, die Ihr verherrlicht.” +</p> + +<p>Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht +ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die +seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit +größern, entweder schaffenden oder zerstörenden, +reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten +Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie +behauptet, nämlich „Nicht Einzelwesen, Drama ist der +Mensch”, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers +unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur +eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt bin, +bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung bewußt, +welche auf uns Schreibenden ruht, sobald wir zur Feder greifen. +So oft ich dieses Letztere tue, tue ich es in der aufrichtigen +Absicht, als Schaffender nur Gutes, niemals aber Böses zu +schaffen. Man kann sich also denken, wie erstaunt ich war, als +ich erfuhr, daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer +„abgrundtief unsittliche” Bücher geschrieben haben solle. +Der Ausdruck „abgrundtief unsittlich” ist von Cardauns, dessen +Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den +übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist +dann Alles nicht nur erwiesen, sondern „zur Evidenz erwiesen”, +nicht ausgesonnen, sondern „raffiniert ausgesonnen”, nicht +entstellt, sondern „bis zur Unkenntlichkeit entstellt”. Darum +genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, weil sie +angeblich von mir waren, das einfache Wort „unsittlich” nicht, +sondern es war ganz selbstverständlich, daß sie gleich +„abgrundtief unsittlich” sein mußten.</p> + +<p>Die erste Spur von diesen meinen „Unsittlichkeiten” tauchte +drüben in den Vereinigten Staaten auf. Kommerzienrat Pustet, +welcher da drüben Filialen besitzt, schrieb mir von diesem +Gerücht und wünschte, daß ich mich darüber +äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, daß ich +von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache untersuchen +lassen werde, wenn es sein müsse sogar gerichtlich. Das +Resultat werde ich ihm dann mitteilen. Damit war für ihn die +Sache abgemacht. Er war ein Ehrenmann, ein Mann von Geist und +Herz, dem es niemals eingefallen wäre, durch +Hintertüren zu verkehren. Wir hatten einander gern. Auf ihn +fällt ganz gewiß auch nicht die geringste Spur von +Schuld an der unbeschreiblich schmutzigen und widerlich +leidenschaftlichen Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus +Amerika kam, hatte ich zunächst drüben zu +recherchieren. Das erforderte lange Zeit, und es war mir +unmöglich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte +nur, daß sich das Gerücht auf meine +Münchmeyerschen Romane bezog, doch fand ich Niemand, der +imstande war, mir die Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in +denen die Unsittlichkeit lag. Und auf ein bloßes, vages +Gerücht hin alle fünf Romane, also ungefähr +achthundert Druckbogen nach Dingen, die ich gar nicht kannte, +mühsam durchzuforschen, dazu hatte ich keine +überflüssige Zeit, und das war mir auch gar nicht +zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich anzuklagen, der +mußte die unsittlichen Stellen genau kennen und war +verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf wartete ich. Es meldete +sich aber Keiner, der es tat. Auch Pustet tat es nicht. +Wahrscheinlich kannte er die angeblichen Unsittlichkeiten ebenso +wenig als ich. Leider war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm +meine Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste +Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. Dieser +hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend gekürzt, ohne +mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe Korrekturen und +Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll mich so kennen +lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern und Schwächen, nicht +aber wie der Redakteur mich zustutzt. Darum teilte ich Pustet +mit, daß er von mir kein Manuskript mehr zu erwarten habe. +Er versuchte, mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam +er, der alte Herr, persönlich nach Radebeul. Das war +rührend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann +seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben +negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die sich +an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der Richtige, +Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, daß es nie wieder +geschehen solle, und daraufhin nahm ich meine Absage zurück. +Man hat mir das von gewisser Seite bis heut noch nicht vergessen. +Man drückt das folgendermaßen aus: „Heinrich Keiter +hat Kotau vor Karl May machen müssen.” Ich besitze +hierüber Zuschriften aus nicht gewöhnlichen +Händen. Aber er trug selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe +Heinrich Keiter geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne +alle seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich +damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging nicht anders. +Ich mußte die Buchform meiner „Reiseerzählungen” +nach dem Texte des „Hausschatzes” drucken lassen und durfte +darum nicht zugeben, daß an meinen Manuskripten +herumgeändert wurde.</p> + +<p>Später schrieb ich für Pustet meinen +vierbändigen Roman „Im Reiche des silbernen Löwen”. +Ich war grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da +bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel des +„Hausschatzes” geschickt, dessen Inhalt mich veranlaßte, +meine damalige Absage zu wiederholen. Ich telegraphierte Pustet, +daß ich mitten in der Arbeit aufhören müsse und +kein Wort weiter für ihn schreiben werde. Er mußte mir +sogar das in seinen Händen befindliche, noch ungedruckte +Manuskript wieder senden, wofür ich ihm das darauf +entfallende Honorar wiederschickte. Ich würde hierüber +kein Wort verlieren, wenn mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings +von sehr unmaßgeblicher Seite, mit Enthüllungen aus +jener Zeit gedroht worden wäre. Ich habe darum die +Gelegenheit wahrgenommen, hier die Wahrheit festzustellen. Und +ich stelle zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn +Kommerzienrat Pustet niemals persönlich gebrochen habe und +eine aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er nach einer +Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen +Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat +<tt>Dr.</tt> Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in +München sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter +des „Hausschatzes” zu werden. Ich habe ihm daraufhin den „Mir +von Dschinnistan” geschrieben.</p> + +<p>Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der +Cardaunsschen „abgrundtiefen Unsittlichkeit” vorausgeeilt und +kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit auf Grund +und Wurzel zu gehen. Der Grund heißt Münchmeyer, und +die Wurzel heißt ebenso. Die hierher gehörigen +Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange Kette, +deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch innig +ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist erwiesen. Einiges +liegt noch in den Akten, um an das Tageslicht gezogen zu werden. +Ich bin nicht gewillt, den laufenden Prozessen vorzugreifen, und +werde also nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle +Klarheit herrscht.</p> + +<p>Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine +Vorstrafen kannte. Er wußte sogar Alles, was man +hinzugelogen hatte. Er wünschte sehr, daß ich einen +Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber +entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und Bekannten +meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern ganz unbefangen +davon erzählt und meine Ansichten über Verbrecher und +Verbrechen, Schuld, Strafe und Strafvollzug ausführlich +dargelegt. Kein einziges Glied der Münchmeyerschen Familie +darf behaupten, nicht davon gewußt zu haben. Auch die +Arbeiter der Firma erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, +ebenso die mitarbeitenden Schriftsteller. „May ist bestraft; er +hat gesessen,” das drang bald leiser, bald lauter, aber +überall durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von +plötzlichen „Enthüllungen” oder gar von meiner +„Entlarvung” zu sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt, +der lügt.</p> + +<p>Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz +ausgesprochene geschäftliche Vorliebe grad für +bestrafte Mitarbeiter hatte. Geht man die Schriftsteller und +Schriftstellerinnen durch, die für ihn geschrieben haben, so +bilden die Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von +ihnen. Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm +eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von dem er +alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war vorbestraft. +Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion brachte er mir einen +Wiener Postbeamten, der sich an der Kasse vergriffen hatte, als +Mitarbeiter. Als sich ähnliche Fälle wiederholten und +ich ihn nach seinen Gründen fragte, antwortete er: „Mit +einem Schriftsteller, der bestraft worden ist, kann man machen, +was man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen +verraten werden.” „Also auch ich?!” rief ich aus, erstaunt +über diese Aufrichtigkeit. „Unsinn!” entgegnete er. „Mit +Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde! Und Sie sind +doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit sich machen +läßt, was man will! Selbst wenn ich Sie nicht +aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den +Kürzern!” Er gab sich Mühe, das in mir erwachte +Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz +verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich +kündigte und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion +aufgab. Auch später, als ich nach sechs Jahren das +„Waldröschen” für ihn zu schreiben begann, tauchte +dieses Bedenken gegen ihn wieder in mir auf. Aber die +Ausnahmestellung, die er mir persönlich und +geschäftlich bei sich einräumte, das Ausnahmehonorar, +welches er mir zahlte, und vor allen Dingen die Einwürfe, +die mir meine Frau bei jeder Gelegenheit gegen mein +Mißtrauen machte, das alles wirkte dahin, daß ich +schließlich zu meinem früheren Vertrauen +zurückkehrte.</p> + +<p>Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen keine +Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte nicht mehr +zurückbekam, habe ich bereits erwähnt. Ich konnte also +nicht kontrollieren, ob der Druck mit meinem Originalmanuskript +übereinstimmte. Doch war mir hier so bestimmt Ehrlichkeit +versprochen worden, daß ich einen Betrug für +ausgeschlossen hielt. Auch daß Münchmeyer später +einmal behaupten könne, meine Romane mit allen Rechten nicht +bloß bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten, sondern +für immer erworben zu haben, erschien mir als +unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine Briefe +aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich miteinander +ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte, und zweitens hatte +ich auch noch einen andern vollgültigen Beweis in der Hand, +daß er diese Rechte nicht für immer besaß. Er +hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht, diese +Rechte noch nachträglich zu erwerben. Er hatte das durch +einen Revers getan, den er mir durch jenes vorbestrafte Faktotum +Walter schickte und zur Unterschrift vorlegen ließ. Ich +wies aber diesen außerordentlich pfiffigen Boten mit seinem +Revers zurück. Dieser Walter war es auch, durch den ich auf +meine Anfragen immer die schriftliche oder mündliche +Versicherung bekam, daß die Zwanzigtausend noch nicht +erreicht sei. Uebrigens hatte ich nicht die geringste Sorge, +weder um meine Rechte noch um meine „feinen Gratifikationen”. +Meine Rechte waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich +jetzt in pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich +glaubte, mehr als bloß zahlungsfähig waren. Daß +er mit schlechtgehenden Romanen wieder verlor, was er an +gutgehenden verdiente, und daß er sich auf +Wechselreitereien eingelassen hatte, durch welche seine +Kapitalkraft arg geschädigt wurde, davon wußte ich +nichts. Ich war also überzeugt, ruhig warten zu können +und gar keine Veranlassung zu haben, verfrühte und darum +beleidigende Forderungen zu stellen. Uebrigens war meine Frau so +vollständig gegen alles geschäftliche Drängen und +Treiben, daß ich nun auch um den äußeren +häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls ich gegen +Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie wünschte. +Auch behaupten die Kolportageverleger, daß es in ihrer +Buchführung viel schwieriger sei und viel längere Zeit +erfordere, als bei andern Verlegern, nachzuweisen, wieviel feste +Abonnenten man habe. Es springen beständig welche ab, und es +kommen beständig welche hinzu, darum hatte ich Geduld.</p> + +<p>Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger F. E. +Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich übergab ihm den +Buchverlag der bei Pustet in Regensburg erschienenen Werke und +vereinbarte mit ihm, nach diesen dann auch die +Münchmeyerschen herauszugeben. Er nahm die ersten sofort in +Angriff, und sie gingen ausgezeichnet. Wir waren beide +überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen nicht +weniger Erfolg haben würden, stellten die letzteren aber bis +zur Vollendung der Pustetschen Serie zurück. Jede der beiden +Serien sollte dreißig Bände umfassen. Was daran +fehlte, hatte ich noch hinzuzuschreiben. Das ergab für die +Pustetsche Serie ungefähr zehn Bände, die ich noch zu +liefern hatte. Das war eine Arbeit, die mir keine Zeit +ließ, mich jetzt um meine Münchmeyerschen Sachen zu +bekümmern. Darum mußte mich auch die unerwartete +Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich gestorben +sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen. +Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als ich +hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der +Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt.</p> + +<p>Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline Münchmeyer +schickte mir einen Boten, der den Auftrag hatte, mich +auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein werde, ihr einen +neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote war auch ein +„Vorbestrafter”. Ich ließ ihn unverrichteter Sache wieder +gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung besonders +nachzudenken. Ich wußte damals nicht, was ich erst viel +später erfuhr, nämlich daß es mit +Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte. +Man hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem Entschlusse +gelangt, durch einen neuen Roman von Karl May die Lage zu +verbessern. Ich hatte weder Zeit noch Lust, ihn zu schreiben, +beschloß aber für den Fall, daß man den Versuch +erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen einzutreten, um +über die Erfolge meiner bisherigen Romane etwas Bestimmtes +zu erfahren. Und die Wiederholung des Versuches kam. Frau +Münchmeyer stellte sich selbst und persönlich bei uns +ein. Sie besuchte uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar +Vorausbezahlung des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum +Walter und ließ Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den +Bescheid, daß ich nicht eher etwas Neues liefern +könne, als bis über das Alte volle Klarheit geschafft +worden sei. Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der +Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend +müsse doch schon längst erreicht worden sein. Frau +Münchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau +zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen. Wir +stellten uns ein. Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend +erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht nur bei einem; +nur müsse es erst noch genau berechnet werden, und das sei +in der Kolportage so ungemein schwierig und zeitraubend. Ich +möge mich also in Geduld fassen. Was meine Rechte betreffe, +so fallen diese mir hiermit wieder zu, ich könne die Romane +nun ganz für mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir +meine Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken +lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde mir an +ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und sie vorher extra +für mich in Leder binden lassen. Das geschah. Nach kurzer +Zeit kamen die Bücher durch die Post; ich war wieder Herr +meiner Werke -- -- -- so glaubte ich! Freilich war es mir +unmöglich, sie sofort herauszugeben, weil die Pustetschen +vorher zu erscheinen hatten. Ich legte die Bücher also +für einstweilen zurück, ohne mich mit der Prüfung +ihres Inhaltes befassen zu können. Ich hatte meinen Zweck +erreicht, und von der Abfassung eines neuen Romanes war keine +Rede mehr. Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich +hören. Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß +nun doch die „feinen Gratifikationen” fällig waren, deren +Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich aber +drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte das Geld +nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht übergehen, +daß meine Frau während dieser ganzen Zeit sich alle +Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen Frau +Münchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe für +Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund der sonst +unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte.</p> + +<p>Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach dem +Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer +ihr Geschäft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort einen +Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane mit zu verkaufen. +Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche dar und ging +zunächst nach Oberägypten. Von dort nach Kairo +zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich erfuhr, +daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen sei; der +Verkäufer <tt>[sic]</tt> +heiße Fischer. Ich zögerte nicht, an diesen Herrn zu +schreiben. Er antwortete mir im Kolportageton, daß er das +Münchmeyersche Geschäft nur wegen der Romane von Karl +May gekauft habe. Alles Andere sei nichts wert. Er werde diese +meine Sachen so ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich, +falls ich ihn daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser +Ton fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr +minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mußte diesem mir +vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art +geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit +verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen +Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu +berichten. Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau +an. Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn Tage, +in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und telegrafierte, doch +vergebens; es kam kein Bericht. Endlich erhielt ich einige +Zeilen, in denen sie mir sagte, daß sie in Paris gewesen +sei, aber weiter nichts. Als in Massaua, der Hauptstadt von +Erythräa am roten Meere, mein arabischer Diener mir die Post +brachte, quoll mir eine Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus +denen ich, der gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat +inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine +Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner +Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit derartigen +Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf dieses +Unternehmen aufmerksam werden mußte. Mein Name war genannt, +obgleich ich diese Romane, nur einen ausgenommen, pseudonym +geschrieben und Münchmeyer verpflichtet hatte, diese +Pseudonymität auf keinen Fall zu brechen. Zugleich stellte +sich heraus, daß mit den Romanen eine Umarbeitung +vorgenommen werden sollte. Mir wurde himmelangst. Ich schrieb +heim und beauftragte einen dortigen Freund, dem ich +vollständig vertrauen konnte, sich einen Rechtsanwalt zu +Hilfe zu nehmen und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu +führen, wenn nötig sogar gerichtlich.</p> + +<p>Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der +Besitzer der „Sächsischen Verbandstoffabrik” in Radebeul, +die er gegründet hatte. Man wird bald sehen, warum ich +für kurze Zeit bei ihm verweile. Er war +außerordentlich glücklich verheiratet. Seine Familie +bestand nur aus ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir +waren so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du +nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten. Aber +außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu sagen, das +brachte Plöhn nicht fertig. Er versicherte, daß ihm +dies unmöglich sei. Frau Plöhn ist jetzt meine Frau. Es +ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder gar +Vorzügen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische. +Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher gelesen. +Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr ebenso unbekannt +und gleichgültig wie meine Ziele und Ideale überhaupt. +Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin von mir und +besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis für +all mein Hoffen, Wünschen und Wollen. Ihr Mann freute sich +darüber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes Arbeiten, +oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht hindurch, keine +helfende Hand, kein warmer Blick, kein aufmunterndes Wort; ich +stand innerlich allein, allein, allein, wie stets und allezeit. +Das tat ihm wehe. Er versuchte, durch seine Frau auf die meinige +einzuwirken, damit diese mir wenigstens die störende +Korrespondenz abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu +erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn +eine große Freude sein. Ich gestattete es den beiden guten +Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in der Hand von Frau +Plöhn. Tausenden von Leserinnen und Lesern ist über der +Unterschrift von „Emma May” geantwortet worden, ohne daß +sie wußten, daß es nicht meine Frau, sondern eine +schwesterliche Helferin war, die mir meine Last erleichterte. Sie +arbeitete sich mehr und mehr in meine Gedankenwelt und meinen +Briefwechsel ein, so daß ich ihr schließlich die +ganze, umfangreiche Korrespondenz getrost überlassen konnte. +Ihr Mann war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter, +eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau, die +gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich +gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die +nicht unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.</p> + +<p>Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit so +kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und er tat +es, so gut er konnte. Er übergab die prozessuale +Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und +benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich +augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber nicht +zögern werde, mich bei der beabsichtigten Vergewaltigung zu +erwehren. Mehr konnte für den Augenblick nicht getan werden, +weil es mir unmöglich war, meine Reise abzubrechen. Von +meiner Frau bekam ich keine Nachricht. Es war ihr unmöglich, +sich um so ernste, geschäftliche Angelegenheiten zu +bekümmern. Plöhns aber schrieben, doch konnten mich +diese Briefe erst in Padang auf der Insel Sumatra erreichen. Sie +lauteten aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen +Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in +einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden +Gerüchte über mich verbreitet, die teils +lächerlich, teils gewissenlos waren. Man las in den +Zeitungen, daß ich mich gar nicht im Orient befinde, +sondern mich wegen einer bösartigen Krankheit im Jodbad +Tölz, Oberbayern, versteckt habe. Hätte ich geahnt, +daß das in dieser lügenhaften, gehässigen und +böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt weitergehen werde, so +würde ich meine Reise doch unterbrochen und schleunigst nach +Hause zurückgekehrt sein. Hätte ich das getan, so +wären mir alle die unmenschlichen Martern und Qualen, die +ich während dieser langen Zeit ausgestanden habe, erspart +geblieben. Leider aber wußte ich damals noch nicht, was mit +meinen Romanen vorgegangen war und welche Leitgedanken im +Münchmeyerschen Geschäft über mich kursiert hatten +und heute noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der +Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für +nötig, als eine genaue Information, aus der sich die +einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten. Ich schrieb +also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten +kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen +würde. Sie kamen, aber sehr verspätet, weil Plöhn +unterwegs krank geworden war. Was ich von ihnen erfuhr, lautete +keineswegs günstig und klang außerdem sehr unbestimmt. +Der Rechtsanwalt stand immer noch erst bei den Vorbereitungen. +Fischer hatte erklärt, sich auf das Aeußerste wehren +zu wollen; meine Romane habe er von Frau Münchmeyer gekauft; +sie seien sein wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er +machen könne, was er wolle. Die Zeitungen waren gegen mich +eingenommen. Meine Münchmeyerschen Romane wurden als +Schundromane bezeichnet. Ich sah ein, daß ein Prozeß +mit Münchmeyers nicht zu umgehen war, und fragte meine Frau +nach den für mich hierzu nötigen Dokumenten.</p> + +<p>Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers +Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war für einen +Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig, +daß ich ihn glattweg gewinnen mußte. Diese Briefe +waren nebst andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten +Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner Abreise meine +Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt ganz besonders +aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der Briefe ganz besonders +erklärt und sie aufgefordert, dafür zu sorgen, +daß ja nicht das geringste Blättchen davon verloren +gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen Dokumenten fragte, +versicherte sie mir, daß sie noch genau so lägen, wie +ich sie ihr übergeben habe. Kein Mensch habe sie +berührt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete den sicher +gewonnenen Prozeß. Als meine Frau mir diese Versicherung +gab, stand Frau Plöhn dabei und hörte es. Sie sah sie +groß an, sagte aber nichts. Das fiel mir damals nicht auf; +später aber, als ich mich dieses großen, erstaunten, +mißbilligenden Blickes erinnerte, wußte ich nur allzu +gut, was er hatte sagen sollen. Meine Frau war nämlich eines +Abends zu Frau Plöhn gekommen und hatte ihr mitgeteilt, +daß sie soeben unsern Trauschein verbrannt habe, der +Vorbedeutung wegen, die sich damit verbinde. Und einige Zeit +später hatte sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, +daß sie nun auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten +genommen und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, +daß ich Münchmeyers verklage. Frau Plöhn war +hierüber entsetzt gewesen, hatte aber die vollendete +Tatsache nicht zu ändern vermocht. Jetzt, als sie die +Versicherung meiner Frau mit anhören mußte, daß +die Briefe noch unberührt vorhanden seien, gab es in ihr den +ersten Riß zu jener innern Scheidung, die erst dann auch +äußerlich zu Tage trat, als nichts mehr verheimlicht +werden konnte. Wir reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien, +über Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause. +Während dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen +immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig +unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen. Sie wurde +schließlich zornig und verbat sich jede weitere +Erwähnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster +Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten -- -- -- +leer! Hierüber zur Verantwortung gezogen, erklärte sie, +daß sie die Briefe allerdings verbrannt und vernichtet +habe. Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers gewesen und +sei es auch noch heute. Sie wisse zwar, daß ich recht habe, +aber sie dulde nicht, daß ich Münchmeyers verklage. +Darum habe sie die Papiere verbrannt. Man kann sich denken, wie +mir zu Mute war, aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon +jahrelang in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war +still, nahm den Hut und ging.</p> + +<p>Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich immer +zahlreicher und deutlicher geworden. Man beschuldigte mich, zu +gleicher Zeit fromm und unsittlich geschrieben zu haben. Ich nahm +die Romane her, die mir Frau Münchmeyer hatte einbinden +lassen, und fand, daß man von meinen Originalmanuskripten +abgewichen war und sie verändert hatte. Also darum hatte man +die Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben! +Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können! Das +Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon +benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung +abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich wollte die +Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern des Strafprozesses +verfolgen, stieß dabei aber auf solchen Widerstand bei +meiner Frau, daß ich darauf verzichtete. Ich befragte mich +bei verschiedenen Rechtsanwälten, nicht nur in Dresden, +sondern auch in Berlin und anderswo. Ich hätte so gern +gleich direkt wegen der „abgrundtiefen Unsittlichkeiten”, die +mir vorgeworfen wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig +versichert, daß dies unmöglich sei. Eine Klage +könne nicht auf ideale Dinge gerichtet, sondern müsse +materiell begründet sein. Ich müsse vor allen Dingen +beweisen, daß ich der rechtmäßige +Eigentümer der betreffenden Romane sei, und also das Recht +besitze, zu verklagen. Am Besten sei es, die Klage auf +„Rechnungslegung” zu richten. Das geschah.</p> + +<p>Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des +Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir +meldete. Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn +abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war eine +hochinteressante, sowohl psychologisch als auch prozessual. +Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er wisse, ich sei +vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg am Rocken habe, der +solle sich wohl sehr hüten, zu prozessieren, sonst +könne die Sache sehr leicht ein anderes Ende nehmen, als man +denke. Meine Romane seien jetzt sein Eigentum. Man habe sie schon +früher verändert, und nun lasse er sie von Neuem +umarbeiten, ganz so, wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn +prozessiere, so könne das länger als zehn Jahre dauern; +aber bis dahin sei ich längst kaput. Er sei aber gekommen, +mir die Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich solle +ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf meine Romane +und liefere sie mir mit allen Rechten aus. Dann sei es mir +leicht, die ganze Aufregung der Presse gegen mich mit einem +einzigen Schlage zum Schweigen zu bringen. Er biete mir seine +Hilfe dazu an. Er wisse mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze +Münchmeyerei. Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter +siebzigtausend Mark könne er nicht verzichten, denn er habe +hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt.</p> + +<p>Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen +Vorschlag nicht einging. Ich erklärte ihm, daß ich +keinen Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei. +Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten werde, ob +gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe. Er rate mir zu dem +Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich als Zeuge dienen +könne, denn er sei mit dieser Frau keineswegs zufrieden, +sondern stehe in immerwährendem Streit mit ihr. Hierauf +entfernte er sich mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen +in Acht zu nehmen.</p> + +<p>Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen. Aber meine +Frau und, wohl infolgedessen, auch mein Rechtsanwalt bestimmten +mich, hiervon abzusehen. So wurde also Fischer verklagt. Aber die +Witwe schien keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel +ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei und +ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang mir, gegen +Fischer eine einstweilige Verfügung zu erreichen, welche ihm +verbot, meine Romane weiterzudrucken. Er durfte nur noch +komplettieren. In dieser für ihn sehr heiklen Lage kam er +mit meinem Rechtsanwalt zu sprechen und klagte über den +Verlust, der ihm dadurch entstehe; dieser betrage schon +vierzigtausend Mark. Wenn das nicht aufhöre, müsse er +sich noch ganz anders wehren als bisher und mich durch die +Veröffentlichung meiner Vorstrafen in allen Zeitungen vor +ganz Deutschland kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese +Drohung mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu +begreifen und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu +sondieren. Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir +zustande, in einer separierten Weinstube, unter vier Augen. Da +wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er während der +Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers über mich und +meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr den ganzen Feldzugsplan, +von dem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. Es war ihm +weisgemacht worden, ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, +weil ich als Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe. +Das passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen, +daß ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche +das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput. +Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor solchen +Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso gut +wie ich selbst. Was ich mit Münchmeyer über meine +Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig. Münchmeyer +sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwören habe. Und +daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man zu +sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe, die es +gebe. Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung zu +drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück. +Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still. „Den haben +wir in der Hand!”</p> + +<p>In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen, und daraufhin +hatte er das Geschäft gekauft. So versicherte er mir. +Daß meine Romane verändert worden seien, das wisse er. +Nur wisse er nicht genau, von wem. Wahrscheinlich von Walter. Der +habe ja weiter gar nichts Anderes als solche Sachen zu machen und +dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar nicht +schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur ein Wort zu +ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so ist die +„Unsittlichkeit” da, ohne die es bei solchen Romanen nun einmal +nicht abgehen will. Ich könne diese Aenderungen sehr leicht +nachweisen; ich brauche nur meine Originalmanuskripte +vorzulegen.</p> + +<p>„Aber die sind ja verbrannt!” fiel ich ein.</p> + +<p>Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede. Er +behauptete, sie seien noch da. Er könne sie mir verschaffen, +aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen nicht, wo ich +sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner einstweiligen +Verfügung zugrunde richte. Er könne nur dann mein +Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten, wenn ich diese +Verfügung fallen lasse und mich mit ihm vergleiche.</p> + +<p>Diese Unterredung war für mich von unendlicher +Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte mich, ob ich +trauen dürfe. Waren die Originalmanuskripte wirklich noch +da, so konnte ich allerdings alle gegen mich gerichteten +Vorwürfe, wie Fischer gesagt hatte, mit einem Schlage +verstummen machen. Aber er konnte mich täuschen wollen oder +auch selbst getäuscht worden sein. Ich durfte nicht +vorschnell entscheiden; ich mußte beobachten und +überlegen, zumal diese Wendung meiner Angelegenheit in eine +Zeit fiel, in der mich schwere, innerliche Kämpfe derart +beschäftigten, daß ich für Anderes weder Zeit +noch Raum zu finden vermochte. Das war die Zeit meiner +Ehescheidung.</p> + +<p>Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen +Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament sei. Wenn ich +nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich diesen Schritt +schon längst getan und nicht erst dann, als es meine +Gesundheit, mein Leben und meine ganze innere und +äußere Existenz zu retten galt. Man hat mir diesen +Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr mit Unrecht. +Katholische Kritiker, die anstatt auf sachlichem Gebiete zu +bleiben, ihre Angriffe auf das persönliche +hinüberspielten, haben mir in einem Atem vorgeworfen, +daß ich Protestant sei und mich von meiner Frau habe +scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil ich als Protestant +gelte, hat kein Mensch das Recht, mir den zweiten Vorwurf zu +machen. Für jeden nur einigermaßen anständigen +Menschen ist die Ehescheidung eine Angelegenheit von +selbstverständlichster Diskretion. Die meinige aber hat man +in den Zeitungen herumgetragen, mit den widerlichsten Randglossen +versehen und zu den ungeheuerlichsten Verdächtigungen +ausgenutzt. Ich will das Alles hier übergehen, um meine +Bemerkungen, falls ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer +Stelle zu machen. Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern +auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil +sie ihr den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte, +wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe bereits gesagt, +daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten krank geworden +sei. Er erholte sich nur scheinbar wieder. Das Uebel repetierte, +nachdem er in die Heimat zurückgekehrt war. Ein Jahr +später kam der Tod. Frau Plöhn brach fast zusammen. +Wäre ihre Mutter nicht gewesen, so wäre sie ihrem Manne +sicher nachgestorben. Glücklicherweise bot ihr auch die +Korrespondenz, die sie für mich mit meinen Lesern +führte, die seelische Erleichterung und Unterstützung, +deren sie bedurfte. Sie besaß zwei Zinshäuser in +Dresden, die sie gern gegen ein ihr angebotenes +Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu dem Dorfe +Niedersedlitz gehörte. Dorthin hatte Fischer seine +Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung lag da. Frau +Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung dieses +Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun einmal in +Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe, dies Fischer wissen +zu lassen. Er lud uns nach seiner Privatwohnung ein, und es +entspann sich da eine Verhandlung, welche am nächsten Tage +zu einem Vergleiche führte.</p> + +<p>Ich will so kurz wie möglich sein. Fischer klagte +darüber, daß er sich durch den Kauf des +Münchmeyerschen Geschäftes zum „Schundverleger” +degradiert habe; er versicherte, daß er sich heraussehne, +und er behauptete, daß ich ihm dazu behilflich sein +könne wie kein Anderer. Dieses Letztere war auch ich +überzeugt. Er hatte die veränderten Romane erworben, +ohne daß Frau Münchmeyer das Recht besaß, sie +ihm zu verkaufen. Wenn er dafür sorgte, daß ich meine +Originalmanuskripte zurückerhielt, konnte er die +Schundarbeiten fallen lassen und an ihrer Statt meine Originale +herausgeben; da war ihm und zugleich auch mir geholfen; er war +kein Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich +nichts Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke +des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben, war ich +überzeugt, daß aller Streit gehoben sei. Fischer +bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß +die unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane <b>nicht +aus meiner Feder stammen, sondern von dritter Hand hineingetragen +worden seien.</b></p> + +<p>Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als +trügerisch. Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht +bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich vernichtet. +Es war ihm also unmöglich, sich aus einem +„Schundverleger”, wie er sich in einem Briefe an mich +bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er machte zwar +den Versuch, auch ohne meine Originalmanuskripte zu einem +Originalroman zu kommen, um den Schund dann fallenlassen zu +können, aber ich mußte ihm dabei die Hilfe, die er von +mir forderte, versagen. Er verlangte nämlich von mir, +daß ich den Schund aus dem Gedächtnisse in seine +frühere, einwandfreie Fassung zurückverändere; das +aber war bei einer Fülle von ungefähr +dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding der +absolutesten Unmöglichkeit. Er bestand aber auf seinen <tt>[sic]</tt> +Schein, auf unsern <tt>[sic]</tt> Vergleich, und obgleich er das nicht +leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich doch Alles +tun, was grad seinetwegen unmöglich war. Daraus ergab sich +ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen, welches sich +über seinen Tod hinaus erstreckte und erst von seinen Erben +zum friedlichen Ende geführt worden ist. Diese sahen klarer +als er, und sie waren ruhigen, unbefangenen Gemütes. Sie +waren Fachleute, nämlich Rechtsanwälte, Kaufleute, +Buchdruckerei- und Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu +folgender Erklärung:</p> + +<p><b>„In einem zwischen Herrn Karl May und den Erben des Herrn +Adalbert Fischer anhängig gewesenen Rechtsstreite haben die +Fischerschen Erben erklärt, daß die im Verlage der +Firma H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des +Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit durch Einschiebungen +und Abänderungen von dritter Hand eine derartige +Veränderung erlitten haben, daß sie in ihrer jetzigen +Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten +können. Herr May ist zur Veröffentlichung dieser +Erklärung ermächtigt worden.</b></p> + +<p><b>Dresden, im Oktober 1907.</b><br/> +</p> + +<p>Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth +verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert, +Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred +Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein, +Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Elb. Leichtfertige Menschen haben +behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern und +unmündigen Personen abgegeben worden sei. Man sieht auch +hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich kämpft. Für +mich aber ist die Abteilung Fischer meines +Münchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung Pauline +Münchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr habe ich mich in +Folgendem nun zuzuwenden.</p> + +<p>Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm, welches +ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen, nämlich:</p> + +<p><b>„May ist vorbestraft. Er hat das zu verheimlichen. Wir +haben ihn in der Hand. Zwei Zeilen genügen, so ist er still. +Wenn er uns verklagt, so machen wir ihn durch +Veröffentlichung seiner Vorstrafen in allen Zeitungen durch +ganz Deutschland kaput. Was May mit Münchmeyer ausgemacht +hat, ist gleichgültig. Hauptsache ist, wer den Eid bekommt. +Und daß May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu +sorgen wissen.”</b></p> + +<p>Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim +geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den +Akten festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun +neunjährigen Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt +worden. Von dem, was Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Gerlach im Namen +seiner Klientin Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise +behauptet oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen. +Mich aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen +hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig ist. +Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte +hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit neun +Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür +bestrafen lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz grad +jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von ihm zu dulden, +was sich kein Anderer jemals erlaubt. Von den Richtern wiederholt +zurechtgewiesen und von andern Anwälten zur Rede gestellt, +bleibt er dieser seiner Spezialität doch treu. Zur +Ausführung des Münchmeyerschen Programms war es +zunächst nötig, zu meiner Strafliste zu gelangen. Zu +diesem Zweck wurde eine Beleidigungsklage fingiert, die man +sofort zurücknahm, als der Zweck erreicht war. Von da an +tauchten in den Zeitungen mehr oder weniger verblümte +Notizen über meine Vergangenheit auf. „Ich weiß noch +mehr!” schrieb der Eine; „Sie wissen wohl, was ich meine, Herr +May?” fragte der Andere. Das „Kaputmachen” begann. Aber der +<tt>Spiritus rector</tt>, der eigentliche Täter, blieb stets +schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte stets +durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit über seine +Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein sehr +umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er steht mit allen +meinen literarischen Gegnern in inniger Beziehung, und wo in +einem Blatt von mir die Rede ist, da pflegt ein Brief von ihm +oder von einem seiner Vertrauten sich einzustellen. Und man +glaubt ihm fast überall. Man glaubt ihm, wie Cardauns +seinerzeit dem Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß +ich die Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie +im Druck erschienen sind.</p> + +<p>Dieser Herr <tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns ist von dem sehr +dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der +zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze +bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders gewollt. Er +steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er eigentlich nicht +gehört. Er hat auch das gewollt. Sein niederschmetternder +Stil, seine infallible Ausdrucksweise, seine „abgrundtiefen” +oder „evidenten” Verdoppelungsworte haben Schule gemacht, +besonders bei denen, welche mir Stricke drehen, um mich „aus der +deutschen Kunst hinauszupeitschen.” Aber alles, was er in +Vorträgen und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und +zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule, +an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus lauter +vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, dessen Schnur +niemand mehr halten will, es sei denn Herr Cardauns selbst. Es +ist gewiß sehr viel blinder Glaube dazu nötig, gleich +ihm zu denken, daß meine „Unsittlichkeiten” auch noch in +anderer Weise bewiesen werden können, als nur durch +Vorlegung meiner Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es +nicht; auch Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht +bewiesen werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen +gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen +Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber bis jetzt +habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein einziges +Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser Herr besitzt einen +älteren Münchmeyerschen Druck und eine spätere +Fischersche Ausgabe und hält den ersteren für +gleichlautend mit meinem Originale. Es ist für mich aber +wirklich unmöglich, daß einem „Haupt- oder +Chefredakteur” solche Irrungen passieren können. Ich gebe +ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in einem +berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht und was +für Schwindel da getrieben wird, aber das ist keine +Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn, denn wenn er +das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht gestatten, +Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes zu ziehen, +die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute ziehen darf. Die +ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten Schundromane hatte Fischer +nur den überlauten Trommel- und Paukenschlägen des +Herrn Cardauns zu verdanken. Selbst der unfähigste Politikus +weiß, daß man solche Dinge durch Schweigen +tötet, nicht aber durch Gongs und Tamtams. Mir aber, der ich +durch diese Tamtams, diese Vorträge und Zeitungsartikel +erschlagen werden sollte, wurde es durch sie unmöglich +gemacht, den Schund so, wie ich wollte, gänzlich aus der +Welt zu schaffen. Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns +meine Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich +um die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben, +welches man ihm nie vergessen wird. Er ist während der +ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion gewesen, ob +gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf die Wirkung +gleich.</p> + +<p>Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende +Champion für die Münchmeyersache ist der aus der +christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Herr Rudolf +Lebius in Charlottenburg. Ich gebe über ihn einen Auszug +meines Schriftsatzes an die vierte Strafkammer des +Königlichen Landgerichtes <tt>III</tt> in Berlin:</p> + +<p>„Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde am Gardasee +von einer heimatlichen Postsendung erreicht, bei der sich auch +eine Zuschrift eines gewissen Lebius befand, der sich in ganz +überschwenglicher Weise als einen großen Kenner und +Bewunderer meiner Werke bezeichnete und die Bitte aussprach, mich +einmal besuchen zu dürfen. Diese Ueberschwänglichkeit +erregte sofort meinen Verdacht. „Der will Geld, weiter nichts,” +sagte ich mir. Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei +und ihn also nicht empfangen könne. Hierauf schrieb er mir +am 7. April 1904:</p> + +<p class="letter"> +„Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="letter"> +Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich Ihnen zu +nähern, wovon die inliegende Karte ein Beweis ist. +Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung herausgegeben, die +großen Anklang findet. Können Sie mir vielleicht etwas +für mein Blatt schreiben? Vielleicht etwas Biographisches, +die Art, nach der Sie arbeiten, oder über derartige +Einzelheiten, für die sich die deutsche May-Gemeinde +interessiert. Ich würde Sie auch gern interviewen.</p> + +<p class="letter"> +<b>Mit vorzüglicher Verehrung</b></p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius, <br/> +Verleger und Herausgeber.” +</p> + +<p>Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig +aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er +unterschrieb sich „mit vorzüglicher Verehrung.” Ich sagte +mir wieder: „der will nur Geld.” Die Behauptung, daß +seine neue Zeitung „großen Anklang finde”, entsprach der +Wahrheit nicht. Ich sollte damit geködert werden. Man darf +den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal wenn sie mit einer +wenn auch noch so kleinen Zeitung bewaffnet sind, sonst +rächen sie sich. Ich schrieb ihm also, daß er kommen +dürfe, und er antwortete am 28. April:</p> + +<p class="letter"> +„Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben. +Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern +Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben, komme ich am +Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen (Abfahrt 3,31).<br/> + <b>Mit großer Hochachtung und Verehrung</b></p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen. Ich duldete das +nicht. Er wurde von meiner Frau, die ihn empfing, nur unter den +Bedingung zu mir gelassen, daß absolut nichts +veröffentlicht werde. Er gab erst ihr und dann auch mir sein +Wort darauf. Er blieb zum Kaffee, und er blieb bis nach dem +Abendessen. Er sprach sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich +war absichtlich schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt +nötig war. Ich traute ihm nicht und hatte, um später +einen Schutzzeugen zu haben, zugleich mit ihm den +Militärschriftsteller und Redakteur Max Dittrich eingeladen, +der an meiner Stelle die Unterhaltung leitete.</p> + +<p>Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte. Er wurde +um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich blieb. Er gab +sich alle Mühe, mich und meine Frau davon zu +überzeugen, daß er „ein ganzer Kerl” sei. So lautete +sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er sprach +unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten, +seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit, +seinen reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen +als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger, +Herdenführer und Volkstribun.</p> + +<p>Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren, geschah in einer +Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen Menschen, der +so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt ist, daß +er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber +lachen. Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden +seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mußte von seiner +Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis! Denn er +brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er auf mich +gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum offenbarte er +uns in seiner Geldangst seine verborgensten Geschäfts- und +Lebensgrundsätze. Er glaubte infolge des vielen Weines, uns +dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch aber um so sicherer +ab. Da ich mich hier kurz zu fassen habe, gebe ich von diesen +seinen Grundsätzen nur die drei wichtigsten wieder. +Nämlich:</p> + +<p class="letter"> +1. +Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich kein +Geld. Darum dürfen wir uns auch keine eigene Meinung +gestatten. Wir wollen leben. Darum verkaufen wir uns. <b>Wer am +meisten zahlt, der hat uns!</b> +</p> + +<p class="letter"> +2. +Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter und in +seinem Leben. <b>Auch jeder Arbeitgeber, jeder Beamte, jeder +Polizist, jeder Richter oder Staatsanwalt hat solches Werg an +seinem Rocken.</b> Das muß man klug und heimlich zu +erfahren suchen. Keine Mühe darf dabei verdrießen. Und +ist es erforscht, so hat man gewonnenes Spiel. Man bringt in +seinem Blatte eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, +daß man alles weiß, doch so, daß er nicht +verklagen kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann mit ihm +machen, was man will. Er gibt klein bei. In dieser Weise habe ich +meinen Lesern schon außerordentlich viel genützt! +</p> + +<p class="letter"> +3. +Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in Schafe und +Böcke, in Herren und Knechte, in Gebietende und Gehorchende. +Wer aufhören will, Herdenmensch zu sein, <b>der hat das +Herdengewissen bei Seite zu legen.</b> Wenn er das tut, dann +laufen alle, die dieses Gewissen noch mit sich schleppen, hinter +ihm her. Es ist ganz gleich, zu welcher Herde er gehören +will. Er kann von einer zur anderen übertreten, kann +wechseln. Das schadet ihm nichts. Nur hat er dafür zu +sorgen, daß es mit der nötigen Wärme und +Ueberzeugung geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die +Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen nach! +</p> + +<p>Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten, +brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau war still +vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den Ekel zu verwinden! +Lebius bekam infolge dessen weder Geld noch sonst etwas von mir. +Da sah er ein, daß diese beispiellose Selbstentlarvung +nicht nur ganz umsonst gewesen sei, sondern daß er sich +durch sie in unsere Hände geliefert hatte. Wir drei waren +nun die gefährlichsten Menschen, die es für ihn gab. +<b>Er durfte uns nie vor Gericht zu Worte kommen lassen,</b> +sondern mußte alles tun, <b>uns als unglaubhafte, +eidesunwürdige Personen hinzustellen.</b> Ich lege +großen Wert darauf, dies ganz besonders zu betonen, +denn</p> + +<p class="letter"> +<b>es ist der einzig richtige Schlüssel zu +seinem ganzen späteren Verhalten, welches man ohne diesen +Schlüssel wohl kaum begreifen könnte, weil der +Haß dieses Mannes gegen uns drei fast unmenschlich +erscheint.</b> +</p> + +<p>Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich entfernte, +beklagte ich mich absichtlich über die vielen Zuschriften, +in denen man mich, den gar nicht reichen Mann, mit Bitten um Geld +überschüttet, und tat dies in einer Weise, die jeden +gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten mußte, mir mit +ähnlichen Wünschen zu kommen. Schon gleich am +nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:</p> + +<p class="right"> +„Dresden-A., den 3. 5. 04. +</p> + +<p class="letter"> +Sehr geehrter Herr Doktor!<br/> + Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen Empfang und +die erwiesene Gastfreundschaft danke, bitte ich Sie, wenn Sie die +Kunstausstellung besuchen oder sonst einmal nach Dresden kommen, +bei uns zu Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.<br/> + In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen +widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann ich nicht +annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig für die Zeile, was wohl +derselbe Preis sein wird, den Sie von anderen Blättern +erhalten haben.<br/> + Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute noch +einmal überdacht. Es will mir scheinen, als ob trotz des +kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz noch erheblich +gesteigert werden könnte. Meine Buchhändler- und +Verlagserfahrungen haben mich gelehrt, daß der Wert einer +richtig geleiteten Propaganda und direkten Reklame gar nicht +überschätzt werden kann.<br/> + Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten Frau Gemahlin +und Ihnen in <b>Verehrung</b> und <b>Dankbarkeit</b> +ergebenst +</p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich „Doktor” +titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches +bedeutet hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat +dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als Waffe gegen +mich dienen!</p> + +<p>Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre +über mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig, das +Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort nach Radebeul +geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich dafür zu +verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das Werk in Verlag +gebe. Er wurde ganz selbstverständlich mit dieser Bitte +abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max Dittrich, daß ich +niemals wieder mit ihm verkehren würde, wenn es ihm +einfalle, diesem Manne die Broschüre zu überlassen.</p> + +<p>Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens +zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine Photographie, +die er mir entwendet hatte. Er durfte nie wiederkommen. Trotzdem +hat er wiederholt behauptet, in meinem Hause vielfach verkehrt zu +sein und mich sehr genau studiert zu haben.</p> + +<p>Am folgenden Tage schrieb er mir:</p> + +<p class="right"> +„Dresden-A., 12. 7. 04.<br/> +Fürstenstraße 34. +</p> + +<p class="letter"> +Sehr geehrter Herr Doktor!<br/> + <b>Ich möchte sehr gern die Dittrichsche Broschüre +verlegen und würde mir auch die größte Mühe +geben, sie zu vertreiben.</b> Durch den Rücktritt von der +„Sachsenstimme” -- offiziell scheide ich erst am 1. Oktober d. +J. aus -- bin ich aber etwas kapitalschwach geworden.<br/> + <b>Würden Sie mir vielleicht ein auf drei Jahre +laufendes, 5prozentiges Darlehen</b> gewähren? Ich zahle +Ihnen die Schuld vielleicht schon in einem Jahre zurück.<br/> + <b>Als Dank dafür würde ich die Broschüre so +lancieren, daß alle Welt von dem Buche spricht. Ich habe ja +auf diesem Gebiete besonders große Erfahrung.</b><br/> + Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf ganz solider Basis. +Nun heißt es arbeiten und zeigen, <b>daß man ein +ganzer Kerl ist</b> usw. usw. Beste Empfehlung an Ihre Frau +Gemahlin</p> + +<p class="right"> +Ihr Ihnen ergebener <br/> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, daß jemand, +der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht weitergehen +könne, zumal ich Herrn Lebius <b>mit der Broschüre +total abgewiesen hatte.</b> Aber am 8. August schrieb er trotzdem +wieder:</p> + +<p class="letter"> +„Die „Sachsenstimme” ist am 4. d. zu vorteilhaften +Bedingungen an mich allein übergegangen. Ich kann jetzt +schalten und walten, wie ich will. Um mich von dem Drucker etwas +unabhängig zu machen, <b>würde ich gern einige tausend +Mark (3--6) auf ein halbes Jahr als Darlehen aufnehmen.</b> Ein +Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jüdischen +Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison bewiesen +hat, in weitgehendem Maße unterstützten. Das +Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. <b>Würden +Sie mir das Darlehen gewähren? Zu Gegenleistungen bin ich +gern bereit.</b> Die große Zahl von akademischen +Mitarbeitern erhebt mein Blatt über die Mehrzahl der +sächsischen Zeitungen. Wir können außerdem die +Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300 oder mehr deutsche und +österreichische Zeitungen versenden und den betreffenden +Artikel blau anstreichen. So etwas wirkt unfehlbar. In Dresden +lasse ich mein Blatt allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit +vorzüglicher Hochachtung</p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts +besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, +daß er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß +er überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar +Honorar schuldig bleibe. Daß seine Zeitung eine solide +Basis habe, war unwahr, ebenso die „große Zahl der +akademischen Mitarbeiter” und Anderes. Dergleichen absichtliche +Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt. +Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam: „Sehr +geehrter Herr . . . . Mit vorzüglicher Verehrung!” „Mit +großer Hochachtung und Verehrung!” „Sehr geehrter Herr +Doktor . . . . In Verehrung und Dankbarkeit.” Als er sah, +daß diese Höflichkeiten nicht zogen, schrieb er nicht +mehr an mich, sondern an Dittrich. So am 15. August 1904:</p> + +<p class="letter"> +„Werter Herr Dittrich!<br/> + Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent. <b>Mehr +als 10 000 Mk. brauche ich nicht.</b> Ich würde aber auch +mit weniger vorlieb nehmen. Das Honorar sende ich am 20. d. wie +verabredet.<br/> + Können Sie nicht <tt>Dr.</tt> May +<b>b e a r b e i t e n, </b> daß er mir Geld +vorschießt?<br/> + Freundlichen Gruß</p> + +<p class="right"> +R. Lebius.” +</p> + +<p>Dann am 27. August:</p> + +<p class="letter"> +„Werter Herr Dittrich!<br/> + Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn <tt>Dr.</tt> Klenke, +einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei dieser Gelegenheit gibt +sie Ihnen Ihr Honorar. Sie haben meine schriftliche Zusage, +daß ich Ihnen 1 Prozent von dem Gelde gebe, welches Sie mir +von H. V. oder <tt>Dr.</tt> M. (May) vermitteln. Sie erhalten das +Geld sofort . . . .<br/> + Freundlichen Gruß +</p> + +<p class="right"> +Lebius.” +</p> + +<p>Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar von 37 Mark +45 Pfennigen schuldig, welches er trotz der Kleinheit dieses +Betrages nicht bezahlen konnte. Es wurde ihm daraufhin ein +Spiegel gerichtlich abgepfändet. Als er von Dittrich, +anstatt der 10 000 Mark von mir, eine Mahnung um diese 37 Mark 45 +Pfennig bekam, schrieb er ihm am 3. September:</p> + +<p class="letter"> +„Geehrter Herr Dittrich!<br/> + Ich habe Herrn <tt>Dr.</tt> <tt>med.</tt> Klenke ersucht, +Ihnen 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten mir +gegenüber finde ich höchst sonderbar, um nicht zu sagen +beleidigend.<br/> + Achtungsvoll +</p> + +<p class="right"> +R. Lebius.” +</p> + +<p>Diesem <tt>Dr.</tt> Klenke fiel es aber auch nicht ein, die +Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in logischer +Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer Postkarte folgende +Drohung bei mir an:</p> + +<p class="letter"> +„Werter Herr!<br/> + Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der „Sachsenstimme”, +erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel gegen Sie +schreibt. Ich habe es im Lokal gerade gehört. Es warnt Sie +ein Freund vor dem Manne. +</p> + +<p class="right"> +B.” +</p> + +<p>Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte war ich mir +natürlich sofort im Klaren. Auch das Gutachten der +<b>vereideten Sachverständigen</b> lautet dahin, +<b>daß sie unbedingt von Lebius selbst geschrieben ist.</b> +Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf diese +Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde. Gab ich sie nicht, +so waren mir nicht nur der jetzt angedrohte, sondern noch weitere +Racheartikel sicher und auch noch anderes dazu, was mich in +Besorgnis setzen mußte. Aber ich ließ auch jetzt +nichts von mir hören und sah mit gutem Gewissen dem +unvermeidlichen Artikel entgegen, der am 11. September 1904 in +Nummer 33 des Lebiusschen Blattes, der „Sachsenstimme” erschien +und die dreifache Ueberschrift hatte:<br/> +<br/> +</p> + +<p class="noindent"> +<b>„Mehr Licht über Karl May</b> +</p> + +<p class="center"> +<b>160 000 Mark Schriftstellereinkommen</b> +</p> + +<p class="right"> +<b>Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller.” </b> +</p> + +<p>Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort gegeben, +nichts zu veröffentlichen. Er war sogar nur unter diesem +Versprechen bei uns hereingelassen worden, und nun +veröffentlichte er doch, und zwar in welcher Weise und aus +welchen Gründen! Er stellte alles auf den Kopf; er drehte +alles um! Er legte uns alles, was ihm beliebte, in den Mund, und +was wir wirklich gesagt hatten, das verschwieg er, um sich nicht +zu blamieren. Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische +Unsauberkeiten, Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das +war nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach. +Dieser Artikel in Nr. 33 der „Sachsenstimme” war so gehalten, +daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich das Geld nun +endlich noch gab. Und schon in Nr. 34 kam ein sehr deutlicher +Wink, der mir sagte, was geschehen werde, falls ich mich nicht +zum Zahlen bewegen lasse. Dieser Wink bestand in einer +Münchmeyerschen Annonce, die ganze Bände zu mir sprach. +Der Besitzer der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir +gesagt: „Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen +noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem „Verlorenen Sohn” +fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren! Der wird so +happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist, als +Schriftsteller weiter zu existieren!” Und dieser „Verlorene +Sohn” wurde jetzt in Nr. 34 der „Sachsenstimme” annonciert. +Das war genau so, als ob mir mit Riesenbuchstaben geschrieben +worden wäre: „Nun aber endlich Geld her, sonst geht es in +diesem Tone weiter!” Der gefährlichste Erpresser ist der, +welcher es in dieser raffinierten Weise anfängt, die noch +deutlicher ist, als das gesprochene Wort, aber von keinem +Staatsanwalt verfolgt werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts. +Da kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein drittes und +in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde mir die Verbindung des +Herrn Lebius mit der Firma Münchmeyer schon deutlicher +gezeigt, denn es wurde da gesagt, der Inhaber dieser Firma habe +einen ganzen Haufen alter Briefe von mir in der Hand und +könne also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn +er nur wolle. In Wahrheit aber besaß er nicht einen +einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau, +daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen +Programms, mich durch meine Vorstrafen „in den Zeitungen vor +ganz Deutschland kaput zu machen”, übernommen hatte. Ich +war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000 Mark ihn +sofort zum Schweigen bringen würde, hätte mich aber vor +mir selbst geschämt, ihm auch nur einen einzigen Pfennig zu +geben.</p> + +<p>Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die Nr. 48 brachte +die ohne alle Veranlassung frei aus der Luft niederfallende +Verkündigung: „Die vier Jahre, die Herr Karl May in +Waldheim verbüßte, waren nach unserer Information die +Folge eines Einbruchdiebstahls in einem Uhrenladen.” Ich habe +aber niemals einen Einbruch verübt. Man sieht, daß es +nicht auf die Wahrheit ankam, sondern nur auf das +„Kaputmachen”. Diese Nr. 48 erschien am +Weihnachtsheiligenabend. Da hingen an den Fenstern der Dresdener +Buchhandlungen Plakate aus, auf denen die „Sachsenstimme” mit +den großen roten Buchstaben <b>„Die Vorstrafen Karl +Mays”</b> angekündigt wurde. Einen schreienderen Beweis, +daß es sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um +die Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es +wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des grausamen +Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten des Herrn Lebius +einzeln aufzuzählen. Ich will nur in Summa sagen, daß +er in dieser Weise fortfuhr, bis er nach einiger Zeit aus Dresden +verschwinden mußte. Ich habe die Unwahrheiten, die er in +seinen Dresdener Artikeln über mich verbreitete, +zusammengestellt, um sie gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer +trotz der Kürze der Zeit nicht weniger als +hundertzweiundvierzig. Mehr hat bisher wohl noch kein Mensch +geleistet! Ich betone aber ausdrücklich, daß diese +Aufstellung nicht etwa alles, sondern nur eine Auswahl +enthält. Ich könnte diese Ziffer trotz ihrer Höhe +gut verdoppeln. Ich habe lange dazu geschwiegen, bis es nicht +mehr zum Aushalten war. Da mußte ich mich endlich wehren. +Ich erstattete bei der Staatsanwaltschaft Anzeige wegen +Erpressung. Ich legte seine Briefe bei. Auch die drohende Karte +vom 7. September 1904. Die Sachverständigen erklärten, +daß Lebius sie unbedingt geschrieben habe. Die +erwähnte Behörde aber war der Ansicht, daß dies +nicht zureiche, eine Untersuchung zu eröffnen. Und Lebius +gab sich bei seinen Auskünften die größte +Mühe, mich als einen Menschen hinzustellen, dem man nicht +glauben dürfe. Das Meisterstück hat er dabei abgelegt, +indem er der Königlichen Staatsanwaltschaft in Dresden +berichtete, daß der Wirt des Hotels auf dem Berge Sinai in +Dresden gewesen sei und sich sehr schlecht über mich +ausgesprochen habe. Nun weiß aber Jedermann, daß es +auf dem Berg Sinai bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben +hat! Ich zeige damit wohl zur Genüge, was man von der +Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann. Ich erhob +zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog ich während der +Verhandlung aus reinem Ekel vor dem Schmutz, in dem ich da waten +sollte, zurück. Die andere brachte ihm in der ersten Instanz +eine Geldstrafe von 30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er +freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und einen +Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne orientiert zu +sein.</p> + +<p>Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen wie +unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe. Gewiß +wenig genug! Daß ich Berichterstattern Auskunft gab, wenn +sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz von selbst. Es kann +mir niemand zumuten, diesen Herren aus Angst vor Herrn Lebius die +Unwahrheit zu sagen. Dennoch behauptet er noch heute, daß +nicht ich von ihm, sondern er von mir verfolgt und angegriffen +werde.</p> + +<p>Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer ganz +bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten seine +Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwähne da nur den +Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch den er +ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg. Ich schwieg +selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen „Wahrheit” in +Berlin einen geradezu empörenden Angriff gegen mich brachte, +in dem er mich als „atavistischen Verbrecher” brandmarkte, der +wegen „fortgesetzter Einbruchdiebstähle” fast ein +Jahrzehnt im Gefängnis und Zuchthaus gesessen habe! Er +behauptete da, daß ich eine schwere, chronische Krankheit +durchgemacht habe, die „offenbar kulturhemmend” gewirkt habe. +Hiermit hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk in +Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich gezwungen, ihn +dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem großen +Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten hatte, +die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem Zwecke mit meiner +Frau nach Berlin. Wir entdeckten seine Wohnung. Wir hörten, +daß er ein neues Blatt herausgab, der „Bund” genannt. Wir +telefonierten ihm. Er bestellte uns nach Caf<tt>é</tt> +Bauer. Wir folgten dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau +und deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht. Er +leugnete alles. Ich sagte ihm, daß ich sein neues Blatt +sehen möchte. Das war ganz ehrlich und gut gemeint, ohne +alle böse Absicht. Er aber begehrte sofort zornig auf und +fragte drohend: „Haben Sie etwas vor? Dann gehe ich auf der +Stelle von neuem gegen Sie los! Hier in Berlin gibt es über +zwanzig Blätter wie die „Dresdener Rundschau”. Die stehen +mir alle zu Gebote, wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das +gar nicht lang!”</p> + +<p>Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder in +den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu seiner Frau in +ruhiger, freundlicher Weise, daß es die schönste +Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu wirken und +die Härten des Lebens zu mildern; dann entfernten wir +uns.</p> + +<p>Das war am 2. oder 3. September. <b>Einen Monat +später,</b> am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin; +ich war verreist:</p> + +<p class="letter"> +Geehrter Herr!<br/> + Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei Ihnen +einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen über +einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden, machen könnten. +Genannter Herr, ehemaliger Sozialdemokrat, hat gegen mich als den +seinerzeit verantwortlich zeichnenden Redakteur des +„Vorwärts” die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es +wird vor Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als +„Ehrenmann” zu kennzeichnen. Auf den Rat eines Dresdener +Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an Sie, ob Sie mir +über diesen Herrn vielleicht einige Auskunft geben +könnten. Sollte dies der Fall sein, so sehe ich Ihrer +Freundlichkeit sehr verbunden entgegen.<br/> + Mit größter Hochachtung +</p> + +<p class="right"> +Carl Wermuth, <br/> +Redakteur des „Vorwärts”. +</p> + +<p>Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf dessen +Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht eingehen +konnte. Am 5. April 1908, also</p> + +<p class="center"> +<b>ein volles halbes Jahr später,</b> +</p> + +<p class="noindent"> +erhielt ich von der Redaktion des „Vorwärts” eine weitere +Zuschrift: +</p> + +<p class="letter"> +<b>„Zu unserem Bedauern haben Sie es bisher unterlassen, +sich</b> über die gegen Sie gerichteten Angriffe des Lebius +<b>zu äußern</b> resp. <b>uns die notwendigen +Beweismittel</b> der ehrenabschneiderischen Tätigkeit des +Lebius in Bezug auf Ihre Person <b>zur Verfügung zu +stellen.</b> Wie ich von meinem Kollegen Wermuth erfuhr, hat Ihre +Frau mitgeteilt, daß Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden +und <b>nicht in der Lage seien, uns mit dem gewünschten +Material gegen Lebius zu versehen.</b> Ich hoffe, daß Sie +inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind und nunmehr . . +. .”</p> + +<p>Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen, +<b>daß nicht ich Herrn Lebius verfolge, sondern er +mich.</b> Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am +Sedanstage, an ihn gemacht habe, um dem „Vorwärts” +beizustehen. Hier beweise ich, daß ich damals von jener +Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern +daß der „Vorwärts” es mir erst einen Monat +später mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten +<b>noch gar keine Antwort bekommen hat!</b> Ich hatte also Herrn +Lebius volle sechs Monate geschont, wo es mir doch durch die +Sozialdemokratie so bequem und leicht gemacht worden war, mich an +ihm zu rächen. <b>Daß ich ihn nicht verfolge, sondern +von ihm fort und fort zur Notwehr gezwungen werde,</b> ist +übrigens auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis +heut umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit dieser +Zeugenschaft für den „Vorwärts”-Redakteur hatte es +damals folgende Bewandtnis:</p> + +<p>Lebius hatte den „Vorwärts” wegen Beleidigung verklagt, +und der „Vorwärts” hatte mich, natürlich ohne erst +viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das Gewissen des Lebius +sagte ihm, daß er von diesem Zeugen wohl nicht viel +freundliches zu erwarten habe. Ja, es kam ihm sogar der Gedanke, +daß ich von dieser Zeugenschaft schon im +Caf<tt>é</tt> Bauer gewußt habe. Das erzürnte +ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach Radebeul, um mir +zu drohen. Meine Frau wünschte diese Zusammenkunft in meinem +Hause; aber darauf ging Frau Lebius nicht ein. Die beiden Frauen +trafen sich im Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau +Lebius uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und wie ich +als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte ich vor Gericht +erklären, daß er jene drohende Postkarte vom 7. +September in Dresden nicht geschrieben habe. Tue ich das nicht, +so müsse er den alten Kampf gegen mich von Neuem beginnen. +Meine Frau lehnte das ganz entschieden ab, denn wir waren jetzt +mehr als je überzeugt, daß er der Verfasser sei. Seine +Frau kehrte also unverrichteter Sache nach Berlin +zurück.</p> + +<p>Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß +er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine +Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge +aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte. Da aber +diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen +war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des Verfassers +nach sich zog, die Lebius von sich abwenden wollte, so sah er +sich nach einem Strohmanne um, der ihn und Karl May noch nicht +kannte und unerfahren, vertrauensselig und bedürftig genug +war, sich für einige Hundert Mark <b>völlig +ungeahnt</b> in die ganz sicher zu erwartende +<b>Gefängnisstrafe stürzen zu lassen.</b> Er fand ihn +in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus Basel, zog ihn in sein +Netz und umspann ihn derart mit Selbstvergötterungs- und +Lügenfäden, daß der junge, völlig ehrliche +Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in den Dienst eines +so bedeutenden, geistig, sozial und auch juristisch +hervorragenden Mannes stellen zu dürfen.</p> + +<p>Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei +außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er +verschwieg anfänglich, daß es sich <b>nur</b> um eine +Broschüre gegen <b>mich</b> handle. Er machte dem jungen +Manne weis, daß er ein w i s s e n s ch a f t l i c h e s +Werk über berühmte resp. berüchtigte Männer +schreiben solle. Er nannte ihm die Namen derselben; darunter +befand sich auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk +machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten +diese so, daß nach und nach alle diese „Berühmten und +Berüchtigten” verschwanden und nur Karl May allein +übrig blieb. Aus dem „wissenschaftlichen” Werke aber +sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten +Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag immer deutlicher. +Er begann zu ahnen, daß er mit aller Liebenswürdigkeit +in das Verderben geführt werden solle. Als er das Herrn +Lebius zu verstehen gab, hielt dieser es für geraten, ihm +den ganzen Zweck der Broschüre einzugestehen. Er gab +folgendes zu:</p> + +<p><b>Lebius hat den Redakteur des „Vorwärts” wegen +Beleidigung verklagt.</b></p> + +<p><b>Der „Vorwärts” hat Karl May als Zeugen gegen Lebius +angegeben.</b></p> + +<p><b>Darum ist es für Lebius notwendig, Karl May kaput zu +machen.</b></p> + +<p><b>Um das zu erreichen, gibt er die hier in Arbeit liegende +Broschüre heraus.</b></p> + +<p><b>Der Termin, in dem Karl May als Zeuge verhört wird, +findet anfangs April statt.</b></p> + +<p><b>Darum muß die Broschüre ganz unbedingt bis zum +1. April fertig zum Versenden sein.</b></p> + +<p><b>Wenn die Broschüre erst später fertig wird, hat +sie keinen Zweck; dann braucht man sie überhaupt gar nicht +erst zu schreiben.</b></p> + +<p><b>Sie wird an die Zeitungen versandt, die darüber +berichten. Das soll auf die Richter wirken.</b></p> + +<p><b>Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. Sobald dies +geschieht, ist May als Zeuge kaput.</b></p> + +<p>Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden seine +Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren. +Als er diese äußerste und seiner Besorgnis, +gerichtlich bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm +folgendes vor:</p> + +<p><b>Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets mit +einem Fuße im Gefängnisse.</b></p> + +<p><b>Bestraft zu sein ist für uns eine gute Reklame. Auch +ich bin schon oft vorbestraft.</b></p> + +<p><b>Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht zu +fürchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie dürfen +schwören. May aber darf nicht schwören.</b></p> + +<p><b>May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm verboten, in +einer Stadt zu wohnen. Darum wohnt er in Radebeul.</b></p> + +<p><b>I ch b i n e i n g r o ß e s, +f o r e n s i s ch e s T a l e n t. W e n n i ch +a n f a n g e z u s p r e ch e n, s i n d d i e +R i ch t e r a l l e m e i n!</b></p> + +<p><b>W e n n m a n i n e i n e m P r o z e s s e +st e ck t u n d m a n s ch r e i b t e i n e +s o l ch e B r o s ch ü r e, d a s w i r k t +u n g e h e u e r b e i d e n R i ch t e r n!</b></p> + +<p><b>Die Frau May hat mich mit Tränen in den Augen um Gnade +für ihren Mann gebeten.</b></p> + +<p><b>May muß durch die Broschüre totgemacht werden. +Alles übrige ist Beiwerk, u m d e n w a h r e n +Z w e ck z u v e r s ch l e i e r n!</b></p> + +<p>Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren +Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von +dieser Sache zurückzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm +zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese +Broschüre zu mißbrauchen. Er richtete ganz dasselbe +Verbot auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher aus +diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber er kannte +Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht. Die Broschüre +erschien, und zwar genau am ersten April. Ihr Titel war:</p> + +<p class="center"> +<b> K a r l M a y, <br/> + ein Verderber der deutschen Jugend</b><br/> +von<br/> +<b>F. W. Kahl-Basel.</b> +</p> + +<p>Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß die +Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter seinem +Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte. Der von Lebius +gefürchtete Termin, an dem ich als Zeuge vernommen werden +sollte, hat nicht stattgefunden. Ob er den Herren Richtern die +Broschüre dennoch vorgelegt hat oder nicht, ist mir +unbekannt. Aber an die Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, +und zwar mit Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren +verleumderischer Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur +folgende Zeilen liest, die er an die „Neue Züricher +Zeitung” schickte:</p> + +<p>„Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß er +durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung untergrub und +mich in den Bankrott trieb. Sobald ich in einer andern Stadt +festen Fuß gefaßt hatte, erschien er wieder auf der +Bildfläche, um dasselbe Manöver zu wiederholen. Dabei +liebt er es, bevor er zu einem neuen Schlage gegen mich ausholt, +mich jeweils in meiner Wohnung aufzusuchen und mit tränenden +Augen um Frieden zu bitten.”</p> + +<p>Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier nicht zu +sprechen. Ganz selbstverständlich waren meine Vorstrafen +aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu. Das schickte er in +alle Welt hinaus, um mich nach Münchmeyerschem Rezept +„kaput” zu machen. Ich erlangte eine einstweilige +Verfügung gegen sie. Sie durfte nicht weitergedruckt und +weiterverarbeitet werden. Und ich erhob Privatanklage wegen +Beleidigung gegen ihn. Diese Privatklage konnte nicht zur +Verhandlung kommen, weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, +und deren waren weit über hundert, verloren hatte. Sie +fanden sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder. +Ich war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche +der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle seine +Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück, +drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben, und +versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das tat er durch +seine Unterschrift. Es war mir unmöglich, einem solchen, vor +Gericht gegebenen Versprechen nicht zu glauben. Und doch war es +eine Untreue und Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er +mir dieses Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders +geben, als <b>in der Absicht, es nicht zu halten.</b> Er hatte +sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung +gesetzt. Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen, +eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen +Mann; die trachtete er, für sich auszunutzen. Er suchte sie +in Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und zufrieden +von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr gab, obgleich ich ihr +nichts zu geben brauchte, weil sie die Alleinschuldige war. Auch +hatte ich sie in jeder Weise reichlich ausgestattet. Da kam +dieser Mann zu ihr und entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, +um daraus mit Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und +Verdrehungen einen Strick für mich zu fertigen. Er versprach +ihr ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts, +gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und +schrieb für seinen „Bund” vom 28. März 1909 einen +Aufsatz unter der Ueberschrift „Ein spiritistisches +Schreibmedium als Hauptzeuge der „Vorwärts”-Redaktion.” +Mit diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau +gemeint.</p> + +<p>Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da über +mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und zwar mit +raffinierter Benutzung und Bearbeitung der Bitterstoffe, die im +Gemüte geschiedener Frauen vorhanden sind. Als das arme, +unglückliche Weib das las, erschrak sie. Er schwieg also +nicht! Er hatte nicht Wort gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach +Berlin, um ihn zur Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort. +Er übergab sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem +früher gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm +ihr Beistand wurde. Beide veranlaßten sie zunächst, +auf ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie sodann, +ihre Pretiosen zu versetzen, damit es „nach außen einen +besseren Eindruck mache”. Das heißt doch wohl, damit man +denken möge, daß ich es sei, der diese Frau in solche +Armut und solches Elend gestürzt habe! Das hat Lebius in +seinem Briefe an die Kammersängerin vom Scheidt, welcher den +Gegenstand der vorliegenden Privatklage bildet, wörtlich +eingestanden, und der Vorsitzende der ersten Instanz hat ihn +gelobt, indem er öffentlich sagte: „Das ist sehr edel von +Ihnen!”</p> + +<p>Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles Einkommen war +und vor dem Nichts stand, eine Rente für das ganze Leben von +monatlich 100 Mark versprochen, er, der wegen zwei oder drei Mark +vergeblich ausgepfändet worden ist! Sie hat es ihm +zunächst geglaubt; er aber hat sehr wohl gewußt, +daß dieses Versprechen nicht rechtsverbindlich war. Nichts +als Spiegelfechterei! Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben +zu können. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur 200 +Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur geliehen, denn als +er merkte, daß sie von ihm weg und wieder zu mir strebte, +drohte er ihr, sie wegen dieser 200 Mark um 300 Mark zu +verklagen.</p> + +<p>Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes +Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen, +wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge +sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und +versetzte? Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das +Rachewerkzeug des Herrn Lebius wurde, daß er sie +abrichtete, so über mich zu denken, zu sprechen und zu +schreiben, wie es ihm beliebte, und daß sie ihm und seinem +Schwager Medem in jeder Beziehung gänzlich in die Hand +gegeben war. Denn als ich infolge des obigen Artikels im „Bund” +gezwungen war, meine geschiedene Frau zu verklagen, machten +Lebius und Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß +Lebius für seine Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon +hatte und sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren +Zweck und Tragweite sie keine Ahnung besaß! Es kam vor, +daß sie unter Tränen sich sträubte, einen +derartigen Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber +doch! Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich +auf diesem Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn +sie nicht vollständig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete +sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte das arme, +verführte Weib. Ich nahm den Strafantrag und den +Beleidigungsprozeß gegen sie zurück. Und nun erfuhr +ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius aus ihrer +sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt worden war, +um wirtschaftlich vernichtet und moralisch ausgebeutet resp. +gegen mich ausgespielt zu werden. Er sagt in seinem Briefe, +welcher den Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens +bildet:</p> + +<p><b>„Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe ich allerdings im +Hinblick auf meine gerichtliche Einigung mit May verlangt, +daß Frau Emma erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, +weil das nach außen hin einen bessern Eindruck +macht.”</b></p> + +<p>Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe, weil er +mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat und weil er +gerichtlich versprochen hat, mich nun für immer in Ruhe zu +lassen, also darum, <b>„im Hinblick darauf”</b> mußte die +Frau nun ihre Kleinodien versetzen, damit man <b>mich</b> als den +Schurken bezeichne, durch den sie in solches Elend getrieben +worden sei! Wie nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in +dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und um ihre +Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem seinem Briefe: +„Ich habe auch durch meinen Syndikus Herrn Geheimrat Ueberhorst +Schritte vorbereiten lassen, <b>um wieder zu meinem Gelde zu +kommen!”</b> Gibt es hier überhaupt einen Ausdruck, durch +den man imstande wäre, die Lebiussche Denk- und +Handlungsweise erschöpfend zu charakterisieren?</p> + +<p>Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung +vollständig ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder +einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um +seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz besondere +taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene Frauen gegen ihre +Männer auszuspielen. Das eklatanteste Beispiel hiervon ist +der Fall „Max Dittrich”. Indem ich ihn hier kurz erwähne, +bitte ich um <b>ganz besondere Aufmerksamkeit,</b> weil er +für die Beurteilung des Herrn Lebius <b>von +allergrößter Wichtigkeit ist.</b></p> + +<p>Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch bei mir +machte, den Redakteur und Militärschriftsteller Max Dittrich +als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen und Vorsicht, um +gegen etwaige spätere Lügen und Schwindeleien des Herrn +Lebius durch einen vollgültigen Zeugen geschützt zu +sein. Herr Dittrich war damals vom Anfang bis zum Ende anwesend +und hatte jedes von mir gesprochene Wort gehört. Einen +solchen Zeugen zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer +peinlicher, immer gefährlicher. Er beschloß darum, +<b>ihn eidesunwürdig zu machen,</b> also ganz dasselbe, was +er auch bei mir getan hat <b>und noch heute tut.</b> Es ist das, +wie sich später zeigen wird, <b>ein persönlicher +Trick</b> von ihm, den er <b>für unfehlbar</b> hält -- +-- -- eidesunwürdig machen!</p> + +<p>Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während seines +Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder Polizist und +Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken, hat eine Schuld auf +sich, die er verheimlichen muß. Man muß das +<b>entdecken</b> und <b>in die Zeitung bringen;</b> dann wird man +Herrscher und als <b>„tüchtiger Kerl”</b> bekannt. So tat +Herr Lebius auch hier. Die erste Frau Max Dittrichs war +gestorben; von der zweiten Frau hatte er sich scheiden lassen; +jetzt war er infolge eines Schiffbruchs, bei dem er nur +gefährlich verletzt dem Tode entging, schwer nervenkrank +geworden. Das gab ein hochinteressantes Material, aus dem sich +jedenfalls etwas machen ließ! Herr Lebius ging also aus, um +nach dem „Werg am Rocken”, nach der „heimlichen” Schuld und +Sünde zu suchen. Er forschte überall, schriftlich, +mündlich, persönlich. Er stellte sich überall ein, +wo er glaubte, etwas erfahren zu können. Er scheute sich +nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er schlich sich zu +Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs Neffen und Nichte, +sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die wieder verheiratet war und +in glücklicher, stiller Ehe lebte. Er forschte sie aus, ohne +daß sie ahnten, warum und wozu. Sie antworteten +vertrauensvoll und unbefangen. Aber als er plötzlich zu +ihrem Entsetzen die Worte „Gericht” und „Eid” fallen +ließ, da fühlten sie die Krallen, in die sie geraten +waren. Sie hatten nichts Böses sagen können und baten, +sie aus dem Spiele zu lassen. Er versprach es ihnen. Besonders +entsetzt über die Aussicht, in diesen Lebiusschen Schmutz +verwickelt zu werden, war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger +Mann war ein lieber, guter, aber in Beziehung auf die „Ehre” +sehr streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in +<b>solcher</b> Angelegenheit an Lebius’ Seite, das wäre +unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie gewesen! +Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu verwickeln, und er +scheute sich nicht, es ihr hoch und heilig zu versprechen. Dann +aber ging er schleunigst hin und brachte in Nummer 12 seiner +„Sachsenstimme” einen Bericht, dem ich nur einige Punkte +entnehme, die nicht einmal die schlimmsten sind, +nämlich:</p> + +<p>„Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine Kinder, wohl +aber zwei von seiner Stieftochter, bevor diese das 16. Lebensjahr +erreichte.”</p> + +<p>„Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen +ihres Mannes zu Tode.”</p> + +<p>„Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb Dittrich +es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung +unvermeidlich wurde.”</p> + +<p>„Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden Nichte seiner +Frau unterhielt er ein mehrjähriges Verhältnis.”</p> + +<p>„Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen +Mädchen an.”</p> + +<p>„Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau +beobachten.”</p> + +<p>„Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich mit +seiner Braut zusammen und hatte auch seine Tochter bei +sich.”</p> + +<p>„Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen Nervenleidens +Halbinvalide” usw.</p> + +<p>Man kann sich den Schreck der Verwandten denken, als sie das +lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert wurden, weil Max +Dittrich ganz selbstverständlich Herrn Lebius verklagte! Die +Nichte mußte im Hause vernommen werden; sie lag krank. Die +geschiedene Frau Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter +und sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein +absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe +sei; sie werde das wohl kaum überleben. Dieser vortreffliche +Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu auch ein +menschliches Herz in der Brust und erledigte die Vernehmung in +entsprechender humaner Weise.</p> + +<p>Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen Punkte +alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl für jeden nur +einigermaßen gebildeten und nicht verrohten Menschen die +Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher Dinge +<b>gesetzlich</b> resp. <b>preßmoralisch statthaft</b> sei. +Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius, +diese Frage mit einem „Nein!” beantworten wird. Das würde +zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls genügen, ist +aber noch lange nicht alles, denn wenn man Gelegenheit findet, +die Akten Dittrich <tt>contra</tt> Lebius aufzuschlagen, so sieht +man am Schlusse derselben Herrn Lebius in noch ganz anderer Weise +beleuchtet. Er gesteht da nämlich ein, daß seine +Verleumdungen gegen Max Dittrich</p> + +<p class="center"> +<b>nicht wahr gewesen seien,</b> +</p> + +<p class="noindent"> +und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu +tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, um diesen +Herrn nun zu kennen. +</p> + +<p>Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den anderen +ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines Rowdyblattes +heraus die Menschen niederknallt, so oft es ihm beliebt, das wird +von der Strafgesetzgebung der Zukunft wohl ganz anders betrachtet +und ganz anders behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt +es, Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und +menschheitsethische Instanzen, welche den Totschlag einer +Menschen<b>seele</b> für wenigstens ebenso strafbar halten +wie die Ermordung eines Menschen<b>körpers.</b></p> + +<p>Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten +Anklagen in seiner „Sachsenstimme” gegen Max Dittrich +geschleudert, und am 18. November darauf erklärte er in der +zweiten Strafkammer des Königlichen Landgerichtes Dresden zu +Protokoll:<br/> +</p> + +<p><b>„Ich erkläre, daß ich die gegen den +Privatkläger in der „Sachsenstimme” vom 27. März 1905 +erhobenen, beleidigenden Behauptungen</b></p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b> +</p> + +<p class="noindent"> +<b>hiermit zurücknehme und mein Bedauern über die +gemachten Aeußerungen in der „Sachsenstimme” +ausdrücke und den Privatkläger deshalb</b> +</p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! um Verzeihung bitte ! ! !</b> +</p> + +<p>Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin Streit und +Prozesse mit dem „Vorwärts” begann, gab dieser den +Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen ihn an. +Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten Trick, Zeugen durch +die Presse unschädlich zu machen. Er veröffentlichte +genau dasselbe wieder, was er damals über Dittrich +veröffentlicht und dann vor dem Dresdener Landgericht</p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b> +</p> + +<p class="noindent"> +mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte. Dittrich +war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu verklagen und auf jene +Zurücknahme und Bitte um Verzeihung hinzuweisen. Was tat +Lebius? Er erklärte in seinem an das Königliche +Amtsgericht Charlottenburg gerichteten Schriftsatz vom 24. +Dezember 1909, daß er damals jene Abbitte und jenes +Eingeständnis der Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich +</p> + +<p class="center"> +<b>„aus Gründen wirtschaftlicher Natur”</b> +</p> + +<p class="noindent"> +abgelegt habe. Seine Verhältnisse seien damals so +bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen +nach Dresden habe reisen können. Er selbst also ist es, der +das folgende moralische Porträt von sich liefert: +</p> + +<p><b>Lebius verleumdet den Militärschriftsteller Dittrich +1905 in seinem Dresdener Blatte.</b></p> + +<p><b>Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener Landgericht, +daß diese Verleumdungen erlogen seien, und bittet um +Verzeihung.</b></p> + +<p><b>Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte jene von ihm +als Lügen bezeichneten Verleumdungen als Wahrheiten +wieder.</b></p> + +<p><b>Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an das +Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals das Landgericht +Dresden angelogen habe.</b></p> + +<p>Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht! +Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch Ehr- +und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als +Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als +Lüge bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf +diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage;</p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! er hatte kein Geld ! ! !</b> +</p> + +<p>Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für ihn +vollständig genügender Grund, <b>Richter und +Gerichtsämter zu belügen und sich als einen Charakter +hinzustellen, dem kein vorsichtiger Mensch mehr etwas glauben +kann!</b><br/> +</p> + +<p>Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise von +Lebius zu erzählen. Für meine heutigen Zwecke aber +genügt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir die +Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete, notiert, +nicht alle, sondern nur die augenfälligsten. Es sind jetzt +<b>über fünfhundert,</b> die ich ihm gerichtlich +beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei Wochen vier +Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich an diesen +Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt man Hinrichtung! +Und dabei legt er, wie bereits erwähnt, den +größten Nachdruck immer darauf, daß ich ihn +verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und +fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe ich +nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal beim Gericht +Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen seinen ferneren Angriffen +geschwiegen, bis er mich durch die angebliche Kahl-Broschüre +zwang, mich zu verteidigen, weil ich <b>„vor den Richtern kaput +gemacht” werden sollte.</b> Und selbst da habe ich ihm +verziehen, habe mich mit ihm verglichen, habe gegen sein +Versprechen, mich fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag +zurückgezogen, obgleich der betreffende Richter sagte, +daß Lebius <b>eine schwere Strafe</b> erleiden werde, falls +es zur Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 <tt>B.</tt> 254 +08/34, gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen, +daß Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich +künftig in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich +verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer +Schmucksachen beraubte <b>und sie fast an den Bettelstab +brachte.</b> Sie wurde von ihm zu gerichtlichen Schritten gegen +mich verleitet, die man fast wahnsinnig nennen muß. Und +dabei hatte er den Mut, in der ersten Instanz des vorliegenden +Beleidigungsprozesses zu behaupten,</p> + +<p class="letter"> +<b>„daß er ihre Interessen vertreten habe und also den +Schutz des § 193 beanspruchen dürfe!”</b> +</p> + +<p>Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen +worden als diese! Lebius hat durch die Verführung der Frau +Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen +verfolgt, <b>die Interessen dieser armen Frau aber geradezu mit +Füßen getreten.</b> Es ist unerhört, daß er +dafür auch noch den Schutz des § 193 verlangt!</p> + +<p>Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet worden, +daß er ein Mensch sei, „der über Leichen geht.” +Meine geschiedene Frau hat anstatt „Mensch” sogar ein anderes, +äußerst schlimmes Wort gebraucht, ohne daß er es +gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu belangen. Ob dieser +Vorwurf wahr ist oder ob er zu viel sagt, das könnte ich mit +vielen Beispielen belegen; ich will aber nur das eine bringen: +Nach der in den Blätterberichten völlig korrumpierten +Charlottenburger Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte +der „Boston American” in Boston, Massachusetts, folgende ihm +aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:</p> + +<p>„Autor frommer Bücher, ein Bandit. Berlin -- -- -- Herr +Charles May, der Millionär, Philanthrop, Autor frommer +Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit +Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der Verüber +vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend des +südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine +Räuberbande anführte, gebrandmarkt. <b>May brach +zusammen und wurde unter den Schutz seiner Freunde gestellt, um +zu verhindern, daß er Selbstmord begehe</b> usw.” Sich +solche monströse Unwahrheiten aussinnen, um mich „kaput zu +machen”, das ist doch wohl über Leichen gegangen. Oder +nicht? Doch hiermit genug über diesen Herrn Lebius. Alles +Andere gehört vor das Gericht, nicht aber hierher. Um meine +Leser klar sehen zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, +daß der Münchmeyersche Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> +Gerlach auch sein Rechtsanwalt ist und daß Beide einander +gegenseitig die weitgehendste Hilfe und Unterstützung +leisten. Ich habe noch zwei äußerst interessante +Münchmeyersche Champions zu erwähnen, die in Beziehung +auf geistige Bedeutung zwar weder an Gerlach noch an Lebius +kommen, aber als fromme, katholische Klosterbrüder mitten +unter protestantischen oder gar aus der Kirche ausgetretenen +Kolportageinteressenten doch einen frappierenden Eindruck +machen.</p> + +<p>Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar +Pöllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem +Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden. Der +hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als +Professor. Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im +„Stern der Jugend” gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei +Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste hin +und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren. Da +stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht +besaß, einen Professortitel zu führen. Er leistete mir +folgende schriftliche Abbitte:</p> + +<p class="letter"> +„Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten +Bezeichnungen „Professor” und „Jugendschriftsteller” auf +Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an der +Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau und Korrespondent +der Jugendzeitschrift „Stern der Jugend” bin, erkläre ich +hiermit der Wahrheit gemäß, daß ich die in +genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25) enthaltene Notiz über +Krankheitserscheinungen des Schriftstellers Karl May bedauere und +die von ihm gerichtlich inkriminierten Worte in aller Form +zurücknehme.<br/> + Seckau, den 20. Oktober 1904.</p> + +<p class="right"> +Pater Willibrord Beßler<br/> +<tt>O.S.P.</tt>” <tt>[sic]</tt> +</p> + +<p>Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich +gerichtlich belangen muß! Der Abt scheint hier wie dort +Ildefons Schober zu heißen. Ist es vielleicht derselbe? +Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts, +haben die Benediktiner mir meine „Reiseerzählungen” ohne +mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen untersagte. +Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein +Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und verbreiten +und mich doch so öffentlich beleidigen und verfolgen resp. +mich und meine selben Werke in Acht und Bann erklären kann! +Ich bemühe mich vergeblich, beides logisch zusammen zu +bringen. Denn daß ich diesen Nachdruck unmöglich +dulden konnte, versteht sich ganz von selbst! Uebrigens ist +dieser Beuroner Pater derselbe, der mir „einen Strick drehen +will, um mich damit aus dem Tempel der deutschen Kunst +hinauszupeitschen”. Also, erst druckt man meine Bücher +nach, ohne mich zu fragen, und dann peitscht man mich hinaus! In +dieser Weise charakterisiert Pater Pöllmann seinen eigenen +Orden, der sich doch wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere +Literatur erworben hat, als daß er von einem seiner +Angehörigen in dieser Weise beleumundet werden sollte!</p> + +<p>Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift +„Ueber den Wassern” eine Reihe von Artikeln gegen mich +geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener „Freistatt” +geantwortet. Damit wären wir nun eigentlich mit einander +fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und mir zu +entscheiden. Aber während ich in meinen Antworten ganz +selbstverständlich so sachlich und höflich wie +möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen +fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem Gang vor +das Gericht zu bequemen haben wird. Und außerdem ist sein +persönliches und literarisches Verhältnis zu Herrn +Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem Münchmeyerschen +Programm, mich in den Zeitungen „kaput zu machen”, +festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius, Gerlach u. s. w. in +Beziehung zu stehen; es sind ihm aber derartige Beziehungen ganz +unschwer nachzuweisen. Hierüber ist Klarheit zu schaffen. +Denn daß er in dieses „Kaputmachen” auf das +Kräftigste mit eingegriffen hat, kann nicht einmal er selbst +in Abrede stellen. Seine „Wasser”-Artikel werden sowohl im +Lebius- als auch im Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das +Eifrigste gegen mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge +oder „Sachverständiger” benannt und wird als solcher in +Berlin auszusagen haben.</p> + +<p>Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern +Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht +gutheißen kann. Ich muß mich fragen, ob es in dieser +seiner Taktik liegt, das Leserpublikum irre zu führen. +Zuerst erschienen von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben +herab klingende Notizen darüber, daß ich es +unterlassen habe, meine Drohung, ihn zu verklagen, +auszuführen. Und nun sich herausstellt, daß ich dieses +Versprechen doch gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich +gesinnten Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine +Beleidigungsklage bald hier bald dort zurückgewiesen worden +sei und ich sämtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht +fair, vielleicht sogar unwürdig. Es handelt sich hier um die +Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den +Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich +in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen wurde das +Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich jetzt nun +zuständig bin. Darum fragt es sich, ob die Sache +infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu verhandeln ist. Bis +das entschieden ist, hat sie zu ruhen. Wer es anders darstellt, +kann nur entweder unwissend oder böswillig sein. Von Kosten +weiß ich kein Wort.</p> + +<p>Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage gegen +Pater Expeditus Schmidt in München. Sie wurde in Dresden +eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig verhandelt. Auch +hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben worden, doch nicht +von mir. Mir kann es sehr gleichgültig sein, an welchem Orte +das Urteil gesprochen wird, denn meine Sache ist gerecht. Ich +habe nicht nötig, spitzfindig zu erwägen, an welchem +Orte, bei welchem Gerichte und in welchem Falle ich meinen +Prozeß gewinne oder verliere. Ich habe mich nicht an solche +Nebendinge zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre +Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den +Richtern.</p> + +<p>Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern +förderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, die +Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen Dingen hat es +sich herausgestellt, daß die beiden Pater Schmidt und +Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen und der Sache +Münchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht in Verbindung mit dem +Münchmeyerschen und Lebiusschen Rechtsanwalt. Ich werde die +Beweise erbringen, und dann wird sich der Zusammenhang mit dem +Münchmeyerschen Programm, mich „in allen Zeitungen vor ganz +Deutschland kaput zu machen”, ganz von selbst ergeben. Um einen +kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der Dinge zu +ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem +Artikel, den das „Wiener Montags-Journal” am 17. Oktober dieses +Jahres brachte. Er lautet: +</p> + +<p class="center"> +<b>Karl May als Schriftsteller.</b><br/> +(Eine Genugtuung.) +</p> + +<p>Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die +Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen +Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung. Denn +nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines +Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und +hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur +Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausführliche +Würdigung der so reichen Phantasie eines deutschen +Romanziers eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das +Wort zu einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den +erfolgreichen Prozessen gegen seine hämischen und boshaften +Widersacher, zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt +uns:</p> + +<p>Die ganze sogenannte „Karl May-Hetze” ist auf Unwahrheiten +aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist, daß ich +Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen für +unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten dieser +Erzählungen sind im „Deutschen Hausschatz” erschienen, der +doch gewiß niemals eine Knabenzeitung gewesen ist. Und den +später erschienenen Bänden sieht jedes ehrliche Auge +sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen Leuten +verstanden werden können. Hiermit fallen alle Vorwürfe, +die man mir als angeblichem „Jugendverderber” macht, in sich +selbst zusammen. Wenn die Jugend meine Bücher trotzdem +liest, und zwar sehr gerne, so beweist das doch nicht, daß +ich sie für sie bestimmt habe, sondern daß die +Jugendseele in ihnen findet, was ihr von andern vorenthalten +wird.</p> + +<p>Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen meinen +Reiseerzählungen schwindle. Wer das behauptet, ahnt +gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner eigenen +Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick eines Tertianers +aus, zu erkennen, daß alles, was ich erzähle, nur mit +den Wurzeln in das reale Leben greift, im übrigen aber nach +Regionen strebt, die nicht alltäglich sind. Jeder Leser, der +mich begreift, weiß, daß ich Länder und +Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen +existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der +absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was anderen +noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und +beschreibe, kann dies nur für unwissende oder +übelwollende Menschen ein Grund sein, zu behaupten, +daß ich schwindle.</p> + +<p>Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser +beleidigenden Weise über mich zu urteilen. Wer mich nicht +begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine +sehr ausgiebige sei. Erst als die größte aller +Unwahrheiten, die es über mich gibt, verbreitet wurde, +nämlich die, daß ich „abgrundtief unsittliche +Schundromane” geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen +Tone mit mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von einer +Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es lag, sie zu +verbreiten, um durch meinen Namen möglichst viel Geld zu +verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns, dem damaligen +Hauptredakteur der „Kölnischen Volkszeitung”, den Mann, +der durch seine Veröffentlichungen für diese +Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar unternahm, die +sogenannten „Beweise” zu liefern, daß die betreffenden +Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur aus meiner Feder +stammen. Ganz selbstverständlich konnte der wahre, +unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung der von mir +geschriebenen Originalmanuskripte geführt werden. Jeder +andere Beweis konnte nur durch absichtliche Täuschung oder +Selbstbetrug ermöglicht sein und mußte sich +schließlich zur Spiegelfechterei gestalten.</p> + +<p>Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns? Er +brachte Behauptung über Behauptung. Er führte eine +ganze Reihe von „inneren Gründen” an, hinter denen sich +der Mangel an wirklichen Gründen versteckte. Er sprach von +Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und +dergleichen. Das Wiener „Neuigkeits-Weltblatt” weist ihm sogar +die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege dafür, +daß May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann mußte +hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte in den +Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal die +Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir die +Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten. Er machte +mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere täuschten +sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von selbst zur richtigen +Einsicht kamen. Heute glauben nur noch Wenige seinen +Ausführungen. Andere akzeptieren sie aus prozessualen und +ähnlichen guten Gründen. Ob Pater Expeditus Schmidt und +Pater Ansgar Pöllmann, meine beiden neuesten Gegner, +wirklich an ihren Cardauns glauben, das weiß ich nicht; ich +kann da nur vermuten. Was sie behaupten, gilt für mich noch +lange nicht als Beweis. Aber sie fußen in allem, was sie +gegen mich tun, auf altem Cardaun’schem Grund und Boden und +scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich +nächstens unter ihren und den Anschuldigungen ihrer +Verbündeten zusammenbrechen werde.</p> + +<p>Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau +Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten, von +der Polizei konfiszierten „Venustempels”. Ferner der +Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden, der nun schon +seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im Felde liegt. Und +endlich der wohlbekannte Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg, +der aus der christlichen Kirche ausgetretene Sozialist, dem ich +3000 bis 6000 Mark und dann sogar 10 000 Mark geben sollte, +dafür wolle er mich in seinem Blatt loben und preisen. Ich +gab ihm nichts. Da ging er zu Münchmeyers über und war +seitdem der unermüdlichste meiner Gegner. Ich bemerke +ausdrücklich, daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum +Anwalt hat. Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser +Münchmeyersche Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater +von Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist, +so ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin +vollständig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns, +Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat Gerlach, +Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann. Diese alle +sind jederzeit schußbereit. Sie leugnen zwar den +gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren Prozessen +gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und helfen +einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen mich und bei der +Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen für das +Gericht. Der Ueberragendste von ihnen ist aber dieser +Münchmeyersche Advokat, der alles und alle dirigiert, sogar +die beiden Patres. Der unschädlichste und erfreulichste aber +ist Herr Cardauns, der meines Wissens niemals zu dem +Eingeständnis gebracht werden konnte, daß er meine +Originalmanuskripte nicht besitze, kürzlich aber in Bonn in +meiner Gegenwart vor dem beauftragten Richter als Zeuge zugeben +mußte, daß er sie noch nie gesehen habe.</p> + +<p>Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf +weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen wird, ist +eine schon längst entschiedene Frage. Kein Kenner der +Verhältnisse stellt sie mehr auf. -- --</p> + +<p>Radebeul-Dresden, Oktober 1910.</p> + +<p class="right"> +Karl May. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap09"></a>IX.<br/> +Schluß.</h2> + +<p class="noindent"> +Wie meine „Reiseerzählungen” nur Skizzen sind, so ist auch das vorliegende Werk +nur Skizze. Es kann gar nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch +nicht zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener Prozesse wie drohende +Revolver auf mich gerichtet sind. Außerdem verhindern mich brutale +Körperschmerzen, in der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang +täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift +und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules +aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir nicht das +Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins +Wanken gekommen. Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden, +hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahre ist mir +der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich +zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber +unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu +denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, +fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir +die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß +brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen +und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, +sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil +meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen. +</p> + +<p>Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich, +endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber +doch eine ganz, ganz andere. Ich sagte bereits: Das Karl +May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein +Menschheitsproblem im Einzelnen. Aber während die meisten +Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise +gewisse Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es +noch Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben +zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im Einzelnen, sondern +im Ganzen zu liefern. Die Vielen stellen Menschheitsteile, diese +Wenigen aber stellen Menschheitsbilder dar. Die Vielen +können ihren engen Kreis sauber halten; sie sind +Dutzendmenschen; sie können sogar als Mustermenschen +erscheinen. Den Wenigen aber ist die Tugend und die Sünde, +die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem +Verhältnisse wie dieser zugeteilt; sie können +berühmte Feldherren oder rohe Mörder, große +Diplomaten oder berüchtigte Schwindler, segensreiche +Finanzgenies oder niedrige Taschendiebe, niemals aber +Mustermenschen werden. Ihnen ist nicht das wohltuende Glück +der unbewußten Mittelmäßigkeit beschieden. Ist +das Leben mächtiger als sie, so werden sie zwischen Tugend +und Laster, zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und +Verzweiflung hin- und hergezerrt, bis sie über den Wolken +zerstäuben oder in den Schluchten zerschellen. Sind sie +stärker als das Leben und sind sie im Glücke geboren, +so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; +kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und der +Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es +erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu +überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher +sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen +lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die +Augen für diese Welt zu schließen.</p> + +<p>Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von diesen +Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch wenigstens +verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. Das habe +ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß +ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu +beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen +tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um mich ebenso +beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie +die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die +Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben. +Ebenso bin ich überzeugt, daß es mir beschieden war, +dabei den hartnäckigen Widerstand zu finden, der sich mir +auch heute noch entgegenstellt, und daß ich mich nicht +über ihn beschweren darf, weil ich ihn mir ebenso selbst +bereitet habe, wie die Menschheit schneller vorwärtskommen +würde, wenn sie endlich aufhören wollte, sich ihren +eigenen Weg mit Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich +keinen anderen, als nur mich selbst anklage.</p> + +<p>Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf +gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so war +dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern die immer noch +nicht ganz überwundene Anima ist es gewesen, die es mir +diktierte. So lange sich der Mensch im Niedrigen bewegt, und das +mußte ich in dieser meiner Lebensbeschreibung doch mehr als +reichlich tun, hat das Niedrige Macht über ihn, und ich +durfte nicht unwahr sein; ich mußte so schreiben, wie das +Milieu es mit sich brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und +bessere, reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und +freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft +zurück, alles das, was mich verbittern will, zu +überwinden.</p> + +<p>Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam Grund vorhanden. +Ich spreche da nur von den letztvergangenen zehn Jahren und den +Begleiterscheinungen des Münchmeyerprozesses. Dieser wurde +von Seiten meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in +einer Weise geführt, die ich vorher für +vollständig unmöglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie +weitgehender Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt +schützt. Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter +herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst Niemand +erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des Paragraphen 193, +denn er handelt im Interesse seines Klienten. Ich bringe eine +Musterauswahl der Ausdrücke, die ich mir vom +Münchmeyerischen Advokaten <tt>Dr.</tt> Gerlach gefallen +lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner Eigenschaft als +Anwalt bediente:</p> + +<p>Er beschuldigte mich „frecher Anzapfungen”, „unberechtigter +Forderungen”, zahlreicher „Dreistigkeiten” und „faulen +Zaubers”. Er nannte mich „raffiniert”, „frech”, „dreist”, +„verleumderisch”, „pathologisch zur Unwahrheit reizend”, +„Lügner”, „Lügenmay”, Renommist”, +„Münchhausen”, „Aufschneider”, „Betrüger”, +„Lump”, „Schwindler”, „Allerweltsschwindler”, +„Einbrecher”, „Hochstabler” <tt>[sic]</tt>, „Zuchthäusler” usw. usw. Ich +frage: Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die +Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt? +Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich ihrer +schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr vor Gericht +sind sie gestattet, denn ich habe diesen Anwalt auf sie hin wegen +Beleidigung verklagt und bin abgewiesen worden. Aber noch mehr: +Er erhob auf diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und +diese wurde nicht zurückgewiesen. Der Richter ist hieran +völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz verlangt +es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen für die +Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen waren, +sagte dieser Anwalt zum Richter: „Aber es ist doch ganz +unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie May, den +Prozeß gewinnen kann!” „Das haben Sie abzuwarten,” +antwortete ihm der Richter. Ich stand dabei und mußte mir +die Beleidigung gefallen lassen, denn das Gesetz erlaubte sie +ihm. Das ist nun fast zehn Jahre lang so gegangen und geht noch +heut in diesem Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch +stehender Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem +Rechtsanwalt: „Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir +eine Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May. Was +muß dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er hätte +getrost hinzufügen können: „Was leidet er noch, und +was wird er noch weiter leiden!” Dieser Richter kannte meine +Vorstrafen genau; er hatte die hierüber vorhandenen Akten +studiert. Ich gewann trotzdem und trotz aller gegnerischen +Schmähungen den Prozeß in sämtlichen Instanzen, +gewiß ein laut sprechender Beweis, daß der deutsche +Richter sich durch anwaltliche Invektiven nicht beeinflussen +läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich sie doch und +habe ich sie noch heut. Und sie wirken, wenn nicht auf das +Urteil, so doch ganz bestimmt nach anderer Seite hin. Sie +verrohen den Parteiverkehr und greifen aus dem Verhandlungszimmer +hinaus in das öffentliche und hinein sogar in das private +Leben. Man wird alle die beleidigenden Ausdrücke über +mich, die ich oben angeführt habe, schon in den Zeitungen +gelesen haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet +sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die jeder +übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen +darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter +führt als die Humanität. Er schreibt diese Roheiten in +seine Schriftsätze und lanciert sie von da als +beweiskräftiges Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder +er schickt sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in +gedruckter Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, +daß sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte +einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder +Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede +Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu +erschüttern oder wohl gar zu vernichten. „In den Zeitungen +von ganz Deutschland kaput machen,” nennt man das. Und das +Gesetz begünstigt dieses Treiben!</p> + +<p>Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes Beispiel +nahe, welches nichts weniger als empfehlend für mich klingt. +Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn ich der Allgemeinheit +nützen will, nicht fragen darf, ob ich mir selbst etwa +dadurch schade. Meine erste Frau hatte die Frau eines Dresdener +Schriftstellers beleidigt, welcher von Münchmeyers aus +wußte, daß ich vorbestraft bin. Er rächte sich +dadurch, daß er mich bei einem deutschen Fürsten +denunzierte und ihm mitteilte, daß seine Verwandten meine +Bücher läsen und mich auch persönlich besuchten. +Der Fürst antwortete durch Schweigen. Da kam eine zweite +Denunziation, und nun war der Fürst gezwungen, sich nach +Dresden zu wenden, um zu erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei. +Er erhielt die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach +Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu erkundigen. Er +erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei, weshalb +ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause bleibe, und daß +ich in meinen Büchern über Länder schreibe, in +denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was ich da berichte, sei +nicht wahr. Infolge dessen steht in den Dresdener Polizeiakten +über mich verzeichnet, daß ich einen unsoliden +Lebenswandel führe und ein literarischer Hochstabler <tt>[sic]</tt> sei. Das wurde dem Fürsten +mitgeteilt, und einer der betreffenden Verwandten erzählte +es mir bei nächster Gelegenheit sehr ausführlich +wieder. Er wußte sehr wohl, was an der Sache war, bat mich +aber um Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber +zu schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil +ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den +verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören. Jetzt aber +werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht und +von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet. Wie kommt ein aus +der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat a. D. zu diesen geheimen +Dresdener Polizeiakten? Das Gesetz gestattet es! Ganz +selbstverständlich fühle ich mich nun nicht mehr zur +Diskretion verpflichtet und werde darauf dringen, daß diese +Akten revidiert und berichtigt werden.</p> + +<p>Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich wie auf +Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig Jahren auf +ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das ist so lange her, +daß die betreffenden Gerichtsakten längst vernichtet +worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt, daß solche +Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer seien, und diese Dauer +ist vorüber. Wer hat nun daran gedacht, daß auch bei +der dortigen Polizei Notizen hierüber gemacht worden und +vielleicht noch vorhanden sein können? Herr Lebius hat sie +kürzlich veröffentlicht! Wie kommt ein Mann, wie er, +nun auch zu den Leipziger Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt +es!</p> + +<p>Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht. Sie +sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn gar +nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm!</p> + +<p>Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine +prozessualen Verhältnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das, und +wer ermöglicht es ihm? Das Gesetz und der +Münchmeyersche Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige +ist. Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand. Es ist +sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene Frau in +Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts +veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum +Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für +sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke +paßte. Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner +reichen, persönlichen Erfahrung dafür, daß das +Gesetz Dinge nicht nur erlaubt, sondern sogar begünstigt, +die es eigentlich auf das strengste verbieten sollte. Dem steht +selbst der rechtlichste und humanste Richter machtlos +gegenüber, und das war es, woran ich dachte, als ich weiter +oben sagte, daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt +habe. Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren +unfreiwillig da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, +denen es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung +zurück zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und ich +weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die, +welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder +niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit +besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu +ihnen hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht +gezwungen, sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse. +Ich will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen wagte, +nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn sie sich +nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren sind, +außer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch engsten +Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen mein +Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. Will ihnen +zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe fruchtet, wenn +bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen zeigen, daß ein +einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser eine, einzige +Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten und die +besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen Liebe und +der Humanität mit einem Schlage zunichte zu machen. Ich will +ihnen sagen, daß es eine Sünde von der Menschheit ist, +ihre Mitschuld an der Schuld der Schuldigen zu verbergen. +Daß es aber auch von diesen ein Fehler ist, zu +verheimlichen, daß sie einst schuldig waren. Unser Leben, +mein Leben, ihr Leben soll frei vor Gottes Auge liegen, besonders +aber auch frei vor unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir +nicht, und dann grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum +wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und sehen wir +das ein, so können wir uns selbst verzeihen, und wer sich +selbst verzeihen darf, dem wird verziehen werden. Weg also mit +der falschen Scham, und heraus mit der Offenheit! Nur das +Geheimnis, in das wir uns hüllen, gibt jenem Paragraphen und +jedem gewissenlosen Menschen die Macht, sich höher und +besser zu dünken als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu +sein!</p> + +<p>Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie alles +Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur Skizze sein. Aber +ich fühle das Bedürfnis, das, was Andere Böses an +mir taten, für meine Mitmenschen in Gutes zu verwandeln. Ich +werde es denjenigen, die gleiches Schicksal, wie ich, hatten, +ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich +diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind. Was +nützt alle sogenannte „Gerechtigkeit”, alle sogenannte +„Milde des Gerichtes”, alle sogenannte „Humanisierung des +Strafvollzuges”, alle sogenannte „Fürsorge für +entlassene Strafgefangene”, wenn es nur eines einzigen +spitzfindigen Anwaltes oder eines einzigen fragwürdigen +Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen +Bestrebungen erwuchs, in einem einzigen Augenblicke zu +vernichten? Wie kann man von dem Gefallenen verlangen, daß +er wieder aufstehe und sich bessere, wenn man es +unterläßt, auch die Verhältnisse, in die man ihn +zurückversetzt, zu verbessern? Ist es eine Ermunterung +für ihn, zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch, +so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der +Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen +ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen? +Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um +gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, +sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei +und stellt ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich +von einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein +„wissenschaftlichen” Gründen an diesen Pranger genagelt +worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht einmal meinen +Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagaphen zu +dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man +denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich +in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches +Lächeln zeigt, welches verrät, wie es eigentlich steht. +Und da fühlt man mit den Hunderttausenden, die hierunter +leiden, das brennende Bedürfnis, einmal alle die +Paragraphen, an denen der gute Wille der Menschheit scheitert, an +das Tageslicht zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen +müssen, um durchschaut zu werden -- -- -- vor die +Oeffentlichkeit, vor den Reichstag!</p> + +<p>Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es +hat schon Einige gegeben, die als „entlassene Gefangene” ihre +Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das +war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen +bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine +Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige +Menschenschicksale, die, auch im klassischen Sinne, wirkliche +Schicksale sind. <b>Und das meinige ist ein solches.</b> Ich +fühle mich verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den +Dienst der Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das +wird man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.</p> + +<p>Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die +Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl May, +sondern auch mit dem Menschen May befaßte und daß +Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf den letzten +Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das Eine war +berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, Schinder- und +Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen lassen +mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld von dieser +Qual und Marter zu befreien. Das war die Geisterschmiede meines +Märchens, in der man auf mich losschlug, daß die +Funken durch alle Zeitungen flogen. Sie fliegen sogar noch heut. +Doch wird bald Ruhe werden. Die Zeit des Hammers ist +vorüber; es kommt nur noch die Feile, und dann ist es gut. +Daß all das Leid, welches über mich kam, auch meine +andere, die schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen +mußte, versteht sich ganz von selbst. Auch da gab es +Schlacken, und zwar mehr als genug. Auch sie mußten +herunter. Es flog der Ruß, der Schmutz, der Staub, der +Hammerschlag. Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird +ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne.</p> + +<p>Es war überhaupt ein großes, ein schweres und ein +höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen. Nicht nur in +meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern, in meiner +Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner Ehe. Alles, was mich +in die Schmiede und dem Schmerze in die Arme getrieben hatte, +mußte weichen. An seine Stelle trat, was rein und ehrlich +war und mit nach oben strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, +dem Land der Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und +Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt +werden konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen +vorüber. Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes +Wasser, irgend ein Beleidigungsprozeß, eine +Staatsanwaltschaftsanzeige, doch auch das geht bald vorbei, und +dann wird Ruhe und Friede um mich sein, so daß ich endlich, +endlich Zeit und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches, +an mein einziges und letztes „Werk” zu gehen.</p> + +<p>Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin ich +voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine „Hetze” +wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde steht, noch nie in +der Literatur irgend eines Landes, eines Volkes gegeben. Das gab +Zeitungsstürme, Stürme in den Gerichtssälen, +Stürme im eigenen Hause und Stürme im eigenen Innern. +Mein alter, treuer, guter Freund, der Körper, behauptet +zwar, nicht länger mitmachen zu können, aber ich bin +überzeugt, daß er doch wieder so bereitwillig und +verständig wird, wie er immer gewesen ist. Er hat ertragen +müssen, was eigentlich wohl nicht zu ertragen war. +Zunächst sechs Jahre lang die drei Instanzen des ersten +Münchmeyerprozesses mit allen Aufregungen und +Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren. Sodann die +zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung wegen Meineid +und Verleitung dazu. Denn der Münchmeyersche Rechtsanwalt +hatte, nachdem der Prozeß für ihn verloren war, mich +und meine Zeugen beim Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt. +Der Staatsanwalt war, nach seiner eigenen Aussage auf diese +Anzeige eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen. +Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz +selbstverständlich damit, daß man weder mir noch +meinen Zeugen etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch +nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast noch +schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten Lebiusangriffe. +Eine doppelseitige Lungenentzündung, die mich monatelang +zwischen Tod und Leben schweben ließ. Die Beschuldigungen, +welche meine geschiedene Frau auf mich, meine jetzige Frau und +ihre Mutter wälzte und mit denen sie uns in schwere Strafe +bringen wollte. Die Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann +wegen dieser Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben +ließ. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in Berlin +wiederholt. Glücklicher Weise hatte diese geschiedene Frau +Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete, während des +Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten und ohne all mein Zutun +freiwillig erzählt und eingestanden, so daß sie zu +diesem späteren Leugnen nur verführt sein konnte. Die +Vorlegung dieser Beweise zeigte alle Anklagen gegen mich als +Lügen. Ferner der Antrag des Lebius an die +Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Sein +Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich verfolgen zu lassen. Die +zahllosen Artikel gegen mich in seinem Blatte, der „Bund”. +Seine Flugblätter mit den gräßlichsten +Unwahrheiten, welche die Runde durch Deutschland, Oesterreich, +Schweiz, Italien, Frankreich, England, Nord- und Südamerika +machten. Da beschuldigte er mich sogar, meinen Schwiegervater +erwürgt zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit. +Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des +Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier +Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich wegen +Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren Zuchthaus +bestraft wird. Man sieht, daß man zu den +alleräußersten Mitteln greift, mich „kaput zu +machen”! Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den +Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und Lebenskraft zu +verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum jeder fähig ist. +Ich habe es ertragen, ohne mich zur Selbsthilfe reizen zu lassen, +weil ich keinen Augenblick lang an Gott und seiner Liebe zu +zweifeln vermag und weil mir in dieser überschweren Zeit ein +Wesen zur Seite gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende +Seele mich wie auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, +dem ich verfallen sollte, nämlich meine jetzige Frau. Wenn +man berechtigt gewesen ist, Bücher über das Thema „die +Bestie im Weibe” zu schreiben, so könnte ich mich wohl +verpflichtet fühlen, demgegenüber ein Buch zu +veröffentlichen, welches den Titel „Der Himmel im Weibe” +führt.</p> + +<p>Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine Quelle alles +menschlich Reinen, menschlich Edeln und menschlich Ewigen ist, +läßt sich in Beziehung auf das Erdenleid Alles +erlangen und in Beziehung auf die noch vor mir liegende Arbeit +Alles leisten, was menschenmöglich ist. Ich bin nicht mehr +so fürchterlich allein. Ich habe nicht mehr immer nur aus +mir selbst herauszuschöpfen, sondern es hat sich mir ein +köstlich reiches seelisches Leben zugesellt, durch dessen +Einfluß sich Alles, was in mir zum guten Ziele führt, +verdoppelt. Körperlich schwer leidend, bin ich geistig +frisch und seelisch wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der +Jugendzeit. Ich bin nicht töricht genug, mir zu +verheimlichen, daß man mich als einen Ausgestoßenen +betrachtet, ausgestoßen aus Kirche, Gesellschaft und +Literatur. Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich +für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten halt; der +Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer +heimlich Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig +bringen, sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen sie +die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als +gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe +nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft +gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen +war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten Leute, +meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das Innenleben +aneinander so vollauf genug, daß wir es gar nicht fertig +bringen, uns nach „Gesellschaft” zu sehnen. Und was meine +literarische Ausstoßung betrifft, so kann ich mich auch mit +ihr zufrieden geben. Den Weg, auf dem ich mich befinde, ist noch +kein Anderer gegangen; ich wäre also auch ohne den +Haß, den man auf mich richtet, gezwungen, ein Einsamer zu +sein. Auch bin ich überzeugt, daß später, wenn +man mich und das, was ich will, erst richtig kennen gelernt hat, +sich Manche, vielleicht sogar Viele von dem großen Haufen +absondern werden, um sich mir zuzugesellen. Alte Wege können +höchstens zu alten, toten Schätzen führen. Wer +aber nach neuen, lebendigen Schätzen sucht, der soll auch +neue, nicht alte Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das +Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch ihren Wert +oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. Taugen sie etwas, so +werden sie bleiben, ganz gleich, ob man sie gegenwärtig lobt +oder tadelt. Taugen sie nichts, so werden sie verschwinden, ganz +gleich, ob man sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die +Hauptsache ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert +bestimmt, bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er +literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann +auch nur den geringsten Einfluß darauf haben. Das klingt +stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind +Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen auf +Späteres. Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles, +durch was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man +jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man +will.</p> + +<p>Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung +auf die Münchmeyerromane übrig. Einer meiner +erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem +weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in +unsittliche verwandeln könne; das würde eine +Riesenarbeit sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint +so glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines +Schundverlages unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der +Zeit und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben, +so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und +der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman +umzuändern! Zweitens erfordert eine solche Umänderung +keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner anzunehmen +scheint. Die Einfügung von einigen Worten genügt +vollständig, einen „moralischen” Druckbogen in einen +„unmoralischen” zu verwandeln. Drittens sind Kräfte mehr +als genug für solche Umarbeitungen vorhanden, und sie +besitzen eine so erstaunliche Routine darin, daß selbst der +Kenner sich über die Masse, die sie bewältigen, +wundert. Ich habe hierüber Beweise erbracht und werde auch +noch weitere bringen. Das oft erwähnte Faktotum Walther +saß bei Münchmeyers täglich von früh bis +abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann die Korrektur +zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen bekam. Was erst +Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen +Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben +mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und +gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Münchmeyers +Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß +bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand +ganze Kapitel verändert hat. Ein anderer Zeuge hat +beschworen, Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er +an meinen Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme, +ohne es mir sagen zu dürfen. Ich brauche hier wohl nicht +noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen, +anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich +absolut die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren +Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa die +dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man es zumutet, +sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu der damaligen +Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden. +Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf von meinem +Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir versichern, ganz +genau sagen zu können, wo die Fälschung beginnt und wo +sie endet.</p> + +<p>Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick meiner +Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam zu machen, den +man anwendet, um meine den höhern Kreisen angehörenden +Leser gegen mich zu empören. Da wird zum Beispiel an +auffälliger Stelle gesagt, daß ich in hervorragender +Gesellschaft in Dresden verkehre und daß ich mir +überhaupt die größte Mühe gebe, mit +hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein Wort, +kein Buchstabe wahr. Bin ich „Hans für mich”, so +fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser +Beziehung weiter nichts, als „Hans für mich” zu bleiben. +Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis liefern +wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich +aufgedrängt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet, +daß ich an „Höfen” verkehre. Das ist erst recht +nicht wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit, +die zu irgend einem „Hofe” gehört, meine Bücher liest +und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad ich +der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich „bei Hofe +verkehre”. Es kann diesen Behauptungen, die pure Erfindungen +sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich den betreffenden +Kreisen als indiskret oder gar als Lügner zu kennzeichnen +und mich selbst da zu schädigen, wohin ich absolut nicht +gehöre. -- -- --<br/> +-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --</p> + +<p>Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang +zurück, auf mein altes, liebes Märchen von „Sitara”, +von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, so wird man +dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen, und zwar als die +greifbarste, die es gibt. Es ist die Aufgabe des begonnenen, +gegenwärtigen Jahrhunderts, unsere ungeübten Augen +für die große, erhabene Symbolik des alltäglichen +Lebens zu schärfen und uns zu der beglückenden und +erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß es höhere und +unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als diejenigen, mit denen +der Werk- und Wochentag uns beschäftigt. Die Skizzen, die +ich zeichnete und veröffentlichte, sollen der Vorbereitung +zu dieser Erkenntnis dienen. Darum sind sie symbolisch +geschrieben und, um verstanden zu werden, nur bildlich zu nehmen. +Man möchte sich eigentlich darüber wundern, daß +dies dem gewöhnlichen Leser so schwer zu fallen scheint. Es +ist doch wohl keine allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines +Gleichnisses irgend etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das +Land der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das +Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine, so kann es +doch keiner geradezu akademischen Bildung bedürfen, +einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise von Ardistan nach +Dschinnistan beschreibe. Der Leser hat sich einfach aus seiner +Alltagswelt in meine Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch +wohl auch nicht schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu +verlassen, um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.</p> + +<p>Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, so will ich +durch meine Erzählungen das Innere meiner Leser vom +äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken klingen +hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem +Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil +der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt. So +leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich zu nehmen, so leicht +ist es auch, meine Bücher zu verstehen und ihren Inhalt zu +begreifen. Ich will, daß meine Leser das Leben nicht +länger als ein nur materielles Dasein betrachten. Diese +Anschauung ist für sie ein Gefängnis, über dessen +Mauern sie nicht hinaus in das von der Sonne beschienene freie, +weite Land zu schauen vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber +will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie +ich mich selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen, +seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im +Gefängnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze +der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich, der zu mir in +die Zelle trat. Da durfte mich niemand berühren. Da war es +keinem erlaubt, den Werdegang meines inneren Menschen zu +stören. Kein Schurke hatte Macht über mich. Was ich +besaß und was ich erwarb, das war mein sicheres, +unantastbares Eigentum, bis ich -- -- entlassen wurde, +länger nicht! Denn mit dieser Entlassung verlor ich meine +Freiheit und meine Menschenrechte. Was andere, die nur materiell +zu reden wissen, als Freiheit bezeichnen, das ist für mich +ein Gefängnis, ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in +dem ich nun schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet +habe, ohne, außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen +Menschen zu finden, mit dem ich hätte sprechen können +wie damals mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten. +Ich lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für +Andere. Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich mir +sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit mir machen, was +ihm beliebte, denn überall fand er einen Anwalt, der seine +Sache führte. Ein Jeder durfte mich verdächtigen, mich +beleidigen, auf mich einschlagen, denn überall gab es einen +Paragraphen, der ihn schützte. Ich mußte um meines +Eigentums willen sechs Jahre lang prozessieren, und als ich den +Prozeß gewonnen hatte, bekam ich noch lange nichts und +wurde wegen Meineides zweiundzwanzig Monate lang in +Voruntersuchung genommen. Nun prozessiere ich schon fast zehn +Jahre lang und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will es +nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein Züchtling +gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern darf, +wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich mit einem jener +Paragraphen zu bewaffnen, welche die Ideale aller „schneidigen” +Anwälte sind. Jawohl, ich bin Gefangener, Zuchthäusler, +noch immer! Ein Dutzend Prozesse haben mich festgehalten, damit +ich ja nicht entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir +wollte, aber keines bekam, hat sich als Zuchtmeister +gebärdet und auf mich eingeschlagen. Ich habe das Beste +aller derer, für die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und +äußeres Heil, ihr gegenwärtiges und ihr +zukünftiges Glück. Was gab man mir für diesen +meinen guten Willen? Verachtung, Spott und Hohn! Als ich +Zuchthäusler war, da war ich keiner. Und nun ich aber keiner +bin, da bin ich einer. Warum?</p> + +<p>Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe? +Ist für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht +selbst die Hölle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die +Hölle, wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer, +wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn ich +symbolisch von meiner „Geisterschmiede” erzähle, deren +fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden +haben werde. Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es +mußte so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu +tragen und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen und +durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit zu +verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne meine Schuld. +Und was andere gezwungen an mir taten, das trage ich nicht nach. +Ich bitte nur um das Eine: Laßt mir endlich, endlich Zeit, +mit dieser Arbeit zu beginnen! +</p> + +<hr /> + +<p class="poem"> +Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag<br/> + Soll Feierabend sein im heil’gen Alter.<br/> +Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,<br/> + Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.<br/> +Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt;<br/> + Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,<br/> +Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,<br/> + So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.<br/> +<br/> +Nach meines Lebens schwerem Leidenstag<br/> + Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände.<br/> +Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,<br/> + Das führe er in mir zum frohen Ende.<br/> +Ich hab’ die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,<br/> + Gewißlich nicht allein für mich getragen,<br/> +Doch was dafür sich irdisch in mir regt,<br/> + Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.<br/> +<br/> +Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag<br/> + Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,<br/> +Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,<br/> + Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen.<br/> +Ich juble auf. Des Kerkers Schloß erklirrt;<br/> + Ich werde endlich, endlich nun entlassen.<br/> +Ade! Und wer sich weiter in mir irrt,<br/> + Der mag getrost mich auch noch weiter hassen! +</p> + +<p class="center"> +E n d e. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div> +</body> +</html> + + diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize +this eBook outside of the United States should confirm copyright +status under the laws that apply to them. diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..cefbea2 --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for +eBook #2779 (https://www.gutenberg.org/ebooks/2779) diff --git a/old/2779-8.txt b/old/2779-8.txt new file mode 100644 index 0000000..d20f4b3 --- /dev/null +++ b/old/2779-8.txt @@ -0,0 +1,11293 @@ +**The Project Gutenberg Etext of Mein Leben und Streben, by Karl May** + +This book is written in German. + + +Copyright laws are changing all over the world, be sure to check +the copyright laws for your country before posting these files!! + +Please take a look at the important information in this header. +We encourage you to keep this file on your own disk, keeping an +electronic path open for the next readers. Do not remove this. + + +**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts** + +**Etexts Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971** + +*These Etexts Prepared By Hundreds of Volunteers and Donations* + +Information on contacting Project Gutenberg to get Etexts, and +further information is included below. We need your donations. + + +Title: Mein Leben und Streben + +Author: Karl May + +August, 2001 [Etext #2779] + + +**The Project Gutenberg Etext of Mein Leben und Streben, by Karl May** +******This file should be named 2779-8.txt or 2779-8.zip****** + + +Project Gutenberg Etexts are usually created from multiple editions, +all of which are in the Public Domain in the United States, unless a +copyright notice is included. Therefore, we usually do NOT keep any +of these books in compliance with any particular paper edition. + +(Karl May's autobiography, 1st edition of 1910) + +We are now trying to release all our books one month in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. + +Please note: neither this list nor its contents are final till +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg Etexts is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A +preliminary version may often be posted for suggestion, comment +and editing by those who wish to do so. To be sure you have an +up to date first edition [xxxxx10x.xxx] please check file sizes +in the first week of the next month. Since our ftp program has +a bug in it that scrambles the date [tried to fix and failed] a +look at the file size will have to do, but we will try to see a +new copy has at least one byte more or less. + + +Information about Project Gutenberg (one page) + +We produce about two million dollars for each hour we work. The +time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours +to get any etext selected, entered, proofread, edited, copyright +searched and analyzed, the copyright letters written, etc. This +projected audience is one hundred million readers. If our value +per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 +million dollars per hour this year as we release thirty-six text +files per month, or 432 more Etexts in 1999 for a total of 2000+ +If these reach just 10% of the computerized population, then the +total should reach over 200 billion Etexts given away this year. + +The Goal of Project Gutenberg is to Give Away One Trillion Etext +Files by December 31, 2001. [10,000 x 100,000,000 = 1 Trillion] +This is ten thousand titles each to one hundred million readers, +which is only ~5% of the present number of computer users. + +At our revised rates of production, we will reach only one-third +of that goal by the end of 2001, or about 3,333 Etexts unless we +manage to get some real funding; currently our funding is mostly +from Michael Hart's salary at Carnegie-Mellon University, and an +assortment of sporadic gifts; this salary is only good for a few +more years, so we are looking for something to replace it, as we +don't want Project Gutenberg to be so dependent on one person. + +We need your donations more than ever! + + +All donations should be made to "Project Gutenberg/CMU": and are +tax deductible to the extent allowable by law. (CMU = Carnegie- +Mellon University). + +For these and other matters, please mail to: + +Project Gutenberg +P. O. Box 2782 +Champaign, IL 61825 + +When all other email fails. . .try our Executive Director: +Michael S. Hart <hartPOBOX.com> +hartPOBOX.com forwards to hartPRAIRIENET.org and archive.org +if your mail bounces from archive.org, I will still see it, if +it bounces from prairienet.org, better resend later on. . . . + +We would prefer to send you this information by email. + +****** + +To access Project Gutenberg etexts, use any Web browser +to view http://promo.net/pg. This site lists Etexts by +author and by title, and includes information about how +to get involved with Project Gutenberg. You could also +download our past Newsletters, or subscribe here. 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Br. +Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld + + +Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart. + + + +Wenn dich die Welt aus ihren Toren stt, + So gehe ruhig fort, und la das Klagen. +Sie hat durch die Verstoung dich erlst + Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen. + + (Karl May "Im Reiche des silbernen Lwen") + + + + Inhalt. + + _____ + + + I. Das Mrchen von Sitara + II. Meine Kindheit + III. Keine Jugend + IV. Seminar- und Lehrerzeit + V. Im Abgrunde + VI. Bei der Kolportage + VII. Meine Werke +VIII. Meine Prozesse + IX. Schlu + + _________ + + + I. + Das Mrchen von Sitara. + + _____ + +Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden +Weges nach der Sonne geht und dann in derselben +Richtung noch drei Monate lang ber die Sonne +hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara +heit. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet +eben "Stern". + + Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel +gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein +Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst +und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um +sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um +die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr +oder weniger. Seine Oberflche besteht zu einem Teile +aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber whrend +man auf der Erde bekanntlich fnf Erd- oder Weltteile +zhlt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel +einfacherer Weise gegliedert. Es hngt zusammen. Es +bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, +der in ein sehr tiefgelegenes, smpfereiches Niederland +und ein der Sonne khn entgegenstrebendes Hochland +zerfllt, welche beide durch einen schmleren, steil +aufwrtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden +sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen +und reienden Tieren reich und allen von Meer zu +Meer dahinbrausenden Strmen preisgegeben. Man +nennt es Ardistan. Ard heit Erde, Scholle, niedriger +Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im +geistlosen Schmutz und Staub, das rcksichtslose Trachten +nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen +Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehrt oder nicht +gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat +der niedrigen, selbstschtigen Daseinsformen und, was sich +auf seine hheren Bewohner bezieht, das Land der +_Gewalt-_und_Egoismusmenschen._ Das Hochland +hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schn im +Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur +und Produkten des menschlichen Fleies, ein Garten Eden, +ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni +heit Genius, wohlttiger Geist, segensreiches unirdisches +Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb +nach Hherem, das Wohlgefallen am geistigen und +seelischen Aufwrtssteigen, das fleiige Trachten nach Allem, +was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die +Freude am Glcke des Nchsten, an der Wohlfahrt aller +derer, welche der Liebe und der Hilfe bedrfen. Dschinnistan +ist also das Territorium der wie die Berge aufwrtsstrebenden +Humanitt und Nchstenliebe, das einst verheiene +Land der _Edelmenschen._ + + Tief unten herrscht ber Ardistan ein Geschlecht von +finster denkenden, selbstschtigen Tyrannen, deren oberstes +Gesetz in strenger Krze lautet: "D u s o l l st d e r T e u f e l +d e i n e s N ch st e n s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t +z u m E n g e l w e r d e st!" Und hoch oben regierte schon +seit undenklicher Zeit ber Dschinnistan eine Dynastie +groherziger, echt kniglich denkender Frsten, deren oberstes +Gesetz in beglckender Krze lautet: "D u s o l l st d e r +E n g e l d e i n e s N ch st e n s e i n, d a m i t d u n i ch t d i r +s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!" + + Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der +Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Brger und eine jede +Brgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und +ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer +Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glck und Sonnenschein, +dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische +Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer +nach Befreiung aus dem Elende dieser Hlle! Ist es +da ein Wunder, da da unten im Tieflande eine immer +grer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? +Da die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen +sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlsen +suchen? Millionen und Abermillionen fhlen sich in den +Smpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen +gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie +wrden in der reinen Luft von Dschinistan nicht +existieren knnen. Das sind nicht etwa nur die Aermsten +und Geringsten, sondern grad auch die Mchtigsten, die +Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Phariser, +die Snder brauchen, um gerecht erscheinen zu knnen, +die Vielbesitzenden, denen arme Leute ntig sind, um +ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter +haben mssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen +Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die +Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von +ihnen ausgebeutet zu werden. Was wrde aus allen +diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht +mehr gbe? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste +verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem +Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schrfsten +Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande +der Nchstenliebe und der Humanitt, nach Dschinnistan +zu flchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht +durch. Er wird ergriffen und nach der "Geisterschmiede" +geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, +bis er sich vom Schmerz gezwungen fhlt, Abbitte leistend +in das verhate Joch zurckzukehren. + + Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Mrdistan, +jener steil aufwrtssteigende Urwaldstreifen, durch +dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle +und beschwerliche Weg nach oben geht. Mrd ist +ein persisches Wort; es bedeutet "Mann". Mrdistan +ist das Zwischenland, in welches sich nur "Mnner" +wagen drfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde. +Der gefhrlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten +Gebietes ist der "Wald von Kulub". Kulub ist ein +arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen +Wortes "Herz". Also in den Tiefen des Herzens lauern +die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen +hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen +will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist +jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in "Babel und +Bibel," Seite 78 heit: + + "Zu Mrdistan, im Walde von Kulub, + Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede. + Da schmieden Geister?" + + "Nein, man schmiedet sie! + Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht, + Wenn Wetter leuchten, Trnenfluten strzen. + Der Ha wirft sich in grimmiger Lust auf sie. + Der Neid schlgt tief ins Fleisch die Krallen ein. + Die Reue schwitzt und jammert am Geblse. + Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug + Im ruigen Gesicht, die Hand am Hammer. + Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen. + Man stt dich in den Brand; die Blge knarren. + Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus, + Und Alles, was du hast und was du bist, + Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen, + Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut, + Gedanken und Gefhle, Alles, Alles + Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert + Bis in die weie Glut -- -- --" + + "Allah, Allah!" + "Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht! + Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert, + Wird weggeworfen in den Brack und Plunder + Und mu dann wieder eingeschmolzen werden. + Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden, + Die in der Faust der Parakleten funkelt. + Sei also still! + + Man reit dich aus dem Feuer -- -- + Man wirft dich auf den Ambo -- -- hlt dich fest. + Es knallt und prasselt dir in jeder Pore. + Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister. + Er spuckt sich in die Fuste, greift dann zu. + Hebt beiderhndig hoch den Riesenhammer -- -- -- + Die Schlge fallen. Jeder ist ein Mord, + Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden. + Die Fetzen fliegen hei nach allen Seiten. + Dein Ich wird dnner, kleiner, immer kleiner, + Und dennoch mut du wieder in das Feuer -- -- + Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied + Den Geist erkennt, der aus der Hllenqual + Und aus dem Dunst von Ru und Hammerschlag + Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlchelt. + Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile. + Die kreischt und knirscht und frit von dir hinweg + Was noch -- -- --" + + "Halt ein! Es ist genug!" + "Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt, + Der schraubt sich tief -- -- --" + "Sei still! Um Gottes willen!" + u. s. w. u. s. w. + + So also sieht es in Mrdistan aus, und so also +geht es im Innern der "Geisterschmiede von Kulub" zu! +Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage, +da die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren +werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel +und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glck +hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan +geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme +Seele aber, welche einem Teufel in die Hnde fllt, wird +von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes +Elend geschleudert, je hher die Aufgabe ist, die +ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie +soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei +Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten +einen mglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu +machen. Alles Struben und Aufbumen hilft nichts; +der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn +es ihm gelnge, aus Ardistan zu entkommen, so wrde +er doch in Mrdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede +geschleppt, um so lange gefoltert und geqult +zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu +widerstreben. + + Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen +nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so +gro und so unerschpflich, da sie selbst die strkste Pein +der Geisterschmiede ertrgt und dem Schmiede und seinen +Gesellen "aus dem Dunst von Ru und Hammerschlag +ruhig dankbar froh entgegenlchelt". Einer solchen +Himmelstochter kann selbst dieser grte Schmerz nichts +anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht +vom Feuer vernichtet, sondern gelutert und gesthlt. Und +sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der +Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an +ihr, was nach Ardistan gehrt. Darum kann weder +Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei +des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen, +wo jeder Mensch der Engel seines Nchsten +ist. -- -- -- + + _________ + + + II. + Meine Kindheit. + + _____ + +Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein +Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein +Vater war ein armer Weber. Meine Grovter waren +beide tdlich verunglckt. Der Vater meiner Mutter +daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war +zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot +zu holen. Die Nacht berraschte ihn. Er kam im tiefen +Schneegestber vom Wege ab und strzte in die damals +steile Schlucht des "Krhenholzes", aus der er sich nicht +herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. +Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als +der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und +auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht fr mich und +die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine +verhngnisvolle Zeit gewesen. + + Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem +damals sehr rmlichen und kleinen, erzgebirgischen +Weberstdtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas greren +Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: +mein Vater, meine Mutter, die beiden Gromtter, vier +Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter +meiner Mutter scheuerte fr die Leute und spann Watte. +Es kam vor, da sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag +verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei +Dreierbrtchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie +uerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren, +unter uns fnf Kinder. Sie war eine gute, fleiige, +schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie +man sagte, aus Altersschwche. Die eigentliche Ursache +ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwrtig +diskret als "Unterernhrung" zu bezeichnen pflegt. Ueber +meine andere Gromutter, die Mutter meines Vaters, +habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser +Stelle. Meine Mutter war eine Mrtyrerin, eine Heilige, +immer still, unendlich fleiig, trotz unserer eigenen Armut +stets opferbereit fr andere, vielleicht noch rmere Leute. +Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem +Mund gehrt. Sie war ein Segen fr jeden, mit dem +sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen fr uns, ihre +Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch +erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln +emsig rhrend, beim kleinen, qualmenden Oellmpchen +sa und sich unbeachtet whnte, da kam es vor, da +ihr eine Trne in das Auge trat und, um schneller, als +sie gekommen war, zu verschwinden, ihr ber die Wange +lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die +Leidesspur sofort verwischt. + + Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die +eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll +Ueberma im Zorn, unfhig, sich zu beherrschen. Er +besa hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt +geblieben waren, der groen Armut wegen. Er hatte +nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleie flieend +lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besa zu allem, +was ntig war, ein angeborenes Geschick. Was seine +Augen sahen, das machten seine Hnde nach. Obgleich +nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose +selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. +Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig +brachte, das hatte Schick und war gar nicht so bel. +Als ich eine Geige haben mute und er kein Geld auch +zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem +fehlte es zwar ein wenig an schner Schweifung und +Eleganz, aber er gengte vollstndig, seine Bestimmung zu +erfllen. Vater war gern fleiig, doch befand sich sein +Flei stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn +Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die brigen +vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. +Whrend dieser zehn angestrengten Stunden war nicht +mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand +durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu +erzrnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein +dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen +hinterlie, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte +"birkene Hans", vor dem wir Kinder uns besonders +scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Zchtigung +im groen "Ofentopfe" einzuweichen, um ihn elastischer +und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die +zehn Stunden vorber waren, so hatten wir nichts mehr +zu befrchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere +Seele lchelte uns an. Er konnte dann geradezu +herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten +und friedlichsten Augenblicken das Gefhl, da wir auf +vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment +einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man +den Strick oder den "Hans" so lange, bis Vater nicht +mehr konnte. Unsere lteste Schwester, ein hochbegabtes, +liebes, heiteres, fleiiges Mdchen, wurde sogar noch als +Braut mit Ohrfeigen gezchtigt, weil sie von einem +Spaziergange mit ihrem Brutigam etwas spter nach Hause +kam, als ihr erlaubt worden war. + + Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine +ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe +dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa +um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu +verteidigen, sondern ich bin der Meinung, da durch die +Art und Weise, in der man mich umstrmt, jede Antwort +und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich +schreibe dieses Buch auch nicht fr meine Freunde, denn +die kennen, verstehen und begreifen mich, so da ich nicht +erst ntig habe, ihnen Aufklrung ber mich zu geben. +Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n, +um ber mich klar zu werden und mir ber das, was +ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft +abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber +ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch +gar nicht einfllt, mir ihre Snden einzugestehen, sondern +ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was +diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird fr mich +magebend sein. Es sind fr mich also nicht gewhnliche, +sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden +Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur fr +dieses, sondern auch fr jenes Leben, an das ich glaube +und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, +verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich +einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir +wahrlich, wahrlich gleichgltig sein, was man in diesem +oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich +lege es in ganz andere, in die richtigen Hnde, nmlich +in die Hnde des Geschickes, der Alles wissenden +Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern +nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da lt sich +nichts verschweigen und nichts beschnigen. Da mu man +Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und +wie es ist, erscheine es auch noch so piettlos und tue +es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck "Karl +May-Problem" erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an +und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner +von allen denen lsen, welche meine Bcher nicht gelesen +oder nicht begriffen haben und trotzdem ber sie urteilen. +Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, +aus dem groen, alles umfassenden Plural in den Singular, +in die einzelne Individualitt transponiert. Und +genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu lsen ist, ist +auch das Karl May-Problem zu lsen, anders nicht! +Wer sich unfhig zeigt, das Karl May-Rtsel in +befriedigender, humaner Weise zu lsen, der mag um Gottes +Willen die schwachen Hnde und die unzureichenden Gedanken +davon lassen, ber sich selbst hinaus zu greifen und +sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der +Schlssel zu all diesen Rtseln ist lngst vorhanden. Die +christliche Kirche nennt ihn "Erbsnde". Die Vorvter +und Vormtter kennen, heit, die Kinder und Enkel +begreifen, und nur der Humanitt, der wahren +edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der +Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die +Nachkommen wahr und ehrlich sein zu knnen. Den +Einflu der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das +Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links +eine Erlsung fr beide Teile, und so habe auch ich die +meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit +waren, mag man dies fr unkindlich halten oder nicht. +Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen +meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher +aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige +zu tun. -- -- + + Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten +Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene +Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter +Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein +dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein +ganzes Schock Fnfzigpfenniger, und im fnften und +letzten fanden sich zehn alte Schafhuselsechser, zehn +Achtgroschenstcke, fnf Gulden und vier Taler vor. Das +war ja ein Vermgen! Das erschien der Armut fast +wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei +schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafr +aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben +unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern +Husern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. +Gromutter, die Mutter meines Vaters, zog in das +Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und +die Haustr gab. Dahinter lag ein Raum mit einer +alten Wscherolle, die fr zwei Pfennige pro Stunde an +andere Leute vermietet wurde. Es gab glckliche Sonnabende, +an denen diese Rolle zehn, zwlf, ja sogar vierzehn +Pfennige einbrachte. Das frderte die Wohlhabenheit +ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern +mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. +Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von +Musen und einigen greren Nagetieren, die eigentlich +im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, +uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war +er immer leer. Einmal standen einige Scke Kartoffeln +darin, die gehrten aber nicht uns, sondern einem +Nachbar, der keinen Keller hatte. Gromutter meinte, da +es viel besser wre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln +uns gehrten. Der Hof war grad so gro, da wir fnf +Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoen. +Hieran grenzte der Garten, in dem es einen +Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen +Wassertmpel gab, den wir als "Teich" bezeichneten. Der +Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir +uns erkltet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn +wenn das Eine sich erkltete, fingen auch alle Andern +an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der +Apfelbaum blhte immer sehr schn und sehr reichlich; da wir +aber nur zu wohl wuten, da die Aepfel gleich nach +der Blte am besten schmecken, so war er meist schon +Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren +uns heilig. Gromutter a sie gar zu gern. Sie wurden +tglich gezhlt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu +vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr +davon, als uns eigentlich zustand. Was den "Teich" +betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht +mit Fischen, sondern mit Frschen. Die kannten wir alle +einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so +zwischen zehn und fnfzehn. Wir ftterten sie mit +Regenwrmern, Fliegen, Kfern und allerlei andern guten +Dingen, die wir aus gastronomischen oder sthetischen +Grnden nicht selbst genieen konnten, und sie waren uns +auch herzlich dankbar dafr. Sie kannten uns. Sie +kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen nherten. +Einige lieen sich sogar ergreifen und streicheln. Der +eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir +am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr +ber ihre Zither freuen als wir ber unsere Frsche. +Wir wuten ganz genau, welcher es war, der sich hren +le [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie +gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so +sprangen wir aus den Federn und ffneten die Fenster, +um mitzuquaken, bis Mutter oder Gromutter kam und +uns dahin zurckbrachte, wohin wir jetzt gehrten. Leider +aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Stdtchen, +um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. +Der hatte berall etwas auszusetzen. Dieser +ebenso sonderbare wie gefhllose Mann schlug, als er +unsern Garten und unsern schnen Tmpel sah, die Hnde +ber dem Kopf zusammen und erklrte, da dieser Pest- +und Cholerapfuhl sofort verschwinden msse. Am nchsten +Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn +Stadtrichters Layritz des Inhaltes, da binnen jetzt und +drei Tagen der Tmpel auszufllen und die Froschkolonie +zu tten sei, bei fnfzehn "Guten Groschen" Strafe. +Wir Kinder waren emprt. Unsere Frsche umbringen! +Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen +wre, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und +was wir beschlossen, wurde ausgefhrt. Der Tmpel +wurde so weit ausgeschpft, da wir die Frsche fassen +konnten. Sie wurden in den groen Deckelkorb getan +und dann hinaus hinter das Schiehaus nach dem groen +Zechenteich getragen, Gromutter voran, wir hinterher. +Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost, +gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer +dabei laut geworden, wieviel Trnen dabei geflossen und +wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten +Bezirksarzt gefllt worden sind, das ist jetzt, nach ber +sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch wei +ich noch ganz bestimmt, da Gromutter, um dem ungeheuern +Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung +gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn +Jahren ein dreimal greres Haus mit einem fnfmal +greren Garten erben, in dem es einen zehnmal greren +Teich mit zwanzigmal greren Frschen gebe. Das +brachte in unserer Stimmung eine ebenso pltzliche wie +angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der +Gromutter und dem leeren Deckelkorb vergngt nach +Hause. + + Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind +war und schon laufen konnte. Ich war weder blind +geboren noch mit irgendeinem vererbten krperlichen Fehler +behaftet. Vater und Mutter waren durchaus krftige, +gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals +krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu +zeihen, ist eine Bswilligkeit, die ich mir unbedingt +verbitten mu. Da ich kurz nach der Geburt sehr schwer +erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre +siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der +rein rtlichen Verhltnisse, der Armut, des Unverstandes +und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer +fiel. Sobald ich in die Hand eines tchtigen Arztes kam, +kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein +hchst krftiger und widerstandsfhiger Junge, der stark +genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch +ehe ich ber mich selbst berichte, habe ich noch fr einige +Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste +Kindheit verlebte. + + Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm +stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. +Hieraus ergab sich, da wir eben nur mietfrei wohnten, +und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, +Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem malos +war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleie, +seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung +der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein +konnte, weiter zu sparen und das Huschen von Schulden +frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu +glaubte, pltzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch +an, jetzt zu einer andern Lebensfhrung bergehen zu +drfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben +lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun +ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu +etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und +mehr lohnte als die Weberei. Whrend er, nicht schlafen +knnend, im Bette lag und darber nachdachte, was zu +ergreifen sei, hrte er die Ratten ber sich im leeren +Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte +sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem +Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschlu, +die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er +wollte Taubenhndler werden, obgleich er von diesem +Fache nicht das geringste verstand. Er hatte gehrt, +da da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der +Meinung, da er auch ohne die ntigen Sonderkenntnisse +genug Intelligenz besitze, jeden Hndler zu berlisten. +Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft. + + Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten +zu bewerkstelligen. Mutter mute einen ihrer Beutel +opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. +Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, +welches wir Kinder an ihnen fanden. Am +meisten Vergngen machte es uns, wenn wir beobachteten, +wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider vernderten. +Vater hatte zwei Paar sehr teure "Blaustriche" gekauft. +Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, +wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige +Tage spter lagen die blauen Federn am Boden: sie +waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die +kostbaren "Blaustriche" entpuppten sich als ganz wertlose +Feldweilinge. Vater erwarb einen sehr schnen, jungen, +grauen Trommeltuberich fr einen Taler fnfzehn gute +Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, da der +Tuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem +Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und +hnliche Flle mehrten sich. Die Folge davon war, da +Mutter noch einen dritten Beutel opfern mute, um den +Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich +gab sich auch Vater groe Mhe. Er feierte nicht. Er +besuchte alle Markte, alle Gasthfe und Schankwirtschaften, +um zu kaufen oder Kufer zu finden. Bald kaufte er +Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er "halb geschenkt" +erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem +Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er +brachte immerfort Kse, Eier und Butter heim, die wir +gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich +die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde +sie nur mit Mhe und Verlusten wieder los. Dieses +unstte [sic], unntzliche Leben frderte nicht, sondern fra das +Glck des Hauses; es fra sogar auch noch die brigen +Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie +hrmte sich und hielt still, bis es Snde gewesen wre, +weiter zu tragen. Da fate sie einen Entschlu und ging +zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle +viel, viel vernnftiger als damals gegen unsere Frsche +zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, +da sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor +allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten +msse. Sie verriet ihm, da sie auer den bisher +erwhnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne +noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr +Stadtrichter solle doch die Gte haben, ihr zu +sagen, wie sie dieses Geld anlegen knne, um sich und +ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. +Er ffnete ihn und zhlte. Es waren sechzig harte, +blanke, wohlgeputzte Taler. Darob groes Erstaunen! +Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte +er: "Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind +eine brave Frau, und ich stehe fr Sie ein. Unsere +Hebamme ist alt; wir brauchen eine jngere. Sie gehen +nach Dresden und werden fr dieses Ihr Geld Hebamme. +Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten +Zensur zurck, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich +Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren +Zensur, so knnen wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber +gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort +einmal zu mir kommen; ich htte mit ihm zu reden!" + + Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie +kam mit der ersten Zensur zurck, und der Herr +Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. +Whrend ihrer Abwesenheit fhrte Vater mit Gromutter +das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit +fr uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir +Kinder lagen alle krank. Gromutter tat fast ber +Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der +Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen +unfrmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, +Nase, Mund und Kinn waren vollstndig verschwunden. +Der Arzt mute durch Messerschnitte nach den Lippen +suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflen +zu knnen. Sie lebt heute noch, ist die heiterste +von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man +sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten +hat, als er nach dem Mund suchte. + + Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, +noch nicht ganz vorber, mir aber brachte ihr Aufenthalt +in Dresden groes Glck. Sie hatte sich durch +ihren Flei und ihr stilles, tiefernstes Wesen das +Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase +erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten +und seelisch doch so regsamen Knaben erzhlt. Sie war +aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um +von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah +nun jetzt, und zwar mit ganz berraschendem Erfolge. +Ich lernte sehen und kehrte, auch im brigen +gesundend, heim. Aber das Alles hatte groe, groe +Opfer gefordert, freilich nur fr unsere armen +Verhltnisse gro. Wir muten um all der ntigen Ausgaben +willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von +dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Ntigste +zu decken. Wir zogen zur Miete. -- -- + + Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung +den tiefsten und grten Einflu auf meine Entwicklung +ausgebt hat. Whrend die Mutter unserer Mutter in +Hohenstein geboren war und darum von uns die "Hohensteiner +Gromutter" genannt wurde, stammte die Mutter +meines Vaters aus Ernsttal und mute sich darum als +"Ernsttaler Gromutter" bezeichnen lassen. Diese Letztere +war ein ganz eigenartiges, tiefgrndiges, edles und, fast +mchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir +von Jugend auf ein herzliebes, beglckendes Rtsel, +aus dessen Tiefen ich schpfen durfte, ohne es jemals +ausschpfen zu knnen. Woher hatte sie das Alles? +Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die +heutige Psychologie wei, was das zu bedeuten hat. Sie +war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide +aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich +nach Erlsung sehnenden Augen an. Und wer in der +richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der +hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich +nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie +war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter +frh verloren und einen Vater zu ernhren, der weder +stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele +Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt +und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu +Trnen rhrender Aufopferung. Die Armut erlaubte +ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube +zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte +alle Grber, und sie bedachte fr sich und ihren Vater +nur den einen Weg, aus ihrer drftigen Sterbekammer +im Sarge nach dem Kirchhofe hinber. Sie hatte einen +Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber +sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater +gehren, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte +nichts, aber er wartete und blieb ihr treu. + + Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste +mit noch lteren Bchern. Das waren in Leder gebundene +Erbstcke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich +als auch weltlich. Es ging die Sage, da es in der +Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte +und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese +Bcher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten +lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, +nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifrckchen *) +_______ + *) Kleines Oellmpchen. + +angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den +Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die +Bcher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer +wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken +fanden, die besser, schner und auch richtiger zu sein +schienen als die frheren. Am meisten gelesen wurde +ein ziemlich groer und schon sehr abgegriffener Band, +dessen Titel lautete: + + Der Hakawati + + d.i. + +der Mrchenerzhler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, +Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, +explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung +und Figrlich seyn + + von + Christianus Kretzschmann + der aus Germania war. + Gedruckt von Wilhelmus Candidus + A. D: M. D. C. V. + + * + * * + + Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller +orientalischer Mrchen, die sich bisher in keiner andern +Mrchensammlung befanden. Gromutter kannte diese +Mrchen alle. Sie erzhlte sie gewhnlich wrtlich +gleichlautend; aber in gewissen Fllen, in denen sie es fr +ntig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen, +aus denen zu ersehen war, da sie den Geist dessen, was +sie erzhlte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken lie. +Ihr Lieblingsmrchen war das Mrchen von Sitara; +es wurde spter auch das meinige, weil es die Geographie +und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein +ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten. + + Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstrzen. +Die Pflege war so anstrengend, da auch die Tochter +dem Tode nahe kam, doch berstand sie es. Nach +verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und +fhrte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glcklich! +Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder +wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, +welche spter einen schweren Fall tat und an den Folgen +desselben verkrppelte. Man sieht, da es an +Heimsuchungen, oder sagen wir Prfungen, bei uns nicht +fehlte. Und ebenso sieht man, da ich nichts verschweige. +Es darf nicht meine Absicht sein, das Hliche schn zu +malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes +trat jenes unglckliche Weihnachtsereignis ein, welches +ich bereits erzhlte. Der brave junge Mann strzte des +Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und +erfror. Gromutter hatte mit ihren beiden Kindern an +den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach +langer Zeit der Qual, da und in welch schrecklicher +Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf +kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der +napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles +verwstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; +der Hunger wtete. Ein armer Handwerksbursche kam, +um zu betteln. Gromutter konnte ihm nichts geben. +Sie hatte fr sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen +Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte +ihn. Er ging fort und kam nach ber einer Stunde +wieder. Er schttete vor ihr aus, was er bekommen +hatte, Stcke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrbe, +einen kleinen, sehr ehrwrdigen Kse, eine Dte [sic] Mehl, +eine Dte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges +Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich +ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; +Einer aber kennt ihn gewi und wird es ihm nicht +vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere +Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberfrster, den man +als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die +Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl +Kinder hinterlassen. Er wnschte Gromutter zur Fhrung +seiner Wirtschaft zu haben. Sie htte in dieser +Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklrte aber, sich +von ihren eigenen Kindern unmglich trennen zu knnen, +selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, htte. Der +brave Mann besann sich nicht lange. Er erklrte ihr, +es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm en; +sie wrden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht +ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der +hchsten Not! + + Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause +tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten +und erstarkten in der besseren Ernhrung. Der Oberfrster +sah, wie Gromutter sich abmhte, ihm dankbar zu sein +und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast +ber ihre Kraft, fhlte sich aber wohl dabei. Er +beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, da +er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewhrte, +was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und +eigentlich stolz. Er a mit seiner Schwiegermutter allein. +Gromutter war nur Dienstbote, doch a sie nicht in der +Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber +nach lngerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges +Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer +Beziehung an. Er erleichterte ihr die groe Arbeitslast, +erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends +aus ihren Bchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann +auch in seine eigenen Bcher zu schauen. Wie gern sie +das tat! Und er hatte so gute, so ntzliche Bcher! + + Den Kindern wurde in vernnftiger Weise Freiheit +gewhrt. Sie tollten im Walde herum und holten sich +krftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May +war der jngste und kleinste von allen, aber er tat wacker +mit. Und er pate auf; er lernte und merkte. Er wollte +Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er +noch nicht kannte. Bald wute er die Namen aller Pflanzen, +aller Raupen und Wrmer, aller Kfer und Schmetterlinge, +die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren +Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen +zu lernen. Diese Wibegierde erwarb ihm die besondere +Zuneigung des Oberfrsters, der sich sogar herbeilie, +den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich mu das +erwhnen, um Spteres erklrlich zu machen. Der nachherige +Rckfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen +Jugendzeit in die frhere Not und Erbrmlichkeit konnte +auf den Knaben doch nicht glcklich wirken. + + In dieser Zeit war es, da Gromutter whrend +des Mittagessens pltzlich vom Stuhle fiel und tot zu +Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der +Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; +Gromutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber +sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal +die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. +Sie sah und hrte alles, das Weinen, das Jammern +um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen +wurde. Sie sah und hrte den Tischler, welcher kam, +um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde +sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am +Begrbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die +Leichentrger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit +der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der +Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! +Drei Tage und drei Nchte lang hatte sie sich alle mgliche +Mhe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, +da sie noch lebe -- -- vergeblich! Jetzt kam der letzte +Augenblick, an dem noch Rettung mglich war. Hatte +man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung +mehr. Sie erzhlte spter, da sie sich in ihrer +frchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mhe +gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, +als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten +Male zu ergreifen. So tat auch das jngste Mdchen +des Oberfrsters, welches besonders sehr an Gromutter +gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: +"Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!" +Und richtig, man sah, da die scheinbar Verstorbene +ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd +ffnete und schlo. Von einem Begrbnisse konnte nun +selbstverstndlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden +andere Aerzte geholt; Gromutter war gerettet. Aber +von da an war ihre Lebensfhrung noch ernster und +erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was +sie in jenen unvergelichen drei Tagen auf der Schwelle +zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. +Es mu schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist +ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen +zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot +gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten +wirklichen Tod nur fr Schein und suchte jahrelang +nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklren und +zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich +es zu verdanken, da ich berhaupt nur an das Leben +glaube, nicht aber an den Tod. + + Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz +berwunden, als Gromutter infolge der Versetzung und +Wiederverheiratung des Oberfrsters mit ihren beiden +Kindern in ihre frheren Verhltnisse zurckgestoen wurde. +Sie kehrte nach Ernsttal zurck und hatte nun wieder +jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein +braver Mann, der Vogel hie und auch Weber war, +hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie +msse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie +ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen; +war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe. +Er starb und hinterlie ihr alles, was er besessen hatte, +die Armut und den Ruf eines braven, fleiigen Mannes. +Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr +Mdchen zu einer Nhterin und ihren Knaben zu einem +Weber, der ihn von frh bis abends am Spulrad +beschftigte. Denn da der Junge nun weiter nichts als +nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz +von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich whrend +seines Aufenthaltes im Forsthause vollstndig vergangen; +er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist +gewi erklrlich, da er spter, nachdem er in dieses +ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die +Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus +zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als +Jngling seine Pflicht. Er war fleiig und wurde ein +tchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und +Akkuratesse zeigte, da jeder Unternehmer ihn gern fr +sich arbeiten lie. In seinen Freistunden aber strich er +durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die +Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberfrster +erworben hatte Darum machte es ihm groe Freude, +da sich unter der oben erwhnten Erbschaft unserer +Mutter auch einige alte, hochinteressante Bcher befanden, +deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschftigungen +von groem Nutzen war. Ich denke da besonders an +einen groen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten +zhlte und folgenden Titel hatte: + + Krutterbuch + +De hochgelehrten vnnd weltberhmten Herrn Dr. Petri +Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen schnen +newen Figuren / auch ntzlichen Artzeneyen / vnnd andern +guten Stcken / zum dritten Mal auss sondern Flei +gemehret vnnd verferdigt / + + Durch + Joachimum Camerarium, + der lblichen Reichsstatt Nrnberg Medicum, Doct. + +Sampt dreien wohlgeordneten ntzlichen Registern der +Krutter lateinische und deutsche Namen / vund dann +die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. +Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund +Brennfen. + + Mit besonderem Rm. Kais. Majest. Priviligio, + in keinerley Format nachzudrucken. + Gedruckt zu Franckfurt am Mayn + M. D. C. + + * + * * + + Es verstand sich ganz von selbst, da Vater dieses +Buch sofort hernahm und fleiig durchstudierte. Es +enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die +Namen der Pflanzen oft auch franzsisch, englisch, russisch, +bhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was +spter besonders mir ganz auerordentlich vorwrts half. +Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses kstlichen +Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel +mehr zu dem, was er bereits wute. Nicht nur die +Kenntnis der Gewchse an sich, sondern auch ihrer +ernhrenden und technischen Eigenschaften und ihrer +Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen +geprft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen +versehen, welche sagten, wie diese Prfungen ausgefallen +waren. Dieses Buch wurde mir spter eine Quelle der +reinsten, ntzlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, +da Vater mich dabei vortrefflich untersttzte. + + Ein anderes dieser Bcher war eine Sammlung +biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit +der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso +wie das Kruterbuch, noch heut. Es enthlt sehr viele +und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das +erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem +elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt +ist nicht mehr vorhanden. Darum wei ich nicht, +wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk +stammt. Es war Gromutters Hilfsbuch, wenn sie uns +die biblischen Geschichten erzhlte. Jede dieser +Erzhlungen war fr uns ein Hochgenu, und damit komme +ich auf den grten Vorzug, den Gromutter fr uns +Kinder hatte, nmlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu +erzhlen. + + Gromutter erzhlte eigentlich nicht, sondern sie +schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch +der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit +auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhrten, so +hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, da +sie das, was sie erzhlte, ganz nur fr ihn allein +erzhlte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der +Bibel oder aus ihrer reichen Mrchenwelt berichten, stets +ergab sich am Schlu der innige Zusammenhang zwischen +Himmel und Erde, der Sieg des Guten ber das Bse +und die Mahnung, da Alles auf Erden nur ein Gleichnis +sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im +niedrigen sondern nur im hheren Leben liege. Ich bin +berzeugt, da sie das nicht bewut und in klarer +Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern +es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht +bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man +ihn weder kennt noch beobachtet. Gromutter war eine +arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von +Gottes Gnaden und darum eine Mrchenerzhlerin, die +aus der Flle dessen, was sie erzhlte, Gestalten schuf, +die nicht nur im Mrchen, sondern auch in Wahrheit +lebten. + + In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Mrchen +von Sitara, sondern das Mrchen "von der verloren +gegangenen und vergessenen Menschenseele" auf. Sie tat +mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen +blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Fr mich +enthielt diese Erzhlung die volle Wahrheit. Aber erst +nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich +mit dem Innern des Menschen eingehend beschftigt +hatte, erkannte ich, da die Kenntnis der Menschenseele +in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und da +alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns +diese Kenntnis zurckzubringen. Ich habe in meiner +Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und +in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um +nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene +gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm +Gromutter mich auf ihren Scho, kte mich auf die +Stirn und sagte: "Sei still, mein Junge! Grme dich +nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!" +"Wo?" fragte ich. "Hier, bei mir", antwortete sie. +"Du bist diese Seele, du!" "Aber ich bin doch nicht +verloren," warf ich ein. "Natrlich bist du verloren. Man +hat dich herabgeworfen in das rmste, schmutzigste Ardistan. +Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich +vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen." -- Ich +begriff das damals nicht; ich verstand es erst spter, +viel, viel spter. Eigentlich war in dieser meiner frhen +Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als +Seele. Ich sah nichts. Es gab fr mich weder +Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch +Ortsvernderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstnde +wohl fhlen, hren, auch riechen; aber das gengte +nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte +sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein +Tisch aussieht, das wute ich nicht; ich konnte mir nur +innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war +seelisch. Wenn jemand sprach, hrte ich nicht seinen +Krper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeueres, +sondern sein Inneres trat mir nher. Es gab fr mich +nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, +auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf +den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir +und anderen. Das ist der Schlssel zu meinen Bchern. +Das ist die Erklrung zu allem, was man an mir lobt, +und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind +gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine +so tief gegrndete und so mchtige Innenwelt besa, da +sie selbst dann, als er sehend wurde, fr lebenslang seine +ganze Auenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles +hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich +schrieb, und nur der besitzt die Fhigkeit, mich zu +kritisieren, _sonst_keiner!_ + + Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den +Eltern, sondern bei Gromutter. Sie war mein alles. +Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, +mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. +Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das +kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverstndlich +hnlich. Was sie mir erzhlte, das erzhlte ich ihr wieder +und fgte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet +und teils erschaute. Ich erzhlte es den Geschwistern +und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu +ihnen konnte. Ich erzhlte in Gromutters Tone, mit +ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang +altklug und berzeugte. Es verlieh mir den Nimbus +eines ber sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So +kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhren, und ich wre +vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben +worden, wenn Gromutter nicht so sehr bescheiden, wahr +und klug gewesen wre, da, wo ich in Gefahr stand, +einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit +gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grbeln als +andere Kinder. Da kann es leicht klger erscheinen, als +es ist. Leider besa Vater nicht diese kluge Bescheidenheit +der Gromutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit +der Mutter. Er sprach sehr gern und bertrieb, +wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und +was er sagte. So kam es, da ich dem Schicksal, dem +ich hier entging, spter doch noch verfiel, dem entsetzlichen +Schicksal, totgelobt zu werden. + + Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon +derart entwickelt und in seinen spteren Grundzgen +festgelegt, da selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor +meinen Augen ffnete, nicht die Macht besa, den Schwerpunkt, +der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. +Ich blieb ein Kind fr alle Zeit, ein um so greres +Kind, je grer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem +die Seele derart die Oberhand besa und noch heute +besitzt, da keine Rcksicht auf die Auenwelt und auf +das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas +zu unterlassen, was ich fr seelisch richtig befunden habe. +Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung +gemacht, da es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir. +Es handelt am liebsten nicht aus uerlichen Grnden, +sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. +Die grten und schnsten Taten der Nation wurden +aus ihrem Innern heraus geboren. Und wre der Geist +eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, +so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines +Volkes den Stoff zu einem groen, nationalen Drama +aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. +Und grnden wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von +Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-, +Schler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil +von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir +Bcher whlen, deren Bedrfnis nur in unserm Pedantismus +und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den +Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese +Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. +Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch +heut. Darum wei ich, da man dem Volke und der Jugend +keine Tugendmusterbcher in die Hand geben darf, weil es +eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der +Leser will Wahrheit, will Natur. Er hat die sittlichen +Haubenstcke, die immer genauso stehen, wie man sie +stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur +das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralitt +angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers +besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, +die in jeder Lage so beraus kstlich einwandfrei handeln, +da man sie unbedingt berdrssig wird, sondern seine +grte Kunst besteht darin, da er von seinen Figuren +getrost die Fehler und Dummheiten machen lt, vor +denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist +tausendmal besser, er lt seine Romanfiguren zugrunde +gehen, als da der ergrimmte Knabe hingeht, um das +Bse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach +geschehen mute, nun seinerseits aus dem Buche in das +Leben zu bertragen. Hier liegt die Achse, um die sich +unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. +Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie +stoen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und +packend, so wird man Positives erreichen. + + Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten +wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. +Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. +Gegen Abend versammelten sich die lteren Schulknaben +unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzhlen. +Das war eine hchst exklusive Gesellschaft. Es durfte +nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so +machte man keinen "Summs"; der wurde fortgeprgelt und +kehrte gewi nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich +bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst +fnf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und +vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch +niemals dagewesen! Das hatte ich der Gromutter und +ihren Erzhlungen zu verdanken! Zunchst verhielt ich +mich still und machte den Zuhrer, bis ich alle Erzhlungen +kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir +das nicht bel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen +gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde +von Allen geschont. Dann aber, als das vorber war, +wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Mrchen, +eine andere Geschichte, eine andere Erzhlung. Das war +viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar +mit Vergngen. Gromutter arbeitete mit. Was ich +in der Dmmerstunde zu erzhlen hatte, das arbeiteten +wir am frhen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe +aen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor +kam, wohlvorbereitet. Unser schnes Buch "Der Hakawati" +gab Stoff fr lange Zeit. Hierzu kam, da dieser Stoff +sich mit der Zeit ganz auerordentlich vermehrte, doch +freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die +sehr einfache und sehr natrliche Folge davon, da ich +nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch +den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare +Welt der Farben, Formen, Krper und Flchen zu bersetzen +hatte. Dadurch entstanden unzhlige Variationen +und Vervielfltigungen, die ich nur dadurch, da ich sie +erzhlte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte. + + Inzwischen hatte Vater es erreicht, da ich in die +Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten +Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme +sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch +als Lokalschulinspektor sehr gern erfllte, und mit dem +Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wchentlich +zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, +und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von +dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen +und schreiben, denn Vater und Gromutter halfen dabei, +und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit +gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. +Es sollte sich nmlich an mir erfllen, was sich an ihm +nicht erfllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick +in bessere und menschlichere Verhltnisse tun drfen. Und +er mute immer daran denken, da es unter unsern +Vorfahren bedeutende Mnner gegeben hatte, von denen wir, +ihre Nachkommen, sagen muten, da wir ihrer nicht +wrdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber +von den Verhltnissen gewaltsam niedergehalten worden. +Das krnkte und das rgerte ihn. Fr sich hatte er mit +diesen Verhltnissen abgeschlossen. Er mute bleiben, +was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber +er bertrug seine Wnsche und Hoffnungen und alles +Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles +Mgliche zu tun und nichts zu versumen, aus mir den +Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt +gewesen war. Das kann man gewi nur lblich von ihm +nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche +Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was fr +mich gut und glcklich war. Das konnte er nur mit +guten und glcklichen Mitteln erreichen. Leider aber mu +ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, da meine +"Kindheit" jetzt, mit dem fnften Jahre, zu Ende war. +Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum +Sehen ffnete. Was diese armen Augen von da an bis +heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, +Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual +am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende +peinigt. -- -- -- + + _________ + + + III + Keine Jugend. + + _____ + +Du liebe, schne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe +ich dich gesehen, wie oft mich ber dich gefreut! Bei +Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht. +Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. +Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum +Neid habe ich berhaupt keinen Platz in mir; aber wehe +hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem +Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, +kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, +und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wrme. +Aber Liebe mu sein, selbst im allerrmsten Leben, und +wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der +Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. +Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und +kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts +bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm +und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der +immer nur Empfangende! + + Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem +man sich ber mich befindet, gleich von vornherein +aufzuklren. Man hlt mich nmlich fr sehr reich, sogar +fr einen Millionr; das bin ich aber nicht. Ich hatte +bisher nur mein "gutes Auskommen," weiter nichts. +Selbst hiermit wird es hchst wahrscheinlich zu Ende sein, +denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich mssen +endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. +Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, da ich +genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nmlich +als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut +aber nichts. Das ist rein uerlich. Das kann an +meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts +ndern. + + Die Lge, da ich Millionr sei, da mein Einkommen +180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, +sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer +Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, +diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des +Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wute +sehr wohl, was er tat, als er seine Lge in die Zeitungen +lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und +allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die frheren +Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber +seit man mich im Besitz von Millionen whnt, geht man +geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. +Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner +Kritiker spielt diese Geldgehssigkeit eine Rolle. Es +berhrt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen +Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem +ordinren Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein +schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines +Kapital als eisernen Bestand fr meine Reisen, weiter +nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts brig. +Das reicht grad aus fr meinen bescheidenen Haushalt +und fr die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen +Prozessen zu bringen habe. Frher konnte ich meinem +Herzen Genge tun und gegen arme Menschen, besonders +gegen arme Leser meiner Bcher, mildttig sein. Das +hat nun aufgehrt. Zwar werde ich infolge jener +raffinierten Millionenlge jetzt mehr als je mit Zuschriften +gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich +kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich +abweisen mu, fhlt sich enttuscht und wird zum Feinde. +Ich konstatiere, da jene Gewissenlosigkeit, mich als einen +steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr +geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen +Feindseligkeiten zusammengenommen. + + Nach dieser Abschweifung, die ich fr ntig hielt, +nun wieder zurck zur "Jugend" dieses angeblichen +"Millionrs", der nach ganz anderen Schtzen strebt als alle +die, welche ihn auszubeuten trachten. + + Es waren damals schlimme Zeiten, zumal fr die +armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat +liegt. Dem gegenwrtigen Wohlstande ist es fast unmglich, +sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange +der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. +Arbeitslosigkeit, Miwuchs, Teuerung und Revolution, +diese vier Worte erklren Alles. Es mangelte uns an +fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft +gehrt. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt +"Zur Stadt Glauchau", des Mittags die Kartoffelschalen +aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch +daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir +gingen nach der "roten Mhle" und lieen uns einige +Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um +irgend etwas Nahrungsmittelhnliches daraus zu machen. +Wir pflckten von den Schutthaufen Melde, von den +Rainen Otterzungen und von den Zunen wilden Lattich, +um das zu kochen und mit ihm den Magen zu fllen. +Die Bltter der Melde fhlen sich fettig an. Das ergab +beim Kochen zwei oder drei kleine Fettuglein, die +auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie +delikat uns das erschien! Glcklicherweise gab es unter +den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch +einige wenige Strumpfwirker, deren Geschft nicht ganz +zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so +auerordentlich billige weie Handschuhe, die man den Leichen +anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, +solche Leichenhandschuhe zum Nhen zu bekommen. Da +saen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von frh +bis abends spt und stichelten darauf los. Mutter nhte +die Daumen, denn das war schwer, Gromutter die Lngen +mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die +Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleiig waren, hatten +wir alle zusammen am Schlu der Woche elf oder sogar +auch zwlf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! +Dafr gab es fr fnf Pfennig Runkelrbensyrup, auf +fnf Dreierbrtchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft +zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung +fr die verflossene und Anregung fr die kommende +Woche. + + Whrend wir in dieser Weise fleiig daheim arbeiteten, +hatte Vater ebenso fleiig auswrts zu tun; leider +aber war seine Arbeit mehr ehrend als nhrend. Es +galt nmlich, den Knig Friedrich August und die ganze +schsische Regierung vor dem Untergange zu retten. +Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der +Knig sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande +gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; +aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon +zurck, und zwar aus den vortrefflichsten Grnden; +es war nmlich zu gefhrlich! Die lautesten Schreier hatten +sich zusammengetan und einen Bckerladen gestrmt. Da +kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie +fhlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer +und Mrtyrer gro und mchtig, aber ihre Frauen wollten +von solchem Heldentum nichts wissen; sie strubten sich +mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie +gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen +die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; +sie drohten; sie baten. Ruhige, vernnftige Mnner gesellten +sich zu ihnen. Der alte, ehrwrdige Pastor Schmidt +hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. +Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und +warnte vor den schrecklichen Folgen der Emprung; der +Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am groen +Kirchentor erzhlten sich die Jungens in der Abenddmmerung +nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden +und ganz besonders vom Schafott, welches derart +beschrieben wurde, da Jedermann, der es hrte, sich +mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, +da die Stimmung sich ganz grndlich nderte. Von +der Absetzung des Knigs war keine Rede mehr. Im +Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als +ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht +mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschtzen. Man +hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise +dies am besten geschehe, und da allberall vom Kampf +und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es +sich ganz von selbst, da auch wir Jungens uns nicht nur +in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische +Gewnder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. +Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu +und hatte keine Zeit; ich mute Handschuhe nhen. Aber +die anderen Buben und Mdels standen berall an den +Ecken und Winkeln herum, erzhlten einander, was sie +daheim bei den Eltern gehrt hatten, und hielten hchst +wichtige Beratungen ber die beste Art und Weise, die +Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. +Besonders ber eine alte, bse Frau war man emprt. +Die war an Allem schuld. Sie hie die Anarchie und +wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in +die Stdte, um die Huser niederzureien und die Scheunen +anzubrennen; so eine Bestie! Glcklicherweise waren +unsere Vter lauter Helden, von denen keiner sich vor +irgend Jemand frchtete, auch nicht vor dieser ruppigen +Anarchie. Man beschlo die allgemeine Bewaffnung fr +Knig und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit +alten Zeiten eine Schtzen- und eine Gardekompagnie. +Die erstere scho nach einem hlzernen Vogel, die letzere [sic] +nach einer hlzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen +sollten noch zwei oder drei andere gegrndet werden, +besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum +Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, +da es in unserem Stdtchen eine ganz ungewhnliche +Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt +waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man +wollte keinen von ihnen missen. Man zhlte sie. Es +waren dreiunddreiig. Das stimmte sehr gut und rechnete +sich glatt aus, nmlich: Man brauchte pro Kompagnie +je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen +Leutnant; wenn man zu den Schtzen und der Garde noch +neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa +elf, und alle dreiunddreiig Offiziere waren unter Dach +und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgefhrt, wobei +die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverstndlich +nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, +Herr Strumpfwirkermeister Lser, der beim Militr +gestanden und darum alle dreiunddreiig Offiziere +einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn +je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute knnten +im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es +bei dem, was beschlossen worden war. + + Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. +Er bekam einen Sbel und eine Signalpfeife. +Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete +nach hherem. Darum beschlo er, sobald er ausexerziert +war, sich ganz heimlich, ohne da irgend Jemand etwas +davon bemerkte, im "hheren Kommando" einzuben. Und +da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde +ich einstweilen vom Handschuhnhen dispensiert und wanderte +mit ihm tagtglich hinaus in den Wald, wo auf einer +rings von Bschen und Bumen umgebenen Wiese unsere +geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war +bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; +ich aber war die schsische Armee. Ich wurde erst als +"Zug", dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf +wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. +Ich mute bald reiten, bald laufen, bald vor und bald +zurck, bald nach rechts und bald nach links, bald +angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den +Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber +ich war noch so jung und klein, und so kann man sich +bei dem jhen Temperamente meines Generals wohl +denken, da es mir nicht mglich war, mich in so kurzer +Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur +vollzhligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die +Strenge der militrischen Disziplin an mir erfahren zu +haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu +stolz dazu. Eine schsische Armee, welche weint, die gibt +es nicht! Auch lie der Lohn nicht auf sich warten. +Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu +mir: "Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir +eine Trommel. Du sollst Tambour werden!" Wie das +mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich +der Ueberzeugung war, alle diese Pffe, Ste, Hiebe und +Katzenkpfe nur zum Wohle und zur Rettung des Knigs +von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben! +Wenn er das wte! + + Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. +Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein +war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut +gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin +spter, als ich etwas grer war, doch auch noch als Knabe, +Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde +diese Trommel noch einmal zu erwhnen haben. Die elf +Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast +tglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil +es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten +und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute +nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor. +Es gab auch an andern Orten "Knigsretter". Die standen +miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald +der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen +und fr den Knig alles zu wagen, unter Umstnden sogar +das Leben. Und eines schnen Tages kam er, dieser Befehl. +Die Signalhrner erklangen; die Trommeln wirbelten. +Aus allen Tren strmten die Helden, um sich auf +dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister +Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd +geborgt und sa da mitten drauf. Es war keine leichte +Sache fr ihn, zwischen dem Kommandanten, dem +Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn +der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau +Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre +Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt. +Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch +gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man +war berhaupt nur begeistert. Keine Spur von +Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bedrfnis, von Frau und +Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, +dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr +Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch +der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe +der einzelnen Hauptleute: "Achtung -- -- Augen +rechts, rrrricht't euch -- -- Augen grrrade aus -- -- +G'wehr bei Fu -- -- G'wehr auf -- -- G'wehr prsentiert +-- -- G'wehr ber -- -- Rrrrechts um -- -- +Vorwrts marsch!" Voran der Herr Adjutant auf dem +geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem +trkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der +Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schtzen, +die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so +marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts +zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche +vorber, dem wir damals unsere Frsche anvertrauten, +nach Wstenbrand, um ber Chemnitz und Freiberg nach +der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehriger +marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das +Weichbild des Stdtchens das Geleit zu geben. Ich aber +stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn +Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustr, +dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester +des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine +Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen +Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glhend; +sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle +meine Wege, die ich fr sie tat, nur mit angefaulten +Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem +Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu +rauchen, das Stck zu zwei Pfennige. Die mute ich +ihm vom Krmer holen, weil er sich schmte, so billige +selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die +Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch +er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig +begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er: + + "Es ist doch etwas Groes, etwas Edles um solche +Begeisterung fr Gott, fr Knig und Vaterland!" + + "Aber was bringt sie ein?" fragte die Frau +Kantorin. + + "Das Glck bringt sie ein, das wirkliche, das wahre +Glck!" + + Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte +es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da +stand ein Franzpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder +und dachte ber das nach, was der Herr Kantor gesagt +hatte. Also Gott, Knig und Vaterland, in diesen Worten +liegt das wahre Glck; das wollte und mute ich mir +merken! Spter hat dann das Leben an diesen drei +Worten herumgemodelt und herumgemeielt; aber mgen +sich die Formen verndert haben, das innere Wesen ist +geblieben. + + Von allen, die heut ausgezogen waren, um groe +Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul +zurck. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten +bergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als +Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld brig habe, +das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder +gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der +Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, da er mit +seinen Plattfen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein +Naturfehler, den er nicht ndern knne. Als es dunkel +geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche +aus triftigen Grnden entlassen worden waren und die +die Nachricht brachten, da unser Armeekorps hinter +Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic] +geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. +Gegen Morgen kam die berraschende, aber ganz und gar +nicht traurige Kunde, da man aus Freiburg [sic] die Weisung +erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar +nicht gebraucht, denn die Preuen seien in Dresden +eingerckt und so stehe fr den Knig und die Regierung +nicht das Geringste mehr zu befrchten. Man kann sich +wohl denken, da es heut nun keine Schule und keinerlei +Arbeit gab. Auch ich emprte mich gegen das Handschuhflicken. +Ich ri einfach aus und gesellte mich den wackeren +Buben und Mdels zu, welche elf Kompagnieen bilden +und ihren heimkehrenden Vtern entgegen ziehen sollten. +Dieser Plan wurde ausgefhrt. Wir kampierten bei den +Wstenbrnder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten +kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag +den Schiehausberg hinab, wo unsere verwaisten +Frauen und Mtter standen, um uns alle, Gro und Klein, +teils gerhrt, teils lachend in Empfang zu nehmen. + + Warum ich das alles so ausfhrlich erzhle? Des +tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich +habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen +meines Schicksals zusammengeflossen sind. Da ich trotz +allem, was spter geschah, niemals auch nur einen einzigen +Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, +wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze +schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen +verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber +auch in diesen kleinen Ereignissen der frhen Jugend, die +alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. +Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors +vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern +zu Geist und Seele geworden sind. + + Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine +ruhigen, frheren Bahnen zurck. Ich nhte wieder +Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule +gengte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als +das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine +Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltnenden, +umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr +Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell +treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenber mutig. So +kam es, da mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli +bertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte +fr teure Kirchenstcke keine Mittel brig. Der Herr +Kantor mute sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo +das nicht angngig war, da komponierte er selbst. Und +er war Komponist! Und zwar was fr einer! Aber er +stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Drfchen Mittelbach, +von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch +das Musikstudium frmlich hindurchgehungert und, bis er +Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und +blaue Leinenhosen kleiden knnen und sah einen Taler fr +ein Vermgen an, von dem man wochenlang leben konnte. +Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. +Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war +mit allem zufrieden. Ein ganz vorzglicher Orgel-, Klavier- +und Violinspieler, konnte er auch die komponistische +Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und htte +es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen knnen, wenn +ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen +wre. Jedermann wute: Wo in Sachsen und den +angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, +da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, +um sie kennenzulernen und einmal spielen zu knnen. +Das war die einzige Freude, die er sich gnnte. Denn +mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu +fehlte ihm auer der Beherztheit besonders auch die +Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein +wohlhabendes Mdchen gewesen war und darum in der +Ehe als zweiunddreiigfiger "Prinzipal" ertnte, whrend +dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften +"Vox humana" zugebilligt wurde. Sie besa mit ihrem +Bruder gemeinsam einige Obstgrten, deren Ertrgnisse +mit der uersten Genauigkeit verwertet wurden, und +da ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und +Birnen bekam, das habe ich bereits erwhnt. Sie wute +das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Knigreich +verschenke. Fr den unendlich hohen Wert ihres Mannes, +sowohl als Mensch wie auch als Knstler, hatte sie nicht +das geringste Verstndnis. Sie war an ihre Grten und +er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges +Dasein und seine seelischen Bedrfnisse bekmmerte sie sich +nicht. Sie ffnete keines seiner Bcher, und seine vielen +Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, +tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. +Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur +an die Papiermhle verkauft, ohne da ich dies +verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein +tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, fr +das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu +sein, welches nur in niederen Lften atmet und selbst den +begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Hhen +kommen lt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor +konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine +ungemeine Fgsamkeit besa und hierzu eine Gutmtigkeit, +die niemals vergessen konnte, da er ein armer Teufel, +die Friederike aber ein reiches Mdchen und auerdem +die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war. + + Spter gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. +Ich habe bereits gesagt, da Vater den Bogen +zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz +selbstverstndlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, +ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike +gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde +in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube +gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe +finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und +wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr +Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: +"Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine +Frau Friederike hlt es nicht aus; sie hat Migrne". +Manchmal hie es auch "sie hat Vapeurs". Was das +war, wute ich nicht, doch hielt ich es fr eine Steigerung +von dem, was ich auch nicht wute, nmlich von der +Migrne. Aber da sich das immer nur dann einstellte, +wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht +gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, +da er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit +es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die +Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das +in der spteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt +noch nicht. + + Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, +so auch in dem, was er meine "Erziehung" nannte. +Notabene mich "erzog" er; um die Schwestern bekmmerte +er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf +gesetzt, da ich im Leben das erreichen werde, was von +ihm nicht zu erreichen war, nmlich nicht nur eine +glcklichere, sondern auch eine geistig hhere Lebensstellung. +Denn das mu ich ihm nachrhmen, da ihm zwar der +Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nchsten +stand, da er aber den hheren Wert auf die krftige +Entwickelung der geistigen Persnlichkeit setzte. Er fhlte +das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten +auszudrcken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, +womglich ein hochgebildeter Mann werden, der fr das +allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies +war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad +in diesen, sondern in andern Worten uerte. Man sieht, +er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit +von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er +wnschte, und war vollstndig berzeugt, es erreichen zu +knnen. Leider aber war er sich ber die Wege, auf +denen, und ber die Mittel, durch welche dieses Ziel zu +erreichen war, nicht klar, und er unterschtzte die gewaltigen +Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war +zu jedem, selbst zum grten Opfer bereit, aber er bedachte +nicht, da selbst das allergrte Opfer eines armen Teufels +dem Widerstande der Verhltnisse gegenber kein Gramm, +kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte +keine Ahnung davon, da ein ganz anderer Mann als er +dazu gehrte, mit leitender Hand derartigen Zielen +zuzusteuern. Er war der Ansicht, da ich vor allen Dingen +so viel wie mglich, so schnell wie mglich zu lernen habe, +und hiernach wurde mit grter Energie gehandelt. + + Ich war mit fnf Jahren in die Schule gekommen, +aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das +Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei +Jahre ltere Schwester ein. Dann wurden die Schulbcher +lterer Knaben gekauft. Ich mute daheim die +Aufgaben lsen, die ihnen in der Schule gestellt waren. +So wurde ich sehr bald klassenfremd, fr so ein kleines, +weiches Menschenkind ein groes, psychologisches Uebel, +von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich +glaube, da sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was +fr ein groer Fehler da begangen wurde. Sie gingen +von der anspruchslosen Erwgung aus, da ein Knabe, +den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz +einfach und trotz seiner Jugend in die nchst hhere Klasse +zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder +weniger mit meinem Vater befreundet, und so drckte +sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darber zu, +da ich als acht- oder neunjhriger Knabe schon bei den +elf- und zwlfjhrigen sa. In Beziehung auf meine +geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule +freilich nicht viel gehrte, war dies allerdings wohl richtig; +seelisch aber bedeutete es einen groen, schmerzlichen +Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, da +ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig +und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in +die ich meinem Alter nach noch nicht gehrte, fr meinen +kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern +Seite meiner Seele genommen. Ich sa nicht unter +Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und +schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen +Bedrfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war +gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde +von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche +hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen +ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht ber +dieses nur scheinbar winzige, hchst unwichtige Knabenschicksal +zu lcheln. Der Erzieher, der sich im Reiche der +Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen +Augenblick zgern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder +erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will +festen Boden unter den Fen haben, den es ja nicht +verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. +Das, was man als "Jugend" bezeichnet, habe ich nie gehabt. +Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund +ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste +Folge davon ist, da ich selbst noch heut, im hohen Alter, +in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. +Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie +verstanden, und so ist es gekommen, da um meine Person +sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich +ganz unmglich zu unterschreiben vermag. + + Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, +beschrnkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und +auf die Schularbeiten. Er holte allen mglichen +sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl +befhigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen +zu knnen. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich +mute es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, da +ich es dadurch besser behalten knne. Was hatte ich da +alles durchzumachen! Alte Gebetbcher, Rechenbcher, +Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich +kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus +dem Jahre 1802, ber 500 Seiten stark, mute ich ganz +abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprgen. Die +stimmten natrlich lngst nicht mehr! Ich sa ganze +Tage und halbe Nchte lang, um mir dieses wste, unntige +Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verftterung +und Ueberftterung sondergleichen. Ich wre +hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich +mein Krper nicht trotz der uerst schmalen Kost so +beraus krftig entwickelt htte, da er selbst solche +Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab +auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte +nmlich keinen Spaziergang und keinen Weg ber Land +zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran +nur eine Bedingung zu knpfen, nmlich die, da kein +Augenblick der Schulzeit dabei versumt wurde. Die +Spaziergnge durch Wald und Hain waren wegen seiner +reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber +es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und +bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer +Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr +Kmmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schtzenhauptmann +Lippold und andere, um Kegel zu schieben +oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und +ich mit, denn ich mute. Er meinte, ich gehre zu ihm. +Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, +weil ich da ohne Aufsicht sei. Da ich bei ihm, in der +Gesellschaft erwachsener Mnner, gewi auch nicht besser +aufgehoben war, dafr hatte er kein Verstndnis. Ich +konnte da Dinge hren, und Beobachtungen machen, welche +der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens +war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft +auerordentlich mig. Ich habe ihn niemals betrunken +gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmiges +Quantum ein Glas einfaches Bier fr sieben Pfennige +und ein Glas Kmmel oder Doppelwacholder fr sechs +Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei +besonderen Veranlassungen teilte er ein Stckchen Kuchen +fr sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals +gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen +mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der +sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens +muten doch wissen, da ich da selbst auf erlaubten und +vollstndig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber +sehr aufmerksamer Zuhrer in Dinge und Verhltnisse +eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen +hatten. Ich wurde nicht frhreif, denn dieses +Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, +und davon bekam ich nichts zu hren, sondern etwas noch +viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit +herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, +auf dem meine Fe das Gefhl haben muten, als ob +sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann +fhlte, wenn ich zu Gromutter kam und bei ihr mich +in mein liebes, liebes Mrchenreich flchten konnte! Freilich +war ich viel zu jung, um einzusehen, da dieses Reich +sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Fr +mich hatte es keine Fe; es schwebte; es konnte mir +erst spter, wenn ich mich zum Verstndnis emporgearbeitet +hatte, die Sttze bieten, die mir so ntig war. + + Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, +die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es +gab Theater. Zwar nur ein ganz gewhnliches, armseliges +Puppentheater, aber doch Theater. Das war im +Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz +zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die +Hlfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Gromutter +hinzugehen. Das kostete fnfzehn Pfennige fr uns beide. +Es wurde gegeben: "Das Mllerrschen oder die Schlacht +bei Jena." Meine Augen brannten; ich glhte innerlich. +Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten fr mich. +Sie sprachen; sie liebten und haten; sie duldeten; sie +faten groe, khne Entschlsse; sie opferten sich auf +Knig und fr Vaterland. Das war es ja, was der +Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein +Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, +mute Gromutter mir beschreiben, wie die Puppen +bewegt werden. + + "An einem Holzkreuze," erklrte sie mir. "Von diesem +Holzkreuze, gehen die Fden hernieder, die an die Glieder +der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man +oben das Kreuz bewegt." + + "Aber sie sprechen doch!" sagte ich. + + "Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den +Hnden hlt, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen +Leben." + + "Wie meinst du das?" + + "Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber +verstehen lernen." + + Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, +nochmals zu gehen. Es wurde gespielt "Doktor Faust +oder Gott, Mensch und Teufel." Es wre ein resultatloses +Beginnen, den Eindruck, den dieses Stck auf mich +machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der +Gthesche Faust, sondern der Faust des uralten +Volksstckes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie +eines groen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch +etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten +Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei +um Erlsung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. +Ich hrte, ich fhlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit, +obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, +damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Gthesche Faust +htte mir, dem Kinde, gar nichts sagen knnen; er sagt +mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er +der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; +aber diese Puppen sprachen laut, fast berlaut, und was +sie sagten, das war gro, unendlich gro, weil es so +einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann +zu Gott zurckkehren darf, wenn er den Menschen mit +sich bringt! Und die Fden, diese Fden; die alle nach +oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, +alles, was sich da unten bewegt, das hngt am Kreuz, +am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht +an diesem Kreuze hngt, ist berflssig, ist bewegungslos, +ist fr den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren +Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber +Gromutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht +so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, +das begann ich doch zu ahnen. Ich mute als Kurrendaner +Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und +ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals +einen dieser Gottesdienste versumt zu haben. Aber ich +bin aufrichtig genug, zu sagen, da ich trotz aller +Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich +tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen +habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem +Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als +eine Sttte erschienen, durch deren Tor nichts dringen +soll, was unsauber, hlich oder unheilig ist. Als ich +den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstck +ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das +sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen +Menschheit gewesen, und ein groer, berhmter deutscher +Dichter, Wolfgang Goethe geheien, habe daraus ein herrliches +Kunstwerk gemacht, welches nicht fr Puppen, sondern +fr lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich +schnell ein: "Herr Kantor, ich will auch so ein groer +Dichter werden, der nicht fr Puppen, sondern nur fr +lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?" +Da sah er mich sehr lange und unter einem fast +mitleidigen Lcheln an und antwortete: "Fange es an, wie +du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen +sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst." +Diesen Bescheid habe ich freilich erst spter verstehen lernen; +aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr +bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch +und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und +geblieben, und der Gedanke, da die meisten Menschen nur +Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern +bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen +Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein +Mensch, ein Frst des Geistes oder ein Frst der Waffen, +das Kreuz, von dem die Fden herunterhngen, in den +Hnden hlt, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, +das ist niemals sofort, sondern immer nur erst spter an +den Folgen zu ersehen. + + Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stcke kennen, die +nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern fr das +Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, +an dem ich auf meine Trommel zurckzukommen habe. +Es lie sich eine Schauspielertruppe fr einige Zeit in +Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein +Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise +waren mehr als mig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter +Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter +Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser +Billigkeit blieb tglich ber die Hlfte der Sitze leer. +Die "Knstler" fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor +wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht +mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser +Retter war -- -- -- ich. Er hatte beim Spazierengehen +meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide +berieten. Das Resultat war, da Vater schleunigst nach +Hause kam und zu mir sagte: "Karl, hole deine Trommel +herunter; wir mssen sie putzen!" "Wozu?" fragte ich. +"Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal +ber die ganze Bhne herumzutrommeln". "Wer ist +die Preziosa?" "Eine junge, schne Zigeunerin, die +eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den +Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurck und findet +ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke +Knpfe und einen Hut mit weier Feder. Das zieht +Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das +"Haus" voll, so gibt der Herr Direktor dir fnf +Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts. +Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe." + + Es versteht sich ganz von selbst, da ich in Wonne +schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke +Knpfe! Weie Feder! Dreimal um die ganze Bhne +herum! Fnf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden +Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel +sehr pnktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich +gefiel smtlichen Knstlerinnen und Knstlern. Die Frau +Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor +lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein +schnelles Begriffsvermgen. Meine Rolle sei aber auch sehr +leicht. Vielleicht tte ich es fr vierzig Pfennige; schon mit +dreiig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. +Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig +herunter, denn er hatte meinen knstlerischen Wert erkannt +und lie nicht mit sich handeln. Ich hatte fr die fnfzig +Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem groen Zigeunerumzug +voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, +die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenber in der +jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten +Schlovogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand +emporhob, so war dies das Zeichen fr mich, meinen Marsch +sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen +Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden. +Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren. +Die blanken Knpfe bekam ich gleich nach der Probe mit. +Mutter mute sie mir anflicken. Es waren ber dreiig +Stck; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste. +Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut +mit der weien Feder. Der wurde als Reklame zum +Fenster hinausgehngt und hat seine Wirkung getan. Ich +hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung +einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin +strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum +war schon jetzt derart gefllt, da schnell ganz vorn +noch einige "Logen" eingerichtet wurden mit dem Preise +von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch +verkauft. Vater, Mutter und Gromutter hatten +Freipltze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein +hchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte +sich so allgemein verbreitet, da die Frau Direktorin sich +bewogen fhlte, mir meine fnf Neugroschen schon ehe +der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche +zu stecken. Das erhhte meine Sicherheit und meine +knstlerische Begeisterung bedeutend. + + Und nun waren sie da, die groen, erhabenen Augenblicke +meines ersten Bhnendebts. Der erste Akt spielte +in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich sa in +der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der +Bhne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich +schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging +nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara +und noch irgend wer standen auf der Bhne. In der +gegenberliegenden Kulisse lehnte der Schlovogt Pedro, +der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit +einem so energischen Schritte kommen, da er glaubte, +ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. +Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. +Ich aber nahm das ganz selbstverstndlich fr das +verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter +mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und +marschierte hinaus, rund um die Bhne herum. Don +Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz +starr. "Lausbub!" schrie mir der Schlovogt zu, als ich +an ihm vorberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus, +um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon +war ich an ihm vorber. Aus allen Kulissen winkte +man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber +bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nmlich +dreimal rund um die Bhne herum. "Lausbub!" brllte +der Schlovogt, als ich zum zweiten Mal an ihm +vorberkam, und zwar tat er das so laut, da es trotz des +Trommelwirbels auch hinaus- und ber den ganzen Zuschauerraum +schallte. Lautes Gelchter antwortete von dorther; +ich aber begann meine dritte Runde. "Bravo, bravo!" +erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich +Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der +den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, fate +meine beiden Arme, so da ich stehenbleiben und die +Trommelschlegel ruhen lassen mute und donnerte mich an: + + "Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte +doch auf! + + "Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!" +rief man im Zuschauerraum lachend. + + "Ja, weiter, immer weiter!" antwortete auch ich, indem +ich mich von ihm losri. "Die Zigeuner haben zu kommen! +Raus mit der Bande, raus mit der Bande!" + + "Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!" +schrie, brllte und johlte das Publikum. + + Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel +von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch +nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter, +und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst +der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu +meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das +Publikum nicht zufrieden. Es rief: "Heraus mit der +Bande, heraus!" und wir muten den Umzug von neuem +beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schlu +des Aktes mute ich noch zweimal heraus. War das +ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr +zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor lie +mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf, +die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der +Vorstellung halten sollte. Fr den Fall, da ich meine Sache +gut machen wrde, versprach er mir noch weitere fnfzig +Pfennige. Das wirkte uerst anregend auf mein +Gedchtnis. Als das Stck zu Ende war und der Beifall +zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal +trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe +die "hohen Herrschaften" zu bitten, sich noch nicht gleich +zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und +von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts +zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, bermorgen und +auch fernerhin unmglich abgegeben werden knnten. Als +Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles +hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache +folgende Fassung gegeben: "Also rrrrein mit der Hand +in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!" + + Das wurde nicht etwa bel-, sondern mit gutwilligem +Lachen entgegengenommen und hatte den gewnschten +Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der +hohen Direktion als auch diejenigen aller brigen +Knstlerinnen und Knstler, das meinige nicht ausgeschlossen, +denn ich bekam nicht nur meine weiteren fnf Neugroschen, +sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches fr den +ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt. +Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar fr Stcke, +in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab +es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche +Gefahr fr die Zuhrerschaft, denn als der Herr Direktor +sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei +dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zrtlichen +Liebesszenen so ngstlich aus seinen Stcken streiche, +antwortete er: "Teils aus moralischem Pflichtgefhl und teils +aus kluger Erwgung. Unsere erste und einzige Liebhaberin +ist zu alt und auch zu hlich fr solche Rollen." + + In den Stcken, die ich da besuchte, forschte ich nach +dem Kreuz und nach den Fden, an denen die Puppen +hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb +einer spteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht +gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen +herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr hufig, +obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten, +sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken +sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich +jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand +ich nichts davon und lie mir von der leeren, hohlen +Oberflchlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere +grere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche +Stcke schrieben, die auf die Bhne gegeben wurden, +kamen mir wie Gtter vor. Wre ich ein so bevorzugter +Mensch, so wrde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen +erzhlen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Mrchen, +von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede +von Kulub, von der Erlsung aus der Erdenqual und +allen anderen, hnlichen Dingen! Man sieht, ich befand +mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich +aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch +mir so ntig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in +die ich nicht gehrte, weil sie nur von auserwhlten +Mnnern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch +Anderes kam hinzu. + + Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgem +war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, +geno evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und +wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war, +evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer +Stellungnahme gegen Andersglubige fhrte das keineswegs. +Wir hielten uns weder fr besser noch fr berufener als +sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher +Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche +seines Kirchenamtes religisen Ha zu sen. Unsere +Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am +meisten ankam, nmlich Vater, Mutter und Gromutter, +die waren alle drei ursprnglich tief religis aber von +jener angeborenen, nicht angelehrten Religiositt, die sich +in keinen Streit einlt und einem jeden vor allen Dingen +die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, +so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ +erweisen. Ich hrte einst den Herrn Pastor mit dem +Herrn Rektor ber religise Differenzen sprechen. Da +sagte der erstere: "Ein Eiferer ist niemals ein guter +Diplomat." Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits +gesagt, da ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal +in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies +gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe tglich gebetet, +in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut. +Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang +beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, +Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut +noch unerschtterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben. + + Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus +gehabt, und zwar nicht nur zum religisen. Eine jede +Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, +Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige +religise Gebruche, an denen ich mich als Knabe zu +beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck. +Der eine dieser Gebruche war folgender: Die Konfirmanden, +welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren, +beteiligten sich am darauf folgenden grnen Donnerstag +zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen +Kommunion. Nur whrend dieser einen Abendmalsdarreichung, +sonst whrend des ganzen Jahres nicht, +standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu +beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun. +Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock, +Bffchen [sic] und weies Halstuch. Sie standen zwischen +dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten +und hielten schwarze, goldgernderte Schutztcher +empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen +Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende +gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere +Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese +frommen, gottesglubigen Augenblicke vor dem Altare +wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort. + + Ein anderer dieser Gebruche war der, da am +ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres whrend des +Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die +Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias +Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies +ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehrte +Mut dazu, und es kam nicht selten vor, da der Organist +dem kleinen Snger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn +vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe +diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde +sie von mir hrte, so wirkt sie noch heute in mir +fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise +meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen +den Zeilen meiner Bcher. Wer als kleiner Schulknabe +auf der Kanzel gestanden und mit frhlich erhobener +Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat, +da ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens +kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich +nicht absolut dagegen strubt, jener Stern von Bethlehem +durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn +alle andern Sterne verlschen. + + Wer nicht gewhnt ist, tiefer zu blicken, der wird +jetzt wahrscheinlich sagen, da ich auch hier wieder auf +einen der Punkte gestoen sei, an denen mir ein fester +Halt nach dem andern unter den Fen hinweggenommen +wurde, so da ich schlielich seelisch ganz nur in der Luft +zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der +Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr +viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der +Richtung nach der Erde zu, dafr aber ein Tau, stark +und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter +mir der Abgrund sich ffnen sollte, dem ich, wie +Fatalisten behaupten wrden, von allem Anfang verfallen +war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen +beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten +Jugend, in welcher die Smpfe lagen und heut noch +liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, +durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, +endlosen Qual geworden ist. + + Dieser Abgrund heit, damit ich ihn gleich beim +richtigen Namen nenne -- -- Lektre. Ich bin ihn nicht +etwa hinabgestrzt, pltzlich, jhlings und unerwartet, +sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, +langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand +meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie +ich, wohin dieser Weg uns fhrte. Meine erste Lektre +bildeten die Mrchen, das Kruterbuch und die Bilderbibel +mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf +folgten die verschiedenen Schulbcher der Vergangenheit +und Gegenwart, die es im Stdtchen gab. Dann alle +mglichen anderen Bcher, die Vater sich zusammenborgte. +Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer +Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als +Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum +letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt +das fr gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm +da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, da ich, +wenn auch nur scheinbar, mig stand. Und er war +gegen alle Beteiligung an den "Unarten" anderer Knaben. +Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie +andern anzupreisen. Ich mute stets zu Hause sein, um +zu schreiben, zu lesen und zu "lernen"! Von dem +Handschuhnhen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn +er ausging, brachte mir das keine Erlsung, sondern er +nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf +dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, +wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun +zu drfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, +war dies hchst gefhrlich. Sa ich dann betrbt oder +gar mit heimlichen Trnen bei meinem Buche, so kam +es vor, da Mutter mich leise zur Tr hinaussteckte und +erbarmend sagte: "So geh schnell ein bichen hinaus; +aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlgt er +dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!" O, diese +Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da +wissen will, wie und was ich noch heut ber sie denke, der +schlage in meinen "Himmelsgedanken" das Gedicht auf Seite +105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine +Gromutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh +herausgewachsen ist, jener orientalischen Knigstochter, die +fr mich und meine Leser als "Menschheitsseele" gilt. + + Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal +von Bchern jeden Genres in Privathnden befand, +zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon +abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen +Quellen um. Es gab deren drei, nmlich die Bibliotheken +des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des +Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier +als der Vernnftigste von allen. Er sagte, Bcher zur +Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bcher zum +Lernen, und fr diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu +jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er +meinte, fr mich als Kurrendaner sei es sehr ntzlich, den +lateinischen Text unserer Kirchengesnge in die deutsche +Sprache bersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine +lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte, +doch auf dem nchsten Blatte stand zu lesen: + + "Ein buer [sic] lernen mu, + Wenn er will werden dominus, + Lernt er aber mit Verdru, + So wird er ein asinus!" + + Vater war ganz entzckt ber diesen Vierzeiler und +meinte, ich solle nur ja dafr sorgen, da ich kein asinus, +sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleiig +lateinisch lernen! + + Bald darauf faten einige Ernsttaler Familien den +Entschlu, im nchsten Jahre nach Amerika auszuwandern. +Darum sollten ihre Kinder whrend dieser Frist so viel +wie mglich englisch lernen. Da verstand es sich ganz +von selbst, da ich mitzutun hatte! Und sodann geriet +auf irgend eine, ich wei nicht mehr, welche Weise ein +Buch in unsern Besitz, welches franzsische Freimaurerlieder +mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre +1782 in Berlin gedruckt und "Seiner Kniglichen Hoheit, +Friedrich Wilhelm, Prinz von Preuen" gewidmet. +Darum mute es gut und von sehr hohem Werte sein! +Der Titel lautete: "Chansons maonniques", und zu der +Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige +Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag: + + "Nons vnrous de l'Arabie + La sage et noble antiquit, + Et la clbre Confrairie [sic] + Transmise la postrit". + + Das Wort "Freimaurerlieder" reizte ganz besonders. +Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei +eindringen zu knnen! Glcklicherweise erteilte der Herr +Rektor fr Privatschler auch franzsischen Unterricht. +Er gestattete mir, in diesem "Zirkle" einzutreten, und so +kam es, da ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen +und Franzsischen zugleich zu befassen hatte. + + Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bcherverleihen +weniger zurckhaltend als der Herr Kantor. +Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besa hunderte +von geographischen und ethnographischen Werken, die er +meinem Vater alle fr mich zur Verfgung stellte. Ich +fiel ber diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und +der gute Herr freute sich darber, ohne irgendein doch +so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf +eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern +mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung +zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten, +als vielmehr in den Bchern aus, die er besa. Zu derselben +Zeit ffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek. +Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern +nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine +mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich +schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir +zunchst alle seine Trakttchen zu lesen gab und hierzu +dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften +von Redenbacher und andern guten Menschen fgte. So +kam es, da ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung +der islamitischen Wohlttigkeit vor mir liegen hatte +und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht, +in welchem ber das offensichtliche Nachlassen der +christlichen Barmherzigkeit bittere Klage gefhrt wurde. In +der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland +und alle jene "Groen" kennen, welche der Wissenschaft +mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek +des zweiten alle jene andern "Groen", denen die religise +Offenbarung himmelhoch ber jedem wissenschaftlichen +Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein +Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge; +aber noch viel trichter als ich waren die, welche mich +in diese Konflikte fallen und sinken lieen, ohne zu wissen, +was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen +Bchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein; +mir aber mute es zum Gifte werden. + + Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche +Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mute bezahlt werden, +und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise +zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Fr eine Hohensteiner +Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder +Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine +Uebung besa, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich +Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche +Qualen! Und was habe ich noch auerdem dafr geopfert! +Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und +heizbarer, so da er zur Sommer- und zur Winterszeit und +bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde +tglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie +Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag. +Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis +zur spten Abendstunde. Der Haupttag aber war der +Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, +an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre +Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkufe zu machen und -- +last not least -- eine Partie Kegel zu schieben. Aus +dieser einen aber wurden fnf, wurden zehn, wurden +zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, da ich +mich von Mittags zwlf Uhr an bis nach Mitternacht +zu schinden hatte, ohne auch nur fnf Minuten ausruhen +zu knnen. Zur Strkung bekam ich des Nachmittags +und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes, +zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, da ein +mitleidiger Kegler, welcher sah, da ich kaum mehr konnte, +mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister +anzuregen. Ich habe mich ob dieser bermigen +Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie +notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der +Betrag, den ich da wchentlich zusammenbrachte, war gar +nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum +und auerdem fr jedes Honneur, welches geschoben wurde, +einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern +frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz +eine doppelte oder dreifache Hhe. Es hat Montage +gegeben, an denen ich ber zwanzig Groschen nach Hause +brachte, dafr aber vor Mdigkeit die Treppe zu unserer +Wohnung mehr hinaufstrzte als hinaufstieg. + + Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? +Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde +zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel +Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen, +da es sich hier nicht um Leute handelte, welche +das kannten, was man unter Rcksicht oder gar Zartgefhl +versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge +kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was +ich da alles zu hren bekam! Der langgestreckte, zugebaute +Kegelschub wirkte wie ein Hrrohr. Jedes Wort, welches +da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich +heraus zu mir. Alles, was Gromutter und Mutter +in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr +Rektor auch, das emprte sich gegen das, was ich hier +zu hren bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift +dabei. Es gab da nicht jene krftige, kerngesunde +Frhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben, +sondern es handelte sich um Leute, welche aus der +brustttenden Atmosphre ihres Webstuhles direkt in die +Schnapswirtschaft kamen, um sich fr einige Stunden +ein Vergngen vorzutuschen, welches aber nichts weniger +als ein Vergngen war, fr mich jedenfalls eine Qual, +krperlich sowohl als auch seelisch. + + Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch +viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und hnliche +bse Sachen, nmlich eine Leihbibliothek, und zwar +was fr eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich +und uerlich geradezu ruppige, uerst gefhrliche +Bchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte +sich auerordentlich, denn sie war die einzige, die es in +den beiden Stdtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts. +Die einzige Vernderung, die sie erlitt, war die, da die +Einbnde immer schmutziger und die Bltter immer schmieriger +und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde +von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen, +und ich mu der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner +Schande gestehen, da auch ich, nachdem ich einmal +gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bnden steckte, +gnzlich verfiel. Was fr ein Teufel das war, mgen +einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der +Ruberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo +Sallini, der edle Ruberhauptmann. Himlo Himlini, +der wohlttige Ruberhauptmann. Die Ruberhhle auf +dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswrdige [sic] Bandit. +Die schne Ruberbraut oder das Opfer des ungerechten +Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der +Gesetze. Bruno von Lweneck, der Pfaffenvertilger. Hans +von Hunsrck oder der Raubritter als Beschtzer der +Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von +Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am +Hochgericht. Der Knig als Mrder. Die Snden des +Erzbischofs u. s. w. u. s. w. + + Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine +Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bcher, +einstweilen darin zu lesen. Spter sagte er mir, ich knne +sie alle lesen, ohne dafr bezahlen zu mssen. Und ich las +sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! +Ich nahm sie mit nach Haus. Ich sa ganze Nchte +lang, glhenden Auges ber sie gebeugt. Vater hatte +nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, +die gar wohl verpflichtet gewesen wren, mich zu warnen. +Sie wuten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl +daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte +nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir +zusammenbrach. Da die wenigen Sttzen, die ich, der +seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun +auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nmlich mein +Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm. + + Die Psychologie ist gegenwrtig in einer Umwandlung +begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und +Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide +auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede +nachzuweisen. Man behauptet, da der Mensch nicht +Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem +anschlieen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst +im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine +kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln. +Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen +war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur +das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon +gehabt, aber was fr eine Wirkung! Es war zu einem +kleinen, monstrs dicken, wasserkpfigen Ungeheuer +aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja +vielleicht auergewhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu +einer unartikulierten geistigen Migestalt verwandelt, die +nichts Wirkliches besa als nur ihre Hilflosigkeit. Und +seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach +oben nur an dem erwhnten starken, unzerreibaren Tau +und wurde nach unten nur dadurch an der Erde +festgehalten, da ich fr Knig und Vaterland, Gesetz und +Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle +Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an +denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet +hatten, den schwer bedrngten Monarchen Sachsens und +seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun +aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar +durch die Lektre dieser schndlichen Leihbibliothek. Alle +die Ruberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen +ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren, +das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch +ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden. +Sie besaen wahre Frmmigkeit, glhende Vaterlandsliebe, +eine grenzenlose Wohlttigkeit und warfen sich +zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrckten und +Bedrngten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung +und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Mnner +aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der +Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor +allen Dingen die Flle des Lebens, der Ttigkeit, der +Bewegung, die in diesen Bchern herrschte! Auf jeder Seite +geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend +eine groe, schwere, khne Tat, die man zu bewundern +hatte. Was dagegen war in all den Bchern geschehen, +die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Trakttchen +des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden +Jugendschriften? Und was geschah in den sonst +ganz guten und brauchbaren Bchern des Herrn Rektors? +Da waren groe, weite und ferne Lnder beschrieben, +aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde +Menschen und Vlker geschildert; aber sie bewegten sich +nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie, +nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte. +Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen +standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch +kein Teufel da, das Kreuz mit den Fden in die Hand +zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es +gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt +verlangt, nmlich der Leser. Und auf den kommt doch alles +an, weil er allein es ist, fr den die Bcher geschrieben +werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder +Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet fr sie den Tod. +Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser +Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten +und Bedrfnisse dessen, der so ein Buch in die Hnde nimmt! +Kaum fhlt er whrend des Lesens einen Wunsch, so +wird dieser auch schon erfllt. Und welche bewundernswerte, +unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder +gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Ruberhauptmann +sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder bse +Mensch, jeder Snder, mag er zehnmal Knig, Feldherr, +Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft. +Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist gttliche +Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel ber die Herrlichkeit +und Unumstlichkeit der gttlichen und der menschlichen +Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht! +Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den +Rinaldo Rinaldini geschrieben! + + Das Schlimmste an dieser Lektre war, da sie in +meine sptere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner +Seele festsetzte, fr immer festgehalten wurde. Hierzu kam +die mir angeborene Naivitt, die ich selbst heute noch in +hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da +las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. +Nur Gromutter schttelte den Kopf, und zwar je lnger, +desto mehr; sie wurde aber von uns andern berstimmt. +Es war uns in unserer Armut ein Hochgenu, von "edlen" +Menschen zu lesen, die immerfort Reichtmer verschenkten. +Da sie diese Reichtmer vorher andern abgestohlen und +abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das +nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedrftige Menschen durch +so einen Ruberhauptmann untersttzt und gerettet worden +seien, so freuten wir uns darber und bildeten uns ein, +wie schn es wre, wenn so ein Himlo Himlini pltzlich +hier bei uns zur Tr hereintrte, zehntausend blanke Taler +auf den Tisch zhlte und dabei sagte; "Das ist fr euren +Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der +Theaterstcke schreibt!" Das letztere war mir nmlich, +seit ich den "Faust" gesehen hatte, zum Ideal geworden. + + Ich mu bekennen, da ich diese verderblichen Bcher +nicht nur las, sondern auch vorlas, nmlich zunchst +meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen +Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist +gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine +einzige solche Scharteke herbeifhren kann. Alles Positive +geht verloren, und schlielich bleibt nur die traurige +Negation zurck. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen +verndern sich; die Lge wird zur Wahrheit, die +Wahrheit zur Lge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung +zwischen gut und bs wird immer unzuverlssiger! +das fhrt schlielich zur Bewunderung der verbotenen Tat, +die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht +etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern +es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum uersten +Verbrechertum. + + Das war zur Zeit, als bestimmt werden mute, was +nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich +wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf +die Universitt. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle +Mittel. Ich mute mit meinen Wnschen weit herunter +und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu +waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der +Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem +Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm +verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. +Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen +knnen, aber er versumte keinen Kirchgang, sprach gern +von Humanitt und Nchstenliebe und war unser +Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns +einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten, +recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar +keinen Pfennig unntz ausgab, so bedurften wir nur eines +Zuschusses von fnf bis zehn Talern pro Jahr. Das +hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber +wir glaubten, da es stimme. Meine Eltern hatten nie +auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu +Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum +Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete +die Hnde und lie sich ihr Anliegen vortragen. Sie +schilderte ihm alles und bat, uns fnf Taler zu borgen, +nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten, +also wenn ich die Aufnahmeprfung bestanden haben +wrde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit. +Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: "Meine +liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie +sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, +den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen +hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch +Kinder wie Sie und mu fr sie sorgen. Ich kann Ihnen +also die fnf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost +nach Hause, und beten Sie recht fleiig, so wird sich ganz +gewi zur rechten Zeit jemand finden, der sie brig hat +und sie Ihnen gibt!" + + Das war abends. Ich sa da und las in einem +Ruberbuche. Da kam Mutter heim und erzhlte, was +Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus +Emprung ber solche Art der Frmmigkeit, als ber die +Abweisung selbst. Vater sa lange Zeit still; dann stand +er auf und ging. Unter der Tr aber sagte er: "Einen +solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf +das Seminar, und wenn ich mir die Hnde blutig arbeiten +soll!" Als er fort war, saen wir andern noch +lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen. +Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf +Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, +in dem ich gelesen hatte, fhrte den Titel "Die +Ruberhhle an der Sierra Morena oder der Engel aller +Bedrngten." Als Vater nach Hause gekommen und dann +eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich +aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich +einen Zettel: "Ihr sollt euch nicht die Hnde blutig +arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!" Diesen +Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stckchen +trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von +meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, ffnete die +Tr, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, +aber leise, leise, damit ja niemand es hre, und ging dann +gedmpften Schrittes den Marktplatz hinab und die +Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der ber +Lichtenstein nach Zwickau fhrte, nach Spanien zu, nach +Spanien, dem Lande der edlen Ruber, der Helfer aus +der Not. -- -- -- + + _________ + + + IV. + Seminar- und Lehrerzeit. + + _____ + +Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und +in ihren Frchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst +heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist, +und aus der Atmosphre, in der sie atmet. Pflanze ist in +dieser Beziehung auch der Mensch. Krperlich ist er freilich +nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt +er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese +in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch fr das, +was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Mae +verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf +anzurechnen, wrde ebenso falsch sein wie die Behauptung, +da er alle seine Vorzge nur allein sich selbst verdanke. +Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphre +eines "Gewordenen" genau kennt und richtig zu +beurteilen wei, ist imstande, einigermaen nachzuweisen, +welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen +Verhltnissen und welche Teile aus dem rein persnlichen +Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der +grten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen +Teufel, den die Verhltnisse zur Verletzung der Gesetze +fhrten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch +noch die ganze, schwere Last dieser Verhltnisse mit +aufzubrden. Es gibt leider auch heute mehr als genug +Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch +begehen, ohne zu ahnen, da sie selbst es sind, die, wenn +es hier Gesetze gbe, mit verantwortlich gemacht werden +mten. Und gewhnlich sind es nicht etwa die +Fernstehenden, sondern grad die lieben "Nchsten", welche +Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die +Einflsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen +mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld, +die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld. + + Wenn ich es hier unternehme, die Verhltnisse, aus +denen ich erwuchs, einer ungefrbten Prfung zu unterwerfen, +so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend +welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf +andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut +sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein +mu, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche +Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau +zu untersuchen. + + Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe +bei einander liegende Stdtchen, da sie stellenweise ihre +Gchen wie die Finger zweier gefalteter Hnde zwischen +einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der +Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen +Werke zunchst unter Schellingschem Einflusse entstanden, +dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus +zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. +Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und +Publizist Plitz, dessen Bibliothek ber 30 000 Bnde +zhlte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es +hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal +zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrcken +pflegt, "das erste Licht der Welt erblickte". Die +ersten und ltesten Eindrcke meiner Kindheit sind +diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur +in materieller, sondern auch in anderer Beziehung. +Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige +Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der +Brgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen +Nachtwchter, aber die Bewohner hatten sich reihum an +der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschftigung +bildete die Weberei. Der Verdienst war krglich, ja oft +berkrglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es +wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine +Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und +Krbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung +zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden +Mnnern begegnen, welche Baumstmme nach Hause trugen, +die noch whrend der Nacht zu Feuerholz zersgt und +zerhackt werden muten, damit, wenn die Haussuchung +kam, nichts gefunden werden knne. Es galt fr die +armen Weber, fleiig zu sein, um den Hunger abzuwehren. +Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein +"Stck zu Markte". Fr jeden Fehler, der sich zeigte, +gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar +mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann +wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der +Heiterkeit und -- -- -- dem Schnaps gewidmet. Man +fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum. +Bulle ist Abkrzung von Bouteille. In einigen Familien +sang man dazu, aber was fr Lieder oft! In andern +regierte die Karte. Da wurde "gelumpt", "geschafkopft" +oder gar "getippt". Das letztere ist ein verbotenes +Glcksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte. +Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging +von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch whrend +der Sonntagsausgnge und berhaupt bei jedem +Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen. +Da sa man im Grnen und trank. Schnaps war +berall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man +betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm +seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz +von selbst verstnde. + + Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, ber +die der Alkohol keine Macht besa, aber die waren in +ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden +Stdtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, +die man hher schtzte als andere, in Ernsttal aber nicht. +Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch +gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt, +dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaen, +sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war +die ganze Lebensfhrung berhaupt eine ungemein niedrige +und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, +die man jetzt kaum mehr fr mglich hlt. Im persnlichen +Verkehr waren Spitznamen oft gebruchlicher als +die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, +welches ich da anfhre, diene der Name Wolf. Es gab +einen Weikopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, +einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter +Wlfe. Die Huser waren klein, die Gassen +eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen +und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast +zur Unmglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben. Und +da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen +Nachbar im Sacke. Man wute alles, aber man schwieg. +Nur zuweilen, wenn man es fr ntig hielt, lie man +ein Wrtchen fallen, und das war genug. Man kam +dadurch zur immerwhrenden, aber stillen Hechelei [sic], zur +niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmtigen Sarkasmus, +welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das +war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne da +man es beachtete. Das tzte; das wirkte wie Gift. So +hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein +lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, +verbotenes, ja sogar falsches, betrgerisches Kartenspiel +zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um +sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen +Karten zu ben. Sie etablierten sich in einer vor der +Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer +aus, um Opfer einzufangen. Da sa man nchtelang +und spielte um hohe Einstze. Mancher kam da mit +vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben +war im Stdtchen wohlbekannt. Man erzhlte sich von +jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man +sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich +darber, anstatt da man diese Betrgereien verwarf. +Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen +Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete, +man rhmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das +geringste von allem, was man von ihnen wute. Da +hierdurch eigentlich das ganze Stdtchen an dem Betruge +gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und +da jedermann, der von diesen Gaunereien wute, sich, +streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das +leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt htte, +da dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen +Tiefstand bedeute, der wre wohl ausgelacht worden, oder +gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefhl war +irregefhrt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man +die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der +alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bnde man +verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden +Stdtchen gab. Ich habe niemals gehrt, da der +Brgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener +Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen lie, um +ihn zu verwarnen, und von dem bsen Beispiele, welches der +ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete +es. Man ging schweigend darber hinweg. Die Jugend +aber, die das alles mit ansah und mit anhrte, mute +den Eindruck gewinnen, da diese Betrgereien +bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und +so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde +einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf +geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat +oder nicht? + + Zwei eigenartige Gewchse dieses Sumpfes waren +die beiden Namen "Batzendorf" und die "Lgenschmiede". +Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte sddeutsche +und schweizer Scheidemnze, Batzen genannt, zurck. +Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder +Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux, +aber ein Jux, der hufig zum Ausarten kam. Batzendorf +hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen +Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles +aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das +allerkleinste Huschen Ernsttals, das der alten +Gemsehndlerin Dore Wendelbrck, wurde zum Batzendorfer +Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf, +den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert +und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie +zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin +zum Meisterhaus war Dorfnachtwchter. Sie mute die +Stunden ansagen und tuten. Jede Behrde und jede +Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel- +und zum Schotenwchter, auch das alles in das Komische +gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da +kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten +Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgefhrt zu +werden: Taufen fnfzigjhriger Suglinge, Verheiratung +zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne +Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, ffentliche Prfung +eines neuen Bandwurmmittels und hnliche tolle, oft +sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz +war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor +war noch lter und glaubte von allem das Beste. Er +sagte immer: "Nur nicht bertreiben, nur nicht bertreiben!" +Damit glaubte er, seiner Pflicht gengt zu haben. +Der Herr Kantor schttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, +ffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber +unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu +warnen: "Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen +Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut fr Sie und auch nicht +gut fr den Karl. Was man da treibt, ist alles weiter +nichts als Persiflage, Ironie, Verhhnung und +Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand +rhren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu +sehen noch zu hren bekommen!" + + Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses "Batzendorf", +in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine +ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille, +heimliche, doch um so bsere Wirkung gehabt. Da lockerten +sich "die Bande frommer Scheu". Da gab es wchentlich +etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten +der Erwachsenen mit riesigem Interesse und hhnten +und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewut +zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer +Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung +kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber +einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war +eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen +sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein gefhrt +und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin +stecken lassen mssen. Dem Unbegabten schadet das weniger; +in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem +Innern Dimensionen an, die spter, wenn sie zutage +treten, nicht mehr einzudmmen sind. + + Die "Lgenschmiede" war etwas neueren Datums. +Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine +Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache +selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in +Ernsttal einige jngere Leute, welche auerordentlich +satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswrdige +Menschen, htten sie in andern, greren Verhltnissen +durch diese Begabung ihr Glck machen knnen, +so aber blieben sie unten in den kleinen Verhltnissen +hangen und konnten also auch nur Kleinliches und +Gewhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war +wirklich schade um sie! + + Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und +Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die +Khnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und +Mittel fr Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschft +zu errichten, aber natrlich mit Restauration, +denn ohne diese wre es ganz unmglich gegangen. Diese +Restauration hatte zunchst keinen besonderen Namen; +aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar +ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lgenschmiede +und ihren Besitzer, den Wirt, den Lgenschmied. +Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgsten +sa allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer +konnte fters dort verkehren, ohne da er etwas davon +bemerkte. Aber pltzlich brach es ber ihn los, pltzlich, +ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu +widerstehen war. Er wurde "gemacht", wie man es +nannte. Man hatte seine schwchste Seite und seinen +strksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine +wohlausgedachte Lge auf, die er glauben mute, er +mochte wollen oder nicht. An dieser Lge blamierte er +sich, mochte er sich noch so sehr dagegen struben und +mochte er zehnmal und hundertmal klger sein, als alle +die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. +Diese Lgenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende +von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder, +dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgsten +anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog +beschmt von dannen. + + Gewhnliche Gste kaufte man sich billig. Verlangte +einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte +er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er +einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm +Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner +weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn +Jeder wute, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere +Gste hatten keine so gewhnlichen Witze zu befrchten. +Die lie man warten. "Der mu erst noch reif werden," +pflegte der Lgenschmied zu sagen. Und Jeder wurde +reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob +studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig. +Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem +Einschlag aus dem Gewhnlichen heraus. Einem Gast, +der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier +sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. +Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bckermeister. +Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und +rasierte ihn, ohne da einer der Anwesenden eine Miene +dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann +vergngt von dannen, vollstndig blau im Gesicht. Er +konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe +dafr, da er in der Lgenschmiede behauptet hatte, er sei +gescheiter als alle, ihn knne niemand foppen. Einem +andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut' +Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglckt. Er sei einem +Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten +Bein in das Rderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen +das Bein unterhalb des Knies abnehmen mssen. +Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam +aber sehr bald lachend und mit seinem vollstndig +gesunden Bruder zurck. Auch die Herren von der +Behrde verkehrten sehr gern in der Lgenschmiede, doch +nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet +wuten. Sie lieen sich auch einen Ulk gefallen, +und oft hatte der Lgenschmied es nur ihrem Einflusse +zu verdanken, da seine oft zu weitgehenden Witze ohne +unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, +wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach +und nach aus. Die Witze wurden gewhnlicher; sie +verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein +Jeder, der die Lgenschmiede betrat, glaubte, Lgen +machen und Unwahrheiten prsentieren zu drfen. Der +Geist ging aus. Was frher wirklicher Humor, wirkliche +Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen +war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit, +zur Unwahrheit, zur Flschung, zur unvorsichtigen +Klatscherei und Lge. Die Lgenschmiede ist jetzt +verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht. +Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten +Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch +heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und +zwar ein unter hellem Grn und winkenden Blumen +verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter +ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten +Umkreise rund ber das Land gegangen, und leider, +leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer +darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages +leiden mssen. Da meine Gegner es wagen konnten, +den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit +bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln +und mich sogar als Marktweiberbandit und Ruberhauptmann +durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum +grten Teil durch die Lgenschmiede ermglicht, deren +Stammgste gar nicht bedachten, was sie an mir +begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen +ber meine angeblichen Abenteuer und Missetaten +traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurck +und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich ber +jene Falschspielergesellschaft, ber "Batzendorf" und ber +die "Lgenschmiede" zu berichten hatte, sind nur einige +kurze Einblicke in die damaligen Verhltnisse meiner +Vaterstadt. Ich knnte diese Einblicke noch beraus +erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, da es wirklich +und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in +den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, +will dies aber gern und mit Vergngen unterlassen, +weil ich krzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel +sich dort verndert hat. Ich hatte meine Vaterstadt +schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner +meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde, +sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttuscht. +Das meine ich nicht uerlich, sondern innerlich. +Ich habe der Stdte und Orte genug gesehen; da +kann mich nichts berraschen und auch nichts enttuschen. +Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden +Menschen zunchst und vor allen Dingen seine Seele +kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden +Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals +war zwar noch die alte; das sah ich sofort; +aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie +hatte ein anderes, besseres und wrdigeres Aussehen +bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang +beobachten zu knnen, und darf wohl sagen, da mir +diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand +Intelligenz, wo es frher keine gegeben hatte. Ich +begegnete einem regen Rechtsgefhl, welches nicht so leicht wie +frher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, +mehr Zusammenhangsgefhl. Ja, die materiellen Verhltnisse +zeigten berall schon einen Aufblick hinauf in +das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich +gehoben und zeigte die Fhigkeit, sich auch fernerhin und +zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten, +aus denen in Wirklichkeit "Etwas geworden" war. Das +war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte. +Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter +mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern +die Zge sprachen von Einsicht und Fhigkeit, von +gesunder Klugheit und berlegsamer Urteilskraft. War +dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von auen her? +Gewi nicht ausschlielich, obwohl nicht abgeleugnet werden +kann, da fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend, +strkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe +aufrichtig, da ich seit jenem Besuche und seit jenen +Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere +und von Herzen wnsche, da der jetzt so deutlich sichtbare +Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder +sein mge. Der Beweis ist erbracht, da die alten Zeiten +vorber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit +jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit +dem Erfolg kommt auch der Segen. + + Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun +zu mir selbst zurckkehren und zu jener Morgenfrhe, in +der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln +spanischen Ruberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube +ja nicht, da dies eine "verrckte" Idee gewesen sei. Ich +war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch +kindlich, aber doch schon wohlgebt. Der Fehler lag +daran, da ich infolge des verschlungenen Leseschundes den +Roman fr das Leben hielt und darum das Leben nun +einfach als Roman behandelte. Die berreiche Phantasie, +mit der mich die Natur begabte, machte die Mglichkeit +dieser Verwechslung zur Wirklichkeit. + + Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. +In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von +uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich +auf und veranlaten mich, zu bleiben. Inzwischen +hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen. +Vater wute, nach welcher Richtung hin Spanien liegt. +Er dachte sofort an die erwhnten Verwandten und +machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort +anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saen wir +rund um den Tisch, und ich erzhlte in aller +Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum. +Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute. +Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie +waren ber mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei +einem Ruberhauptmann suchen! Sie wuten sich zunchst +keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten, +und da war es wie eine Erlsung fr sie, als sie meinen +Vater hereintreten sahen. Er, der jhzornige, leicht +berhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewhnlich. +Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges +Wort des Zornes. Er drckte mich an sich und sagte: +"Mach so Etwas niemals wieder, niemals!" Dann ging +er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim. + + Der Weg betrug fnf Stunden. Wir sind in dieser +Zeit still nebeneinander hergegangen; er fhrte mich an +der Hand. Nie habe ich deutlicher gefhlt wie damals, +wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom +Leben wnschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich. +Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches +Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und +er? Was mochten das wohl fr Gedanken sein, die jetzt +in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach +Hause kamen, mute ich mich niederlegen, denn ich kleiner +Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und auerordentlich +mde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde +nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und +das Lesen jener verderblichen Romane hrte auf. Als +dann die Zeit gekommen war, stellte sich die ntige Hilfe +ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden +zu mssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort fr +mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, +ein, und dieser gewhrte mir eine Untersttzung +von fnfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man fr +mich fr hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu +Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand +ich die Aufnahmeprfung fr das Proseminar zu +Waldenburg und wurde dort interniert. + + Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! +Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! +Nur? Wie falsch! Es gibt keinen hheren Stand als +den Lehrerstand, und ich dachte, fhlte und lebte mich +derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, da mir +Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich +stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde, +hoch ber sie hinausragend, hob sich das ber +alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem +ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: +Stcke fr das Theater schreiben! Ueber das Thema +Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer +nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz +gewi, vorausgesetzt freilich, da die Gabe dazu nicht +fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die +grne Mtze trug! Wie stolz auch meine Eltern und +Geschwister! Gromutter drckte mich an sich und bat: + + "Denk immer an unser Mrchen! Jetzt bist du +noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. +Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen. +Kehre dich niemals an die, welche dich zurckhalten +wollen!" + + "Und die Geisterschmiede?" fragte ich. "Mu ich +da hinein?" + + "Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen," +antwortete sie. "Bist du es aber nicht wert, so wird +dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen." + + "Ich will aber hinein; ich will!" rief ich mutig aus. + + Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und +sagte lchelnd: + + "Das steht bei Gott. Vergi ihn nicht! Vergi +ihn nie in deinem Leben!" + + Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, mu aber, +falls ich ehrlich sein will, eingestehen, da mir das +niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, +da ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben +zu ringen gehabt htte. Die Ueberzeugung, da es einen +Gott gebe, der auch ber mich wachen und mich nie verlassen +werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, +unveruerliche Ingredienz meiner Persnlichkeit gewesen, +und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst +anrechnen, da ich diesem meinem lichten, schnen +Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz +ohne alle innere Strung ist es auch bei mir nicht +abgegangen; aber diese Strung kam von auen her und +wurde nicht in der Weise aufgenommen, da sie sich htte +festsetzen knnen. Sie hatte ihre Ursache in der ganz +besonderen Art, in welcher die Theologie und der +Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab +tglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder +Schler unweigerlich teilnehmen mute. Das war ganz +richtig. Wir wurden sonn- und feiertglich in corpore +in die Kirche gefhrt. Das war ebenso richtig. Es gab +auerdem bestimmte Feierlichkeiten fr Missions- und +hnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. +Und es gab fr smtliche Seminarklassen einen +wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in +Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz +selbstverstndlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht, +nmlich grad das, was in allen religisen Dingen die +Hauptsache ist; nmlich es gab keine Liebe, keine Milde, +keine Demut, keine Vershnlichkeit. Der Unterricht war +kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. +Anstatt zu beglcken, zu begeistern, stie er ab. Die +Religionsstunden waren diejenigen Stunden, fr welche +man sich am allerwenigsten zu erwrmen vermochte. +Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwlf +erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu +Jahr in genau denselben Abstzen und genau denselben +Worten und Ausdrcken gefhrt. Was es am heutigen +Datum gab, das gab es im nchsten Jahre an demselben +Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte +Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und +das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder +einzelne Gedanke gehrte in sein bestimmtes Dutzend und +durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen +lassen. Das lie keine Spur von Wrme aufkommen; +das ttete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen +Mitschlern keinen einzigen gekannt, der jemals ein +sympathisches Wort ber diese Art des Religionsunterrichts +gesagt htte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so +religis gewesen wre, aus freien Stcken einmal die +Hnde zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und +bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch +heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar +habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lcheln meiner +Mitschler frchtete. + + Ich htte gern ber diese religisen Verhltnisse +geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe +habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren +und ueren Werdegang von Einflu war. Dieses +Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar +vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, +die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und +wie gottverlassen man sich da fhlte! Die Andern nahmen +das gar nicht etwa als ein Unglck hin; sie waren gleichgltig; +ich aber mit meiner religisen Liebesbedrftigkeit +fhlte mich erkltet und zog mich in mich selbst zurck. +Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr +als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder, +als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den +Verhltnissen, teils aber auch an mir selbst. + + Ich wute viel mehr als meine Mitschler. Das +darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei +zu fallen. Denn was ich wute, das war eben nichts +weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete +Anhufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten +Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich +mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren +Vielwisserei etwas merken lie, sah man mich staunend an +und lchelte darber. Man fhlte instinktiv heraus, da +ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei. +Die andern, meist Lehrershne, hatten zwar nicht so viel +gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert +und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedchtnisses, +stets bereit, benutzt zu werden. Ich fhlte, +da ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und strubte +mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine +stille und fleiige Hauptarbeit war, vor allen Dingen +Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das +ging leider nicht so schnell, wie ich es wnschte. Das, +was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war +wie ein mhsames Graben durch einen Schneehaufen +hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und +dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht +beseitigen lassen wollte. Nmlich den Gegensatz zwischen +meiner auerordentlich fruchtbaren Phantasie und der +Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen +Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als +da ich eingesehen htte, woher diese Trockenheit kam. +Man lehrte nmlich weniger das, was zu lernen war, +als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen +hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das +begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns +lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit +des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fgte +man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen, +deren Fleisch dann spter hinzuzufgen war. Bei mir +aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich +hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, +aber keinen einzigen tragenden, sttzenden +Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste +Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig +besa, eine Qualle, die weder innerlich noch uerlich +einen Halt besa und darum auch keinen Ort, an dem +sie sich daheim zu fhlen vermochte. Und das Schlimmste +hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war +nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von +den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das +begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fhlte mich +umso unglcklicher dabei, als ich mit keinem Menschen +davon sprechen konnte, ohne mich dadurch blozustellen. +Grad die Trockenheit und, ich mu wohl sagen, die +Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche +mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung fhrte. Ich +fand fr die Skelette, die uns geboten wurden, damit +wir sie beleben mchten, kein gesundes Fleisch in mir. +Alles, was ich zusammenfgte und was ich mir innerlich +aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde hlich, +wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor +mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner +seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu subern, zu +reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in +Anspruch nehmen zu mssen, die es ja auch gar nicht +gab. Ich htte mich wohl gern einem unserer Lehrer +anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, +so unnahbar, und vor allen Dingen, das fhlte ich heraus, +keiner von ihnen htte mich verstanden; sie waren keine +Psychologen. Sie htten mich befremdet angesehen und +einfach stehen lassen. + + Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang +nach geistiger Bettigung. Ich lernte sehr leicht und +hatte demzufolge viel Zeit brig. So dichtete ich im +Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich +erbrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was +ich schrieb, das sollte keine Schlerarbeit werden, sondern +etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was +schrieb ich da? Ganz selbstverstndlich eine +Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverstndlich, um gedruckt +zu werden! Von wem? Ganz selbstverstndlich von der +"Gartenlaube", die vor einigen Jahren gegrndet worden +war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war +ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein. +Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete, +bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb +ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren +Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein +Manuskript zurck, um es an eine andere Redaktion zu +senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst +geschrieben, vier groe Quartseiten lang. Ich war fern +davon, dies so zu schtzen, wie es zu schtzen war. Er +kanzelte mich zunchst ganz tchtig herunter, so da ich +mich wirklich aufrichtig schmte, denn er zhlte mir hchst +gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natrlich ohne +es zu ahnen, in der Erzhlung begangen hatte. Gegen +den Schlu hin milderten sich die Vorwrfe, und am +Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergngt die +Hand und sagte mir, da er nicht bermig entsetzt +sein werde, wenn sich nach vier oder fnf Jahren wieder +eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte. +Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die +Schuld, sondern die Verhltnisse gestatteten es nicht. Das +war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen +habe. Damals freilich hielt ich es fr einen absoluten +Mierfolg und fhlte mich sehr unglcklich darber. +Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar +in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in +dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal +berfiel, aus welchem meine Gegner so berklingendes +Kapital geschlagen haben. + + Es herrschte im Seminar der Gebrauch, da die +Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von +jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende +als "Wochner" bezeichnet. Auerdem gab es in der ersten +Klasse einen "Ordnungswochner" und in der zweiten einen +"Lichtwochner", welch letzterer die Beleuchtung der +Klassenzimmer zu bersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah +damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines +niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde. +Der Lichtwochner hatte tglich die Suberung der alten, +wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die +Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten +zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach +weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder +anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren +allgemein als wertlos anzusehen. + + Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, +Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese +Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem +Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage +vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wsche +abzuholen und das wenige Gepck, welches ich mit in die +Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es +Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach +Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch +jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen +der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut +daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst. +Mutter pflegte, wie selbst die rmsten Leute, fr das +Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das +hatte sie heuer kaum erschwingen knnen. Aber bescheert [sic] +werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld +dazu. Es gab keine Lichter fr den Weihnachtsleuchter. +Sogar die hlzernen Engel der kleineren Schwestern sollten +ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehrten drei kleine +Lichte, das Stck fr fnf oder sechs Pfennige; aber +wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren +Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu +fgen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das +Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich +soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt +hatte. "Knnte man denn nicht daraus einige +Pfenniglichte machen?" fragte sie. "Ganz leicht," +antwortete ich. "Man braucht dazu eine Papierrhre und +einen Docht, weiter nichts. Aber brennen wrde es schlecht, +denn dieses Zeug ist nur noch hchstens fr Schmiere zu +gebrauchen." "Wenn auch, wenn auch! Wir htten doch +eine Art von Licht fr die drei Engel. Wem gehrt +dieser Abfall?" "Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn +zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder +nicht, ist seine Sache." "Also wre es wohl nicht +gestohlen, wenn wir uns ein bichen davon mit nach Hause +nhmen?" "Gestohlen. Lcherlich! Fllt keinem +Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige +wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus +machen wir drei kleine Weihnachtslichte." + + Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer +Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, +also eine Klasse ber mir. Es widerstrebt mir, seinen +Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser +wackere Mitschler sah alles mit an. Er warnte mich +nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging +fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor +kam in eigener Person, den "Diebstahl" zu untersuchen. +Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab +den "Raub", den ich begangen hatte, zurck. Ich dachte +wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen +"infernalischen Charakter" und rief die Lehrerkonferenz +zusammen, ber mich und meine Strafe zu entscheiden. +Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkndet. +Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte +gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der +Schwester -- -- -- in die heiligen Christferien -- -- +-- ohne Talg fr die Weihnachtsengel -- -- -- es waren +das sehr trbe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe +wohl berhaupt schon gesagt, da grad Weihnacht fr +mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen +sei. An diesen Weihnachtstagen lschten heilige Flammen +in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich +lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern +unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die +unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Trken +und Heiden verfahren wrden. + + Glcklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus +und ffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, +verstndiger und humaner als die Seminardirektion. Ich +erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen +Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. +Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite, +und bestand nach zurckgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, +worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt, +bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine +Fabrikschule, deren Schler ausschlielich aus ziemlich +erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine +Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, +der Wahrheit gem, als ob ich mich nicht mit mir selbst, +sondern mit einer andern, mir fremden Person beschftigte. + + Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurck. +Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, fr unsere +Verhltnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich +als Lehrer nicht mehr wie als Schler herumlaufen +konnte, eine wenn auch noch so bescheidene +Ausstattung an Wsche und andern notwendigen Dingen. +Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mute es +auf mein Konto nehmen; das heit, ich borgte es mir, +um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen. +Da hie es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen, +ehe er ausgegeben wurde! Ich beschrnkte mich auf das +Aeuerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht +absolut notwendig war. Ich besa nicht einmal eine Uhr, +die doch fr einen Lehrer, der sich nach Minuten zu +richten hat, fast unentbehrlich ist. + + Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden +war, hatte kontraktlich fr Logis fr mich zu sorgen. Er +machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besa +auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher +beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; +er mute mit mir teilen. Hierdurch verlor er +seine Selbstndigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte +ihn an allen Ecken und Enden, und so lt es sich gar +wohl begreifen, da ich ihm nicht sonderlich willkommen +war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine +Weise von dieser Strung zu befreien. Im brigen kam +ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm mglichst gefllig +und behandelte ihn, da ich sah, da er das wnschte, +als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete +ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand +sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue +Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr +brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. +Sie hatte einen Wert von hchstens zwanzig Mark. Er +bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besa; ich lehnte +aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so +sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch +in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen +hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, +seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu +stecken, da ich doch zur Pnktlichkeit verpflichtet sei. Ich +ging darauf ein und war ihm dankbar dafr. In der +ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule +zurckkehrte, sofort an den Nagel zurck. Spter unterblieb +das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der +Tasche, denn eine so auffllige Betonung, da sie nicht +mir gehre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lcherlich +vor. Schlielich nahm ich sie sogar auf Ausgngen +mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr, +an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder +gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er +duldete mich notgedrungen und lie es mich zuweilen +absichtlich merken, da ihm die Teilung seiner Wohnung +nicht behage. + + Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, da ich +die Feiertage bei den Eltern zubringen wrde, und +verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schlu der Schule +gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung +zurckzukehren. Als die letzte Schulstunde vorber war, fuhr +ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar +nicht weit. Die Uhr zurckzulassen, daran hatte ich in +meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; da +sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr +gleichgltig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern +Absicht bewut. Dieser Abend bei den Eltern war ein +so glcklicher. Ich hatte die Schlerzeit hinter mir; ich +besa ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum +Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir +begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten. +Dabei sprach ich ber meine Zukunft, ber meine Ideale, +die fr mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen. +Der Vater schwrmte mit. Die Mutter war stillglcklich. +Gromutters alte, treue Augen strahlten. Als wir +endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit +wach im Bette und hielt Rechenschaft ber mich. Meine +innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich +bewut. Ich sah die Abgrnde hinter mir ghnen, vor +mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer +und mhevoll, aber vllig frei zu sein: Schriftsteller +werden; Groes leisten, aber vorher Groes lernen! Alle +inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten +Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz +fr Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen +Gedanken schlief ich ein, und als ich frh erwachte, war +der Vormittag schon fast vorber, und ich mute nach +dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine +Einkufe zur Bescherung fr die Schwestern zu machen. +Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich +der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er +mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur +Polizei, wo man eine Befragung fr mich habe. Ich +ging mit, vollstndig ahnungslos. Ich wurde zunchst +in die Wohnstube gefhrt, nicht in das Bureau. Da sa +eine Frau und nhte. Wessen Frau, darber bitte ich, +schweigen zu drfen. Sie war eine gute Bekannte meiner +Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit +angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich +niederzusetzen, und ging fr kurze Zeit hinaus, seine +Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig +zu fragen: + + "Sie sind arretiert! Wissen Sie das?" + + "Nein," antwortete ich, tdlich erschrocken. +"Warum?" + + "Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr +gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, +bekommen Sie Gefngnis und werden als Lehrer +abgesetzt!" + + Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefhl, +als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf +geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine +Gedanken vor dem Einschlafen, und nun pltzlich Absetzung +und Gefngnis! + + "Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur +geborgt!" stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog. + + "Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben +Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht +sehen! Schnell, schnell!" + + Meine Bestrzung war unbeschreiblich. Ein einziger +klarer, ruhiger Gedanke htte mich gerettet, aber er blieb +aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und +die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand +vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. +Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern +im Anzuge, wohin sie nicht gehrte, und kaum war dies +geschehen, so kehrte der Gendarm zurck, um mich +abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so +kurz wie mglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz +der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man +nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die +Lge, anstatt da sie mich rettete; das tut sie ja immer; +ich war ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz +vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die +Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schlo und +Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefngnis verurteilt. +Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich +zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel, +zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine +Zuflucht nahm, das wei ich nicht zu sagen. Jene Tage +sind aus meinem Gedchtnisse entschwunden, vollstndig +entschwunden. Ich mchte aus wichtigen psychologischen +Grnden gern Alles so offen und ausfhrlich wie mglich +erzhlen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge +ganz eigenartiger, seelischer Zustnde, ber die ich +im nchsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner +Erinnerung ausgestrichen ist. Ich wei nur, da ich +mich vollstndig verloren hatte und da ich mich dann +in der Pflege der Eltern und besonders der Gromutter +wiederfand. Als ich mich mhsam erholt hatte und wieder +krftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz +gegangen, um mein beschdigtes Gedchtnis wieder +aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten +vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, +noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, +an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber pltzlich +stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. +Er kam mir auf der Strae entgegen und hielt den +Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich +sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, da ich ganz +anders aussehe als frher, so auerordentlich leidend. +Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen. +So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt. +Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben +zu haben! Ich sah ihn gro an. Mir meine Karriere +verdorben? Htte das berhaupt Jemand gekonnt? +Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, +gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden +als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es +ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu +bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das +auch noch heut. Ich lie den Mann mitten auf der +Strae stehen und entfernte mich, ohne ihm einen +Vorwurf zu machen. + + Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich +damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser +Darstellung gesagt, da die Abgrnde hinter mir lagen, vor +mir aber keine, und da ich die Absicht hegte, Groes zu +leisten, vorher aber Groes zu lernen. Das Erstere war +falsch. Die Abgrnde lagen ganz im Gegenteile nicht +hinter mir, sondern vor mir. Und das Groe, was ich +zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgrnde +zu strzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei +hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurckzufallen. Dies ist die +schwerste Aufgabe, die es fr einen Sterblichen gibt, und +ich glaube, ich habe sie gelst. -- -- -- + + _________ + + + V. + Im Abgrunde. + + _____ + +Ich komme nun zu der Zeit, welche fr mich und fr jeden +Menschenfreund die schrecklichste, fr den Psychologen +aber die interessanteste ist. Es liegt mir in der schreibenden +Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung +jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Frbung +zu geben, welche am besten geeignet wre, das, was damals +in mir vorgegangen ist, fr den Fachmann begreiflich +zu machen; aber ich schreibe hier nicht fr den seelenkundigen +Spezialisten, sondern fr die Welt, in der meine +Bcher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche, +Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde infolge +dessen alle Fachausdrcke vermeiden und lieber einen +bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der +nicht allgemein verstndlich ist. + + Die im letzten Kapitel erzhlte Begebenheit hatte wie +ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag ber den +Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. +Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder +auf, doch nur uerlich; innerlich blieb ich in dumpfer +Betubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Da es +grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung +verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, +ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein +Rechtsmittel ergriffen habe, das wei ich nicht. Ich wei +nur noch, da ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, +zwei andere Mnner mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. +Man schien mich also fr ungefhrlich zu +halten, sonst htte man mich nicht mit Personen +zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren. Der Eine +war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier. Weshalb +sie in Untersuchung saen, das kmmerte mich nicht. Sie +zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mhe, mich aus +dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich +befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich verlie die +Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben +Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging +heim, zu den Eltern. + + Weder dem Vater noch der Mutter noch der Gromutter +noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwrfe +zu machen. Und das war geradezu entsetzlich! Als ich +damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien +wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen, +ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrben, und es +war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen! +Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir +nicht; die htte ich zu jeder Zeit erhalten knnen. Nun +da es so stand, handelte es sich fr mich darum, nicht +erst seitwrts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und fr +immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende +die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten +Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, +lernen, lernen! Am Groen, Schnen, Edlen mich +emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt +als Bhne kennen lernen, und die Menschheit, die sich +auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren, +arbeitsreichen Lebens fr die andere Bhne schreiben, fr das +Theater, um dort die Rtsel zu lsen, die mich schon seit +frhester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar +fhlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff! + + Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang +war nicht etwa ein klarer, kurz und bndig sich +aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das +strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab +nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, +als grad der heutige Tag mich sehen lie. Diese Nacht +war nicht ganz dunkel; sie hatte Dmmerlicht. Und +sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch +auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. +Ich besa die Fhigkeit zu jedem logischen Schlusse, +zur Lsung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte +den schrfsten Einblick in alles, was auer mir lag; aber +sobald es sich mir nherte, um zu mir in Beziehung zu +treten, hrte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande, +mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich +selbst zu fhren und zu lenken. Nur zuweilen kam ein +Augenblick, der mir die Fhigkeit brachte, zu wissen, was +ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis +zum nchsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich +ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem +Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen +Zustandes geistig sehr wohl bewut, besa aber nicht +die Macht, ihn zu ndern oder gar zu berwinden. Es +bildete sich bei mir das Bewutsein heraus, da ich kein +Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persnlichkeit, +ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, +sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab +es verschiedene, handelnde Persnlichkeiten, die sich bald +gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander +unterschieden. + + Da war zunchst ich selbst, nmlich ich, der ich das +Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war +und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es +besa groe Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte +alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets +nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel, +einer jener reinen, beglckenden Gestalten aus Gromutters +Mrchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lchelte, +wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam +war. Die dritte Gestalt, natrlich nicht krperliche, sondern +seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, hlich, +hhnisch, abstoend, stets finster und drohend; anders habe +ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehrt. +Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hrte sie auch; sie +sprach. Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nchte +lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute, +sondern stets nur das, was bs und ungesetzlich war. +Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst +jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie +einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt +und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut +und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal +gesehen htte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte +auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf, +aus dem Kegelschub oder aus der Lgenschmiede. Heut +sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der +Raubritter Kuno von der Eulenburg und bermorgen +wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem +Talgpapiere stand. + + Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit +einem Male, sondern nach und nach. Es vergingen viele, +viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten, +da ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das +Gedchtnis festhalten konnte. Und da begann ich zu +begreifen, um was es sich eigentlich handelte. Was sich in +jedem Menschen vollzieht, ohne da er es bemerkt oder +auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah +und hrte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade? +Oder war ich verrckt? Dann aber jedenfalls nicht geistig, +sondern seelisch verrckt, denn ich machte diese Beobachtungen +mit einer Objektivitt und Kaltbltigkeit, als ob es sich +nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir +vollstndig fremden Menschen handle. Und ich lebte das +gewhnliche, alltgliche Leben ganz so, wie jede gesunde +Person es lebt, die von derartigen psychologischen +Vorgngen nicht angefochten wird. Es kehrte mir die Kraft +und der Wille zum Leben zurck. Ich arbeitete. Ich +gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich +dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine +Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, +einzuben und auszufhren. Es leben noch heut Mitglieder +dieser Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, +mit dem ich ffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. +Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst +Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten". Ich hatte +nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende +Humoresken sind uerst selten und werden hoch bezahlt. +Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere. +Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich +entwickelte. Aber diese Freude wurde in der grausamsten +Weise durch eine andere Entwicklung vergllt, die sich +zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern +vollzog. Die Spaltung dort griff weiter um sich. Jede +Empfindung, jedes Gefhl schien Form annehmen zu +wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, +mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren +wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mute sie +hren. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es frher +auer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die +helle und die dunkle, so jetzt auer mir zwei Gruppen. +Und je lnger es dauerte, da sie sich von einander +unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie. Es kmpften +da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander: +Gromutters helle, lichte Bibel- und Mrchengestalten +gegen die schmutzigen Dmonen jener unglckseligen Hohensteiner +Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die +bererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren +wurde, gegen die beglckenden Ideen des Hochlandes, +nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten +Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden +Wnsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft +schaute, die Lge gegen die Wahrheit, das Laster gegen +die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die +Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, +um zum Edelmenschen zu werden. + + Solche innere Kmpfe hat jeder denkende Mensch, +der vorwrts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es +Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten. +Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich +zu sichtbaren und hrbaren Gestalten verdichtet. Ich sah +sie bei geschlossenen Augen, und ich hrte sie, bei Tag und +bei Nacht; sie strten mich aus der Arbeit; sie weckten +mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mchtiger +als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen +Widerstand. In gewhnlichen Stunden herrschte Ruhe +in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu +arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede +wollte die Arbeit so, wie sie es wnschte. Auch kam +es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen +eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte +ich ohne Streit und Strung vollenden. Bei einer ernsten +Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen fr +und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich +regelmig nach, da Gott nicht mit sich spotten lt, +sondern genauso straft, wie man sndigt. Hiergegen +emprten sich gewisse Gestalten in mir. Den grten +Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten +oder meiner Lektre noch hhere Linien bestieg. Wenn +ich mir ein religis oder ethisch oder sthetisch hohes +Thema stellte, emprte sich die dunkle Gestalt in mir mit +aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz +unaussprechlich sind. Um zu zeigen, in welcher Weise +das vor sich ging und was fr Qualen das waren, will +ich ein erluterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag +erhalten, eine Parodie von "des Sngers Fluch" +von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die Parodie bekam +den Titel "des Schneiders Fluch". Ein Schneider +verfluchte einen Schuster, sein bauflliges Huschen und +winziges Grtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbsche +standen. Bei der Verfluchung des Huschens kam es +zu folgenden Zeilen: + + "Die Hypotheken lauern + Schon heut auf euern Sturz. + Ihr hrts, verruchte Mauern, + Ich mach' es mit euch kurz!" + +Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestrt zu +sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste +Emprung in mir. Nur die lichte Gestalt verschwand; +sie trauerte, denn mein Knnen reichte zu Besserem und +Edlerem aus. Einige Zeit spter hatte ich ein Lehrgedicht +zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen +gegenwrtig sind: + + "Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden, + Das euer Heiland euch gelehrt + Und es in euren eig'nen Landen + Befolgt und mit Gehorsam ehrt, + Dann einet sich zu einem Strome + Die Menschheit all von nah und fern + Und kniet anbetend in dem Dome + Der Schpfung vor dem einen Herrn. + Dann wird der Glaube triumphieren, + Der einen Gott und Vater kennt; + Die Namen sinken, und es fhren + Die Wege all zum Firmament." + + Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu +diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat +eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lcheln +der lichten Gestalt, und hundert schne, edle Gedanken +eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden. Ich griff +zur Feder. Da aber war es pltzlich, als ob ein schwarzer +Vorhang in mir niederfalle. Die Klarheit war vorber; +die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf, +hhnisch lachend, und berall, durch mein ganzes inneres +Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen "des +Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders +Fluch u. s. w.!" So klang es stunden- und stundenlang +in mir fort, endlos, unaufhrlich und ohne die geringste +Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich, +wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir, +sondern grad vor meinem uern Ohr ertnten. Ich +gab mir alle Mhe, sie zum Schweigen zu bringen, doch +war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und +zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich +aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam, +auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich +Schweigen ein. Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen, +halten mute, so griff ich bald wieder zur Feder. +Sofort erklang der Stimmenchor von neuem "des +Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!" und als ich +trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte, +kamen die lautgebrllten Stze hinzu "Die Hypotheken +lauern, die Hypotheken lauern; ihr hrts, verruchte +Mauern, ihr hrts, verruchte Mauern!" Das ging den +ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann +noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hrte +es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt. +Jeder Andere htte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber +nicht. Ich blieb kaltbltig und beobachtete mich. Ich +setzte es trotz aller Gegenwehr durch, da mein Gedicht +zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber derartige Siege +hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann +innerlich zusammen. + + Leider erstreckte sich diese gewaltttige Verhinderung +meiner guten Vorstze nicht nur auf meine Studien und +Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch +auf meine Lebensfhrung, auf mein alltgliches Tun. +Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs +Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge +unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht htte, +die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir +einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich +sah sie nicht; ich sah nur die finstere, hhnische +Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner +Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie +beeinfluten mich. Und wenn ich mich dagegen strubte, +so wurden sie lauter, um mich zu betuben und so zu +ermden, da ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die +Hauptsache war, da ich mich rchen sollte, rchen an +dem Eigentmer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur +um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rchen an +der Polizei, rchen an dem Richter, rchen am Staate, +an der Menschheit, berhaupt an jedermann! Ich war +ein Mustermensch, wei, rein und unschuldig wie ein +Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft, +um mein Lebensglck. Wodurch? Dadurch, da +ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nmlich ein +Verbrecher. + + Das war es, was die Versucher in meinem Innern +von mir forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte, +so weit meine Krfte reichten. Ich gab allem, was ich +damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine +ethische, eine streng gesetzliche, eine knigstreue Tendenz. +Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst +zur Sttze. Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist +mir das geworden! Wenn ich nicht tat, was diese lauten +Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit +Hohngelchter, mit Flchen und Verwnschungen berschttet, +nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und +ganze Nchte lang. Ich bin, um diesen Stimmen zu +entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen +und das Schneegestber gelaufen. Es hat mich +fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat +fort, um mich zu retten, kein Mensch wute, wohin, doch +es zog mich wieder und immer wieder zurck. Niemand +erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar +bermenschlich ich kmpfte, weder Vater noch Mutter noch +Gromutter noch eine der Schwestern. Und noch viel +weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man htte mich +ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach fr +bergeschnappt erklrt. Ob irgend Jemand an meiner Stelle +das ausgehalten htte, da wei ich nicht, ich glaube es +aber kaum. Ich war sowohl krperlich als auch geistig +ein krftiger, sogar ein sehr krftiger Mensch, aber ich +wurde dennoch mder und mder. Es kamen zunchst +Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollstndig +dunkel in mir wurde; da wute ich kaum oder oft auch +gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte +Gestalt in mir vollstndig verschwunden. Das dunkle +Wesen fhrte mich an der Hand. Es ging immerfort +am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, +was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur +noch wie im Traum. Htte ich den Eltern oder doch +wenigstens Gromutter gesagt, wie es um mich stand, so +wre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewilich +unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat, +sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit +fhrte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte, +Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne +zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu +bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es +wahrscheinlich auch schon damals nicht gewut. Denn fr mich +ist es sicher und gewi, da ich ganz unmglich bei klarem +Bewutsein gehandelt haben kann. Ich wei von der +darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr, +weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich +auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich +habe bis jetzt geglaubt, da die Strafe vier Jahre +Gefngnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierber +in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darber +gewesen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist, da +der Abgrund nicht vergeblich fr mich offengestanden hatte. +Ich war hinabgestrzt; ich wurde in das Landesgefngnis +Zwickau eingeliefert. + + Ehe ich mich ber diese meine Detentien verbreite, +habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche +Anschauungen zu wenden, die sich gegen Alles, was mit dem +Strafvollzug zusammenhngt, richten und mit denen nun +doch endlich einmal aufgerumt werden sollte. Ich habe +manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber +unberechtigter Erbitterung drohen hren, da er nach seiner +Entlassung ein Buch ber seine Gefangenschaft schreiben +werde, um die ebenso schweren wie unzhligen Mngel +unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzuges aufzudecken. +Ein verstndiger Mann lchelt ber solche Drohungen, +die zwar ausgesprochen, aber nur hchst selten ausgefhrt +werden. Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefhl +besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu +haben. Es fllt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur +wenige wuten, nun, da es berstanden ist, an die volle +Oeffentlichkeit zu bringen. Er schweigt also. Und das +ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewi +beweisen wrde, da unter tausend Gefangenen kaum einer +ist, der ber sich und seine Bestrafung unbefangen und +sachgem zu urteilen vermag. Ich aber glaube, mich +zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet +zu haben; ich halte mein Urteil fr wohlerwogen und +richtig und fhle mich verpflichtet, hier folgende Punkte +festzustellen: + + Die Zeiten, in denen die Gefngnisse als "Verbrecherschulen" +bezeichnet werden durften, sind lngst vorber. +In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch +und nicht weniger human als in der Freiheit zu. + + Das, was man einst als "Verbrecherwelt" brandmarkte, +gibt es nicht mehr. Die Bewohnerschaft der +heutigen Strafhuser rekrutiert sich aus allen Stnden +des Volkes. Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und +Intelligenz aus denselben Prozentstzen zusammen wie die +der "Unbestraften". + + An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. +Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu "ent"-schuldigen. + + Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses +Satzes wohlbewut. Ich habe keinen einzigen Richter +kennen gelernt, auch unter denen, welche gegen mich +entschieden, dem ich einen Vorwurf machen knnte. Die +zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich frmlich +zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen +zu machen, und ich mu sagen, da ich alle diese +Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur +hochachten kann. Ich habe sogar den Fall erlebt, da ein +Dresdener Richter mir recht gab, obwohl alle seine +Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in +diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung +und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand +dies erweckt, das wei nur der, der Gleiches wie +ich erlebte. + + In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe +auszusprechen. Ich habe whrend meiner Gefangenschaft +nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher +kennen gelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit +und Humanitt Grund zu irgend einem Tadel gegeben +htte. Ich behaupte sogar, da die Aufseher die Strenge +des Dienstes viel strker empfinden als der Gefangene +selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Gte, eine +Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmglich +gewesen wre. Das Gefngnis ist kein Konzerthaus und +kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Sttte, in +welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen +hat. Derjenige Detinierte, der so verstndig ist, sich dies +zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle +mgliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, +vergessen zu machen. Es gab Beamte, die ich herzlich +lieb gewann, und ich bin vollstndig berzeugt, da ihre +Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur +vorgetuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war. + + Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres +Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns +wnschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch +nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die +Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, nmlich in der +Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der trichten +Selbstgerechtigkeit des lieben Nchsten, in gewissen, allzu tief +eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch +in unserer sogenannten, hochgepriesenen "Kriminalpsychologie", +an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht +aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger +der, um den es sich hier eigentlich handelt, nmlich der +sogenannte -- -- -- Verbrecher. + + Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue +Straftaten und neue Rckflle flieen, obgleich doch sonst +alles mgliche geschieht, diese trben Wasser einzudmmen +und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll ich +sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der +letzten, der "Kriminalpsychologie", beginnen, so liegen vor +mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, uerst +strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen +dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der +Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet +sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung +und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu +lenken. Er hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er +wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung +handelt, oft genannt und wrde ein Segen auf diesem +Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das +wieder zerstrte, was er als Vorkmpfer der Humanitt +aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen Namen, +denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die +Sache an. Als Menschenfreund im hchsten Grade +beachtenswert, kann er als "Seelenforscher" in fast noch +hherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem +er seine ffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen +versucht, lt er sich so weit hinreien, Personen, +die vor dreiig und noch mehr Jahren bestraft worden +sind, nun aber sich in mhsam errungener, ffentlicher +Stellung befinden, mit in seine "psychiatrischen" +Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart +kenntlich zu machen, da jedermann wei, wen er meint. +Von einem Rechtsanwalt hierber zur Rede gestellt, +antwortete er, da er als Wissenschaftler hierzu berechtigt +sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube. +Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knpfen. +Aber selbst wenn es wahr wre, da es einen solchen +Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt, +einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene, +sonstige Humanitt zu handeln und Menschen, die ihm +nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem +Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem +Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser +Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es fr +den Reichstag hchste Zeit, ihn einer ernsten Prfung zu +unterwerfen. Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag +er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das +Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, da die +Herren Kriminalpsychologen ihn ffentlich an den +wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewi nicht +darber wundern, da die Kriminalistik keine Neigung +zur Besserung zeigt. Ich werde im Verlaufe meiner +Darstellungen auf diesen Punkt zurckkommen mssen. + + Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, +so brauche ich hier nur auf die vllige Schutzlosigkeit der +Vorbestraften gewissen Rechtsanwlten gegenber +hinzuweisen. Der grte Schurke kann durch seinen Anwalt +in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er +verderben will; das wird dann verffentlicht, und der +arme Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein +Ehrenmann, aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, +den B. zu vernichten. Er braucht ihn blo zu beleidigen +und sich von ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann +als Beschuldigter, da die Strafakten des Klgers vorgelegt +werden. Das geschieht. Sie werden in ffentlicher +Verhandlung vorgelesen. A. bekommt zehn Mark +Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die frhere Verachtung +und in das frhere Elend zurckgeworfen und wird nun +darauf schwren, da fr den einmal Bestraften alle Vorstze, +sich zu "bessern", nutzlos sind. Wenn er nun rckfllig +wird, ist es gewi kein Wunder. Es gibt leider +nicht wenige Rechtsanwlte, welche ganz ohne Bedenken +zu dem hchst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die +in sachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persnlich +gehssiger, rcksichtsloser Weise zu fhren. Auch ich selbst +habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer +gesehen, da unsere Richter sich durch derartigen Schmutz +niemals beeinflussen lassen. Ich bin berzeugt, da gerade +diese Herren es mit Freuden begren wrden, wenn +endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kmen, +durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken +ermglicht ist, lngst Vergangenes und lngst Geshntes +wieder aufzudecken. Dann wrde die bedeutende Zahl der +sogenannten Erbitterungsrckflle wohl bald in Wegfall +kommen. + + Da ich die trichte Selbstgerechtigkeit des "lieben +Nchsten" anfhrte, geschah mit vollstem Rechte. Sie ist +und bleibt die Hauptursache der Mistnde, die hier zu +besprechen sind. Ich will keineswegs behaupten, da dies +auf einem ethischen Mangel beruht. Ich meine vielmehr, +es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen +haben, da man sie gar nicht mehr als Vorurteile +erkennt, sondern fr Wahrheiten hlt, an denen niemand +zu rtteln vermag. Der "Verbrecher" war einst vogelfrei; +er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf ihn ein; +ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche +Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem +andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und +aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger +Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von +seiner Seite einer ungewhnlichen Seelenruhe und einer +seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer +weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurckwerfen +zu lassen. Die grte Gefahr fr ihn liegt darin, +da ihm von dem lieben Nchsten das Ehrgefhl nach +und nach abgestumpft oder gar gettet wird. Lt er es +so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik +gibt ihr entweder erbittertes oder vollstndig gleichgltig +gewordenes Opfer nie wieder her. Dies wird und kann +gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso +unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird, +da jeder bestrafte Mensch fr die ganze Zeit seines +Lebens als "Verbrecher" zu betrachten sei. Krzlich kam +in Charlottenburg der Fall vor, da jemand, der vor +ber vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem +aber gut gefhrt hatte, von einem belwollenden Menschen +als "geborener Verbrecher" bezeichnet wurde. Der +Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde +freigesprochen. Heit das nicht, einen armen Menschen, der +sich mit uerster Willenskraft aus dem Abgrund +emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewhrt hat, mit +brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- -- + + Da unten lag auch ich. Indem ich hierber weiter +berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der +Weise zu tun, wie aufregungsbedrftige, sensationslsterne +Leser es wnschen. Es ist mehr als genug, wenn man +solche Dinge nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie +zum zweitenmale zu erleben, indem man sie fr andere +niederschreibt, so besitzt man gewi die Berechtigung, sich +so kurz wie mglich zu fassen. Von dieser Berechtigung +mache ich hiermit Gebrauch. + + Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt +eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer +hflich ist, sich den Hausgesetzen fgt und nicht dummer +Weise immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie ber +Hrte zu klagen haben. Was die Beschftigung betrifft, +die man fr mich auswhlte, so wurde ich der Schreibstube +zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie frsorglich +die Verhltnisse der Gefangenen von der Direktion +bercksichtigt werden. Leider aber hatte diese Frsoge in +meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nmlich ich +versagte als Schreiber so vollstndig, da ich als +unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener +das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte +ich nicht fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, da es +mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben msse, +denn schreiben mute ich doch knnen! Ich wurde Gegenstand +besonderer Beachtung. Man gab mir andere Arbeit, +und zwar die anstndigste Handarbeit, die man hatte. +Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde +Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und +Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese Riege bestand mit mir +aus vier Personen, nmlich einem Kaufmann aus Prag, +einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte war, das +konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. Diese +drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten +schon seit lngerer Zeit zusammen, standen bei den +Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle +mgliche Mhe, mir die Lehrzeit und berhaupt die schwere +Zeit so leicht wie mglich zu machen. Nie ist ein +unschnes oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen. +Unser Arbeitssaal fate siebzig bis achtzig Menschen. Ich +habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen +Verhalten an die Behauptung erinnert htte, da das +Gefngnis die hohe Schule der Verbrecher sei. Im +Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt bemht, einen +mglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und +Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer Plne +fr die Zukunft habe ich whrend meiner ganzen +Gefangenschaft niemals etwas gehrt. Htte irgend einer +gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wre er, wenn nicht +angezeigt, so doch auf das energischste zurckgewiesen +worden. + + Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt +wurde, dieser Visitation hie Ghler. Ich nenne +seinen Namen mit groer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er +hatte mich zu beobachten und kam, obwohl er von Psychologie +nicht das geringste verstand, nur infolge seiner +Humanitt und seiner reichen Erfahrung meinem inneren +Wesen derart auf die Spur, da seine Berichte ber mich, +wie sich spter herausstellte, die Wahrheit fast erreichten. +Er hatte, wie wohl alle diese Aufseher, frher beim +Militr gestanden, und zwar bei der Kapelle, als erster +Pistonblser. Darum war ihm das Musik- und Blserkorps +der Gefangenen anvertraut. Er gab des Sonntags +in den Visitationen und Gefngnishfen Konzerte, +die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei Kirchenmusik +die Snger mit seiner Instrumentalmusik zu begleiten. +Leider aber besa weder er noch der Katechet, +dem das Kirchenkorps unterstand, die ntigen theoretischen +Kenntnisse, die Stcke, welche gegeben werden sollten, fr +die vorhandenen Krfte umzuarbeiten oder, wie der +fachmnnische Ausdruck heit, zu arrangieren. Darum hatten +beide Herren schon lngst nach einem Gefangenen gesucht, +der diese Lcke auszufllen vermochte; es war aber keiner +vorhanden gewesen. + + Jetzt nun kam der Aufseher Ghler infolge seiner +Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich +in sein Blserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das +vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei +der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte +er mich, und ich sagte ganz selbstverstndlich auch nicht +nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur +das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den +Hnden gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit. +Der Aufseher freute sich darber. Er freute sich noch +mehr, als er erfuhr, da ich Kompositionslehre getrieben +habe und Musikstcke arrangieren knne. Er meldete das +sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die +Kirchensnger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl +des Blser- als auch des Kirchenkorps und beschftigte +mich damit, die vorhandenen Musikstcke durchzusehen und +neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenauffhrungen +bekamen von jetzt an ein ganz anderes Geprge. + + Ich mu erwhnen, da diese musikalischen Arbeiten +nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs +von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder +Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden +will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum +ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es +liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen +Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit fr +meine kompositionelle Beschftigung brig, die ich nicht +aufgab, auch als ich aus der Visitation der +Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir nmlich +mein inniger Wusch erfllt, isoliert zu werden. + + Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine +Zelle fr mich allein zu bekommen; die Erfllung dieses +Wunsches war aber nicht angngig gewesen. Erst nun, +da man ber mich zu einem psychologisch abgeschlossenen +Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und +unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors +desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr +pflichtbewuter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber +ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch +nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch +bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, da ich zur Zeit +meiner Einlieferung vollstndig unfhig gewesen war, +Schreiber zu sein, nun aber fr fhig gehalten wurde, +eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche groe geistige Um- +und Einsicht erforderte und die hchste Vertrauensstelle +war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor +war nmlich neben seiner Direktion des Isolierhauses +noch beruflich schriftstellerisch ttig. Diese seine Ttigkeit +bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und +auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges +berhaupt. Er schrieb die hierauf bezglichen Berichte +und stand mit allen hervorragenden Mnnern des +Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe +war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre +Zuverlssigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu +vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. +Das war an und fr sich eine sehr schwere, anstrengende +und scheinbar langweilige Beschftigung mit leblosem +Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen +und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, +ihnen Sprache zu verleihen, das war im hchsten Grade +interessant, und ich darf wohl sagen, da ich da viel, sehr +viel gelernt habe und da mich diese Arbeiten in stiller, +einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie +viel weiter vorwrts gebracht haben, als ich ohne +diese Gefangenschaft jemals gekommen wre. Da mir +hierzu nur die besten und zuverlssigsten Unterlagen zu +Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir +da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da +in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und +Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie +keine Augen dafr haben. Ich habe da erkannt, da +Gromutters Mrchen die Wahrheit sagt, da es ein +Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland +und ein ethisches Tiefland, und da die Hauptbewegung, +an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von +oben nach unten geht, sondern von unten nach oben, +empor, empor zur Befreiung von der Snde, hinauf, +hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir +von grtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst +befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von +denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle +vernommen. Ich habe mit ihnen gekmpft und sie stets zum +Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurck; sie lieen +sich wieder hren, doch in immer lngern Zwischenrumen, +bis ich endlich annehmen konnte, da sie ganz und fr +immer stumm geworden seien. + + Auerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen +zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand +mir offen. Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa +nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren +alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese kstlichen, +inhaltsreichen Bcher nicht nur gelesen, sondern studiert +und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur +die Werke der Anstaltsbibliotheken, die mir zur +Verfgung standen, sondern man zeigte sich auch gern +bereit, mir solche von auswrts zugngig zu machen. Es +war mir ein unwiderstehliches Bedrfnis, die Ruhe und +Ungestrtheit der Zelle so viel wie mglich fr mein +geistiges Vorwrtskommen auszunutzen, und die Beamten +hatten ihre Freude daran, mir hierzu in jeder, den +Anstaltsgesetzen nicht widersprechenden Weise behilflich zu sein. +So verwandelte sich fr mich die Strafzeit in eine +Studienzeit, zu der mir grere Sammlung und grere +Vertiefungsmglichkeit geboten war, als ein Hochschler +jemals in der Freiheit findet. Ich werde ber diesen groen, +unschtzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft mir brachte, +noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz +besonders dankbar dafr, da es mir nicht verboten war, +mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch +den eigentlichen Grund zu meinen spteren Reisearbeiten +zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten +sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes +Genre bilden sollen. Doch ist es fr jetzt nicht +meine Absicht, mich ber diese meine Studien zu verbreiten, +sondern ich habe mich hier allein und ganz besonders +mit dem Umstand zu befassen, da die mir anvertraute +Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit +zu hchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen +gab, unter deren Einflu meine schriftstellerische +Ttigkeit sich zu der gestaltete, die sie geworden ist. + + Wenn ich behaupte, da ich die literarischen Bedrfnisse, +oder sagen wir, die Lesebedrfnisse der Volksseele +kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst +zu nehmen. Man soll nicht sagen, da jeder +Volksbibliothekar und jeder Leihbibliothekar genau dieselben +Erfahrungen machen knne, denn das ist nicht wahr. +Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind +zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann +das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedrfnisse +werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um. Die +uere Persnlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre +Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. Und diese +ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung +erkannt und gepackt werden mu, wenn der menschlich +groe, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll, +moralische Erhebung und Festigung, Ausshnung zwischen +der Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die +sich beide aneinander versndigten. Dieses Hervortreten +der innern Persnlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme, +in der Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene +hat whrend seiner Detention auf alle seine leiblichen +Sonderrechte zu verzichten. In leiblicher Beziehung +ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine +Nummer, die in den Bchern eingetragen wird und bei +der man ihn auch nennt. Um so krftiger, ja ungestmer +tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich, +ihre Rechte und Bedrfnisse geltend zu machen. Der +Leib ist gezwungen, sich in die Gefngniskleidung und +Gefngniskost zu fgen. Wehe, wenn man den Fehler +begeht, den gleichen Zwang auch auf die Seele ausben +zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem +Gefngniskleide, und sie verlangt mit Heihunger nach einer +Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um +sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu +befreien. Man glaube mir, kein Strfling wnscht das +Bse fr sich; sie alle wnschen das Gute. Im tiefsten +Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur krperlich +sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar +Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, hungrige +Seele sich gut kleiden und gut nhren, nmlich gut im +ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den +sonntglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen +Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? +Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefhrten? Man +beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle +aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei +derartig gegebenen Verhltnissen nur die Bibliothek sein. +Der Gefangene, der sich so fhrt, da ihm das Lesen +nicht verboten werden mu, bekommt pro Woche ein Buch. +Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang die seelische +Kost fr den nach Nahrung Schmachtenden. Er darf +sich das Buch nicht whlen; er mu nehmen, was er +bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glck, kann +ihm zum Unglck werden, kann ihm Belehrung oder Strafe +sein, kann ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, +ihn aber auch empren und verhrten. Einer meiner +Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre +lang weiter nichts als alte "Frauendorfer Bltter" zu +lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau, +die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen +bringen konnten. Er trug es in steigender Erbitterung, +bis ich die Bibliothek berkam [sic] und ihm Passenderes gab. +Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias +Gotthelfs Erzhlungen derart auer sich gebracht, +da er nahe daran stand, wegen Ungebhr bestraft zu +werden. Das letzte, was er hatte lesen mssen, hatte +den Titel gehabt "Wie fnf Mdchen im Branntwein +jmmerlich umkommen." Als ich ihm einen Band von +Edmund Hfer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermgen +geschenkt htte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister +war einer langen Reihe von Erbauungsbchern +zum Opfer gefallen. Er schwor mir wtend zu, da es +schon um dieser Bcher willen keinen Herrgott geben +knne. Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht; +die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien +aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut bankrott und +verdienten wenigstens dieselbe Gefngnisstrafe wie er. + + Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich +zunchst meine Bibliothek und sodann auch die Bedrfnisse +ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit +ernsten und schwierigen psychologischen Erwgungen +verbunden und fhrte zu dem betrbenden Schluresultate, +da eigentlich solche Bcher, wie wir sie brauchten, +nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht +nur in unserer Gefngnisbibliothek, sie fehlten auch +berhaupt in der Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, +an die Trakttchen, die ich da gelesen und an den Schund, +der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich +verglich. Da dmmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind +nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht +eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht +Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar +nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu +fhlbar vorhanden sind? Ist es nur fr die Bewohner der +Strafanstalt der Leib, der gebndigt werden mu, damit +der hhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur +Geltung kommen mge? Mu nicht berhaupt bei allen +Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige +gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit +gewinnende Seele sich zum hchsten irdischen Ideale, zur +Edelmenschlichkeit, erheben knne? Und sind es nicht die +Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher +Tiefe zu solcher Hhe fhren sollen? Die Literatur, der +auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, +mit angehre! + + Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich +zu Betrachtungen und Schlssen, die scheinbar hchst +seltsam, im Grunde genommen aber ganz natrlich waren. +Es wurde zwischen meinen vier engen Wnden hell; sie +weiteten sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich +erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen +Zusammenhnge zwischen dem Kleinsten und dem Grten, +dem Krperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und +dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen. +Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben, +alten Mrchen meiner Gromutter in ihrer tiefen +Bedeutung zu begreifen. Ich lag nchtelang wach und +dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, +verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht +und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan +empor. Ich stellte mir vor, die verloren gegangene +Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden +kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. Dieses +Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur +hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der +Menschheitsqual, bei der Trberkost des verlorenen Sohnes +unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann, +das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen +und festhalten zu knnen. Es wohnte und lebte in mir. +Aber nicht nur da, sondern auch auerhalb, allberall, in +jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als +Groes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine +Marah Durimeh, die groe, herrliche Menschheitsseele, +der ich die Gestalt meiner geliebten Gromutter gab. Da +tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir +auf, jener geheimnisvolle "Bewahrer der groen Medizin", +den meine Leser im dreiunddreiigsten meiner Bnde +kennen gelernt haben. Und da wurde auch der Gedanke +"Winnetou" geboren. Wohlverstanden, nur der Gedanke, +nicht aber er selbst, den ich erst spter fand. Damals +habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek +und alle andern, die mir zugngig wurden -- fast +verschlungen, htte ich beinahe gesagt; aber das wrde nicht +wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort fr Wort +zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit +in mir aufgenommen, die hchst wahrscheinlich nicht +allzu hufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit +einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, +meine Seligkeit davon abhnge, mir innerlich klar zu +werden. Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen +Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit +zurck und holte den alten, khnen Wunsch hervor, "ein +Mrchenerzhler zu werden, wie du, Gromutter bist." +Ich befand mich ja an einem der grten und reichsten +Fundorte alles dessen, was da zu erzhlen war, im +Gefngnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was +drauen in der Freiheit so leicht und so dnn vorberfliet, +da man es nicht ergreifen und noch viel weniger +betrachten kann. Und da erheben sich die Gegenstze, die +drauen sich wie auf ebener Flche vermischen, so bergeshoch, +da in dieser Vergrerung Alles offenbar wird, +was anderwrts in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich +hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen, +hochgelehrten Werke ber Psychologie, besonders ber +Kriminalpsychologie. Fast jede Zeile war mir eingeprgt. Sie +enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Rtseln und +Problemen. Die Praxis aber lag rund um mich her, in +ebenso klarer wie erschtternder Aufrichtigkeit. Welch ein +Unterschied zwischen beiden? Wo war die Wahrheit zu +suchen? In den aufgeschlagenen Bchern oder in der +aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft +ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft +irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege +fhren ber den Irrtum zur Wahrheit; dort mssen sie +sich treffen. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet, +das knnen wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen +Auge vergnnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge +des -- -- Mrchens. Darum will ich Mrchenerzhler +sein, nichts Anderes als Mrchenerzhler, ganz so, wie +Gromutter es war! Ich brauche nur die Augen zu +ffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und +Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach +Erlsung trachtenden Mrchen. In jeder Zelle eins und +auf jedem Arbeitsschemel eins. Lauter schlafende +Dornrschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und +Liebe wachgekt zu werden. Lauter in Fesseln schmachtende +Seelen, in alten Schlssern, die in Gefngnisse +umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen +Humanitt von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel +geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens +und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen +Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse +und Mrchen erzhlen, in denen tief verborgen die +Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu +erschauen vermag. Ich will Licht schpfen aus dem Dunkel +meines Gefngnislebens. Ich will die Strafe, die mich +getroffen hat, in Freiheit fr andere verwandeln. Ich +will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein +groes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind, +verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es +schlielich kein "Verbrechen" mehr und keine "Verbrecher" +gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke. + + Aber kein Mensch darf ahnen, da das, was ich erzhle, +nur Gleichnisse und nur Mrchen sind, denn wte +man das, so wrde ich nie erreichen, was ich zu erreichen +gedenke. Ich mu selbst zum Mrchen werden, ich selbst, +mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine Khnheit +sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was aber +liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es +sich um groe, riesig emporstrebende Fragen der ganzen +Menschheit handelt? An dem winzigen Schickslchen eines +verachteten Gefangenen, der fr die Gesellschaft schon so +und berhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise, +in der man ber das "Verbrechen" denkt und spricht, +nicht baldigst ndert! + + Das war ein Gedanke, der mir ganz pltzlich kam, +sich aber tief einnistete und mich nicht wieder verlie. +Er gewann Macht ber mich; er wurde gro. Er nahm +endlich meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb, +weil er in sich die Erfllung alles dessen barg, was schon +von meiner Kindheit an Wunsch und Hoffnung in +mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen Gedanken; ich +erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn aus. Er +hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide identisch. +Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte eine lange, +lange Zeit, und es gingen noch trbere und noch schwerere +Tage dahin, als die gegenwrtigen waren, ehe ich meinen +Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, da +an ihm nichts mehr zu ndern war. Ich nahm mir vor, +zunchst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen +Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen +Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, da ich +mich absolut nur auf gottesglubigem Boden bewege. +Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches +im allgemeinsten Interesse steht und die grte Eindrucksfhigkeit +besitzt, nmlich zur Reiseerzhlung. Diesen Erzhlungen +wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht +absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse +und nur Mrchen sein, allerdings auerordentlich +vielsagende Gleichnisse und Mrchen. Trotzdem aber waren +Reisen wnschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen +Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten +sich zu bewegen hatten. Vor allem galt es, sich +tchtig vorzubereiten, Erdkunde, Vlkerkunde, Sprachkunde +treiben. Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen +Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat +zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gem +behaupten, da Alles, was ich erzhle, Selbsterlebtes und +Miterlebtes sei. Aber ich mute diese Sujets hinaus +in ferne Lnder und zu fernen Vlkern versetzen, um ihnen +diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen +Kleidung nicht besitzen. In die Prrie oder unter Palmen +versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder +von den Schneestrmen des Wilden Westens umtobt, in +Gefahren schwebend, welche das strkste Mitgefhl der +Lesenden erwecken, so und nicht anders muten alle meine +Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen +wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu hatte ich in +allen den Lndern, die zu beschreiben waren, wenigstens +theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europer +es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, schwer +und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und +dazu war der stille ungestrte Gefngnisraum, in dem +ich lebte, grad so die richtige Stelle. + + Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische +Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch +die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung +gegeben. Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu +beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den +Gelehrten hchstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen +betrachtet. So eine himmlische Wahrheit steigt an den +Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus +zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden. +Sie wird berall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein, +aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation +besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu +Stadt, von Land zu Land, ohne erhrt und aufgenommen +zu werden. Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder +himmelan und kehrt zu dem zurck, von dem sie ausgegangen +ist. Sie klagt ihm weinend ihr Leid. Er aber +lchelt mild und spricht: "Weine nicht! Geh' wieder +zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, dessen +Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn, +dich in das Gewand des Mrchens zu kleiden, und versuche +dann dein Heil noch einmal!" Sie gehorcht. Der +Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie. Sie +beginnt ihren Gang als Mrchen nun von Neuem, und +wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen. Man ffnet ihr +die Tren und die Herzen. Man lauscht mit Andacht +ihren Worten; man glaubt an sie. Man bittet sie, zu +bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber mu +weiter, immer weiter, um zu erfllen, was ihr aufgetragen +worden ist. Doch geht sie nur als Mrchen; als Wahrheit +aber bleibt sie zurck. Und wenn man sie auch nicht +sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, fr alle +Folgezeiten. + + So, das ist das Mrchen! Aber nicht das Kindermrchen, +sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Mrchen, +trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die +hchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm +wohnenden Seele gem. Und einer jener Dichter, zu +denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, +wollte ich sein! Ich wei gar wohl, welche Khnheit +des war. Doch gestehe ich es, ohne mich zu frchten. +Die Wahrheit ist so verhat und das Mrchen so +verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander. +Das Mrchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen, +ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe +dringt. Wie man behauptet, da das Mrchen nur fr +Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller", +der nur fr unerwachsene Buben schreibe. Kurz, +ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, da ich so +verwegen gewesen bin, nur ein Mrchen- und +Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein "Leben +und Streben" schon an und fr sich selbst einem Mrchen, +und sind es doch fast unzhlige Fabeln und Mrchen, mit +denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet +worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so +glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Mrchen +glaubt. Aber, wie jedes echte Mrchen doch endlich +einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur +Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt, +das wird man morgen glauben lernen. + + Also alle meine Reiseerzhlungen, die ich zu schreiben +beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie +sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberflche lag. +Ich wollte Neues, Beglckendes bringen, ohne meine Leser +mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu +verwickeln. Und was ich zu sagen hatte, das mute ich +suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Tren +legen, weil man Alles, was man so billig bekommt, liegen +zu lassen pflegt und nur das zu schtzen wei, was man +sich mhsam zu erringen hat. Es wre ein unverzeihlicher +Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, da +meine Reiseerzhlungen bildlich zu nehmen seien. Man +htte mich einfach nicht gelesen, und Alles, was ich lsen +wollte, wre Fabel und Mrchen geblieben. Der Leser +mute ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete +es dann als wohlerrungen und hielt es fr das Leben +fest. + + Aber was war denn eigentlich das, was ich geben +wollte? Das war vielerlei und nichts Alltgliches. Ich +wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrtsel +lsen. Man lache mich aus; aber ich habe es +gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter +versuchen. Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein +Anderer wissen. Es mag bei der Ausfhrung dann wohl +mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender +Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen. Ich +wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur +Verffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft +worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das +nicht noch lcherlicher als das Vorhergehende? Mag man +es dafr halten; ich aber habe an hundert und wieder +hundert unglcklichen Menschen gesehen, da sie nur darum +in das Unglck geraten waren und nur darum darin +stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen +der ganzen irdischen Schpfung, vollstndig vernachlssigt +worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete +Lieblingskind, die Seele das zurckgesetzte, hungernde +und frierende Aschenbrdel. Fr den Geist sind +alle Schulen da, von der A-B-C-Schtzen-Schule bis +hinauf zur Universitt, fr die Seele aber keine einzige. +Fr den Geist werden Millionen Bcher geschrieben, +wie viele fr die Seele? Dem Menschengeiste werden +tausend und abertausend Denkmler gesetzt; wo stehen +die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu +verherrlichen? Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der +fr die Seele schreibt, ganz nur fr sie allein, mag man +darber lcheln oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum +werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch +verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was +ich mir vorgenommen habe. + + Das war eigentlich genug fr einen Menschen; aber +ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. +Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen; +ich war fr mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch +ber uns lag die Erlsung, lag die Edelmenschlichkeit, +nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war +aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen +erteilt; nur da wir, die wir um so viel tiefer lagerten +als die Andern, weit mehr und weit mhsamer aufzusteigen +hatten als sie. Aus der Tiefe zur Hhe, aus Ardistan +nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum +Edelmenschen empor. Wie das geschehen msse, wollte ich +an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und +an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde fr +diese meine besonderen Zwecke in zwei Hlften, in eine +amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt +die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. +An diese beiden Rassen wollte ich meine Mrchen, meine +Gedanken und Erluterungen knpfen. Darum galt es, +mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen +und den Indianerdialekten zu beschftigen. Der unwandelbare +Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube +an den "groen, guten Geist" der Andern harmonierte mit +meinem eigenen, unerschtterlichen Gottesglauben. In +Amerika sollte eine mnnliche und in Asien eine weibliche +Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches +Wollen emporzuranken htten. Die eine ist mein +Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen +soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne +und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten +Hhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten +hat sie sich das Treiben der Wste bis nach dem +hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben. +Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel "durch +die Wste." Die Hauptperson aller dieser Erzhlungen +sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein +beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen +Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Fr Amerika +sollte er Old Shatterhand, fr den Orient aber Kara +Ben Nemsi heien, denn da er ein Deutscher zu sein +hatte, verstand sich ganz von selbst. Er mute als selbst +erzhlend, also als "Icherzhler" dargestellt werden. +Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination. +Doch, wenn dieses "Ich" auch nicht selbst existiert, +so soll doch Alles, was von ihm erzhlt wird, aus der +Wirklichkeit geschpft sein und zur Wirklichkeit werden. +Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, +also dieses "Ich" ist als jene groe Menschheitsfrage +gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er +durch das Paradies ging um zu fragen: "Adam, d. i. +Mensch, wo bist Du?" "Edelmensch, wo bist Du?" Ich +sehe nur gefallene, niedrige Menschen!" Diese Menschheitsfrage +ist seitdem durch alle Zeiten und alle Lnder des +Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat +aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat Gewaltmenschen +gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander +bekmpften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen +Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich +und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, da ein Jeder +Engel seines Nchsten zu sein habe, um nicht an sich +selbst zum Teufel zu werden. Einmal aber mu und +wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, da auf +die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglckende +Antwort erfolgt: "hier bin ich. Ich bin der erste +Edelmensch, und Andere werden mir folgen!" So geht +auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch +die Lnder, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo +er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches +Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginre +Old Shatterhand, dieser imaginre Kara Ben Nemsi, +dieses imaginre "Ich" hat nicht imaginr zu bleiben, +sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in +meinem Leser, der innerlich Alles miterlebt und darum +gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. In +dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lsung der groen +Aufgabe bei, da sich der Gewaltmensch, also der niedrige +Mensch, zum Edelmenschen entwickeln knne. + + Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fhlte +ich gar wohl, da ich mich durch ihre Ausfhrung einer +Gefahr aussetzen wrde, die fr mich keine geringe war. +Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand +und dieses "Ich" also nicht begriff? Wenn man glaubte, +ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, da ein +Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte, +zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden, +mich als Lgner und Schwindler bezeichnen wrde? Ja, +das lag allerdings in der Mglichkeit, aber fr wahrscheinlich +hielt ich es nicht. Ich hatte dieses "Ich," also +diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit +allen Vorzgen auszustatten, zu denen es die Menschheit +im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. +Mein Held mute die hchste Intelligenz, die tiefste +Herzensbildung und die grte Geschicklichkeit in allen +Leibesbungen besitzen. Da sich das in der Wirklichkeit +nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, +das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn +ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreiig bis +vierzig Bnden schrieb, so war doch gewi anzunehmen, +da kein vernnftiger Mann auf die Idee kommen werde, +da ein einziger Mensch das Alles erlebt haben knne. +Nein! Der Vorwurf, da ich ein Lgner und Schwindler +sei, war, wenigstens fr denkende Leute, vollstndig +ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar +fest berzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht +selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu +knnen, da ich den Inhalt dieser Erzhlungen selbst +erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen +Leben oder doch aus meiner nchsten Nhe stammte. Ich +hielt es fr gar nicht schwer, sondern sogar fr sehr leicht +und vor allen Dingen auch fr interessant, sich vorzustellen, +da Karl May diese Reiseerzhlungen zwar niederschreibt, +sie aber so verfat, als ob sie nicht aus seinem eigenen +Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginren "Ich", +also von der groen Menschheitsfrage, diktiert worden +seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald +die Folge zeigen. + + Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische +und teils in orientalische Gewnder zu kleiden, fhrte mich +ganz selbstverstndlich zu tiefem Mitgefhle fr die Schicksale +der betreffenden Vlkerschaften. Der als unaufhaltsam +bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich +ununterbrochen zu beschftigen. Und ber die Undankbarkeit +des Abendlandes gegenber dem Morgenlande, dem es +doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, +machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl +der Menschheit will, da zwischen beiden Friede ist, nicht +lnger Ausbeutung und Blutvergieen. Ich nahm mir +vor, dies in meinen Bchern immerfort zu betonen und +in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und fr die +Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen +ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut, +dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden +erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, +dies zu glauben. + + Und nun die Hauptfrage: Fr wen sollten meine +Bcher geschrieben sein? Ganz selbstverstndlich fr das Volk, +fr das ganze Volk, nicht nur fr einzelne Teile desselben, +fr einzelne Stnde, fr einzelne Altersklassen. Vor allen +Dingen nicht etwa allein fr die Jugend! Auf diese +letztere Versicherung habe ich das grte Gewicht und +den schrfsten Ton zu legen. Wre es meine Absicht +gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen, +so htte ich ganz notwendigerweise auf die Ausfhrung +aller meiner Plne und auf die Erreichung aller meiner +Ideale fr immer verzichten mssen. Und dies zu tun, +ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die +Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die +erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich +das Volk immer fort und fort ergnzt, sondern sie ist +es, die im Aufwrtsstreben der Menschheit den Alten +und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern +Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo's zu +besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet, +so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur +ein Teil dessen sein, was ich fr das Volk als Ganzes +schrieb. Wenn ich sage, da ich fr das Volk schreiben +wollte, so meine ich damit, fr den Menschen berhaupt, +mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht +jedes meiner Bcher ist fr jeden Menschen. Und doch +auch wieder ist es fr jeden Menschen, aber nach und +nach, je nachdem er sich vorwrts entwickelt, je nachdem +er lter und erfahrener wird, je nachdem er fhig +geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen. +Meine Bcher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten. +Er soll sie als Knabe, als Jngling, als Mann, als +Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer +Hhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit +Ueberlegung und Bedacht. Wer meine Bcher verschlingt, +und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht +schade; auf alle Flle aber ist es noch mehr schade um sie! +Wer sie mibraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern +sich selbst zur Verantwortung ziehen. Ich erinnere da +an das Rauchen, an das Essen und Trinken. Rauchen +ist ein Genu. Essen und Trinken ist unerllich. Aber +jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was +einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, wrde +nicht nur tricht, sondern sogar schdlich sein. Eine gute, +interessante Lektre soll man genieen, aber nicht wie ein +Haifisch verschlingen! Da meine Bcher nur Gleichnisse +und Mrchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst, +da man reiflich ber sie nachdenken soll und da sie +nur in die Hnde von Leuten gehren, die nicht nur +nachdenken knnen, sondern auch nachdenken wollen. + + Als ich damals diese Gedanken erwog und meine +Plne fate, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben +und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch +nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als +Knstler zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller +mu doch zugleich auch Knstler sein. Ich hielt mich +noch nicht einmal fr einen znftigen Lehrling, sondern +nur erst fr einen auerhalb der Zunft herumtastenden +Anfnger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht. +Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende +Plne! Wenn ich diese Plne berschaute, so htte mir +eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehrten jedenfalls +mehrere arbeitsreiche, ungestrte, glckliche Menschenleben +dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch, +also knstlerisch zu bewltigen. Aber es wurde mir doch +nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei. Ich fragte +mich: Mu man denn Schriftsteller sein, und mu man +denn Knstler sein, um solche Sachen schreiben zu drfen? +Wer will und kann es Einem verbieten? Machen wir es +ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir +es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, +was es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Knstler +mich als "Kollegen" gelten lassen wrden, das mute +mir damals gleichgltig sein. Zwar, meinen individuellen +Stolz besa ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von +Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber +diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer +Leute, besonders der Fachgenossen. Knstler zu sein, +dnkte mich das Allerhchste auf Erden, und es lebte tief +in meinem Herzen der heie Wunsch, diese Hhe zu erreichen, +und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor +meinem Tode sein. Jener Kindheitsabend, an dem ich +den "Faust" zu sehen bekam, stand noch unvergessen in +meiner Seele, und die Vorstze, die ich an ihn geschlossen +hatte, besaen noch ganz denselben Willen und dieselbe +Macht ber mich wie vorher. Fr das Theater schreiben! +Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt wird, wie +der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem +Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des +niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengre. +Um so Etwas schreiben zu knnen, mu man Knstler +sein, und zwar echter, wahrer Knstler. Aber was ich +nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes +als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und +so blieb mir weiter nichts brig, als alle meine Wnsche, +die sich darauf bezogen, als Literat ein Knstler, und +zwar ein wahrer, wertvoller Knstler sein zu drfen, fr +lange, lange Jahre zurckzustellen und bis dahin zu bleiben, +was ich eben war, nmlich ein unznftiger Anfnger, der +nicht die geringste Prtentien [sic] besa, ein Zunftgenosse zu +werden. Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und +einsam gestanden hatte, so war ich schon damals berzeugt, +da auch mein Weg als Literat ein einsamer sein +und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. Was ich +suchte, fand sich nicht im alltglichen Leben. Was ich +wollte, war etwas dem gewhnlichen Menschen vollstndig +Fernliegendes. Und was ich fr richtig hielt, das war +hchst wahrscheinlich fr andere Leute das Falsche. +Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es mir +nahe, ganz fr mich zu bleiben und keinen wertvolleren +Menschen mit mir zu belstigen. In Beziehung auf +Kunst war ich nicht sachverstndig. Vielleicht hatten die +andern recht; ich konnte irren. Fr alle Flle aber hielt +mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach +vollendeter Reife, ein groes, schnes Dichterwerk zu +schaffen, eine Symphonie erlsender Gedanken, in der +ich mich erkhne, Licht aus meiner Finsternis zu schpfen, +Glck aus meinem Unglck, Freude aus meiner Qual. +Dies fr spter, wenn mir der Tod einst seinen ersten +Wink erteilt. Fr jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu +lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es +nicht milinge. Jetzt Mrchen und Gleichnisse geben, +um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit +und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Bhne +zu bringen! + + Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstcke +wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern +lange Erzhlungen, in denen viele Personen handelnd +auftreten. Und ihre Zahl ist gro; sie sollen eine +ganze Reihe von Bnden fllen und das Material fr +jene sptere groe Aufgabe bilden, mit der ich meine +Ttigkeit beschlieen will. Sie knnen also keine +sorgfltig ausgefhrten Gemlde sein, sondern nur +Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorbungen, Etuden, an +welche nicht der Mastab gelegt werden darf, der nur +fr ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will +und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern +meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und +Alabasterbrchen die Blcke fr sptere Kunstwerke zu brechen, +deren Form ich hchstens andeuten kann, weil mir die +Zeit zur Ausfhrung nicht zur Verfgung steht. Diese +Andeutung gebe ich eben in Mrchen, die meinen +erzhlenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte +bilden, um welche sich das Interesse des Lesers +konzentriert. Die knstlerische Kritik braucht sich also mit +meinen Reiseerzhlungen nicht zu befassen, weil es gar +nicht meine Absicht ist, ihnen eine knstlerische Form oder +gar Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, +schlichten Arm- oder Furingen der Araberinnen zu +gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne +Ringe. Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit. +Der Maler, welcher flchtige Skizzen zeichnet, um ein +groes Gemlde vorzubereiten, wrde sich gewi ber +den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben +Mastab legen wollte, den er dann spter an das +Gemlde zu legen hat. + + Soviel ber die Plne, welche damals in mir entstanden +und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf +den heutigen Tag. Sie kamen nicht pltzlich, und sie +kamen nicht in gesellschaftlicher Flle, sondern langsam, +einer nach dem andern. Und sie reiften nicht eilig aus, +sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir +von dem einen Punkt bis zum nchsten klar geworden +war. Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu. Ich +legte mir eine Art von Buchhaltung ber diese Plne +und ihre Ausfhrung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben +und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde +in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. +Ich stellte sogar ein Verzeichnis ber die Titel und den +Inhalt aller Reiseerzhlungen auf, die ich bringen wollte. +Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen +gegangen, aber es hat mir doch viel gentzt, und ich +zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir +entstanden. Auch schriftstellerte ich fleiig; ich schrieb +Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung mglichst +viel Stoff zur Verffentlichung zu haben. Kurz, ich war +begeistert fr mein Vorhaben und fhlte mich, obgleich +ich Gefangener war, unendlich glcklich in der Aussicht +auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine +ganz gewhnliche zu werden versprach. + + Das Schicksal schien mit meinen Vorstzen einverstanden +zu sein. Es spendete mir, als ob es mich fr +alles Leid entschdigen wolle, eine reiche, hochwillkommene +Gabe: Ich wurde begnadigt. Die Direktion hatte fr +mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein +volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam. Ich stand +in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein +Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rckweg in das +Leben glttete und mich aller polizeilichen Scherereien +berhob. Der Kenner wei, was das bedeutet! + + Es war ein schner, warmer Sonnentag, als ich die +Anstalt verlie, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand +mit meinen Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach +Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr +zu benachrichtigen. Wie freute ich mich auf das +Wiedersehen. Angst vor Vorwrfen brauchte ich nicht zu +haben; dies war ja schon lngst durch Briefe geordnet. +Ich wute, da ich willkommen sei und da man mir +mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten freute +ich mich auf Gromutter. Wie mute sie sich gegrmt +und gehrmt haben! Und wie gern wrde sie mir ihre +alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie entzckt +wrde sie ber meine Plne sein! Wie sehr wrde sie +mir helfen, sie auszudenken und so tief wie mglich +auszuschpfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also +genau denselben Weg, den ich damals als Knabe +gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es +lt sich denken, was fr Gedanken mich auf diesem Weg +begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem +Vater den Vorsatz gefat, ihn nie wieder durch Derartiges +zu betrben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten! +Sollte ich heut etwa hnliche Vorstze fassen, fr deren +Erfllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewhr zu +leisten vermag? Das "Mrchen von Sitara" tauchte +vor mir auf. Gehrte ich vielleicht zu denen, auf deren +Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um +sie in das Elend zu schleudern, so da sie verloren gehen? +Alles Struben und Aufbumen hilft nichts; sie sind dem +Untergange geweiht. Gilt das auch mir? + + Meine Gedanken wurden trber und trber, je mehr +ich mich der Heimat nherte. Es war, als ob mir von +dort aus bse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe +Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mute mir +Mhe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Hhe +aus schaute ich ber das Stdtchen hin. Da schlngelten +sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft +gegangen war, in heiem Kampfe mit jenen frchterlichen +inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch +in einem fort die Worte "des Schneiders Fluch, +des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch" zuriefen. +Und was war das? Indem ich hieran dachte, hrte ich +ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie +erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu nhern, "des +Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders +Fluch!" Sollte und wollte sich das etwa wiederholen? +Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte +von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die +Hhe hinab, durch das Stdtchen hindurch, nach Hause, +nach Hause, nach Hause! + + Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern +wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg +die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf +nach dem Bodenraume, wo Gromutter sich immer am +liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunchst zu ihr und +dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich +die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber +war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben +Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schlssel +abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich +eilte hinab in die Wohnstube. Da saen die Eltern. Die +Schwestern fehlten. Das war Zartgefhl. Sie hatten +gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grte gar nicht und +fragte, wo Gromutter sei. "Tot -- -- -- gestorben!" +lautete die Antwort. "Wann?" "Schon voriges Jahr." +Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme +auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir +verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft +nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut +gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war +nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so +hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich! + + Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, +um die Eltern nun zu gren. Sie erschraken. Sie +sagten mir spter, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen +als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. +Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich +so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als +der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar +die grte Mhe, aber ich konnte den Schlag, der mich +soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich +wollte nur von Gromutter wissen, jetzt weiter nichts, und +man erzhlte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen, +aber niemals ein Wort, welches mich htte krnken mssen, +wenn ich dabeigewesen wre. Und sie hatte nie geklagt +oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, da +ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen +Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden. +Nun sei sie berzeugt, da ich durch die Geisterschmiede +msse, um alle irdischen Qualen ber mich ergehen zu lassen. +Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen, +was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic] +erzwingen. Je nher sie dem Tode kam, desto +ausschlielicher lebte sie nur noch ihrer Mrchenwelt und +desto ausschlielicher sprach sie nur noch von mir. An +einem der letzten Tage erzhlte sie, da der lngst +verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei. +Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Huser +stieen aneinander. Da habe sich pltzlich im Dunkel +die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, +aber nicht in einem gewhnlichen Licht, sondern von einem, +welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, +sei der Herr Kantor erschienen. Er haben genauso +ausgesehn wie damals, als er noch lebte. Er sei langsam +bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lchelnd +gegrt, wie es immer seine Art und Weise war, und +dann gesagt, da sie sich ja nicht um mich sorgen solle; +ich knne wohl strzen wie jeder Andere, nicht aber liegen +bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche +ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten nickte er ihr +wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er +gekommen war, nach der Mauerlcke zurck. Sie schlo +sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder +dunkel. + + Als sie das erzhlt hatte, war es gewesen, als ob +ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes +auf ihrem Gesicht zurckgeblieben sei, und es lag auch +noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte +und nicht mehr atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein +friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht +friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von +ihm erzhlte. Es tauchten Vorwrfe in mir auf, aber +keine Vorwrfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern +Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich, +sondern Vorwrfe viel wesentlicherer, viel kompakterer +Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hrte, was +sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das +waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen, +die nicht die geringste Identitt mit mir zu besitzen schienen +und doch identisch waren. Welch ein Rtsel! Aber welch +ein ungewhnliches, furchtbar bengstigendes Rtsel! Sie +glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten +von frher her, mit denen ich -- -- -- mein Gott, kaum +hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so, +wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem +Innern zu sehen und zu hren. Ich vernahm ihre Stimmen +so deutlich, als ob sie vor mir stnden und an Stelle +der Eltern und Geschwister mit mir sprchen. Und sie +blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir +schlafen. Aber sie schliefen nicht und lieen auch mich nicht +schlafen. Es begann das frhere Elend, die frhere +Marter, der frhere Kampf mit unbegreiflichen Mchten, +die um so gefhrlicher waren, als ich absolut nicht entdecken +konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie +schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner +Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewutsein kam. +Und doch konnten sie ganz unmglich zu mir gehren, +weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von +meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit +abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines +Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter +mir lag. Diese Stimmen aber waren bemht, mich mit +aller Gewalt in die Vergangenheit zurckzuzerren. Sie +verlangten wie frher, da ich mich rchen solle. Nun +erst recht mich rchen, fr die im Gefngnis verlorene, +kstliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich +aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts, +gar nichts hre. Das war aber selbst bei der grten +Kraftaufwendung nicht lnger als hchstens nur einige +Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige +Verleger, um mit ihnen ber die Herausgabe der im Gefngnisse +geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei +stellte es sich heraus, da whrend dieser meiner +Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten, +je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder +um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder +nherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort +sehaft seien und nur dann ber mich herfallen knnten, +wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden. +Ich beschlo hierauf die Probe zu machen. Ich kassierte +meine Honorare ein und machte eine lngere Auslandsreise. +Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses +Werkes zu erzhlen, in welchem meinen Reisen und ihren +Ergebnissen ein grerer Raum gewidmet werden soll, +als ich ihnen hier gewhren knnte. Whrend dieser +Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde +vollstndig frei von ihnen. Dafr aber stellte sich ein +ganz ungewhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat +zurckzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker +Trieb; das fhlte ich gar wohl, aber er wurde so stark, +da ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. +Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so strzte sich +Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die +Anfechtungen begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt +den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft +Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, da +ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich fhlte, da ich, +falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein hchst +gefhrlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene +Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal +anzukmpfen. + + Ich halte es hier fr ntig, zu konstatieren, da ich +meinen Zustand keineswegs fr pathologisch hielt. Alle +meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl +krperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. +Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser +Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewi nicht +von innen heraus erzeugt, sondern von auen her an +mich herangetreten. Ich arbeitete fleiig, fast Tag und +Nacht, wie ich berhaupt an der Arbeit stets meine grte +Freude gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. +Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern +wohnte, die sich jetzt auch besser standen als frher. Ich +htte vollstndig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts +verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was +ich schon frher beschrieben habe. Wenn ich etwas Gewhnliches +schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung +ein. Sobald ich mir aber ein hheres Thema stellte, +eine geistig, religis oder ethisch wertvollere Aufgabe, +wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen emprten +und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu +bringen, da sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten, +bldesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen. +Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. Hierzu +gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem +Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt; +ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist +mir angeboren; ich geniee ihn hchstens als Arznei. +Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, +und auch fr Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, +welche man empfinden mu, um ein Trinker zu werden. +Jetzt aber fhlte ich seltsamer Weise stets groen Durst, +wenn ich auf meinen Spaziergngen an einem Wirtshause +vorberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht +mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder +hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat +es aber nicht. Vater tat es. Er konnte sein Glas einfaches +Bier und sein Schnppschen [sic] nicht gut entbehren. +Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das +war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa +schwer, o nein. Ich erzhle es nur des psychologischen +Interesses wegen, weil es mir hchst sonderbar erscheint, +da dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir +sonst vollstndig fremde Durst nach Spirituosen immer +nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in +mir hatten, sonst aber nie! + + Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Gromutter +meine Arbeitsplne vorzulegen; nun war sie tot. Ich +sprach hierber also mit den Eltern und Geschwistern. +Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer +Art sozialer Mauserung begriffen und darum fr mich +nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb. +Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein +ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir +nur die Mutter. Sie sa des Abends mit ihrem Strickstrumpf +still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte +ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder +beschftigte. Sie hrte mir ruhig zu. Sie nickte +einverstanden. Sie lchelte ermutigend. Sie sagte ein liebes, +trstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch +sie verstand mich nicht. Sie fhlte nur; sie ahnte. Und +sie wnschte von ganzem Herzen, da Alles so werden +mchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie +fest und unerschtterlich ich an meine Zukunft glaubte, +da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter +sein kann, deren Kind noch so glcklich ist, sich auf Gott, +auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu drfen. +Ich aber fhlte mich einsam, einsam wie immer. Denn +auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen, +der mich htte verstehen wollen oder gar verstehen knnen. +Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich +so schwer Angefochtenen im hchsten Grade gefhrlich. +Nichts war mir ntiger als verstndnisvolle Geselligkeit. +Aber ich stand, wenn auch nicht uerlich, so doch innerlich +stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen +wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. +Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich +nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie +keine inneren, sondern uerliche waren, doch ebenso wenig +mit den Hnden gefat werden konnten. + + Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt +in andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. +Man hatte sie gern. Man teilte ihr Alles +mit, ohne da man sie um Verschwiegenheit zu bitten +brauchte. Sie erfuhr Alles, was im Stdtchen und in +der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo einen Einbruch +gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Tter war +entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise +ausgefhrt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich +von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene +gesetzt. Ich hrte gar nicht hin, als man es erzhlte, +bemerkte aber nach einiger Zeit, da Mutter noch ernster +als gewhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet +zu sein, so eigentmlich mitleidig betrachtete. Ich +blieb anfnglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem +Grunde fragen zu mssen. Sie wollte nicht antworten; +ich bat aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein +Gercht, ein unfabares Gercht, da ich jener Einbrecher +sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen +Gefangenen? Ich lachte uerlich dazu, innerlich aber war +ich emprt, und es gab einige schwere Nchte. Es brllte +vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die +Stimmen schrien mir zu: "Wehre dich, wie du willst, +wir geben dich nicht los! Du gehrst zu uns! Wir +zwingen dich, dich zu rchen! Du bist vor der Welt ein +Schurke und mut ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe +haben willst!" So klang es bei Nacht. Wenn ich am +Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte +nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater gesagt. +Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu +nehmen. Sie konnten fr mich eintreten. Sie wuten +ja genau, da ich in den betreffenden Zeiten nicht aus +dem Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles +im Vertrauen gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum +gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich +zu wehren. Aber es kam schlimmer. Die heimatliche +Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit Vertrauenszeugnis +entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen. +Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich +mit mir zu beschftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche +vor, deren Tter ganz unbedingt mit einer gewissen +Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies +auf mich deuten zu mssen. Das war zu derselben Zeit, +in der sich die schon erwhnte "Lgenschmiede" zu bilden +begann. Neue Gerchte kursierten, romantisch +ausgeschmckt. Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter +der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der +Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich +sehen lie; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute +man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein +guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt +hatte und auch jetzt noch an mir hing. Der war sprichwrtlich +unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig. Er hielt +grob sein fr Menschenpflicht. Der konnte es nicht +lnger aushalten. Er kam zu mir und erzhlte mir auf +Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich +im Schwange ging. Das war so dumm und doch so emprend, +so leichtsinnig und gewissenlos, so -- -- so -- -- +so -- -- so -- -- -- ich fand keine Worte, dem armen, +wohlmeinenden Menschen fr seine schmerzhafte Aufrichtigkeit +zu danken. Aber als er mein Gesicht sah, machte er +sich so schnell wie mglich von dannen. + + Das war ein schwerer, ein unglckseliger Tag. Es +trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und +kam spt abends todmde heim und legte mich nieder, ohne +gegessen zu haben. Trotz der Mdigkeit fand ich keinen +Schlaf. Zehn, fnfzig, ja hundert Stimmen verhhnten +mich in meinem Innern mit unaufhrlichem Gelchter. +Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in +die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar +nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus +mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran +der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der +mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von +Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Hnden, und hierauf +die Raubritter, Ruber, Mnche, Nonnen, Geister und +Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das +verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab. +Das schrie und jubelte und hhnte, da mir die Ohren +gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern +eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte +mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie +mich fest, und da lieen sie mich nicht wieder hinab. Da +klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter +kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten. +Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen +Tag, die ganze nchste Nacht; dann brach ich zusammen +und schlief ein. Wo, das wei ich nicht. Es war auf +einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden +Roggenfeldern. Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, +und der Gewitterregen flo in Strmen herab. Ich eilte +fort und kam an ein Rbenfeld. Ich hatte Hunger und +zog eine Rbe heraus. Mit der kam ich in den Wald, +kroch unter die dicht bewachsenen Bume und a. Hierauf +schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; ich wachte +immer wieder auf. Die Stimmen weckten mich. Sie hhnten +unaufhrlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest +Rben, Rben, Rben!" Als der Morgen anbrach, holte +ich mir eine zweite Rbe, kehrte in den Wald zurck und +a. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und lie +mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden. +Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe. Ich +fand einen langen, wenn auch nur oberflchlichen Schlaf, +whrend dessen Dauer ich mich immer von einer Seite +auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern +geqult wurde, die mir vorspiegelten, da ich bald +ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus +Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser +Schlaf ermdete mich nur noch mehr, statt da er mich +strkte. Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach, +und verlie den Wald. Indem ich unter den Bumen +hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm +stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das +war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich +wute nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer +zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt +vorkam. Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte +in die Glut. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war +in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch! +Der war nicht da drben beim Feuer, sondern hier bei +mir. Der hllte mich ein, und der drang mir in die Seele. +Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und +Augen und Gesichtszge bekamen und sich in mir bewegten. +Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst spter, viel +spter klar ber die Entstehung solcher innerer Schreckgebilde +geworden. Damals war ich es noch nicht, und so +konnten sie die entsetzliche Wirkung uern, gegen welche +meine auf das Aeuerste angespannten Nerven keine +Widerstandskraft mehr besaen. Ich fiel in mir zusammen, wie +das brennende Haus da drben zusammenfiel, als die +Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich +erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war +auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollstndig dumm. +Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm +und Hcksel umhllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich +suchte auch gar nicht danach. Ich wankte beim Gehen. +Ich lief irr. Ich torkelte weiter, bis ich endlich +einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die Strae, +auf der ich mich befand, vorberfhrte. Ich lehnte mich +an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war +wohl unmnnlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu +verhindern. Diese Trnen waren keine erlsenden. Sie +brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine +Augen zu reinigen und zu strken. Ich sah pltzlich, da +es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er +war mir ebenso vertraut wie die Strae, an der er lag; +heut aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt. + + Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, +ber den Markt hinber und ffnete leise die Tr unseres +Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der +Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne +Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am +Faden zieht. Nach einiger Zeit ffnete sich die +Schlafkammertr. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig +aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah, +erschrak sie. Sie zog die Kammertr schnell hinter sich +zu und sagte aufgeregt, aber leise: + + "Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen +sehen?" + + "Nein," antwortete ich. + + "Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! +Nach Amerika hinber! Da man dich nicht erwischt! +Wenn man dich wieder einsperrt, das berlebe ich nicht!" + + "Fort? Warum?" fragte ich. + + "Was hast du getan; was hast du getan! Dieses +Feuer, dieses Feuer!" + + "Was ist es mit dem Feuer?" + + "Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im +Walde -- -- auf dem Felde -- -- und gestern auch bei +dem Haus, bevor es niederbrannte!" + + Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich! + + "Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!" stotterte ich. "Glaubst +du etwa, da -- -- --" + + "Ja, ich glaube es; ich mu es glauben, und Vater +auch," unterbrach sie mich. "Alle Leute sagen es!" + + Sie stie das hastig hervor. Sie weinte nicht, und +sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer +Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort: + + "Um Gottes willen, la dich nicht erwischen, vor +allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! +Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht +sagen, da du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du +bist; ich darf dich nicht lnger sehen! Geh also, geh! +Wenn es verjhrt ist, kommst du wieder!" + + Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich +berhrt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von +mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden +Hnden nach dem Kopfe. Ich fhlte da ganz deutlich +die dicke Lehm- und Hckselschicht. Dieser Mensch, der +da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene +Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in +seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein +Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort! + + Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den +Kleiderschrank zu ffnen und einen andern, saubern Anzug +anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die +Erinnerung lt mich im Stich. Ich war wieder krank +wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die +inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich +vollstndig. Wenn ich mir Mhe gebe, mich auf jene Zeit +zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fnfzig +Jahren irgend ein Theaterstck gesehen hat und nach +dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu +Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten. +Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich, +da ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und +was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten +gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten. +Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen +unglaublich. Man beschuldigte mich, einen +Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres +Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt! Anderes +ist schon glaublicher und Einiges direkt erwiesen. Man +hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen war, +da transportierte man mich als "hoffentlichen Tter" hin. +Das war eine hochinteressante Zeit fr die Habitus der +Ernsttaler Lgenschmiede. Da wurde fast tglich Neues +erzhlt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte. +Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Mrchen +kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung +hin zu sndigen. Das war selbst fr einen uerlich +und innerlich Gefangenen zuviel. Ich zerbrach +whrend eines Transportes meine Fesseln und verschwand. +Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in dem +ich von meinen Reisen erzhle, ausfhrlich zu berichten. +Fr jetzt ist nur dasselbe wie frher zu erwhnen, nmlich, +da ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich +von der Heimat entfernte, da mich drauen in der Ferne +ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und da +ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich +der Gegend meines Geburtsortes nherte. Gibt es +Jemand, der das zu ergrnden vermag? Ich folgte teils +jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig +zurck, und zwar um meiner guten Plne und um meiner +Zukunft willen. Hatte ich gesndigt; so hatte ich zu ben; +das verstand sich ganz von selbst. Und bevor diese Bue +nicht erledigt war, konnte es fr mich keine ersprieliche +Arbeit und keine Zukunft geben. Ich kehrte also nach +fnf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu +stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig +gewesen wre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten, +die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun, +was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war, +da ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde. +Das verschrfte meine Lage derart, da ich die Strenge +des Richters, der mein Urteil fllte, vollstndig begreife. +Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt zu begreifen, +der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt +wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, +und zwar in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein, +bei dieser billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben +zu knnen oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm +nicht mehr als Alles, was ntig ist, um eine solche +Aufgabe auch nur einigermaen zu lsen. Ich htte gar +wohl leugnen knnen, gab aber Alles, dessen man mich +beschuldigte, glattweg zu. Das tat ich, um die Sache +um jeden Preis los zu werden und so wenig wie mglich +Zeitverlust zu erleiden. Dieser Advokat war unfhig, mich +oder berhaupt ein nicht ganz alltgliches Seelenleben +zu begreifen. Das Urteil lautete auf 4 Jahre Zuchthaus +und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So schwer es mir fllt, +dies fr die Oeffentlichkeit niederzuschreiben, ich kann mich +nicht davon entbinden; es mu so sein. Nicht mich bedaure +ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister, +welch erstere mir noch im Grabe leid tun, da +ihr Sohn, auf den sie so groe, vielleicht nicht ganz +unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche +Grausamkeit der Tatsachen und Verhltnisse gezwungen +ist, derartige Gestndnisse zu machen. + + Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir +vorgeworfen werden, hier aufzuzhlen. Mein Henker, +Schinder und Abdecker zu sein, berlasse ich jener +abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an +das Kreuz geschlagen und whrend dieser Zeit keinen +Augenblick lang aufgehrt hat, immer neue Qualen fr +mich zu ersinnen. Sie mag in diesen Fkalienstoffen +weiterwhlen, zum Entzcken aller jener niedern Lebewesen, +denen diese Stoffe Lebensbedingungen sind. Und +ebensowenig bin ich gewillt, mit dieser meiner jetzigen +Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich habe schlicht +und einfach ber sie zu berichten, die Wahrheit zu sagen +und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen Abgrund, +der aber ganz und gar kein Abgrund ist, fr immer Valet +zu sagen. + + Meine Strafe war schwer und lang, und der auf +zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir +bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. +Ich war also auf strenge Behandlung gefat. Sie war +ernst, aber sie tat nicht weh. Eine Anstaltsdirektion +handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen +zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte +sich fgt. Nun, ich fgte mich! Freilich wurde fr dieses +Mal auf meinen Stand keine Rcksicht genommen. Man +teilte mich derjenigen Beschftigung zu, in der grad +Arbeiter gebraucht wurden. Ich wurde Zigarrenmacher. +Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete es mir. Ich +habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke +noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rhrung an +sie zurck, welche man stillen, nicht grausamen Leidenssttten +schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie +war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak +kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der +billigsten bis zur teuersten. Das tgliche Pensum war +nicht zu hoch gestellt. Es kam auf die Sorte, auf den +guten Willen und auf die Geschicklichkeit an. Als ich +einmal eingebt war, brachte ich mein Pensum spielend +fertig und hatte auch noch stunden- und halbe Tage lang +brige Zeit. Diese Zeit fr mich verwenden zu drfen, +war mein innigster Wunsch, und der wurde mir eher, +viel eher erfllt, als ich es fr mglich hielt. + + Ich betone hier ein fr allemal, da es fr mich keinen +Zufall gibt. Das wei ein jeder meiner Leser. Fr +mich gibt es nur eine Fgung. So auch in diesem Falle. +Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische +und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet +(Anstaltslehrer) fungierte whrend des katholischen +Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der +Zeit so mit neuen Pflichten und vieler Arbeit berbrdet +worden, da er fr das Orgelspiel einen Stellvertreter +suchen mute, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen +die Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch +noch die Orgel bernehmen konnte. Die Direktion billigte +ihm zu, sich einen Vertreter unter den Gefangenen zu +suchen. Er tat es. Es gab eine ganze Anzahl bestrafter +Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden geprft. +Warum keiner von ihnen genommen wurde, das wei +ich nicht. Sie waren alle lnger da, als ich, hatten +also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches +zur Bekleidung einer solchen Stelle gehrt. Ich aber war +mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte +der zuknftigen Polizeiaufsicht unmglich entgehen und +hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, da ich trotzdem +Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache fr mich, +keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der +Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile +mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen. +Einige Tage spter kam auch der katholische Geistliche. +Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne da er sich +ber den Grund seines Besuches uerte. Aber am +nchsten Tage wurde ich in die Kirche gefhrt, an die +Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und mute spielen. +Die Herren Beamten saen unten im Schiff der Kirche +so, da ich sie nicht sah. Bei mir war nur der Katechet, +der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die Prfung +und mute vor dem Direktor erscheinen, der mir erffnete, +da ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr +gut zu fhren habe, um dieses Vertrauens wrdig zu +sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel +fr mich und mein Innenleben entwickelte. + + Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer +katholischen Kirche! Das brachte mir zunchst einige +Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebude. Man +konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen! +Aber es brachte mir noch mehr, nmlich Achtung und +diejenige Rcksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf +gewisse Aeuerlichkeiten strebte. Der Aufseher unserer +Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr +wohlgefiel; als er im Meldebuch las, da ich katholischer +Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle, +um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten +ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als +evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. +Da sah er mich gro an und sagte: + + "Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mut +du -- -- -- hm, da mssen Sie sehr musikalisch sein!" + + Die Gefangenen werden natrlich "Du" genannt; +von jetzt an aber sagte er "Sie", und Andere taten ihm +das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem +sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere +folgerte. Bald stellte sich zu meiner freudigen +Ueberraschung heraus, da mein Aufseher der Dirigent des +Blserkorps war. Ich erzhlte ihm von meiner +musikalischen Beschftigung in Zwickau. Da brachte er mir +schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen. +Ich bestand auch diese Prfung, und von nun an war +dafr gesorgt, da ich nicht verhindert wurde, in meiner +freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher +ist mir ein lieber, vterlicher Freund gewesen, und +wir haben, als er spter pensioniert war und nach Dresden +zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit +einander verkehrt. + + Der katholische Katechet hie Kochta. Er war nur +Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein +Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und +von einer so reichen erzieherischen, psychologischen +Erfahrung, da das, was er meinte, einen viel greren Wert +fr mich besa, als ganze Ste von gelehrten Bchern. +Nie sprach er ber konfessionelle Dinge mit mir. Er +hielt mich fr einen Protestanten und machte nicht den +geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung +einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich +zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem +Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen mute, das +wute ich bereits oder konnte es in anderer Weise +erfahren. Mir war das schne Verhltnis heilig, das +nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne da +sich strende Gegenstze in das rein menschliche Wohlwollen +schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst, +ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die Religion +zwischen uns vollstndig unberhrt und konnte also umso +direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein +Schweigen war so beredt, denn es lie seine Taten sprechen, +und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen +Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das +Kleinste gro zu nehmen wei. + + Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt +lernte ich sie kennen. Was fr Orgel- und sonstige +Musikstcke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, +Musikverstndnis zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache +Katechet gab mir Nsse zu knacken, die mir sehr zu schaffen +machten. Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst +jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das +allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt. + + Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn +eine besondere Feststellung in Beziehung auf die +Orgelbegleitung ntig war. Er sprach nur das Allerntigste, +ber Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat +war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen +beginne. Solche Sonnenmenschen sind selten, und doch mte +eigentlich jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn +der Laie ist nur allzusehr geneigt, die Kirche so zu +betrachten und zu beurteilen, wie ihre Priester sich zu ihm +stellen. Ueber den Unterschied zwischen dem protestantischen +und dem katholischen Gottesdienst gehe ich hinweg, aber +jeder vernnftige Mensch wird es fr ganz naturgem +und selbstverstndlich halten, da ich nicht vier Jahre +lang an dem letzteren teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm +beteiligt sein konnte, ohne von ihm beeinflut zu werden. +Wir sind doch keine Steine, von denen alles Weiche +abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, wenn +der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste +waren ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine +unendliche Dankbarkeit fr diese Wrme und diese Gte in +mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf +fr mich hatte, als alles Andere gegen mich war. Ich +habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde +sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm mssen doch die +Menschen innerlich sein, welche behaupten, da ich katholisiere! +Es ist ganz unmglich, da sie die Menschenseele und die +in ihr liegenden Heiligtmer kennen. Uebrigens habe +ich ber den katholischen Glauben gar nichts geschrieben, +ber den mohammedanischen aber ganze Bnde. Der +Vorwurf, da ich islamitisiere, erscheint also viel berechtigter, +als der, da ich katholisiere. Warum macht man mir +diesen nicht? Die Madonna ist von hundert protestantischen +Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtern, +sogar von Goethe, behandelt worden. Warum sagt man +von diesen nicht, da sie katholisieren? Ich habe der +katholischen Kirche fr die hochsinnige Gastfreundlichkeit, +die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre lang erwies, +durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich fr +meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich +der religisen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des +Geldes wegen! Ich wiederhole: Wie arm mssen diese +Menschen sein, wie unendlich arm! -- -- + + Ich mu konstatieren, da diese vier Jahre der +ungestrten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich +sehr, sehr weit vorwrts gebracht haben. Es stand mir +jedes Buch zur Verfgung, das ich fr meine Studien +brauchte. Ich stellte meine Arbeitsplne fertig und +begann dann mit der Ausfhrung derselben. Ich schrieb +Manuskripte. Sobald eines fertig war, schickte ich es heim. +Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern. +Ich schrieb diesen nicht direkt, weil sie jetzt noch +nicht erfahren sollten, da der Verfasser der Erzhlungen, +die sie druckten, ein Gefangener sei. Einer aber erfuhr +es doch, weil er persnlich zu den Eltern kam. Das war +der spter noch viel zu erwhnende Kolportagebuchhndler +H. G. Mnchmeyer in Dresden. Er war Zimmergesell +gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das +Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In +dieser Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal +und lernte in einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd +kennen, die er heiratete. Das fesselte ihn an die +Gegend. Er wurde da bekannt und erfuhr auch von mir. +Was er da Tolles hrte, schien ihm auerordentlich passend +fr seine Kolportage. Er suchte meinen Vater auf und +machte sich vertraut mit ihm. So kamen ihm meine +Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war ihm +zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, da es ihn, wie er +sagte, entzckte. Er bat, es drucken zu drfen, und +bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und +legte das Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht. +Er schob es zurck und forderte ihn auf, es mir persnlich +zu geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Mnchmeyer +sehr gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann, +den er gebrauchen knne; er werde mich nach meiner +Heimkehr aufsuchen und alles Nhere mit mir besprechen. + + Dies erzhle und stelle ich fr einstweilen fest. Es ist +fr manches Folgende von groer Wichtigkeit, zu wissen, +da Mnchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, wie sie +in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles +gehrt hatte, was hinzugelogen worden war. + + Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich +Ruhe, vollstndige Ruhe. In den ersten vier Wochen der +letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, da die +dunklen Gestalten mich innerlich geqult und mit Zurufen +belstigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehrt +und war schlielich still geworden, ohne sich wieder zu +regen. Wenn ich hierber nachdachte, ohne auf psychologische +Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht, +da diese Gebilde nur solange Einflu besitzen, wie man +in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber +die letzteren berwunden, dann mssen die Schreckbilder +schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der +Katechet war derselben Meinung. Ich hatte ihm von +meinen inneren Anfechtungen nichts erzhlt, wie ich in +rein persnlichen und familiren Dingen berhaupt nie +einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen +fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte, +aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal +kam ich im Verlauf des Gesprches darauf, von meinen +dunklen Gestalten und ihren qulenden Stimmen zu sprechen; +aber ich tat so, als ob ich von einem Andern sprche, nicht +von mir selbst. Da lchelte er. Er wute gar wohl, wen +ich meinte. Am nchsten Tage brachte er mir ein kleines +Buch, dessen Titel lautete: "Die sogenannte Spaltung des +menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung +berhaupt." Ich las es. Wie kstlich es war! Welche +Aufklrung es gab! Nun wute ich auf einmal, woran +ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese +Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu frchten! Spter, +als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der +Freude entsprechend, die ich darber empfand. Da fragte +er mich: + + "Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie +erzhlten?" + + "Ja," antwortete ich. + + "Haben Sie alles verstanden?" + + "Nein, noch nicht." + + "Dieses hier?" + + Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: "Wer +an diesen schweren Anfechtungen leidet, der hte sich vor +der Stelle, an der er geboren wurde. Er wohne niemals +lngere Zeit dort. Und vor allen Dingen, wenn er einmal +heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem +Orte!" + + "Nein, das verstehe ich noch nicht," gestand ich ein. + + "Ich auch nicht," gab er zu. "Aber denken Sie +darber nach!" + + Dieses Nachdenken, welches er mir riet, fhrte mich +zu keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein +psychologische Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende +Lehrerin, und diese Erfahrung mute ich machen, ehe +ich es begriff, leider, leider! -- -- -- + + _________ + + + VI. + Bei der Kolportage. + + _____ + +Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war +ein strmischer Frhlingstag, es regnete und schneite. +Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal +nicht ein, mir Vorwrfe zu machen. Er hatte meine +Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig +gelernt. Er wute nun, da er in Beziehung auf meine +Zukunft nichts mehr zu befrchten hatte. Er kam bei +dieser Gelegenheit auch auf Mnchmeyer zu sprechen und +darauf, da dieser mich aufsuchen wolle. + + "Das wird vergeblich sein," sagte ich. "Dieser Mann +will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter +nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt +wahrscheinlich, da ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man +ber mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken, +der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber +vernichten wrde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere +Zwecke und Ziele!" + + Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt +angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er +nach dem nchsten Dorf hinber, auf ein alleinstehendes, +neugebautes Haus und fragte mich: + + "Kennst du das dort?" + + "Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?" + + "Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es +heraus, wer es angezndet hat. Es wurde mit dem Tter +sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus +gekommen als du. Mutter wird es dir erzhlen." + + "O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte +sie, da sie hierber schweigen soll!" + + Noch an demselben Abend erfuhr ich, da der Ortswachtmeister +in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf +er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre +lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er +kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in +die Brust, da man es wirklich keinem in dieser Weise +behandelten Menschen belnehmen kann, wenn er dadurch +rckfllig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein +Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich tglich zu melden habe. +Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der +Tasche, um mir eine Vorlesung ber meine Pflichten zu +halten. Ich sagte kein Wort, sondern ffnete die Tr und +gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht +sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Brgermeister und +machte kurzen Proze. Ich forderte einen Auslandspa, +und als mir die Auskunft wurde, da dies nicht so ohne +weiteres mglich sei, war ich schon am nchsten Tage ohne +Pa unterwegs. + + Im Zuge sa ich in einem sonst leeren Coup. Es +ging ber die Grenze. Da begann es pltzlich in mir +laut zu wten und zu toben, zu schreien und zu brllen +wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte +mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von +Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen +das kam. Frher htte es mich entsetzt; heut aber lie +es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht +hergeben wollten, hatten ihre Macht ber mich verloren. +Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach +ganz von selber still werden. + + Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der +zweite Band berichten. Inzwischen kam Mnchmeyer, um +nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er +das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim. +Ungefhr dreiviertel Jahre spter erschien er wieder, und +zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal +fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine +"Geographischen Predigten" zu schreiben und in Druck zu +geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann +auch Kolporteur geworden. Das Geschft war bisher gut +gegangen, sogar auerordentlich gut; nun aber stand es in +Gefahr, ganz pltzlich zusammenzubrechen. Man brauchte +einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das +war mir unbegreiflich, weil ich mit Mnchmeyer noch nie +etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu +tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte. +Er erklrte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr +beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so +trefflicher Weise, da ich beide nicht kurzer Hand +abwies, sondern sie aussprechen lie. Aber als sie das +getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, obgleich ich es +nie fr mglich gehalten htte, da ich jemals zu der +"Kolportage" in irgend eine Geschftsbeziehung treten +knne. + + Mnchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden +Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was +er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er +sprach von einem sogenannten "Schwarzen Buch" mit lauter +Verbrechergeschichten, von einem sogenannten "Venustempel", +der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen +Werken gleicher Art. Fr heut aber handle es sich +um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel "Der +Beobachter an der Elbe" herausgebe. Grnder und +Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender +Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter, +tatkrftiger, aber in geschftlicher Beziehung hchst +gefhrlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm berworfen, sei +pltzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle +Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz hnliches +Blatt wie den "Beobachter an der Elbe" herausgeben, +um ihn tot zu machen. "Wenn ich nicht sofort einen +anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen ber ist +und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!" +schlo Mnchmeyer seinen Bericht. + + "Aber wie kommen Sie da grad auf mich?" erkundigte +ich mich. "Ich bin weder Redakteur noch in irgend +einer Weise bewhrt!" + + "Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel +von Ihnen gehrt und, vor allen Dingen, ich habe Ihre +Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, +den ich brauche!" + + "Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur +Kolportage wird mich niemand bringen!" + + "Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch +Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?" + + Ich erklrte ihm meine Plne. Da fing er Feuer; +er begeisterte sich fr sie. Er gehrte zu jenen Leuten, +die gern vom Hohen schwrmen, aber doch vom +Niedrigen leben. + + "Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!" rief er +aus. "Und das knnen Sie Alles bei mir erreichen, am +besten und schnellsten bei mir!" + + "Wieso?" + + "Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen +diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!" + + "Das wre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr +,Beobachter an der Elbe' nicht gefllt? Ich kenne ihn +ja nicht." + + "So lassen wir ihn eingehen, und Sie grnden ein +neues Blatt an seiner Stelle!" + + "Was fr eines?" + + "Ganz nach Ihrem Belieben, wie es fr Ihre Zwecke +pat!" + + Ich gestehe, da er mich durch dieses Versprechen schon +mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine +Plne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fgte noch +weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht +machte, auf seine Wnsche einzugehen. Hierzu kamen meine +eigenen Erwgungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet +die prchtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die +Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher +Gehrige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte +fr mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde +mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den [sic] +Mnchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend, +aber es flossen mir ja auerdem derartige Honorare zu, +da ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war +gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljhrige Kndigung +an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es +mir nicht gefiel. + + "Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!" forderte er +mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzhlte. + + "Wann htte ich anzutreten?" fragte ich. + + "Sptestens bermorgen. Es eilt. Dieser Freytag +darf uns nicht vorauskommen." + + "Aber Sie wissen doch, da ich bestraft bin!" + + "Ich wei Alles. Das tut aber nichts." + + "Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!" + + "Das habe ich nicht gewut; aber auch das tut +nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der +Allerliebste! Schlagen Sie ein!" + + Das klang gradezu rhrend. Er hielt mir die Hand +hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab +ich ihm den Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur. + + Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunchst +ein mbliertes Logis, doch stellte mir Mnchmeyer sehr +bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur +Verfgung, und ich kaufte mir die Mbel dazu. Ich fand +den Verlag ganz ungemein hlich. Das "Schwarze Buch" +war geradezu emprend verbrecherisch. Der "Venustempel" +zeigte sich als ein scheuliches, auf die niedrigste +Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften +Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden +Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke fr +Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die +mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte +und Bilder lagen berall umher. Die Arbeiter und +Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Tchter +Mnchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter, +lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau +Mnchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: "Was +denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine +Masse Geld!" Ich nahm mir vor, dies msse entweder +anders werden oder ich wrde ohne Kndigung wieder +fortgehen. Was den "Beobachter an der Elbe" betrifft, +dessen Redaktion ich bernommen hatte, so sah ich gleich +mit dem ersten Blick, da er verschwinden msse. +Mnchmeyer war so vernnftig, dies zuzugeben. Wir lieen +das Blatt eingehen, und ich grndete drei andere an +seiner Stelle, nmlich zwei anstndige Unterhaltungsbltter, +welche "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden" +betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt +fr Berg-, Htten- und Eisenarbeiter, dem ich die +Ueberschrift "Schacht und Htte" gab. Diese drei Bltter +waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedrfnisse +der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Huser +und Herzen zu bringen. In Beziehung auf "Schacht und +Htte" bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die +groen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafr +zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedrfnis +war, so erzielte ich Erfolge, ber die ich selbst erstaunte. +Unsere Bltter stiegen so, da Mnchmeyer mir zu Weihnachten +ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab +sich alle Mhe, hatte zwar anfnglich auch Erfolg, mute +sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen. + + In dieser Zeit der Entwicklung war es, da Mnchmeyer +von auswrtigen Behrden wegen der Verbreitung +des "Venustempels" angezeigt wurde. Verfasser dieses +Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, +der nur deshalb mit Mnchmeyer gebrochen hatte, weil +dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht +partizipieren lie. Das Buch enthielt eine lstern +geschriebene Abteilung ber "die Prostitution", die zu +Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde +Mnchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher, +das wei ich nicht, da eine Haussuchung nach dem "Venustempel" +stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte +Rhrigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhten. +Jedermann, dem man traute, mute helfen; mir aber +sagte man kein Wort; man schmte sich. Es lagen +Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte +ganze Ste, die bis zur Decke reichten, hinter andern +Werken. Man fllte den Lift damit aus. Man benutzte +jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der +gefhrdeten Bcher in die Privatwohnungen und verbarg +sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell +und gelang so gut, da die Polizei, als sie sich einstellte, +kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange +hat man sich im Mnchmeyerschen Hause des Schnippchens +gerhmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener +Behrde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst spter, +viel spter hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines +Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund +heraus, nicht aber wieder hinunter! + + Ich darf wohl sagen, da ich in jener Zeit fleiig +gewesen bin und mir ehrliche Mhe gegeben habe, die +Mnchmeyersche Kolportage in einen anstndigen Verlag +zu verwandeln. Mnchmeyer befreundete sich so mit mir, +da wir wie Brder verkehrten. Das war mir ganz lieb, +so lange er tat, was ich fr richtig hielt. Ich begann +gleich in den ersten Nummern der drei neugegrndeten +Bltter mit der Ausfhrung meiner literarischen Plne. +Ich habe bereits gesagt, da ich in dieser Beziehung mein +Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhlften, nmlich +auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten +wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das "Deutsche +Familienblatt" fr die Indianer und die "Feierstunden" +fr den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort +mit "Winnetou", nannte ihn aber einem anderen +Indianerdialekt gem einstweilen noch In-nu-woh. Ich war +berzeugt, da diese beiden Bltter eine Zukunft htten, +und ich bildete mir ein, fr eine ganze Reihe von +Jahrgngen Redakteur bleiben zu knnen. Da gab es Raum +und Zeit genug fr das, was ich wollte. Ganz +selbstverstndlich schrieb ich auch fr andere Firmen, die ich +wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich +bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, +weit ausschauenden Absichten ganz pltzlich ein unerwartetes +Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt +war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine +Anerkennung, eine Frderung bedeuten. Man machte mir +nmlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag, +die Schwester der Frau Mnchmeyer zu heiraten. Man +lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden +ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Mnchmeyers +wohnen und bekam vom Vater der Frau Mnchmeyer +die Brderschaft angetragen. Das bewirkte grad +das Gegenteil. Ich sagte "nein" und kndigte, denn +nun verstand es sich ganz von selbst, da ich nicht bleiben +konnte, zumal es um diese Zeit war, da ich ber jenen +Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, +das Nhere erfuhr. Nun hatten meine Plne einstweilen +zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das +Vierteljahr vorber war, zog ich von Mnchmeyers fort, doch +nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage +tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei, +schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann +auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berhrend, wurde +ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und +erfuhr, da Freytag, der Verfasser, und Mnchmeyer, der +Verleger des "Venustempels", wegen dieses Schandwerkes +krzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir +verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses +Venustempels hineingeheiratet zu haben! + + Nach der Heimkehr von der soeben erwhnten Reise +hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in +Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte +einige Tage bei ihr und lernte da ein Mdchen kennen, +welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte. +Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, da +ich die sonderbare Eigentmlichkeit besitze, die Menschen +mehr seelisch als krperlich vor mir zu sehen. Ob das +ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich +entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es +nicht selten vor, da ich eine hliche Person schn und +eine schne hlich finde. Die interessantesten Wesen +sind mir die, deren seelische Gestalt mir rtselhaft +erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren +Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich +an, selbst wenn sie abstoend wirken; ich kann nichts +dafr. Und mit dem Mdchen, von dem ich hier spreche, +hatte es noch eine andere, ganz eigentmliche Bewandtnis. +Nmlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in +Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort +nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wsche zu holen. +Auf dem Rckwege kam ich ber den Hohensteiner Markt. +Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem +Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden +sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhndler +und oben eine von fremdher zugezogene Persnlichkeit, +die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg +oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es +war bekannt, da er noch weit mehr konnte als das. Sein +Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man fr +das schnste Mdchen der beiden Stdte hielt; das wute +ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich +stehen. Zwei Frauen, die auch zuhren und zusehen +wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu, +die war vom Dorfe, sie fragte, was das fr eine +Leiche sei. + + "Pollmers Tochter," antwortete eine der beiden ersten +Frauen. + + "Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn +die gestorben?" + + "An ihrem eigenen Kinde. Besser wre es, dieses +wre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an +dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das +bringt Jedermann nur Unheil." + + "Was ist denn der Vater?" + + "Der? Es hat ja keinen!" + + "Du lieber Gott! Auch das noch? Da wre es +freilich besser, der Nickel knnte gleich mitbegraben +werden!" + + Jetzt hrte der Gesang auf. Man brachte den Sarg +heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen +Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person, +welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind, +der "Nickel", der seine eigene Mutter gettet hatte und +Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem +nichts. Was wei ein vierzehnjhriger Junge von den +Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der +Leichenzug an mir vorber war, und ich meinen Weg +fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich spter noch +oft beschftigte, nmlich die Frage, warum man sich vor +einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an +dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen mu. Ich +glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an +das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fhlte eine +Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegrbnis +und an den unglckseligen "Nickel" dachte. Sobald ich +spter ber den Hohensteiner Markt kam, schaute ich +ganz unwillkrlich nach dem betreffenden Fenster in der +Oberstube des Mehlhndlerhauses. Nach Verlauf einer +Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes, +eines Mdchens, herausschauen. Ich blieb fr einen +Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es +war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes +noch etwas Frchterliches an sich. Spter begegnete ich +einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen +Manne, der ein ungefhr zwlfjhriges Mdchen +an der Hand fhrte. Das war der alte Pollmer mit +seinem "Nickel". Der Alte sah sehr ernst, das Kind +aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar +nichts an sich, was verriet, "da seine Mutter an ihm +gestorben war". Dann habe ich es noch verschiedene +Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang +aufgeschossen, beraus schmal, ganz uninteressant, ein +vollstndig gleichgltiges Wesen. Nie htte ich gedacht, da +dieses Mdchen jemals in meinem Leben eine wenn auch +nur unbedeutende Rolle spielen knne. Und nun ich jetzt +bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer +Freundinnen einige junge Mdchen vorgestellt, unter +denen sich auch ein "Frulein Pollmer" befand. Das +war der "Nickel"; aber er sah ganz anders aus als +frher. Er sa so still und bescheiden am Tisch, +beschftigte sich sehr eifrig mit einer Hkelei und sprach +fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht +errtete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen, +geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort ber +die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwgend, gar +nicht wie bei andern Mdchen, die Alles grad so +herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge luft. Das gefiel +mir sehr. Ich erfuhr, da ihr Grovater, nmlich +Pollmer, meine "Geographischen Predigten" gelesen hatte +und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. +Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. +Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur +von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der +Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder +Niederland, ob Wste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich +nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich +deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land +kennen zu lernen. Da sie nicht aus einer wohlhabenden +oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht +verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer +Webersohn und eigentlich viel weniger als das. + + Am nchsten Tage kam ihr Grovater zu mir. Sie +hatte ihm von mir erzhlt und in ihm den Wunsch +erweckt, mich nach der Lektre meiner "Predigten" nun +auch persnlich kennen zu lernen. Er schien von mir +befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch +ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein +Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch +beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus +einem persnlichen in einen schriftlichen verwandelte. +Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich +bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer +htte jemals gedacht, da ich mit dem "Nickel", der Einem +"nur Unheil bringt", in Korrespondenz treten wrde! + + Ihre Zuschriften machten einen auerordentlich guten +Eindruck. Sie sprach da von meinem "schnen, hochwichtigen +Beruf", von meinen "herrlichen Aufgaben", von +meinen "edlen Zielen und Idealen". Sie zitierte Stellen +aus meinen "Geographischen Predigten" und knpfte +Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch +eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es +mir zuweilen so vor, als ob nur ein mnnlicher Verfasser, +und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben +knne, aber es war mir nicht mglich, sie eines solchen +Betruges fr fhig zu halten. Meine Schwester schrieb +mir auch. Sie flo vom Lobe "Frulein Pollmers" ber +und lud mich fr die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu +besuchen. Ich tat es. Ich verga, da grad die +Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und +da ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde, +gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied ber +mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte +ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis +ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte, +um das Seelenstudium des "Nickels", der nun "mein +Nickel" werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam +nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer +Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bhne zu sein +pflegt. Nmlich als Pollmer erfuhr, da ich wieder da +sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum +Mittagessen ein. Er war lngst Witwer, und seine Familie +bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wute, +da er sich berall nur hchst lobend ber mich aussprach, +und da meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten, +mich fr einen guten, vertrauenswrdigen Menschen +zu halten. Aber ich wute auch, da er sein Enkelkind +fr das schnste und wertvollste Wesen der ganzen +Umgegend hielt und da er ganz mrchenhafte Gedanken +in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war +der Ansicht, da solche strahlende Beauts der grte +Reichtum ihrer Familie seien und nur mglichst reich +und vornehm verheiratet werden drfen. Ganz selbstverstndlich +konnte diese seine Meinung nicht ohne Einflu +auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte +ich sehr wohl; und vielleicht war es die hchste Zeit, sie +diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum, +als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen: + + "Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, da ich +nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter +willen kommen darf." + + Er horchte berrascht auf. + + "Um Emmas willen?" fragte er. + + "Ja." + + "Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf +sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?" + + "Allerdings." + + "Alle Wetter! Davon wei ich kein Wort! Das ist +aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie +dazu?" + + "Sie ist einverstanden." + + Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot +im Gesicht und rief aus: + + "Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter +ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, da sie +sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet! +Die kann andere Mnner kriegen. Die soll mir keinen +Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von +seiner Berhmtheit und nur vom Hunger lebt!" + + "Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?" +fragte ich. "Das wrde ich gelten lassen!" + + "Unsinn! Das kmmert mich nicht. Es laufen +Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das +Zuchthaus gehren! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz +andere Grnde. Sie bekommen meine Tochter nicht!" + + Er rief das sehr laut aus. + + "Oho!" antwortete ich. + + "Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole +Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!" + + Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck +zu verstrken, mit dem Spazierstock auf den Boden. +Es juckte mir frmlich in der Hand, sie ihm auf die +Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: "Gut, so behalten +Sie sie!" Aber dagegen bumte sich das vterliche +Erbteil in mir auf, der zhe, unbedachte Zorn, der +niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf: + + "Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!" + + "Versuchen Sie das!" + + "Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde +es tun, wirklich tun!" + + Da lachte er. + + "Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte +mir von jetzt an jeden Besuch!" + + "Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage +Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persnlich zu +mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt +aber leben Sie wohl!" + + "Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!" + + Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte +sie seiner Tochter. Die lauteten: "Entscheide zwischen +mir und Deinem Grovater, Whlst Du ihn, so bleib; +whlst Du mich, so komm sofort nach Dresden!" Dann +reiste ich ab. Sie whlte mich; sie kam. Sie verlie +den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie +war. Das schmeichelte mir. Ich fhlte mich als Sieger. +Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene, +hochgebildete Tchter besa. Durch den Umgang mit +diesen Damen wurde es ihr mglich, sich Alles, was sie +noch nicht besa, spielend anzueignen. Von da aus bekam +sie Gelegenheit, eine selbstndige Wirtschaft fhren +zu knnen. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr +gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anstndige +Honorare. Ich hatte mit meinen "Reiseerzhlungen" +begonnen, die sofort in Paris und Tours auch +in franzsischer Sprache erschienen. Das sprach sich +herum; das imponierte sogar dem "alten Pollmer". Er +hrte von Kennern, da ich im Begriff stehe, ein +wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da +schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, da sie ihn +um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf, +nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber +mitzubringen. Sie erfllte ihm diesen Wunsch, und ich +begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach +Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich +aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt +habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, msse +er persnlich kommen, mich einzuladen. Und er kam! + + Ich fhlte mich wieder als Sieger. Wie tricht +von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwgung +gesiegt, da ich es wahrscheinlich zu einem Vermgen +bringen werde, und es gab sogar die Gefahr fr mich, +da diese Erwgung nicht allein vom Grovater getroffen +worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer +Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte +nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um +bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals +eine Zeit ganz eigenartiger innerer und uerer +Entwicklungen fr mich. Ich schrieb und machte Reisen. +Von einer dieser Reisen zurckgekehrt, erfuhr ich, kaum +aus dem Kupee gestiegen, da heute nacht der "alte Pollmer" +gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. Ich +eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel +gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber +weder sprechen noch sich bewegen. Sein Enkelkind sa +in einer seitwrts liegenden Stube bei einer klingenden +Beschftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und +es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube kaum +zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken +hinber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es +aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem +Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde +Arzt. Er hatte ihn schon gleich frh am Morgen +untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, +da alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt +hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir +nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich +versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar +noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfllt, in +Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine +Etage des oberen Marktes und htten da unendlich glcklich +leben knnen, wenn uns ein solches Glck beschieden +gewesen wre. + + Ich schrieb damals schon einige Jahre fr +Pustet in Regensburg, in dessen "Deutschem Hausschatz" +meine "Reiseerzhlungen" erschienen. Die Firma Pustet +ist eine katholische und der "Deutsche Hausschatz" ein +katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle +Zugehrigkeit war mir hchst gleichgltig. Der Grund, +warum ich dieser hochanstndigen Firma treugeblieben +bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschftlicher. +Kommerzienrat Pustet lie mir nmlich schon bei +der zweiten, kurzen Erzhlung durch seinen Redakteur +Vinzenz Mller mitteilen, da er bereit sei, alle meine +Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen +Verlag senden. Und zahlen werde er sofort. Bei lngeren +Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe +er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel +Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem +ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden +darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar, +wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau +bermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines +einzigen Males, da es spter gekommen wre. Und +niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur +die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe +nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und +als Pustet es mir pltzlich verdoppelte, tat er das aus +eigenem, freiem Entschlusse, ohne da ich einen hierauf +bezglichen Wunsch geuert hatte. Solchen Verlegern +bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und +ihrer Konfession zu fragen. + + Aber noch wertvoller als diese Pnktlichkeit war fr +mich der Umstand, da alle meine Manuskripte vorausbestellt +waren und sicher an- und aufgenommen wurden. +Das machte es mir mglich, meine auf die "Reiseerzhlungen" +bezglichen Plne nun endlich auszufhren. Es +war mir nun der ntige Spaltenraum fr lange Zeit +hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzhlungen +dann spter in Buchform herausgeben wrde, war eine +Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt +feindselige Menschen, welche behaupten, da ich mich +nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag +herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, fr deren +Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte +finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan, +dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem "Deutschen +Hausschatz" und seinem Herausgeber Opfer gebracht, +von deren Gre die Familie Pustet keine Ahnung +hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef +Krschner, der bekannte, berhmte Publizist, mit dem ich +sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich +schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in +Stuttgart erscheinende Revue "Vom Fels zum Meere", +fr welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie +folgt: + + "Sehr geehrter Herr! + + Sie haben inzwischen schon wieder fr andere + Unternehmungen Beitrge geliefert, whrend Sie mich + mit dem lngst Versprochenen noch immer im Stiche + lieen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte + Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenber + wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht + vorbergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht + geneigt wren, einmal einen recht packenden, fesselnden + und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich wrde + I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend + Mark pro "Fels"-Bogen zusichern knnen, wenn Sie + etwas Derartiges schreiben wrden. + + In vorzglicher Hochachtung + + Ihr ergebenster + + Josef Krschner. + + Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war +gegen diese tausend Mark so unbedeutend, da ich mich +scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet +trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewi wohl mehr +als hinreichender Beweis, da ich fr den "Hausschatz" +nicht geschrieben habe, um "mehr Geld zu machen, als +ich von Andern bekam". Auch meine andern Verleger +zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das mu ich, um +diesen bswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit +konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner +Hausschatzerzhlungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe, +der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet +zurck zu Mnchmeyer zu wenden. + + Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau +auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte +ihr Mnchmeyer so lebhaft geschildert, da sie sich ein +ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie +ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wnschte aber sehr, +ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt +hatten, da er ein hbscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter +und fr schne Frauen begeistert sei. Er pflegte +in dieser Jahreszeit um die Dmmerstunde in einer +bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr +das sagte, bat sie mich, sie hinzufhren. Ich tat es, +obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich +seiner Schwgerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich +nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen +Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig; +das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch +geschftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar +so zusammengedrckt und niedergeschlagen dagesessen, den +Kopf in beide Hnde gelegt. Nun aber war er pltzlich +froh und munter. Er strahlte vor Vergngen. Er +machte mir in seiner Kolportageweise die unmglichsten +Komplimente, eine so schne Frau zu haben, und meiner +Frau gratulierte er in denselben Ausdrcken zu dem +Glck, einen so schnell berhmt gewordenen Mann zu +besitzen. Er kannte meine Erfolge, bertrieb sie aber, +um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf +meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu +schwrmen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie +sei schn wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel +werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner +jetzigen groen Not. Sie knne ihn retten, indem sie +mich bitte, einen Roman fr ihn zu schreiben. Und nun +erzhlte er: + + Als ich aus seinem Geschft getreten war, hatte er +keinen passenden Redakteur fr die von mir gegrndeten +Bltter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. +Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten +fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es +wollte berhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte +auf Verlust, und jetzt stand es so, da er die Hamletfrage +Sein oder Nichtsein nicht lnger von sich weisen +konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darber +nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden knne, +doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie +vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, da er gerettet +werde, nmlich durch mich, durch einen Roman von mir, +durch meine schne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die +mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen +Hnden sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben +Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau +vollstndig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch +zu erfllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise +vor, da eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen +Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles auerordentlich +gut gestanden; aber da ich seine Schwgerin nicht habe +heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das +habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder +gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet, +ihm jetzt unter die Arme zu greifen. + + Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fhlte ich +gar wohl, da etwas Wahres daran sei. Man hatte +damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau +Mnchmeyer zu heiraten, fr so selbstverstndlich gehalten, +da berall davon gesprochen worden war. Dadurch, da +ich den Plan zurckwies, hatte nicht nur dieses Mdchen, +sondern auch die ganze Familie eine beinahe ffentliche +Zurcksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld +trug, die mich aber geneigt machte, Mnchmeyer als Ersatz +dafr irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, da +wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde +auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen +geschftlichen, nicht aber einen persnlichen Grund geben, +seinen Wunsch zurckzuweisen. Aber auch in geschftlicher +Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. +Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In +dem Umstand, da Mnchmeyer Kolportageverleger war, +lag kein Zwang fr mich, ihm nun auch meinerseits nichts +Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu +schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische +Folge von Reiseerzhlungen, wie ich sie Pustet und anderen +Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich +auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das, +was ich fr Mnchmeyer schrieb, ganz ebenso spter fr +mich in Bnden erscheinen lassen, wie das fr meine +Hausschatzerzhlungen bestimmt worden war. + + Diese Erwgungen gingen mir durch den Kopf, whrend +Mnchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. +Ich erklrte schlielich, da ich mich vielleicht entschlieen +knnen, den gewnschten Roman zu schreiben, doch nur +unter der Bedingung, da er nach einer bestimmten Zeit +mit smtlichen Rechten wieder an mich zurckfalle. Es +drfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort gendert +werden; das wisse er ja von frher her. Mnchmeyer +erklrte, hierauf einzugehen, doch mge ich ihn mit dem +Honorar nicht drcken. Er sei in Not und knne nicht +viel zahlen. Spter, wenn mein Roman gut einschlage, +knne er das durch eine "feine Gratifikation" ausgleichen. +Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an +welcher der Roman wieder an mich zurckzufallen habe, +sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald +sie erreicht worden sei, er aufzuhren und mir meine Rechte +wiederzugeben habe. Er berechnete, da er mit sechs- bis +siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme; +was darber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug +ich vor, im Falle, da ich den Roman schreiben werde, +solle Mnchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten +gehen drfen, weiter nicht; dann habe er mir eine "feine +Gratifikation" zu zahlen, und der Roman falle mit allen +Rechten an mich zurck. Ob ich ihn dann gegen das +entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen +Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache. +Hierauf ging Mnchmeyer sofort ein, ich aber gab meine +Zusage noch nicht definitiv; ich erklrte, mir die Sache +erst noch reiflich berlegen und meine Entscheidung dann +morgen geben zu wollen. + + Mnchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser +Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, +halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte +nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm +seinen Wunsch zu erfllen. Er bekam den Roman zu den +erwnschten Bedingungen, nmlich nur bis zum +zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafr hatte er fr die Nummer +35 Mark zu bezahlen und beim Schlu eine "feine +Gratifikation". Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt +war also kein schriftlicher, sondern ein mndlicher. Er sagte, +wir seien beide ehrliche Mnner und wrden einander +nie betrgen. Es klinge fr ihn wie eine Beleidigung, +von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus +zwei guten Grnden hierauf ein. Nmlich erstens durften +nach damaligem schsischem Gesetz bei Mangel eines +Kontrakts berhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden; +Mnchmeyer htte sich also, wenn er unehrlich sein wollte, +nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte +ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und +unauffllig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine +Geschftsbriefe an Mnchmeyer sehr einfach nur so +einzurichten, da seine Antworten nach und nach Alles +enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das +habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig +aufgehoben. + + Er wnschte sehr, da ich mit dem Roman sofort +beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst +nach Hohenstein zurck, um unverweilt anzufangen. Meine +Frau trieb fast noch mehr als Mnchmeyer selbst. Er +hatte eine persnliche Vorliebe fr den nichtssagenden +Titel "Das Waldrschen". Ich ging auch hierauf ein, +htete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen +zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen gnstige +Nachrichten. Der Roman "ging". Dieses "ging" ist ein +Fachausdruck, welcher einen nicht gewhnlichen Erfolg +bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu +lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine +Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich +verzettelt htten. Ich sollte meine Freiexemplare nach +Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit +war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine +Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu +vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war +ja bestimmt worden, da mir kein Wort gendert werden +drfe, und ich besa damals die Vertrauensseligkeit, dies +fr gengend zu halten. + + Der Erfolg des "Waldrschens" schien nicht nur ein +guter, sondern ein ungewhnlicher zu werden. Mnchmeyer +zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er +schrieb wiederholt, da er sich schon jetzt, nach so kurzer +Zeit fr gerettet halte, denn er hoffe doch, da der Roman +so zugkrftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte +den Gedanken an, da wir nicht in Hohenstein bleiben, +sondern nach Dresden ziehen mchten, da er mich in seiner +Nhe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken +mit Begeisterung auf und sorgte dafr, da er so schnell +wie mglich ausgefhrt wurde. Ich strubte mich keineswegs. +Hatte ich doch whrend der Hohensteiner Zeit mehr +und mehr an jene Warnung denken mssen, welche in dem +Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, +dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, +an der ich geboren worden war, sehaft niedergelassen, +sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich +war fr einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser +Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber +gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und +wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen, +einzusehen, da ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter +ber trbe Gewsser hinberlangt, als wenn er eine +zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen +kann noch schwimmen will. Darum war mir diese +Ortsvernderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht +nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir +Ellbogenfreiheit zu sichern. Mnchmeyer stellte sich auch da +sofort ein, und zwar wchentlich mehrere Male. Es entwickelte +sich ein anfangs ganz frderlicher Verkehr zwischen +ihm und uns. Ich arbeitete so, da ich mir fast keine +Ruhe gnnte. Der Roman schritt sehr schnell vorwrts, +und sein Erfolg wuchs derart, da Mnchmeyer mich bat, +noch einen zweiten und womglich noch einige weitere +zu schreiben. Ich ahnte nicht, da meine Entscheidung +ber diesen seinen Wunsch eine fr mich hochwichtige sei +und da sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu +einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher +Qual werden knne. Ich betrachtete nur die angeblichen +Vorteile, sah aber nicht die Gefahr. + + Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus +meinen literarischen Plnen heraus. Mnchmeyer hatte +diese Plne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. +Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht +ausfhren knnen, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab. +Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein +freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, +das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich +brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei +Pustet, auf viele Jahrgnge auseinander zu dehnen, sondern +ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das, +was jetzt als Heftroman erschien, spter in Buchform +herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das +bestndige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwnde, +die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen +brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige +Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen +wie das "Waldrschen". Diese Arbeiten hatten +mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten +mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir +eine "feine Gratifikation" zu zahlen. Es gab nur eine +einzige Aenderung, nmlich die, da ich fr diese Romane +ein Honorar von fnfzig Mark pro Heft bezog, anstatt +nur fnfunddreiig bei dem "Waldrschen". + + Infolge dieser Abmachungen begann fr mich von +jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, +zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschmung denken +kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit +blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter +nichts. Es war ein fast fieberhafter Flei, mit dem ich +damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere +Schriftsteller, mhsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja +reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich +nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich +suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich +hatte nur auszufhren; ich brauchte nur zu schreiben. +Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder +rechts noch links schauen lie, und grad das, das war +es, was ich wollte. Ich hatte einsehen mssen, da es +fr mich kein anderes Glck im Leben gab, als nur das, +welches aus der Arbeit fliet. Darum arbeitete ich, so +viel und so gern, so gern! Dieser ruhelose Flei ermglichte +es mir, zu vergessen, da ich mich in meinem Lebensglck +geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es +vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere +Verlassensein drngte mich, um die trostlose Oede auszufllen, +zu rastlosem Fleie und machte mich leider gleichgltig +gegen die Notwendigkeit, geschftlich vorsichtig zu +sein. Es kam bei Mnchmeyer so viel vor, was mich +veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, da mehr als +genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integritt alles +dessen, was ich fr ihn schrieb, so sicher wie mglich zu +stellen. Da ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den +ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht +verzeihen kann. + + Mnchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. +Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garonlogis gemietet, +um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns +verbringen zu knnen. Er kam auch an Abenden der +andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr +oft auch andere Personen mit. Er wnschte zwar, da +ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stren lassen +mge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner +Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr +mglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus +Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue +Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Straen, +und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schlo- und +Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestrenden Lrm und +berhaupt keine Ueberflssigkeiten in seinem Hause. Grad +das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und +uere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. +Mnchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafr +aber stellten, ich wute nicht, warum, sich Einladungen +von Frau Mnchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen +durch Wald und Heide zu begleiten. Diese +Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe +Lufteinatmung verordnet hatte. Ich mute mich wohl +oder bel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch +meiner Frau war, deren Grnde ich leider nicht zu wrdigen +verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer +jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich +mute kndigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung +des amerikanischen Viertels, die ber einer Kneipe +lag, so da ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank. +Der Arzt riet ihr sehr frhe Spaziergnge nach dem groen +Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen +rztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab +fr mich keinen Grund, diese Spaziergnge zu verhindern, +die morgens vier bis fnf Uhr begannen und ungefhr +drei Stunden whrten. Ich wute nicht, da Frau +Mnchmeyer auch nicht gesund war und da auch sie +von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frhe +Morgenspaziergnge nach dem Groen Garten zu machen. Erst +nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was whrend +dieser Spaziergnge geschehen war. Meine Frau war +mir nicht nur seelisch, sondern auch geschftlich verloren +gegangen. Die beiden Damen saen tagtglich frh morgens +in einer Konditorei des groen Gartens und trieben eine +Hausfrauen- und Geschftspolitik, deren Wirkungen ich +erst spter versprte. Ich machte Schlu und zog von +Dresden fort, nach Ktzschenbroda, dem uersten Punkt +seiner Vorortsperipherie. + + Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane +fr Mnchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fnf +geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn +man spter vor Gericht behauptet hat, da ich fr Mnchmeyer +nicht fleiig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich, +mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und +zugleich auch noch fr andere Verleger gearbeitet hat. +Hiermit sei fr heut mit meiner "Kolportagezeit" +abgeschlossen. -- -- -- + + _________ + + + VII. + Meine Werke. + + _____ + +Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich +diejenigen meiner Bcher, mit denen sich die Kritik +beschftigt hat oder noch beschftigt. Diejenigen, ber +welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen +hat, knnen auch hier bergangen werden. Zu diesen +gehren meine Humoresken, meine erzgebirgischen +Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den +Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu +sein. Ich knnte hierzu auch noch meine "Himmelsgedanken" +rechnen, die man nicht erwhnen zu wollen scheint, seit +es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, da er sich mit +ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb bekanntlich: +"Als lyrischen Dichter aber mssen wir uns ihn verbitten," +obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges +lyrisches Gedicht befindet! Auch meine sogenannten "Union- +oder Spemannbnde" brauche ich hier nicht zu besprechen, +weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur +als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die +einzigen Sachen sind, die ich fr die Jugend geschrieben +habe. Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen +"Reiseerzhlungen" und um die bei Mnchmeyer +erschienenen "Schundromane", welch letztere im nchsten +Kapitel behandelt werden. + + Meine "Reiseerzhlungen" haben, wie bereits erwhnt, +bei den Arabern von der Wste bis zum Dschebel Marah +Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und +der Prrie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf +diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen +bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen. +Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem +Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen +diese Erzhlungen mit dem ersten Bande in der "Wste". +In der Wste, d. i. in dem Nichts, in der vlligen +Unwissenheit ber Alles, was die Anima, die Seele und +den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das +"Ich", die Menschheitsfrage, in diese Wste tritt und die +Augen ffnet, ist das Erste, was sich sehen lt, ein +sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem groen +Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berhmten +Namen beilegt und gar noch behauptet, da er Hadschi +sei, obgleich er schlielich zugeben mu, da er noch +niemals in einer der heiligen Stdte des Islams war, wo +man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man +sieht, da ich ein echt deutsches, also einheimisches, +psychologisches Rtsel in ein fremdes orientalisches Gewand +kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lsen +zu knnen. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte, +da alle diese Reiseerzhlungen als Gleichnisse, also bildlich +resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus +oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. +Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, da sich hinter +ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag. + + Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt +und auch seinen Vater und Grovater noch als Hadschis +hinten anfgt, bedeutet die menschliche Anima, die sich +fr die Seele oder gar fr den Geist ausgibt, ohne selbst +zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen +hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewhnlichen, +sondern auch im gelehrten Leben alltglich, aber man +ist derart blind fr diesen Fehler, da ich eben arabische +Personen und arabische Zustnde herbeiziehen mu, um +diese blinden Augen sehend zu machen. Ich schicke darum +diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka, +wodurch seine Lge zur Wahrheit wird, weil er nun +wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine +"Seele" kennen lernen -- -- -- Hannah [sic], sein Weib. + + Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem +ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und +wie man meine Bcher lesen mu, um ihren wirklichen +Inhalt kennen zu lernen. Ein zweites Beispiel mag +folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen +Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll von dem +Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der +Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum +Schah, um ihn um Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat +aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon +die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, da +sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun +Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des +Ustad erhrt, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah +ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese +Erzhlung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: +"Euer Vater wei, was Ihr bedrfet, ehe Ihr ihn +bittet!" Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl +May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser, +welches von den Sillan vernichtet werden soll. Ich +erzhle also rein deutsche Begebenheiten im persischen +Gewande und mache sie dadurch fr Freund und Feind +verstndlich. Ist das nicht Gleichnis? Nicht bildlich? +Gewi! Und ist es etwa mystisch? Nicht im +Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig +mystisch, da mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere +bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch +erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will. +Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher +Absicht an das Lesen meiner Bcher geht, wird ohne Weiteres +finden, da ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. +Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben +ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmrchen nicht +verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen +und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzhlungen +zu bilden haben. Diese Mrchen sind es auch, +aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse +meiner letzten Tage zu entwickeln hat. + + Ist doch gleich meine erste Gestalt, nmlich Hadschi +Halef Omar, ein Mrchen, nmlich das Mrchen von +der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals +wiedergefunden werden kann, auer sie findet sich selbst. +Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die +Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des +Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege +also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so +aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt +worden ist. Ich darf also wohl behaupten, da ich +gewisse Vorwrfe, die mir von meinen Gegnern gemacht +werden, keineswegs verdiene. Wrden diese Gegner es +einmal wagen, so offen ber sich selbst zu sprechen wie +ich ber mich, so wrde das sogenannte Karl May-Problem +schon lngst in jenes Stadium getreten sein, in +welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht. +Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis. +Es ist nichts Anderes, als jenes groe, allgemeine +Menschheitsproblem, an dessen Lsung schon ungezhlte Millionen +gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen. +Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir +herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der +traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und +in den Schriften Derer lebe, die sich berufen whnen, +Probleme zu lsen, dies aber immer nur da tun, wo +keine vorhanden sind. + + Ich nenne ferner das Mrchen von "Marah Durimeh", +der Menschheitsseele, von "Schakara", der edlen, +gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner +jetzigen Frau gegeben habe. Das Mrchen vom "erlsten +Teufel", vom "eingemauerten Herrgott", vom +"versteinerten Gebete", von den "verkalkten Seelen", +von den "Rosensulen des Beit-Ullah", von dem "Sprung +in die Vergangenheit", von der "Dschemma der Lebendigen +und Toten", von der "Schlacht am Dschebel Allah", +vom "Mahalamasee", vom "Berg der Knigsgrber", +vom "Mir von Dschnnistan", vom "Mir von Ardistan", +von der "Stadt der Verstorbenen", vom "Dschebel Muchallis", +von der "Wasserscheide von El Hadd" und noch +viele, viele andere. Wie man bei einem geistig und +seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Bcher +als "Jugendschriften" und mich als "Jugendschriftsteller" +bezeichnen kann, wrde unbegreiflich sein, wenn man nicht +wte, da Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder +nicht begriffen oder berhaupt nicht gelesen haben. Selbst +"Winnetou", der so leicht zu lesen zu sein scheint, +bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt, +eines Nachdenkens und eines Verstndnisses, welches doch +gewi keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen +ist! Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdrcken +"Jugendschriften" und "Jugendschriftsteller" bleibt, so +mu ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu +dem sich kein anstndiger, ernster Kritiker hergeben wird. + + Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gem zu, +da meine "Reiseerzhlungen" nicht als Jugendschriften +verfat worden sind, so ist der jetzt landlufig +gewordenen Behauptung, da sie schdlich sind, aller Boden +entzogen. Es lese sie doch nur der, dem sie nicht +schdlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu! Weshalb +und wozu die Vorwrfe alle, die man mir jetzt in hunderten +von Zeitungen macht? Sieht man sich diese Vorwrfe +aber genauer an, so verlieren sie allen Wert. +Frher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist +so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder +in das Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht +nur Mode, sondern Mache! Selbst wenn meine Bcher +jetzt von keinem Menschen mehr gelesen wrden, knnte +mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich +wei, da man sehr bald hinter diese Mache kommen +und sich demgem verhalten wird. Ja, htte ich meinen +Lesern blo nur Unterhaltungsfutter geliefert, so htte +ich von der Bildflche zu verschwinden, um nie wieder +aufzutauchen, und wrde ganz von selbst so verstndig +sein, mich darein zu ergeben. Aber _ich_habe_whrend_ +_meines_"Lebens_und Strebens"_allzu_viele_und_ +_allzu_groe_Fehler_begangen,_als_da_ich_so_ +_mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_fr_immer_ +_verschwinden_drfte.__Ich_habe_gutzumachen!_ +Was der Sterbliche sndigt, das hat er zu ben und zu +shnen, und wohl ihm, wenn ihm die Gte des Himmels +erlaubt, seine Schuld nicht mit ber den Tod hinberzunehmen, +sondern sie schon hier zu bezahlen. Das will +ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, +ich behaupte khn: das habe ich schon getan! Dem +irdischen Gesetze habe ich schon lngst Alles gegeben, was +es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr +schuldig. Und was ber diese von Menschen gestellten +Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem +ich das, was ich noch schreiben werde, dem groen +Glubiger widme, der ganz genau wei, ob ich ihm mehr +als jene Andern schuldig bin, die sich besser dnken +als May. + + Ich bin berzeugt, da meine Snden, so weit sie +mir anzurechnen sind, nur auf persnlichem, nicht aber +auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich +mir keiner Missetaten bewut. Was ich mit meinen +"Reiseerzhlungen" erreicht habe, wird erst nach meinem +Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, +die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen +bekommt; verffentlicht werden sie nicht. Man pries +diese Werke und schwrmte fr sie, bis es eines Tages +einem gewissenlosen Menschen einfiel, ffentlich zu +behaupten, da ich auer ihnen auch noch andere, aber +"abgrundtief" unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst +wenn dies wahr gewesen wre, htte das die "Reiseerzhlungen" +weder innerlich noch uerlich im Geringsten +verndern knnen. Dennoch wurden sie von jenem Tage +an zunchst mit Mitrauen betrachtet, dann mehr und +mehr verleumdet und endlich gar fr direkt schdlich +erklrt und aus den Bibliotheken gestoen, in denen sie +frher willkommen geheien worden waren. Warum? +Waren sie anders geworden? Nein! Hatten sich die +bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze +verndert? Nein! Waren die Bedrfnisse der Leser +andere geworden? Auch nicht! Aber aus welchem Grunde +denn sonst? Einfach einer Schund- und Kolportageklique +wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie +sich selbst auszudrcken pflegte, "kaput zu machen". Aber +ist es denn menschenmglich, da eine derartige Klique +einen so groen, unbegreiflichen Einflu auf Literatur +und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe +im nchsten Kapitel hiervon zu erzhlen. Diese Rotte +scheut sich nicht, ihre eigenen Snden und literarischen +Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu +gebrden! Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen +meiner Mnchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang +mit allen mglichen Schmhungen besudelt, dem Verlage +aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten +Vorwurf gemacht haben. Ich bezeichne das als eine +Schande! + + Man sagt, da unsere Schundverleger jhrlich fnfzig +Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das +ist frchterlich, aber noch viel zu niedrig geschtzt. Ein +einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, +kann dem Volke mehr als fnf und sechs Millionen kosten, +und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma +Mnchmeyer achtundfnfzig -- man lese und staune -- +achtundfnfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! +Man rechne; man multipliziere! Welche Verluste! Welch +eine ungeheure Summe von Gift und Unheil! Wie viel +hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran, +dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und nun +schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den +Bchern nach, wen man fr das Alles verantwortlich +macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet, +verspottet und verhhnt! Karl May, Karl May, +immer wieder Karl May und nur und nur Karl May! +Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen, +als nur diesen einen? Was habe ich denn getan, da +man mich berhaupt zum Schunde zhlt? Wo stecken die +zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus, +jahrein rastlos dafr sorgen, da in Deutschland und +Deutschsterreich der Schund kein Ende nimmt? Vor Gericht, +in "wissenschaftlichen" Werken, bei Kommissionssitzungen, +in ffentlichen Vortrgen, von Schriftstellern, +Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Knstlern, +Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden +Gelegenheiten, wo von "Jugendverderbnis" die Rede ist, +da bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, +nur er! Er ist der Typus der Jugendvergifter! Er ist +der Vater aller ruchlosen Kapitn Thrmers, Nick Carters +und Buffalo Bills! Mein Gott, wissen diese Herren +denn wirklich nicht, was sie tun? Wie sie sich +versndigen? Wie man im Kreise derer, die es besser wissen, +von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen +Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, +da Jemand durch eines meiner Bcher verdorben worden +ist! Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten +Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen +Band oder einige Bnde von Karl May. Den kennt +man, die Andern aber nicht; darum mu er es sein, +dessen Namen man nennt und den man als Tter bezeichnet! +Allwchentlich werden mir von Zeitungsbureaus +fnfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt, +auf denen ich an Stelle der smtlichen deutschen +Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das +ist unmenschlich! Ich werde mit Schande berhuft und +vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum +nennt man ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie +nicht fest? Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten, +die wegen Verbreitung von unzchtigen Schriften +bestraft worden sind. Und noch grer ist die Zahl +derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben, +nur um Geld zu machen. Warum nennt man sie nicht? +Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem +man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke +duldet? Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern +nur auf mich, den Sndenbock fr den ganzen literarischen +Mob? Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! +Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so +viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen +vermag! Ich habe das im nchsten Kapitel des Nheren +zu beleuchten. + + Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, +sind bisher immer nur Behauptungen gewesen. Zu +keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht. +Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezhlte meiner +Leser brieflich oder mndlich gefragt, ob es ihnen mglich +ist, mir eine der Reiseerzhlungen oder eine Stelle +aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, da +sie schdlich wirke. Es hat mir Niemand auch nur eine +einzige derartige Zeile nennen knnen. Ist doch sogar +meine unerbittlichste Gegnerin, die "Klnische Volkszeitung", +gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen: +"Alles fr die Jugend Anstige _ist_sorgfltig_ +_vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_blo_fr_ +_diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben +aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung +im reichsten Mae geschpft!" Schon aus diesem +Atteste geht die jetzige "Mache" hervor, denn meine +Bcher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben, +und derselbe Herr, der dieses ffentliche Zeugnis aus +stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat +sich seitdem nicht wieder aufrichten knnen. + + Zur Zurckweisung der Vorwrfe, die man gegen +mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Verffentlichung +des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion +zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig +verehrte Herr aber wohl verzeihen wird. Doktor +Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres +aus Krieglach: + + "Sehr geehrter Herr! + + Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der + Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder + das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet, + werde ich mit grter Freude davon Notiz nehmen. + + Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als + solcher mchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine + Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie + sich am besten rechtfertigen knnten. + + Ich wrde an Ihrer Statt in der Polemik alles + ausschalten, was sich nicht sachlich auf die + Anschuldigungen bezieht. Das, was Sie aus Ihrer + Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch + abgetan und wrde Ihnen kaum ein rechtlich denkender + Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht + tut. Da Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persnlich + erlebt haben, da es nur Erzhlungen in "Ichform" + sind, kann Ihnen auch kein Literat verbeln. + So bleibt nur brig, endlich die sachlichen Beweise zu + erbringen, da die berhrten obsznen Stellen nicht + Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was + die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so mssen + doch Sachverstndige entscheiden knnen, inwiefern es + Plagiate wren oder inwiefern blo umgearbeitete Stoffe + und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben + mit den neuen Auflagen verglichen, mte doch + klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und + der Stil der neu eingefgten Stze sich organisch an + Ihre Art und an das Buch anschlieen oder nicht. + Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun + Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen + drngen, da die Dinge endlich vor Gericht zur + Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer Freunde, + die nur so im Allgemeinen herumreden ber die Vorzge + Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, knnen fr + die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere + Wirkung erzielen. + + Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer + gerichtlichen Genugtuung zu kommen. Gelingt das + nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und + gelingt es, so mu doch auch die Presse Ihrer jetzigen + Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und + in das Volk tragen. + + Krankheit hat diesen Brief versptet. Verzeihen + Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen + entspringt, und seien Sie gegrt + + von Ihrem ergebenen + + P e t e r R o s e g g e r." + + Krieglach, 2. 7. 1910. + + Da Peter Rosegger, der hochstehende, feinfhlende +und human denkende geistige Aristokrat, das, was er +ber meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan +betrachtet, versteht sich ganz von selbst. In derartigen +Bodenstzen und Rckstnden knnen nur niedrige +Menschen waten. Hierdurch habe ja auch ich selbst schon +lngst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden, +der sich mit mir beschftigt, nach dem Mae zu beurteilen, +welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird. +Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist +im Himmel und auf Erden Recht. + + Was die "Obsznitten" und den Nachweis betrifft, +da sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand +im nchsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine +mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt. +Nmlich nicht ich habe zu beweisen, da diese unsittlichen +Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu +beweisen, da ich ihr Verfasser bin. Das ist so +selbstverstndlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen Richter +einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der +spanischen Jungfrau zurckzuschleppen, in welcher der +Anklger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der +Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, da er +unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten +Fllen unmglich sein. Man hat mich aus prozessualen +Grnden flschlicher Weise beschuldigt, fr Mnchmeyer +das "Buch der Liebe" geschrieben zu haben. Wie kann +ich beweisen, da dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, es +wre dem Mnchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige +Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, +da Peter Rosegger den berchtigten "Venustempel" +geschrieben habe. Wrde Rosegger den Beweis antreten, +da dies eine Lge sei? Oder wrde er sagen, da man +die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? +Ich bin berzeugt, das Letztere. Und so thue [sic] auch ich. +Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte. +Einen andern Beweis kann es nicht geben. + + Was nun die von Peter Rosegger erwhnten Plagiate +betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: +Der Benediktinermnch Pater Pllmann hat eine Reihe +von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben +und ihnen die Drohung vorangeschickt, da er mir mit +ihnen einen Strick drehen werde, um mich "aus dem +Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Er hat +sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner +Behauptungen, mit denen er mich hierauf berschttete, war +nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart, +lieblos und tierqulerisch, darum die Leser emprend und +ohne Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer +Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich +des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Mhe gab, +die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. Er sprach +da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter +nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit +erreichen. Die "Grazer Tagespost" schreibt hierber: + + "Pater Pllmann, ein bekannter Herr, der sich unlngst +in echt christlicher Demut selbst das schmckende +Beiwort eines "anerkannten Kritikers" beilegte, hat die +moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht +gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald +vergessen, denn er nahm krzlich den Mund wieder +voll usw. usw." + + Ich hatte nmlich in einigen meiner allerersten, +ltesten Reiseerzhlungen, bei deren Abfassung ich noch +nicht die ntige Erfahrung besa, die Ereignisse, die ich +schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen +lassen, den ich bekannten, Jedermann zugnglichen Werken +entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht +sehr hufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann +niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, +liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile +eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der +Art verwendet, da sie dann wesentliche Bestandteile des +Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen +Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan +und werde es auch nie tun. Geographische Werke knnen, +besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind, +ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um +das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen +handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des +Abschreibens eine selbstndige geistige Arbeit bleibt. In +der Einleitung zum Voigtlnderschen "Urheber- und +Verlagsrecht" heit es: + + "Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus +sich selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was +Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben +haben. Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene +Schpfung. Selbst die am meisten schpferische Ttigkeit, +die des Dichters, steht dann am hchsten, erreicht +dann ihre grten Erfolge, wenn sie die Weihe der +knstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich +sein Volk denkt und fhlt. Und nicht einmal die Form +ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird +von der gebildeten Sprache geliefert, "die fr dich dichtet +und denkt", und die Manchem, der sich Dichter zu sein +dnkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder +deren Schein leiht. Kurz, der Schriftsteller und Knstler +steht mit seinem Wissen und Knnen inmitten und auf +der Kulturarbeit von Jahrtausenden. Goethe, auf einer +einsamen Insel aufgewachsen, wre nicht Goethe +geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet, +da er die Kulturarbeit der Menschheit um einen +Schritt hat weiter bringen knnen, weil er an das von +den Vorfahren Geleistete anknpfen durfte, dann ist es +nicht mehr als billig, _da_sein_Werk_zur_gegebenen_ +_Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_ +_diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_ +_Form."_ + + So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm +ist nicht zu widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal +begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollstndig +gerechtfertigt. Ein anderer schreibt: "Alles ist mehr oder +weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder +Phantasieproduktion. Der Intellektadel, die obern Trger +der Bildung und Kultur schpfen ja doch alle mehr oder +minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen +Anderer, Frherer, Grerer gespeist worden ist." + + In Nr. 268 der "Feder", der Halbmonatsschrift fr +Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: "Aus +den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic] +Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem +gewissen Grade mu deshalb auch Jeder ein Plagiator +sein. Wenn das eigentliche Gedankengebude neu ist, +dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von +schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach Emmerson ist +_der_grte_Genius_zugleich_auch_der_grte_ +_Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_ +_darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn +man einen groen Zweck damit erreichen will; aber man +darf es sich nicht merken lassen; man mu mit dem +Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen." + + Es ist bekannt, da Maeterlinck in einem seiner +Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben +hat. Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn +aus und lie das Stck ruhig unter seinem Namen +erscheinen. Ebenso bekannt ist, da das populre Lied +aus dem Freischtz: "Wir winden dir den Jungfernkranz" +nicht von Weber, sondern von einem fast ganz +unbekannten Gothaer Musikdirektor ist. Weber hrte es +und nahm es in seinen Freischtz auf, ohne sich etwas +aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb +bezeichnet zu werden. Shakespeare war bekanntlich der +grte literarische Entwender, den wir kennen. Wenn +es nach Pater Pllmannschen Grundstzen ginge, wrden +sogar verschiedene Verfasser biblischer Bcher als +literarische Diebe bezeichnet werden mssen. So knnte ich +noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterfhren, +will mich aber damit begngen, nur noch unsern +Allergrten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten +Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzufhren. +Dumas entlehnte auerordentlich viel. Er konnte ohne +fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit +ber das Ma des literarisch Erlaubten hinaus. So ist +es bekannt, da er die Erzhlung von Edgar Poe "Der +Goldkfer" zu den spannendsten Stellen in seinem "Grafen +Monte Christo" ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, +so zitiere ich einen kurzen Artikel, der krzlich +unter der Ueberschrift "Goethe ber das Plagiat" durch +die Zeitungen ging: + + "Fr einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage +sehr leicht. Es darf ein Autor blo versumen, +absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der +er diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben +Freund hat Jedermann, der den glcklich entdeckten +Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt. Richard +von Kralik ist unlngst des Plagiates beschuldigt worden, +weil er -- ohne seine Schuld -- mangelhaft zitiert +worden ist. Solchen Plagiatschnfflern mchten wir die +Ansicht Goethes ber das Plagiat in das Gedchtnis +rufen. Der Gegenstand des Gesprches zwischen ihm und +Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons +angebliche Plagiate. Siehe "Eckermanns Gesprche mit +Goethe", 3. Auflage Band I S. 133. Da sagte Goethe: +"Byron wei sich auch gegen dergleichen, ihn selbst +betreffende unverstndige Angriffe seiner eigenen Nation +nicht zu helfen; er htte sich strker dagegen ausdrcken +sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ htte er sagen +sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_ +_Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_ +_kam_blo_darauf_an,_da_ich_es_richtig_gebrauchte!_ +Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem +"Egmont", und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_ +_mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So +hat er auch den Charakter meiner "Mignon" in einem +seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel +Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons "verwandelter +Teufel" ist ein fortgesetzter Mephistopheles, +und das ist recht. Htte er aus origineller Grille +ausweichen wollen, so htte er es schlechter machen mssen. +So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, +und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir +die Mhe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von +Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es +sollte? Hat daher auch die Exposition meines "Faust" +mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das +wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als +zu tadeln." + + Soweit diese kurze Auswahl von Gewhrsnamen. +Was haben unsere Berhmtesten getan, ohne da man +sie beschimpfte? Und was habe ich getan, da man mich +als den niedrigsten aller Betrger und Diebe behandelt? +Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner +kleinen, asiatischen Erzhlungen mit ganz nebenschlichen +geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, +welche ich in Bchern fand, die lngst der Allgemeinheit +angehren. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes +Recht. Was aber sagt Pater Pllmann dazu? Er beschimpft +mich ffentlich als einen _"Freibeuter_auf_ +_schriftstellerischem_Gebiete,_fr_ewige_Zeiten_das_ +_Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson, +der Berhmtesten und Edelsten einer in Amerika, +sagt: "Der grte Genius ist zugleich auch der grte +Entlehner". Und Goethe sagt: "Was da ist, das ist +mein. Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche +nehme, das ist gleich!" Wie htte da wohl das +entsprechende Urteil Pater Pllmanns ber diese beiden +Heroen zu lauten? Sie htten fr ihn "fr ewige Zeiten +die schlimmsten aller literarischen Bestien" zu sein, stinkend +vor Raubgier und Verworfenheit! Eine Kritik, die so +unwissend, so unerfahren, so selbstberhebend und so +wenig mahaltend ist wie diese hier, die bildet eine +Gefahr nicht nur fr die Literatur, sondern fr das ganze +Volk. + + Ich habe in diesen meinen "Reiseerzhlungen" genau +so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, +fr die Menschenseele zu schreiben, fr die Seele, nur +fr sie allein. Und nur sie allein, fr die es geschrieben +ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen +und begreifen. Fr seelenlose Leser rhre ich keine Feder. +Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten fr +Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals +sein und niemals werden. Haben wir es erst so weit +gebracht, da wir nur noch Musterautoren, Musterleser +und Musterbcher haben, dann ist das Ende da! Ich +bin so khn, zu behaupten, da wir uns nicht die +vorhandenen Musterbcher, sondern den vorhandenen Schund +zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen, +was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben. +Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht +liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, +die es verstehen, Hunderttausende und Millionen +Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel +sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt +fr die groe Seele! Schreibt nicht fr die kleinen +Geisterlein, fr die Ihr Eure Kraft verzettelt und +verkrmelt, ohne da sie es Euch danken. Denn gebt Ihr +Euch noch so viel Mhe, ihren Beifall zu erringen, so +behaupten sie doch, es besser zu knnen als Ihr, obgleich +sie gar nichts knnen! Und schreibt nichts Kleines, +wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure Augen +empor zu den groen Zusammenhngen. Dort gibt es +zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen +wohnt das wahrhaft Groe. Und wenn Ihr dabei auch +Fehler macht, so viele Fehler und so groe Fehler wie +Karl May, das schadet nichts. Es ist besser, auf dem +Wege zur Hhe zuweilen zu stolpern und diese Hhe aber +doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu +stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder gar erhobenen +Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator +immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst +anzukommen, ohne ber irgendeine Hhe gestiegen zu +sein. Denn Berge mssen wir haben, Ideale, +hochgelegene Haltepunkte und Ziele. + + Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und +laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; +aber ich befrchte nicht, da es so ist. Was ich will und +was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche +es nicht zu wiederholen. Und ich habe schon so viele +steile Hhen zu berwinden gehabt, da ich mich unmglich +fr einen jener armen Teufel halten kann, die immer +auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt +Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt +Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt +Dritte, die behaupten, da ich allerdings einen Stil habe, +aber es sei ein auerordentlich schlechter. Die Wahrheit +ist, da ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. +Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und +ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen hre. +Ich verndere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also +meine Seele, und nicht mein "Stil", sondern meine Seele +soll zu den Lesern reden. Auch befleiige ich mich keiner +sogenannten knstlerischen Form. Mein schriftstellerisches +Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genht +und dann gar gebgelt. Es ist Naturtuch. Ich +werfe es ber und drapiere es nach Bedarf oder nach +der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, +was ich schreibe, direkt, nicht aber durch hbsche +Aeuerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will nicht +fesseln, nicht den Leser von auen festhalten, sondern ich +will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in +sein Herz, in sein Gemt. Da bleibe ich, denn da kann +und darf ich bleiben, weil ich weder strende Formen +noch strendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie +mich die Seele wnscht. Da dies das Richtige ist, das +haben mir jahrzehntelange, schne Erfahrungen besttigt. +Diese aufrichtige Natrlichkeit mu, kann und darf ich +mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur +allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine +Leser nicht andere oder gar hhere knstlerische Ansprche +stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen +Arbeiten auch uerlich eine sthetisch hhere Form zu +geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt skizziere ich +noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind. + + Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten +abgerechnet, in meinen Werken keine einzige +Gestalt, die ich knstlerisch durchgefhrt und vollendet +hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, +ber die ich doch am meisten geschrieben habe. Ich bin +ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender. +Es ist in mir noch Alles in Vorwrtsbewegung, und +alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen +sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht +habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken +sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer +Dichter und Knstler, vor allen Dingen keiner unserer +groen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er +innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser +Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen +sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir +darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich +gestatten. Was bei Andern selbstverstndlich ist, das ist +bei mir entweder schlecht oder lcherlich, und was bei +Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung +gilt, das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein +einziges Mal etwas knstlerisches schreiben wollen, mein +"Babel und Bibel". Was war die Folge? Es ist als +"elendes Machwerk" bezeichnet und derart mit Spott und +Hohn berschttet worden, als ob es von einem Harlekin +oder Affen verfat worden sei. Da weicht man zurck +und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewi. +Man kann wohl literarische Hanswrste beseitigen, nicht +aber Geistesbewegungen unterdrcken, die unbesiegbar +sind. Es fllt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen, +denen doch keine Folge gegeben wrde. Unterlassen aber +darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier +berhrten Punktes ein Beispiel anzufhren, ein einziges, +welches so deutlich spricht, da ich ohne Weiteres auf +alle andern Belege verzichten kann. Nmlich ein Verein, +dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und +Verbreitung von Bchern besteht, hat bisher jhrlich +mehrere tausend Bnde von mir vertrieben. Pltzlich +stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die +Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen +kursierende Auskunft: "Hierseits wird zwar von dem +weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand +genommen, und werden die Bcher nicht mehr durch unsere +Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht +sagen, da der Inhalt der Mayschen Reiseerzhlungen +zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorstnden +unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Bcher aus den +Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige ablehnende +Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der +_Persnlichkeit_ des Verfassers. _Sie_knnen_also_ohne_ +_Bedenken_die_Bnde_weiter_ausleihen."_ Das gengt +gewi! Meinen Bchern ist nichts anzuhaben; meine +Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum? +Infolge jener "Mache", von der ich schon weiter oben +sprach. Denn man glaube ja nicht, da die "Karl +May-Hetze", oder, ein wenig anstndiger ausgedrckt, das +"Karl May-Problem" eine literarische Angelegenheit sei. +Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder +gar um ethische Grnde, sondern, die Sache beim richtigen +Namen genannt, um eine rein persnliche Abschlachtung +aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen +Grnden. Was man da von sittlichen und journalistischen +Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um +die Wahrheit zu verstecken. Wollte man hierber einen +Roman schreiben, so knnte dieser der sensationellste aller +Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen wrden +folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann +Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Mnchmeyer +in Dresden, der Franziskanermnch Dr. Expeditus +Schmidt in Mnchen, der aus der christlichen Kirche +ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in +Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Pllmann in +Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Mnchmeyer, +Dr. Gerlach in Niederlnitz bei Dresden. Dieser +Roman wrde fr die Beleuchtung der gegenwrtigen +Gesetzgebung ein hchst wichtiger sein und auch ber andere +Verhltnisse, gesellschaftliche, geschftliche, psychologische, +berraschende Streiflichter werfen. Es wrde da +viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts +weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn +auch hier zu erwhnen und zu zeigen habe, mich bemhen, +so schnell wie mglich ber ihn hinwegzukommen. + + _________ + + + VIII. + Meine Prozesse. + + _____ + +Jrgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt +in seiner Parabel "Der Schatten" zum Dichter: "Sie +wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und +schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines +und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele +Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem +weien Papier umbilden, erschaffen, verndern. Sie +wissen nicht, wie manches Menschenglck Sie tten, wie +manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer +stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den +Blumenglsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, +_da_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_ +_schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend +dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. +Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich, +wenn Ihr es wollt. Die jungen Mnner glauben +je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die +jungen Mdchen sind zchtig oder leichtfertig, wie es die +Weiber sind, die Ihr verherrlicht." + + Jrgensen hat hier vollstndig Recht. Seine Ansicht +ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit ber +die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat +einen weit grern, entweder schaffenden oder zerstrenden, +reinigenden oder beschmutzenden Einflu, als die meisten +Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere +Psychologie behauptet, nmlich "Nicht Einzelwesen, Drama +ist der Mensch", so darf man die Ttigkeit des Schriftstellers +unter Umstnden sogar eine schpferische, anstatt +nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewut +bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung +bewut, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald +wir zur Feder greifen. So oft ich dieses Letztere +tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender +nur Gutes, niemals aber Bses zu schaffen. Man kann +sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr, +da ich im Verlage von H. G. Mnchmeyer "abgrundtief +unsittliche" Bcher geschrieben haben solle. Der +Ausdruck "abgrundtief unsittlich" ist von Cardauns, dessen +Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den +bertriebensten Verschrfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann +Alles nicht nur erwiesen, sondern "zur Evidenz erwiesen", +nicht ausgesonnen, sondern "raffiniert ausgesonnen", +nicht entstellt, sondern "bis zur Unkenntlichkeit entstellt". +Darum gengte bei diesen Mnchmeyerschen Romanen, +weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort +"unsittlich" nicht, sondern es war ganz selbstverstndlich, +da sie gleich "abgrundtief unsittlich" sein muten. + + Die erste Spur von diesen meinen "Unsittlichkeiten" +tauchte drben in den Vereinigten Staaten auf. +Kommerzienrat Pustet, welcher da drben Filialen besitzt, +schrieb mir von diesem Gercht und wnschte, da ich +mich darber uere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, +da ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache +untersuchen lassen werde, wenn es sein msse sogar +gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen. +Damit war fr ihn die Sache abgemacht. Er war ein +Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es +niemals eingefallen wre, durch Hintertren zu verkehren. +Wir hatten einander gern. Auf ihn fllt ganz gewi +auch nicht die geringste Spur von Schuld an der +unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen +Hetze gegen mich. Weil das Gercht aus Amerika kam, +hatte ich zunchst drben zu recherchieren. Das erforderte +lange Zeit, und es war mir unmglich, etwas +Bestimmtes zu erfahren. Ich wute nur, da sich das +Gercht auf meine Mnchmeyerschen Romane bezog, +doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die +Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit +lag. Und auf ein bloes, vages Gercht hin alle +fnf Romane, also ungefhr achthundert Druckbogen nach +Dingen, die ich gar nicht kannte, mhsam durchzuforschen, +dazu hatte ich keine berflssige Zeit, und das war mir +auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besa, mich +anzuklagen, der mute die unsittlichen Stellen genau +kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf +wartete ich. Es meldete sich aber Keiner, der es tat. +Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die +angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich. Leider +war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm meine +Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste +Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. +Dieser hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend +gekrzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe +Korrekturen und Krzungen nie geduldet. Der Leser soll +mich so kennen lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern +und Schwchen, nicht aber wie der Redakteur mich +zustutzt. Darum teilte ich Pustet mit, da er von mir +kein Manuskript mehr zu erwarten habe. Er versuchte, +mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam er, +der alte Herr, persnlich nach Radebeul. Das war +rhrend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann +seinen Neffen, ganz selbstverstndlich mit demselben +negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die +sich an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der +Richtige, Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, da +es nie wieder geschehen solle, und daraufhin nahm ich +meine Absage zurck. Man hat mir das von gewisser +Seite bis heut noch nicht vergessen. Man drckt das +folgendermaen aus: "Heinrich Keiter hat Kotau vor +Karl May machen mssen." Ich besitze hierber +Zuschriften aus nicht gewhnlichen Hnden. Aber er trug +selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe Heinrich Keiter +geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne alle +seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, da ich +damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging +nicht anders. Ich mute die Buchform meiner +"Reiseerzhlungen" nach dem Texte des "Hausschatzes" drucken +lassen und durfte darum nicht zugeben, da an meinen +Manuskripten herumgendert wurde. + + Spter schrieb ich fr Pustet meinen vierbndigen +Roman "Im Reiche des silbernen Lwen". Ich war +grad bis zum Schlu des zweiten Bandes gelangt, da +bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel +des "Hausschatzes" geschickt, dessen Inhalt mich +veranlate, meine damalige Absage zu wiederholen. Ich +telegraphierte Pustet, da ich mitten in der Arbeit +aufhren msse und kein Wort weiter fr ihn schreiben +werde. Er mute mir sogar das in seinen Hnden befindliche, +noch ungedruckte Manuskript wieder senden, wofr +ich ihm das darauf entfallende Honorar wiederschickte. +Ich wrde hierber kein Wort verlieren, wenn +mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings von sehr unmageblicher +Seite, mit Enthllungen aus jener Zeit gedroht +worden wre. Ich habe darum die Gelegenheit wahrgenommen, +hier die Wahrheit festzustellen. Und ich stelle +zugleich noch weiter fest, da ich mit Herrn Kommerzienrat +Pustet niemals persnlich gebrochen habe und eine +aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er +nach einer Reihe von ungefhr zehn Jahren seinen jetzigen +Hausschatzredakteur, Herrn Kniglichen Wirklichen Rat +Dr. Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in Mnchen +sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter des +"Hausschatzes" zu werden. Ich habe ihm daraufhin den +"Mir von Dschinnistan" geschrieben. + + Damit bin ich den mir gemachten Vorwrfen der +Cardaunsschen "abgrundtiefen Unsittlichkeit" vorausgeeilt +und kehre nun zu ihnen zurck, um dieser Angelegenheit +auf Grund und Wurzel zu gehen. Der Grund heit +Mnchmeyer, und die Wurzel heit ebenso. Die hierher +gehrigen Tatsachen bilden eine ber dreiig Jahre lange +Kette, deren Ringe logisch, geschftlich und juristisch +innig ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist +erwiesen. Einiges liegt noch in den Akten, um an das +Tageslicht gezogen zu werden. Ich bin nicht gewillt, +den laufenden Prozessen vorzugreifen, und werde also +nur diejenigen Punkte besprechen, ber die volle Klarheit +herrscht. + + Ich habe bereits gesagt, da Mnchmeyer meine +Vorstrafen kannte. Er wute sogar Alles, was man +hinzugelogen hatte. Er wnschte sehr, da ich einen +Roman hierber schreiben mchte; ich lehnte das aber +entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und +Bekannten meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern +ganz unbefangen davon erzhlt und meine Ansichten +ber Verbrecher und Verbrechen, Schuld, Strafe und +Strafvollzug ausfhrlich dargelegt. Kein einziges Glied +der Mnchmeyerschen Familie darf behaupten, nicht +davon gewut zu haben. Auch die Arbeiter der Firma +erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, ebenso die +mitarbeitenden Schriftsteller. "May ist bestraft; er hat +gesessen," das drang bald leiser, bald lauter, aber berall +durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von pltzlichen +"Enthllungen" oder gar von meiner "Entlarvung" zu +sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt, der lgt. + + Wichtig ist, da Mnchmeyer eine ganz ausgesprochene +geschftliche Vorliebe grad fr bestrafte Mitarbeiter +hatte. Geht man die Schriftsteller und Schriftstellerinnen +durch, die fr ihn geschrieben haben, so bilden die +Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von ihnen. +Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm +eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von +dem er alles tun lie, was Niemand wissen durfte, war +vorbestraft. Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion +brachte er mir einen Wiener Postbeamten, der sich +an der Kasse vergriffen hatte, als Mitarbeiter. Als sich +hnliche Flle wiederholten und ich ihn nach seinen +Grnden fragte, antwortete er: "Mit einem Schriftsteller, +der bestraft worden ist, kann man machen, was +man will, denn er frchtet, da seine Vorstrafen verraten +werden." "Also auch ich?!" rief ich aus, erstaunt +ber diese Aufrichtigkeit. "Unsinn!" entgegnete er. "Mit +Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde! +Und Sie sind doch kein gewhnlicher Mensch, der mit +sich machen lt, was man will! Selbst wenn ich Sie +nicht aufrichtig lieb htte, bei Ihnen zge man den +Krzern!" Er gab sich Mhe, das in mir erwachte +Mitrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz +verschwinden und trug auch mit dazu bei, da ich kndigte +und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion aufgab. +Auch spter, als ich nach sechs Jahren das "Waldrschen" +fr ihn zu schreiben begann, tauchte dieses Bedenken +gegen ihn wieder in mir auf. Aber die Ausnahmestellung, +die er mir persnlich und geschftlich bei sich +einrumte, das Ausnahmehonorar, welches er mir zahlte, +und vor allen Dingen die Einwrfe, die mir meine Frau +bei jeder Gelegenheit gegen mein Mitrauen machte, das +alles wirkte dahin, da ich schlielich zu meinem frheren +Vertrauen zurckkehrte. + + Da ich von meinen Mnchmeyerschen Romanen +keine Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte +nicht mehr zurckbekam, habe ich bereits erwhnt. +Ich konnte also nicht kontrollieren, ob der Druck mit +meinem Originalmanuskript bereinstimmte. Doch war +mir hier so bestimmt Ehrlichkeit versprochen worden, da +ich einen Betrug fr ausgeschlossen hielt. Auch da +Mnchmeyer spter einmal behaupten knne, meine Romane mit +allen Rechten nicht blo bis zum zwanzigtausendsten +Abonnenten, sondern fr immer erworben zu haben, erschien +mir als unmglich, denn erstens hatte ich mir alle seine +Briefe aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich +miteinander ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte, +und zweitens hatte ich auch noch einen andern vollgltigen +Beweis in der Hand, da er diese Rechte nicht fr immer +besa. Er hatte nmlich den schriftlichen Versuch gemacht, +diese Rechte noch nachtrglich zu erwerben. Er hatte das +durch einen Revers getan, den er mir durch jenes +vorbestrafte Faktotum Walter schickte und zur Unterschrift +vorlegen lie. Ich wies aber diesen auerordentlich +pfiffigen Boten mit seinem Revers zurck. Dieser Walter +war es auch, durch den ich auf meine Anfragen immer +die schriftliche oder mndliche Versicherung bekam, da +die Zwanzigtausend noch nicht erreicht sei. Uebrigens +hatte ich nicht die geringste Sorge, weder um meine Rechte +noch um meine "feinen Gratifikationen". Meine Rechte +waren mir sicher, und Mnchmeyers standen sich jetzt in +pekunirer Beziehung so, da sie, wie ich glaubte, mehr +als blo zahlungsfhig waren. Da er mit schlechtgehenden +Romanen wieder verlor, was er an gutgehenden +verdiente, und da er sich auf Wechselreitereien eingelassen +hatte, durch welche seine Kapitalkraft arg geschdigt wurde, +davon wute ich nichts. Ich war also berzeugt, ruhig +warten zu knnen und gar keine Veranlassung zu haben, +verfrhte und darum beleidigende Forderungen zu stellen. +Uebrigens war meine Frau so vollstndig gegen alles +geschftliche Drngen und Treiben, da ich nun auch um +den ueren huslichen Frieden besorgt sein mute, falls +ich gegen Mnchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie +wnschte. Auch behaupten die Kolportageverleger, da +es in ihrer Buchfhrung viel schwieriger sei und viel +lngere Zeit erfordere, als bei andern Verlegern, +nachzuweisen, wieviel feste Abonnenten man habe. Es springen +bestndig welche ab, und es kommen bestndig welche +hinzu, darum hatte ich Geduld. + + Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger +F. E. Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich +bergab ihm den Buchverlag der bei Pustet in Regensburg +erschienenen Werke und vereinbarte mit ihm, nach diesen +dann auch die Mnchmeyerschen herauszugeben. Er nahm +die ersten sofort in Angriff, und sie gingen ausgezeichnet. +Wir waren beide berzeugt, da wir mit den Mnchmeyerschen +nicht weniger Erfolg haben wrden, stellten +die letzteren aber bis zur Vollendung der Pustetschen +Serie zurck. Jede der beiden Serien sollte dreiig +Bnde umfassen. Was daran fehlte, hatte ich noch +hinzuzuschreiben. Das ergab fr die Pustetsche Serie ungefhr +zehn Bnde, die ich noch zu liefern hatte. Das war eine +Arbeit, die mir keine Zeit lie, mich jetzt um meine +Mnchmeyerschen Sachen zu bekmmern. Darum mute mich +auch die unerwartete Nachricht, da Mnchmeyer pltzlich +gestorben sei, geschftlich vollstndig gleichgltig lassen. +Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als +ich hrte, da seine Witwe das Geschft im Namen der +Erben weiterfhre, war ich fr mich beruhigt. + + Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline +Mnchmeyer schickte mir einen Boten, der den Auftrag +hatte, mich auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein +werde, ihr einen neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote +war auch ein "Vorbestrafter". Ich lie ihn unverrichteter +Sache wieder gehen, ohne ber die Ursache seiner Sendung +besonders nachzudenken. Ich wute damals nicht, was +ich erst viel spter erfuhr, nmlich da es mit +Mnchmeyers nicht so glnzend stand, wie ich dachte. Man +hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem +Entschlusse gelangt, durch einen neuen Roman von Karl +May die Lage zu verbessern. Ich hatte weder Zeit +noch Lust, ihn zu schreiben, beschlo aber fr den Fall, +da man den Versuch erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen +einzutreten, um ber die Erfolge meiner bisherigen +Romane etwas Bestimmtes zu erfahren. Und die +Wiederholung des Versuches kam. Frau Mnchmeyer +stellte sich selbst und persnlich bei uns ein. Sie besuchte +uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar Vorausbezahlung +des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum Walter +und lie Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den Bescheid, +da ich nicht eher etwas Neues liefern knne, als +bis ber das Alte volle Klarheit geschafft worden sei. +Ich msse unbedingt erst wissen, wie es mit der +Abonnentenzahl meiner fnf Romane stehe; die Zwanzigtausend +msse doch schon lngst erreicht worden sein. Frau +Mnchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau +zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen. +Wir stellten uns ein. Sie gestand ein, da die Zwanzigtausend +erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht +nur bei einem; nur msse es erst noch genau berechnet +werden, und das sei in der Kolportage so ungemein +schwierig und zeitraubend. Ich mge mich also in Geduld +fassen. Was meine Rechte betreffe, so fallen diese mir +hiermit wieder zu, ich knne die Romane nun ganz fr +mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir meine +Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken +lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde +mir an ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und +sie vorher extra fr mich in Leder binden lassen. Das +geschah. Nach kurzer Zeit kamen die Bcher durch die +Post; ich war wieder Herr meiner Werke -- -- -- so +glaubte ich! Freilich war es mir unmglich, sie sofort +herauszugeben, weil die Pustetschen vorher zu erscheinen +hatten. Ich legte die Bcher also fr einstweilen zurck, +ohne mich mit der Prfung ihres Inhaltes befassen +zu knnen. Ich hatte meinen Zweck erreicht, und von +der Abfassung eines neuen Romanes war keine Rede +mehr. Frau Mnchmeyer lie nichts mehr von sich hren. +Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, da nun +doch die "feinen Gratifikationen" fllig waren, deren +Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich +aber drngte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte +das Geld nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht +bergehen, da meine Frau whrend dieser ganzen Zeit +sich alle Mhe gab, mich von geschftlicher Strenge gegen +Frau Mnchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe fr +Mnchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund +der sonst unbegreiflichen Nachsicht, die ich bte. + + Ich stand grad im Begriff, eine lngere Reise nach +dem Orient anzutreten, als ich erfuhr, da Frau Mnchmeyer +ihr Geschft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort +einen Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane +mit zu verkaufen. Ich legte ihr alles hierauf Bezgliche +dar und ging zunchst nach Obergypten. Von dort nach +Kairo zurckgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich +erfuhr, da der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen +sei; der Verkufer [sic] heie Fischer. Ich zgerte nicht, an +diesen Herrn zu schreiben. Er antwortete mir im +Kolportageton, da er das Mnchmeyersche Geschft nur wegen +der Romane von Karl May gekauft habe. Alles Andere +sei nichts wert. Er werde diese meine Sachen so +ausbeuten, wie es nur mglich sei, und mich, falls ich ihn +daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser Ton +fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr +minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mute diesem +mir vollstndig unbekannten Herrn Fischer in einer Art +geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit +verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir ber diesen +Fall sofort und so ausfhrlich wie mglich zu berichten. +Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau an. +Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn +Tage, in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und +telegrafierte, doch vergebens; es kam kein Bericht. Endlich +erhielt ich einige Zeilen, in denen sie mir sagte, da +sie in Paris gewesen sei, aber weiter nichts. Als in +Massaua, der Hauptstadt von Erythra am roten Meere, mein +arabischer Diener mir die Post brachte, quoll mir eine +Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus denen ich, der +gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat +inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine +Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner +Mnchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit +derartigen Reklametrompetensten, da alle Welt auf +dieses Unternehmen aufmerksam werden mute. Mein +Name war genannt, obgleich ich diese Romane, nur einen +ausgenommen, pseudonym geschrieben und Mnchmeyer +verpflichtet hatte, diese Pseudonymitt auf keinen Fall +zu brechen. Zugleich stellte sich heraus, da mit den +Romanen eine Umarbeitung vorgenommen werden sollte. +Mir wurde himmelangst. Ich schrieb heim und beauftragte +einen dortigen Freund, dem ich vollstndig vertrauen +konnte, sich einen Rechtsanwalt zu Hilfe zu nehmen +und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu fhren, wenn +ntig sogar gerichtlich. + + Dieser Freund hie Richard Plhn und war der +Besitzer der "Schsischen Verbandstoffabrik" in Radebeul, +die er gegrndet hatte. Man wird bald sehen, warum +ich fr kurze Zeit bei ihm verweile. Er war auerordentlich +glcklich verheiratet. Seine Familie bestand nur aus +ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir waren +so innig mit einander befreundet, da wir einander Du +nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten. +Aber auer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu +sagen, das brachte Plhn nicht fertig. Er versicherte, da +ihm dies unmglich sei. Frau Plhn ist jetzt meine Frau. +Es ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder +gar Vorzgen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische. +Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bcher +gelesen. Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr +ebenso unbekannt und gleichgltig wie meine Ziele und +Ideale berhaupt. Frau Plhn aber war begeisterte Leserin +von mir und besa ein sehr ernstes und tiefes Verstndnis +fr all mein Hoffen, Wnschen und Wollen. Ihr Mann +freute sich darber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes +Arbeiten, oft dreimal wchentlich die ganze Nacht +hindurch, keine helfende Hand, kein warmer Blick, kein +aufmunterndes Wort; ich stand innerlich allein, allein, +allein, wie stets und allezeit. Das tat ihm wehe. Er +versuchte, durch seine Frau auf die meinige einzuwirken, +damit diese mir wenigstens die strende Korrespondenz +abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu +erlauben, da diese es tue; das werde fr sie und ihn +eine groe Freude sein. Ich gestattete es den beiden +guten Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in +der Hand von Frau Plhn. Tausenden von Leserinnen +und Lesern ist ber der Unterschrift von "Emma May" +geantwortet worden, ohne da sie wuten, da es nicht +meine Frau, sondern eine schwesterliche Helferin war, +die mir meine Last erleichterte. Sie arbeitete sich mehr +und mehr in meine Gedankenwelt und meinen Briefwechsel +ein, so da ich ihr schlielich die ganze, umfangreiche +Korrespondenz getrost berlassen konnte. Ihr Mann +war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter, +eine einfach gewhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau, +die gar zu gern auch mitgeholfen htte, wenn es mglich +gewesen wre, denn auch sie besa eine Seele, die nicht +unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte. + + Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit +so krftig wie mglich in die Hand zu nehmen, und +er tat es, so gut er konnte. Er bergab die prozessuale +Durchfhrung einem Dresdener Rechtsanwalt und +benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, da ich +augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber +nicht zgern werde, mich bei der beabsichtigten +Vergewaltigung zu erwehren. Mehr konnte fr den Augenblick +nicht getan werden, weil es mir unmglich war, meine +Reise abzubrechen. Von meiner Frau bekam ich keine +Nachricht. Es war ihr unmglich, sich um so ernste, +geschftliche Angelegenheiten zu bekmmern. Plhns aber +schrieben, doch konnten mich diese Briefe erst in Padang +auf der Insel Sumatra erreichen. Sie lauteten +aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen +Mnchmeyerschen Romanen zu beschftigen, und zwar in +einer fr mich ungnstigen Weise. Es wurden Gerchte +ber mich verbreitet, die teils lcherlich, teils gewissenlos +waren. Man las in den Zeitungen, da ich mich gar +nicht im Orient befinde, sondern mich wegen einer +bsartigen Krankheit im Jodbad Tlz, Oberbayern, versteckt +habe. Htte ich geahnt, da das in dieser lgenhaften, +gehssigen und bswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt +weitergehen werde, so wrde ich meine Reise doch +unterbrochen und schleunigst nach Hause zurckgekehrt sein. +Htte ich das getan, so wren mir alle die unmenschlichen +Martern und Qualen, die ich whrend dieser langen +Zeit ausgestanden habe, erspart geblieben. Leider aber +wute ich damals noch nicht, was mit meinen Romanen +vorgegangen war und welche Leitgedanken im Mnchmeyerschen +Geschft ber mich kursiert hatten und heute +noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der +Ferne beilegen zu knnen und hielt nichts weiter fr +ntig, als eine genaue Information, aus der sich die +einzuschlagenden Schritte zu ergeben htten. Ich schrieb +also heim, da meine Frau mit Plhns nach Aegypten +kommen mchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen +wrde. Sie kamen, aber sehr versptet, weil +Plhn unterwegs krank geworden war. Was ich von +ihnen erfuhr, lautete keineswegs gnstig und klang +auerdem sehr unbestimmt. Der Rechtsanwalt stand immer +noch erst bei den Vorbereitungen. Fischer hatte erklrt, +sich auf das Aeuerste wehren zu wollen; meine Romane +habe er von Frau Mnchmeyer gekauft; sie seien sein +wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er +machen knne, was er wolle. Die Zeitungen waren +gegen mich eingenommen. Meine Mnchmeyerschen +Romane wurden als Schundromane bezeichnet. Ich sah +ein, da ein Proze mit Mnchmeyers nicht zu umgehen +war, und fragte meine Frau nach den fr mich hierzu +ntigen Dokumenten. + + Ich habe bereits gesagt, da ich mir Mnchmeyers +Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war fr einen +Proze gegen Mnchmeyer derart beweiskrftig, da ich +ihn glattweg gewinnen mute. Diese Briefe waren nebst +andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten +Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner +Abreise meine Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt +ganz besonders aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der +Briefe ganz besonders erklrt und sie aufgefordert, dafr +zu sorgen, da ja nicht das geringste Blttchen davon +verloren gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen +Dokumenten fragte, versicherte sie mir, da sie noch genau +so lgen, wie ich sie ihr bergeben habe. Kein Mensch +habe sie berhrt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete +den sicher gewonnenen Proze. Als meine Frau mir +diese Versicherung gab, stand Frau Plhn dabei und +hrte es. Sie sah sie gro an, sagte aber nichts. Das +fiel mir damals nicht auf; spter aber, als ich mich +dieses groen, erstaunten, mibilligenden Blickes erinnerte, +wute ich nur allzu gut, was er hatte sagen sollen. +Meine Frau war nmlich eines Abends zu Frau Plhn +gekommen und hatte ihr mitgeteilt, da sie soeben unsern +Trauschein verbrannt habe, der Vorbedeutung wegen, +die sich damit verbinde. Und einige Zeit spter hatte +sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, da sie nun +auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten genommen +und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, da ich +Mnchmeyers verklage. Frau Plhn war hierber entsetzt +gewesen, hatte aber die vollendete Tatsache nicht zu +ndern vermocht. Jetzt, als sie die Versicherung meiner +Frau mit anhren mute, da die Briefe noch unberhrt +vorhanden seien, gab es in ihr den ersten Ri zu jener +innern Scheidung, die erst dann auch uerlich zu Tage +trat, als nichts mehr verheimlicht werden konnte. Wir +reisten nach Aegypten, Palstina, Syrien, ber +Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause. Whrend +dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen +immer dabei geblieben, da die Dokumente vllig +unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lgen. Sie +wurde schlielich zornig und verbat sich jede weitere +Erwhnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster +Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten +-- -- -- leer! Hierber zur Verantwortung gezogen, +erklrte sie, da sie die Briefe allerdings verbrannt und +vernichtet habe. Sie sei stets eine Freundin Mnchmeyers +gewesen und sei es auch noch heute. Sie wisse zwar, +da ich recht habe, aber sie dulde nicht, da ich +Mnchmeyers verklage. Darum habe sie die Papiere +verbrannt. Man kann sich denken, wie mir zu Mute war, +aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon jahrelang +in solchen Fllen zu tun gewohnt war, ich war still, +nahm den Hut und ging. + + Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich +immer zahlreicher und deutlicher geworden. Man +beschuldigte mich, zu gleicher Zeit fromm und unsittlich +geschrieben zu haben. Ich nahm die Romane her, die mir +Frau Mnchmeyer hatte einbinden lassen, und fand, da +man von meinen Originalmanuskripten abgewichen war +und sie verndert hatte. Also darum hatte man die +Manuskripte verbrannt, anstatt sie fr mich aufzuheben! +Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen knnen! +Das Erste, was ich tat, war, da ich die Presse hiervon +benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung +abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich +wollte die Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern +des Strafprozesses verfolgen, stie dabei aber auf solchen +Widerstand bei meiner Frau, da ich darauf verzichtete. +Ich befragte mich bei verschiedenen Rechtsanwlten, +nicht nur in Dresden, sondern auch in Berlin und +anderswo. Ich htte so gern gleich direkt wegen der +"abgrundtiefen Unsittlichkeiten", die mir vorgeworfen +wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig versichert, +da dies unmglich sei. Eine Klage knne nicht auf +ideale Dinge gerichtet, sondern msse materiell begrndet +sein. Ich msse vor allen Dingen beweisen, da ich der +rechtmige Eigentmer der betreffenden Romane sei, +und also das Recht besitze, zu verklagen. Am Besten sei +es, die Klage auf "Rechnungslegung" zu richten. Das +geschah. + + Um diese Zeit war es, da sich der Kufer des +Mnchmeyerschen Geschftes, Herr Fischer, bei mir +meldete. Ich hatte keinen vernnftigen Grund, ihn +abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war +eine hochinteressante, sowohl psychologisch als auch +prozessual. Fischer machte gar kein Hehl daraus, da er +wisse, ich sei vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg +am Rocken habe, der solle sich wohl sehr hten, zu +prozessieren, sonst knne die Sache sehr leicht ein anderes +Ende nehmen, als man denke. Meine Romane seien jetzt +sein Eigentum. Man habe sie schon frher verndert, +und nun lasse er sie von Neuem umarbeiten, ganz so, +wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn prozessiere, so +knne das lnger als zehn Jahre dauern; aber bis dahin +sei ich lngst kaput. Er sei aber gekommen, mir die +Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich +solle ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf +meine Romane und liefere sie mir mit allen Rechten aus. +Dann sei es mir leicht, die ganze Aufregung der Presse +gegen mich mit einem einzigen Schlage zum Schweigen +zu bringen. Er biete mir seine Hilfe dazu an. Er wisse +mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze Mnchmeyerei. +Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter siebzigtausend +Mark knne er nicht verzichten, denn er habe +hundertfnfundsiebzigtausend Mark bezahlt. + + Es ist ganz selbstverstndlich, da ich auf diesen +Vorschlag nicht einging. Ich erklrte ihm, da ich keinen +Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei. +Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten +werde, ob gegen ihn oder gegen Mnchmeyers Witwe. +Er rate mir zu dem Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich +als Zeuge dienen knne, denn er sei mit dieser +Frau keineswegs zufrieden, sondern stehe in +immerwhrendem Streit mit ihr. Hierauf entfernte er sich +mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen in +Acht zu nehmen. + + Ich war gewillt, Frau Mnchmeyer zu verklagen. +Aber meine Frau und, wohl infolgedessen, auch mein +Rechtsanwalt bestimmten mich, hiervon abzusehen. So +wurde also Fischer verklagt. Aber die Witwe schien +keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel +ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei +und ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang +mir, gegen Fischer eine einstweilige Verfgung zu +erreichen, welche ihm verbot, meine Romane weiterzudrucken. +Er durfte nur noch komplettieren. In dieser fr ihn +sehr heiklen Lage kam er mit meinem Rechtsanwalt zu +sprechen und klagte ber den Verlust, der ihm dadurch +entstehe; dieser betrage schon vierzigtausend Mark. Wenn +das nicht aufhre, msse er sich noch ganz anders wehren +als bisher und mich durch die Verffentlichung meiner +Vorstrafen in allen Zeitungen vor ganz Deutschland +kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese Drohung +mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu begreifen +und fhlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu sondieren. +Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir zustande, +in einer separierten Weinstube, unter vier Augen. +Da wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er +whrend der Verkaufsverhandlungen von Mnchmeyers +ber mich und meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr +den ganzen Feldzugsplan, von dem ich bisher keine +Ahnung gehabt hatte. Es war ihm weisgemacht worden, +ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, weil ich als +Lehrer Umgang mit Schulmdchen gepflogen habe. Das +passe auerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen, +da ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche +das nur zu verffentlichen, so sei ich fr immer kaput. +Ich sei jetzt ein berhmter Mann und habe mich vor +solchen Verffentlichungen zu hten; das wisse man ebenso +gut wie ich selbst. Was ich mit Mnchmeyer ber meine +Romane ausgemacht habe, sei gleichgltig. Mnchmeyer +sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwren habe. +Und da May den Eid nicht bekomme, dafr werde man +zu sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe, +die es gebe. Man brauche ihm nur mit der Verffentlichung +zu drohen, so nehme er gewi jeden Proze zurck. +Es gengen zwei Zeilen an ihn, so ist er still. +"Den haben wir in der Hand!" + + In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen, +und daraufhin hatte er das Geschft gekauft. So +versicherte er mir. Da meine Romane verndert worden +seien, das wisse er. Nur wisse er nicht genau, von wem. +Wahrscheinlich von Walter. Der habe ja weiter gar +nichts Anderes als solche Sachen zu machen und +dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar +nicht schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur +ein Wort zu ndern oder einige Worte hinzuzufgen, so +ist die "Unsittlichkeit" da, ohne die es bei solchen +Romanen nun einmal nicht abgehen will. Ich knne diese +Aenderungen sehr leicht nachweisen; ich brauche nur +meine Originalmanuskripte vorzulegen. + + "Aber die sind ja verbrannt!" fiel ich ein. + + Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede. +Er behauptete, sie seien noch da. Er knne sie mir +verschaffen, aber freilich unter den jetzigen Verhltnissen +nicht, wo ich sein Prozegegner sei und ihn mit meiner +einstweiligen Verfgung zugrunde richte. Er knne nur +dann mein Helfer sein und als Zeuge fr mich eintreten, +wenn ich diese Verfgung fallen lasse und mich mit ihm +vergleiche. + + Diese Unterredung war fr mich von unendlicher +Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte +mich, ob ich trauen drfe. Waren die Originalmanuskripte +wirklich noch da, so konnte ich allerdings alle +gegen mich gerichteten Vorwrfe, wie Fischer gesagt +hatte, mit einem Schlage verstummen machen. Aber er +konnte mich tuschen wollen oder auch selbst getuscht +worden sein. Ich durfte nicht vorschnell entscheiden; ich +mute beobachten und berlegen, zumal diese Wendung +meiner Angelegenheit in eine Zeit fiel, in der mich +schwere, innerliche Kmpfe derart beschftigten, da ich +fr Anderes weder Zeit noch Raum zu finden vermochte. +Das war die Zeit meiner Ehescheidung. + + Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen +Betrachtung der Ehe, da diese ein Sakrament +sei. Wenn ich nicht dieser Ansicht wre, so htte ich +diesen Schritt schon lngst getan und nicht erst dann, +als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze +innere und uere Existenz zu retten galt. Man hat +mir diesen Schritt in hohem Grade belgenommen, sehr +mit Unrecht. Katholische Kritiker, die anstatt auf +sachlichem Gebiete zu bleiben, ihre Angriffe auf das +persnliche hinberspielten, haben mir in einem Atem +vorgeworfen, da ich Protestant sei und mich von meiner +Frau habe scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil +ich als Protestant gelte, hat kein Mensch das Recht, mir +den zweiten Vorwurf zu machen. Fr jeden nur einigermaen +anstndigen Menschen ist die Ehescheidung eine +Angelegenheit von selbstverstndlichster Diskretion. Die +meinige aber hat man in den Zeitungen herumgetragen, +mit den widerlichsten Randglossen versehen und zu den +ungeheuerlichsten Verdchtigungen ausgenutzt. Ich will +das Alles hier bergehen, um meine Bemerkungen, falls +ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer Stelle zu +machen. Diese Zeit war nicht nur fr mich, sondern +auch fr Frau Plhn eine beinahe tdliche, weil sie ihr +den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte, +wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe +bereits gesagt, da Plhn auf der Reise nach Aegypten +krank geworden sei. Er erholte sich nur scheinbar +wieder. Das Uebel repetierte, nachdem er in die Heimat +zurckgekehrt war. Ein Jahr spter kam der Tod. Frau +Plhn brach fast zusammen. Wre ihre Mutter nicht +gewesen, so wre sie ihrem Manne sicher nachgestorben. +Glcklicherweise bot ihr auch die Korrespondenz, die sie +fr mich mit meinen Lesern fhrte, die seelische Erleichterung +und Untersttzung, deren sie bedurfte. Sie besa +zwei Zinshuser in Dresden, die sie gern gegen ein ihr +angebotenes Landgrundstck verkaufen wollte, welches zu +dem Dorfe Niedersedlitz gehrte. Dorthin hatte Fischer +seine Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung +lag da. Frau Plhn bat mich, sie zur Besichtigung +dieses Grundstckes zu begleiten, und als wir uns nun +einmal in Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe, +dies Fischer wissen zu lassen. Er lud uns nach seiner +Privatwohnung ein, und es entspann sich da eine +Verhandlung, welche am nchsten Tage zu einem Vergleiche +fhrte. + + Ich will so kurz wie mglich sein. Fischer klagte +darber, da er sich durch den Kauf des Mnchmeyerschen +Geschftes zum "Schundverleger" degradiert habe; +er versicherte, da er sich heraussehne, und er behauptete, +da ich ihm dazu behilflich sein knne wie kein Anderer. +Dieses Letztere war auch ich berzeugt. Er hatte die +vernderten Romane erworben, ohne da Frau Mnchmeyer +das Recht besa, sie ihm zu verkaufen. Wenn er +dafr sorgte, da ich meine Originalmanuskripte +zurckerhielt, konnte er die Schundarbeiten fallen lassen und +an ihrer Statt meine Originale herausgeben; da war +ihm und zugleich auch mir geholfen; er war kein +Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, da ich nichts +Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke +des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben, +war ich berzeugt, da aller Streit gehoben sei. Fischer +bezeugte mir damals ffentlich in den Zeitungen, da die +unsittlichen Stellen meiner Mnchmeyerromane _nicht_aus_ +_meiner_Feder_stammen,_sondern_von_dritter_ +_Hand_hineingetragen_worden_seien._ + + Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als trgerisch. +Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht +bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich +vernichtet. Es war ihm also unmglich, sich aus einem +"Schundverleger", wie er sich in einem Briefe an mich +bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er +machte zwar den Versuch, auch ohne meine +Originalmanuskripte zu einem Originalroman zu kommen, um +den Schund dann fallenlassen zu knnen, aber ich mute +ihm dabei die Hilfe, die er von mir forderte, versagen. +Er verlangte nmlich von mir, da ich den Schund aus +dem Gedchtnisse in seine frhere, einwandfreie Fassung +zurckverndere; das aber war bei einer Flle von +ungefhr dreiigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding +der absolutesten Unmglichkeit. Er bestand aber auf +seinen [sic] Schein, auf unsern [sic] Vergleich, und obgleich er das +nicht leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich +doch Alles tun, was grad seinetwegen unmglich war. +Daraus ergab sich ein neuer Zwist und ein neues Kmpfen, +welches sich ber seinen Tod hinaus erstreckte und +erst von seinen Erben zum friedlichen Ende gefhrt worden +ist. Diese sahen klarer als er, und sie waren ruhigen, +unbefangenen Gemtes. Sie waren Fachleute, nmlich +Rechtsanwlte, Kaufleute, Buchdruckerei- und +Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu folgender +Erklrung: + +| "In einem zwischen Herrn Karl May und | +| den Erben des Herrn Adalbert Fischer anhngig | +| gewesenen Rechtsstreite haben die Fischerschen | +| Erben erklrt, da die im Verlage der Firma | +| H. G. Mnchmeyer erschienenen Romane des | +| Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit | +| durch Einschiebungen und Abnderungen von | +| dritter Hand eine derartige Vernderung erlitten | +| haben, da sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr | +| als von Karl May verfat gelten knnen. Herr | +| May ist zur Verffentlichung dieser Erklrung | +| ermchtigt worden. | + +| Dresden, im Oktober 1907. | + + Unterzeichnet ist diese Erklrung von Frau Elisabeth +verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert, +Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred +Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein, +Rechtsanwalt Dr. Elb. Leichtfertige Menschen +haben behauptet, da diese Erklrung nur von Kindern +und unmndigen Personen abgegeben worden sei. Man +sieht auch hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich +kmpft. Fr mich aber ist die Abteilung Fischer meines +Mnchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung +Pauline Mnchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr +habe ich mich in Folgendem nun zuzuwenden. + + Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm, +welches ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen, +nmlich: + +| "May ist vorbestraft. Er hat das zu | +| verheimlichen. Wir haben ihn in der Hand. Zwei | +| Zeilen gengen, so ist er still. Wenn er uns | +| verklagt, so machen wir ihn durch Verffentlichung | +| seiner Vorstrafen in allen Zeitungen | +| durch ganz Deutschland kaput. Was May mit | +| Mnchmeyer ausgemacht hat, ist gleichgltig. | +| Hauptsache ist, wer den Eid bekommt. Und da | +| May ihn nicht bekommt, dafr wird man zu | +| sorgen wissen." | + + Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim +geuert, sondern auch durch seine Aussage in den Akten +festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun neunjhrigen +Rechtsstreites ununterbrochen besttigt worden. Von dem, +was Rechtsanwalt Dr. Gerlach im Namen seiner Klientin +Pauline Mnchmeyer alles unrichtiger Weise behauptet +oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen. Mich +aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen +hingestellt, der in hchstem Grade eidesunwrdig +ist. Es ist mir unmglich, alle die beleidigenden Schimpfworte +hier aufzuzhlen, mit denen er mich nun schon seit +neun Jahren berschttet, ohne da ich ihn dafr bestrafen +lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz +grad jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von +ihm zu dulden, was sich kein Anderer jemals erlaubt. +Von den Richtern wiederholt zurechtgewiesen und von +andern Anwlten zur Rede gestellt, bleibt er dieser seiner +Spezialitt doch treu. Zur Ausfhrung des Mnchmeyerschen +Programms war es zunchst ntig, zu meiner +Strafliste zu gelangen. Zu diesem Zweck wurde eine +Beleidigungsklage fingiert, die man sofort zurcknahm, +als der Zweck erreicht war. Von da an tauchten in den +Zeitungen mehr oder weniger verblmte Notizen ber +meine Vergangenheit auf. "Ich wei noch mehr!" schrieb +der Eine; "Sie wissen wohl, was ich meine, Herr May?" +fragte der Andere. Das "Kaputmachen" begann. Aber +der Spiritus rector, der eigentliche Tter, blieb stets +schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte +stets durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit ber seine +Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein +sehr umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er +steht mit allen meinen literarischen Gegnern in inniger +Beziehung, und wo in einem Blatt von mir die Rede +ist, da pflegt ein Brief von ihm oder von einem seiner +Vertrauten sich einzustellen. Und man glaubt ihm fast +berall. Man glaubt ihm, wie Cardauns seinerzeit dem +Lgner glaubte, der ihm weismachte, da ich die +Mnchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie im Druck +erschienen sind. + + Dieser Herr Dr. Hermann Cardauns ist von dem +sehr dunklen und sehr hlichen Punkte, den man in der +zeitgenssischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze +bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders +gewollt. Er steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er +eigentlich nicht gehrt. Er hat auch das gewollt. Sein +niederschmetternder Stil, seine infallible Ausdrucksweise, +seine "abgrundtiefen" oder "evidenten" Verdoppelungsworte +haben Schule gemacht, besonders bei denen, welche +mir Stricke drehen, um mich "aus der deutschen Kunst +hinauszupeitschen." Aber alles, was er in Vortrgen +und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und +zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Sule, +an der niemand zu rtteln vermag, sondern einen aus +lauter vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, +dessen Schnur niemand mehr halten will, es sei denn +Herr Cardauns selbst. Es ist gewi sehr viel blinder +Glaube dazu ntig, gleich ihm zu denken, da meine +"Unsittlichkeiten" auch noch in anderer Weise bewiesen +werden knnen, als nur durch Vorlegung meiner +Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es nicht; auch +Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht bewiesen +werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufstzen +gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen +Beweisen, die er ber meine Schuld besitze; aber +bis jetzt habe ich noch kein einziges Aktenstck und kein +einziges Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser +Herr besitzt einen lteren Mnchmeyerschen Druck und +eine sptere Fischersche Ausgabe und hlt den ersteren +fr gleichlautend mit meinem Originale. Es ist fr mich +aber wirklich unmglich, da einem "Haupt- oder +Chefredakteur" solche Irrungen passieren knnen. Ich gebe +ja gern zu, da er keine Ahnung davon hat, wie es in +einem berchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht +und was fr Schwindel da getrieben wird, aber das ist +keine Entschuldigung, sondern eine Belastung fr ihn, +denn wenn er das nicht wei, so sollte er sich auch nicht +gestatten, Schlsse mit der Logik des Kolportageschmutzes +zu ziehen, die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute +ziehen darf. Die ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten +Schundromane hatte Fischer nur den berlauten Trommel- +und Paukenschlgen des Herrn Cardauns zu verdanken. +Selbst der unfhigste Politikus wei, da man solche +Dinge durch Schweigen ttet, nicht aber durch Gongs +und Tamtams. Mir aber, der ich durch diese Tamtams, +diese Vortrge und Zeitungsartikel erschlagen werden +sollte, wurde es durch sie unmglich gemacht, den Schund +so, wie ich wollte, gnzlich aus der Welt zu schaffen. +Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns meine +Gegner frderte, indem er mich hinderte, hat er sich um +die Mnchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben, +welches man ihm nie vergessen wird. Er ist whrend +der ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion +gewesen, ob gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf +die Wirkung gleich. + + Der zweite, den ersten auch geistig hoch berragende +Champion fr die Mnchmeyersache ist der aus der +christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. +Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg. Ich gebe ber +ihn einen Auszug meines Schriftsatzes an die vierte +Strafkammer des Kniglichen Landgerichtes III in Berlin: + + "Ich reiste im Jahre 1902 im Sden und wurde +am Gardasee von einer heimatlichen Postsendung erreicht, +bei der sich auch eine Zuschrift eines gewissen Lebius +befand, der sich in ganz berschwenglicher Weise als einen +groen Kenner und Bewunderer meiner Werke bezeichnete +und die Bitte aussprach, mich einmal besuchen zu drfen. +Diese Ueberschwnglichkeit erregte sofort meinen Verdacht. +"Der will Geld, weiter nichts," sagte ich mir. +Ich antwortete ihm, da ich nicht daheim sei und ihn +also nicht empfangen knne. Hierauf schrieb er mir am +7. April 1904: + + "Sehr geehrter Herr! + + Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich + Ihnen zu nhern, wovon die inliegende Karte ein + Beweis ist. Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung + herausgegeben, die groen Anklang findet. Knnen + Sie mir vielleicht etwas fr mein Blatt schreiben? + Vielleicht etwas Biographisches, die Art, nach der Sie + arbeiten, oder ber derartige Einzelheiten, fr die sich + die deutsche May-Gemeinde interessiert. Ich wrde + Sie auch gern interviewen. + + _Mit_vorzglicher_Verehrung_ + Rudolf Lebius, + Verleger und Herausgeber." + + Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfltig +aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er +unterschrieb sich "mit vorzglicher Verehrung." Ich sagte +mir wieder: "der will nur Geld." Die Behauptung, da +seine neue Zeitung "groen Anklang finde", entsprach +der Wahrheit nicht. Ich sollte damit gekdert werden. +Man darf den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal +wenn sie mit einer wenn auch noch so kleinen Zeitung +bewaffnet sind, sonst rchen sie sich. Ich schrieb ihm also, +da er kommen drfe, und er antwortete am 28. April: + + "Vielen Dank fr Ihr liebenswrdiges Schreiben. + Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natrlich gern + Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben, + komme ich am Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen + (Abfahrt 3,31). + + _Mit_groer_Hochachtung_und_Verehrung_ + Rudolf Lebius." + +Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen. +Ich duldete das nicht. Er wurde von meiner Frau, die +ihn empfing, nur unter den Bedingung zu mir gelassen, +da absolut nichts verffentlicht werde. Er gab erst ihr +und dann auch mir sein Wort darauf. Er blieb zum +Kaffee, und er blieb bis nach dem Abendessen. Er sprach +sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich war absichtlich +schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt ntig war. +Ich traute ihm nicht und hatte, um spter einen Schutzzeugen +zu haben, zugleich mit ihm den Militrschriftsteller +und Redakteur Max Dittrich eingeladen, der an meiner +Stelle die Unterhaltung leitete. + + Lebius trank viel Wein, whrend ich nur nippte. +Er wurde um so lebhafter, je ruhiger und wgsamer ich +blieb. Er gab sich alle Mhe, mich und meine Frau +davon zu berzeugen, da er "ein ganzer Kerl" sei. So +lautete sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er +sprach unablssig von seinen Grundstzen, seinen Ansichten, +seinen Plnen, von seiner groen Geschicklichkeit, seinen +reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen +als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger, +Herdenfhrer und Volkstribun. + + Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren, +geschah in einer Weise eines ganz gewhnlichen, unvorsichtigen +Menschen, der so von seinen eigenen Vorzgen berzeugt +ist, da er gar nicht daran denkt, andere knnten darber +lachen. Als er sah, da nichts bei mir verfing, wurden +seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mute von seiner +Vortrefflichkeit berzeugt werden, um jeden Preis! Denn +er brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er +auf mich gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum +offenbarte er uns in seiner Geldangst seine verborgensten +Geschfts- und Lebensgrundstze. Er glaubte infolge des +vielen Weines, uns dadurch zu gewinnen, stie uns dadurch +aber um so sicherer ab. Da ich mich hier kurz zu fassen +habe, gebe ich von diesen seinen Grundstzen nur die drei +wichtigsten wieder. Nmlich: + + 1. Wir Redakteure und Journalisten haben gewhnlich + kein Geld. Darum drfen wir uns auch keine eigene + Meinung gestatten. Wir wollen leben. Darum + verkaufen wir uns. _Wer_am_meisten_zahlt,_ + _der_hat_uns! + + 2. Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter + und in seinem Leben. _Auch_jeder_Arbeitgeber,_ + _jeder_Beamte,_jeder_Polizist,_jeder_ + _Richter_oder_Staatsanwalt_hat_solches_Werg_ + _an_seinem_Rocken._ Das mu man klug und + heimlich zu erfahren suchen. Keine Mhe darf dabei + verdrieen. Und ist es erforscht, so hat man + gewonnenes Spiel. Man bringt in seinem Blatte + eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, da + man alles wei, doch so, da er nicht verklagen + kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann + mit ihm machen, was man will. Er gibt klein + bei. In dieser Weise habe ich meinen Lesern schon + auerordentlich viel gentzt! + + 3. Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in + Schafe und Bcke, in Herren und Knechte, in + Gebietende und Gehorchende. Wer aufhren will, + Herdenmensch zu sein, _der_hat_das_ + _Herdengewissen_bei_Seite_zu_legen._ Wenn er das + tut, dann laufen alle, die dieses Gewissen noch mit + sich schleppen, hinter ihm her. Es ist ganz gleich, + zu welcher Herde er gehren will. Er kann von + einer zur anderen bertreten, kann wechseln. Das + schadet ihm nichts. Nur hat er dafr zu sorgen, + da es mit der ntigen Wrme und Ueberzeugung + geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die + Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen + nach! + + Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hrten, +brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau +war still vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den +Ekel zu verwinden! Lebius bekam infolge dessen weder +Geld noch sonst etwas von mir. Da sah er ein, da +diese beispiellose Selbstentlarvung nicht nur ganz umsonst +gewesen sei, sondern da er sich durch sie in unsere Hnde +geliefert hatte. Wir drei waren nun die gefhrlichsten +Menschen, die es fr ihn gab. _Er_durfte_uns_nie_ +_vor_Gericht_zu_Worte_kommen_lassen,_ sondern mute +alles tun, _uns_als_unglaubhafte,_eidesunwrdige_ +_Personen_hinzustellen._ Ich lege groen Wert darauf, +dies ganz besonders zu betonen, denn + | es ist der einzig richtige Schlssel zu seinem | + | ganzen spteren Verhalten, welches man | + | ohne diesen Schlssel wohl kaum begreifen | + | knnte, weil der Ha dieses Mannes gegen | + | uns drei fast unmenschlich erscheint. | + + Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich +entfernte, beklagte ich mich absichtlich ber die vielen +Zuschriften, in denen man mich, den gar nicht reichen Mann, +mit Bitten um Geld berschttet, und tat dies in einer +Weise, die jeden gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten +mute, mir mit hnlichen Wnschen zu kommen. Schon +gleich am nchsten Tag schrieb er mir folgenden Brief: + + "Dresden-A., den 3. 5. 04. + + Sehr geehrter Herr Doktor! + + Indem ich Ihnen herzlich fr den freundlichen + Empfang und die erwiesene Gastfreundschaft danke, + bitte ich Sie, wenn Sie die Kunstausstellung besuchen + oder sonst einmal nach Dresden kommen, bei uns zu + Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen. + + In einem Punkte mu ich unser gestriges Abkommen + widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann + ich nicht annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig fr die + Zeile, was wohl derselbe Preis sein wird, den Sie + von anderen Blttern erhalten haben. + + Was Sie mir gestern erzhlt haben, habe ich heute + noch einmal berdacht. Es will mir scheinen, als ob + trotz des kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz + noch erheblich gesteigert werden knnte. Meine + Buchhndler- und Verlagserfahrungen haben mich gelehrt, + da der Wert einer richtig geleiteten Propaganda + und direkten Reklame gar nicht berschtzt werden kann. + + Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten + Frau Gemahlin und Ihnen in _Verehrung_ und + _Dankbarkeit_ ergebenst + + Rudolf Lebius." + + Ich mache darauf aufmerksam, da er mich "Doktor" +titulierte, obgleich ich ihm whrend seines Besuches bedeutet +hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat +dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als +Waffe gegen mich dienen! + + Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschre +ber mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig, +das Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort +nach Radebeul geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich +dafr zu verwenden, da dieser ihm, Herrn Lebius, das +Werk in Verlag gebe. Er wurde ganz selbstverstndlich +mit dieser Bitte abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max +Dittrich, da ich niemals wieder mit ihm verkehren wrde, +wenn es ihm einfalle, diesem Manne die Broschre zu +berlassen. + + Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte hchstens +zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine +Photographie, die er mir entwendet hatte. Er durfte +nie wiederkommen. Trotzdem hat er wiederholt behauptet, +in meinem Hause vielfach verkehrt zu sein und mich sehr +genau studiert zu haben. + + Am folgenden Tage schrieb er mir: + + "Dresden-A., 12. 7. 04. + Frstenstrae 34. + + Sehr geehrter Herr Doktor! + + _Ich_mchte_sehr_gern_die_Dittrichsche_ + _Broschre_verlegen_und_wrde_mir_auch_die_grte_ + _Mhe_geben,_sie_zu_vertreiben._ Durch den Rcktritt + von der "Sachsenstimme" -- offiziell scheide ich + erst am 1. Oktober d. J. aus -- bin ich aber etwas + kapitalschwach geworden. + + _Wrden_Sie_mir_vielleicht_ein_auf_drei_ + _Jahre_laufendes,_5prozentiges_Darlehen_ gewhren? + Ich zahle Ihnen die Schuld vielleicht schon + in einem Jahre zurck. + + | Als Dank dafr wrde ich die Broschre | + | so lancieren, da alle Welt von dem Buche | + | spricht. Ich habe ja auf diesem Gebiete | + | besonders groe Erfahrung. | + + Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf + ganz solider Basis. Nun heit es arbeiten und zeigen, + _da_man_ein_ganzer_Kerl_ist_ usw. usw. Beste + Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin + + Ihr Ihnen ergebener + Rudolf Lebius." + + Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, da +jemand, der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht +weitergehen knne, zumal ich Herrn Lebius _mit_der_ +_Broschre_total_abgewiesen_hatte._ Aber am 8. August +schrieb er trotzdem wieder: + + "Die "Sachsenstimme" ist am 4. d. zu vorteilhaften + Bedingungen an mich allein bergegangen. Ich kann + jetzt schalten und walten, wie ich will. Um mich von + dem Drucker etwas unabhngig zu machen, _wrde_ + _ich_gern_einige_tausend_Mark_(3--6)_auf_ein_ + _halbes_Jahr_als_Darlehen_aufnehmen._ Ein + Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jdischen + Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison + bewiesen hat, in weitgehendem Mae untersttzten. Das + Weihnachtsgeschft bringt wieder alles ein. _Wrden_ + _Sie_mir_das_Darlehen_gewhren?__Zu_Gegenleistungen_ + _bin_ich_gern_bereit._ Die groe Zahl + von akademischen Mitarbeitern erhebt mein Blatt ber + die Mehrzahl der schsischen Zeitungen. Wir knnen + auerdem die Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300 + oder mehr deutsche und sterreichische Zeitungen versenden + und den betreffenden Artikel blau anstreichen. So etwas + wirkt unfehlbar. In Dresden lasse ich mein Blatt + allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit vorzglicher + Hochachtung Rudolf Lebius." + + Zu derselben Zeit erfuhr ich, da Lebius gar nichts +besa, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, da +er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, da er +berhaupt nur Schulden habe und da er sogar Honorar +schuldig bleibe. Da seine Zeitung eine solide Basis habe, +war unwahr, ebenso die "groe Zahl der akademischen +Mitarbeiter" und Anderes. Dergleichen absichtliche +Tuschungen gehren eigentlich vor den Staatsanwalt. +Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam: +"Sehr geehrter Herr . . . . Mit vorzglicher +Verehrung!" "Mit groer Hochachtung und Verehrung!" +"Sehr geehrter Herr Doktor . . . . In Verehrung +und Dankbarkeit." Als er sah, da diese Hflichkeiten +nicht zogen, schrieb er nicht mehr an mich, sondern +an Dittrich. So am 15. August 1904: + + "Werter Herr Dittrich! + + Ich gebe Ihnen fr die Vermittlung ein Prozent. + _Mehr_als_10_000_Mk._brauche_ich_nicht._ Ich + wrde aber auch mit weniger vorlieb nehmen. Das + Honorar sende ich am 20. d. wie verabredet. + + Knnen Sie nicht Dr. May _b_e_a_r_b_e_i_t_e_n,_ da + er mir Geld vorschiet? + + Freundlichen Gru R. Lebius." + + Dann am 27. August: + + "Werter Herr Dittrich! + + Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn + Dr. Klenke, einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei + dieser Gelegenheit gibt sie Ihnen Ihr Honorar. Sie + haben meine schriftliche Zusage, da ich Ihnen 1 Prozent + von dem Gelde gebe, welches Sie mir von H. V. + oder Dr. M. (May) vermitteln. Sie erhalten das + Geld sofort . . . . + + Freundlichen Gru Lebius." + + Er war nmlich Herrn Max Dittrich ein Honorar +von 37 Mark 45 Pfennigen schuldig, welches er trotz +der Kleinheit dieses Betrages nicht bezahlen konnte. Es +wurde ihm daraufhin ein Spiegel gerichtlich abgepfndet. +Als er von Dittrich, anstatt der 10 000 Mark von mir, +eine Mahnung um diese 37 Mark 45 Pfennig bekam, +schrieb er ihm am 3. September: + + "Geehrter Herr Dittrich! + + Ich habe Herrn Dr. med. Klenke ersucht, Ihnen + 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten + mir gegenber finde ich hchst sonderbar, um + nicht zu sagen beleidigend. + + Achtungsvoll + R. Lebius." + + Diesem Dr. Klenke fiel es aber auch nicht ein, die +Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in +logischer Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer +Postkarte folgende Drohung bei mir an: + + "Werter Herr! + + Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der "Sachsenstimme", + erzhlte einem Herrn, da er einen Artikel + gegen Sie schreibt. Ich habe es im Lokal gerade + gehrt. Es warnt Sie ein Freund vor dem Manne. + + B." + + Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte +war ich mir natrlich sofort im Klaren. Auch das +Gutachten der _vereideten_Sachverstndigen_ lautet dahin, +_da_sie_unbedingt_von_Lebius_selbst_geschrieben_ +_ist._ Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, da ich auf +diese Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde. +Gab ich sie nicht, so waren mir nicht nur der jetzt +angedrohte, sondern noch weitere Racheartikel sicher und +auch noch anderes dazu, was mich in Besorgnis setzen +mute. Aber ich lie auch jetzt nichts von mir hren +und sah mit gutem Gewissen dem unvermeidlichen Artikel +entgegen, der am 11. September 1904 in Nummer 33 +des Lebiusschen Blattes, der "Sachsenstimme" erschien +und die dreifache Ueberschrift hatte: + +| "Mehr Licht ber Karl May | +| 160 000 Mark Schriftstellereinkommen | +| Ein berhmter Dresdner Kolportageschriftsteller." | + + Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort +gegeben, nichts zu verffentlichen. Er war sogar nur +unter diesem Versprechen bei uns hereingelassen worden, +und nun verffentlichte er doch, und zwar in welcher +Weise und aus welchen Grnden! Er stellte alles auf +den Kopf; er drehte alles um! Er legte uns alles, was +ihm beliebte, in den Mund, und was wir wirklich gesagt +hatten, das verschwieg er, um sich nicht zu blamieren. +Dieser Aufsatz enthlt ber 70 moralische Unsauberkeiten, +Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das war +nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach. +Dieser Artikel in Nr. 33 der "Sachsenstimme" war so +gehalten, da Lebius wieder umlenken konnte, falls ich +das Geld nun endlich noch gab. Und schon in Nr. 34 +kam ein sehr deutlicher Wink, der mir sagte, was +geschehen werde, falls ich mich nicht zum Zahlen bewegen +lasse. Dieser Wink bestand in einer Mnchmeyerschen +Annonce, die ganze Bnde zu mir sprach. Der Besitzer +der Firma Mnchmeyer hatte nmlich zu mir gesagt: +"Die Verffentlichung der andern Romane tut Ihnen +noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem "Verlorenen +Sohn" fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren! +Der wird so happig, da es Ihnen dann unmglich ist, +als Schriftsteller weiter zu existieren!" Und dieser +"Verlorene Sohn" wurde jetzt in Nr. 34 der "Sachsenstimme" +annonciert. Das war genau so, als ob mir mit +Riesenbuchstaben geschrieben worden wre: "Nun aber endlich +Geld her, sonst geht es in diesem Tone weiter!" Der +gefhrlichste Erpresser ist der, welcher es in dieser +raffinierten Weise anfngt, die noch deutlicher ist, als das +gesprochene Wort, aber von keinem Staatsanwalt verfolgt +werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts. Da +kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein +drittes und in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde +mir die Verbindung des Herrn Lebius mit der Firma +Mnchmeyer schon deutlicher gezeigt, denn es wurde da +gesagt, der Inhaber dieser Firma habe einen ganzen +Haufen alter Briefe von mir in der Hand und knne +also ganz genaue Auskunft ber mich geben, wenn er +nur wolle. In Wahrheit aber besa er nicht einen +einzigen alten Brief von mir, doch wute ich nun genau, +da Lebius die Ausfhrung des Mnchmeyerschen Programms, +mich durch meine Vorstrafen "in den Zeitungen +vor ganz Deutschland kaput zu machen", bernommen +hatte. Ich war berzeugt, da die Zahlung der 10 000 +Mark ihn sofort zum Schweigen bringen wrde, htte +mich aber vor mir selbst geschmt, ihm auch nur einen +einzigen Pfennig zu geben. + + Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die +Nr. 48 brachte die ohne alle Veranlassung frei aus der +Luft niederfallende Verkndigung: "Die vier Jahre, die +Herr Karl May in Waldheim verbte, waren nach +unserer Information die Folge eines Einbruchdiebstahls +in einem Uhrenladen." Ich habe aber niemals einen +Einbruch verbt. Man sieht, da es nicht auf die Wahrheit +ankam, sondern nur auf das "Kaputmachen". Diese +Nr. 48 erschien am Weihnachtsheiligenabend. Da hingen +an den Fenstern der Dresdener Buchhandlungen Plakate +aus, auf denen die "Sachsenstimme" mit den groen +roten Buchstaben _"Die_Vorstrafen_Karl_Mays"_ +angekndigt wurde. Einen schreienderen Beweis, da es +sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um die +Ausfhrung ganz niedriger Absichten handelt, kann es +wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des +grausamen Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten +des Herrn Lebius einzeln aufzuzhlen. Ich will nur in +Summa sagen, da er in dieser Weise fortfuhr, bis er +nach einiger Zeit aus Dresden verschwinden mute. Ich +habe die Unwahrheiten, die er in seinen Dresdener +Artikeln ber mich verbreitete, zusammengestellt, um sie +gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer trotz der Krze der +Zeit nicht weniger als hundertzweiundvierzig. Mehr hat +bisher wohl noch kein Mensch geleistet! Ich betone aber +ausdrcklich, da diese Aufstellung nicht etwa alles, sondern +nur eine Auswahl enthlt. Ich knnte diese Ziffer trotz +ihrer Hhe gut verdoppeln. Ich habe lange dazu +geschwiegen, bis es nicht mehr zum Aushalten war. Da +mute ich mich endlich wehren. Ich erstattete bei der +Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Erpressung. Ich legte +seine Briefe bei. Auch die drohende Karte vom 7. September +1904. Die Sachverstndigen erklrten, da Lebius +sie unbedingt geschrieben habe. Die erwhnte Behrde +aber war der Ansicht, da dies nicht zureiche, eine +Untersuchung zu erffnen. Und Lebius gab sich bei seinen +Ausknften die grte Mhe, mich als einen Menschen +hinzustellen, dem man nicht glauben drfe. Das Meisterstck +hat er dabei abgelegt, indem er der Kniglichen +Staatsanwaltschaft in Dresden berichtete, da der Wirt +des Hotels auf dem Berge Sinai in Dresden gewesen +sei und sich sehr schlecht ber mich ausgesprochen habe. +Nun wei aber Jedermann, da es auf dem Berg Sinai +bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben hat! Ich +zeige damit wohl zur Genge, was man von der +Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann. +Ich erhob zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog +ich whrend der Verhandlung aus reinem Ekel vor dem +Schmutz, in dem ich da waten sollte, zurck. Die andere +brachte ihm in der ersten Instanz eine Geldstrafe von +30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er +freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und +einen Vertreter stellte, der die Sache fhrte, ohne +orientiert zu sein. + + Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen +wie unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe. +Gewi wenig genug! Da ich Berichterstattern Auskunft +gab, wenn sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz +von selbst. Es kann mir niemand zumuten, diesen Herren +aus Angst vor Herrn Lebius die Unwahrheit zu sagen. +Dennoch behauptet er noch heute, da nicht ich von ihm, +sondern er von mir verfolgt und angegriffen werde. + + Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer +ganz bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hrten +seine Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwhne da +nur den Aufsatz in der sterreichischen Lehrerzeitung, durch +den er ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg. +Ich schwieg selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen +"Wahrheit" in Berlin einen geradezu emprenden +Angriff gegen mich brachte, in dem er mich als "atavistischen +Verbrecher" brandmarkte, der wegen "fortgesetzter +Einbruchdiebsthle" fast ein Jahrzehnt im Gefngnis +und Zuchthaus gesessen habe! Er behauptete da, da +ich eine schwere, chronische Krankheit durchgemacht habe, +die "offenbar kulturhemmend" gewirkt habe. Hiermit +hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk +in Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich +gezwungen, ihn dort persnlich aufzusuchen, weil ich in dem +groen Mnchmeyerproze eine Frage an ihn zu richten +hatte, die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem +Zwecke mit meiner Frau nach Berlin. Wir entdeckten +seine Wohnung. Wir hrten, da er ein neues Blatt +herausgab, der "Bund" genannt. Wir telefonierten +ihm. Er bestellte uns nach Caf Bauer. Wir folgten +dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau und +deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht. +Er leugnete alles. Ich sagte ihm, da ich sein neues +Blatt sehen mchte. Das war ganz ehrlich und gut +gemeint, ohne alle bse Absicht. Er aber begehrte sofort +zornig auf und fragte drohend: "Haben Sie etwas vor? +Dann gehe ich auf der Stelle von neuem gegen Sie los! +Hier in Berlin gibt es ber zwanzig Bltter wie die +"Dresdener Rundschau". Die stehen mir alle zu Gebote, +wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das gar +nicht lang!" + + Ich antwortete, da es mir gar nicht einfalle, wieder +in den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu +seiner Frau in ruhiger, freundlicher Weise, da es die +schnste Aufgabe verheirateter Frauen sei, vershnend zu +wirken und die Hrten des Lebens zu mildern; dann +entfernten wir uns. + + Das war am 2. oder 3. September. _Einen_Monat_ +_spter,_ am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin; +ich war verreist: + + Geehrter Herr! + + Obwohl vllig unbekannt, erlaube ich mir, bei + Ihnen einmal anzufragen, ob Sie mir nhere Mitteilungen + ber einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden, + machen knnten. Genannter Herr, ehemaliger + Sozialdemokrat, hat gegen mich als den seinerzeit + verantwortlich zeichnenden Redakteur des "Vorwrts" + die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es wird vor + Gericht meine Aufgabe sein mssen, Herr Lebius als + "Ehrenmann" zu kennzeichnen. Auf den Rat eines + Dresdener Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an + Sie, ob Sie mir ber diesen Herrn vielleicht einige + Auskunft geben knnten. Sollte dies der Fall sein, + so sehe ich Ihrer Freundlichkeit sehr verbunden + entgegen. + + Mit grter Hochachtung + Carl Wermuth, + Redakteur des "Vorwrts". + + Ich wiederhole, da ich verreist war und also auf +dessen Wunsch, selbst wenn ich gewollt htte, nicht +eingehen konnte. Am 5. April 1908, also +| ein volles halbes Jahr spter, | +erhielt ich von der Redaktion des "Vorwrts" eine weitere +Zuschrift: + + _"Zu_unserem_Bedauern_haben_Sie_es_bisher_ + _unterlassen,_sich_ ber die gegen Sie gerichteten + Angriffe des Lebius _zu_uern_ resp. _uns_die_ + _notwendigen_Beweismittel_ der ehrenabschneiderischen + Ttigkeit des Lebius in Bezug auf Ihre Person _zur_ + _Verfgung_zu_stellen._ Wie ich von meinem Kollegen + Wermuth erfuhr, hat Ihre Frau mitgeteilt, da + Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden und _nicht_in_ + _der_Lage_seien,_uns_mit_dem_gewnschten_ + _Material_gegen_Lebius_zu_versehen._ Ich hoffe, + da Sie inzwischen von der Reise zurckgekehrt sind + und nunmehr . . . ." + + Hiermit ist wohl zur vollsten Genge bewiesen, _da_ +_nicht_ich_Herrn_Lebius_verfolge,_sondern_er_mich._ +Herr Lebius behauptet, da ich mich damals, am Sedanstage, +an ihn gemacht habe, um dem "Vorwrts" beizustehen. +Hier beweise ich, da ich damals von jener +Beleidigungsklage noch gar nichts gewut habe, sondern +da der "Vorwrts" es mir erst einen Monat spter +mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten +_noch_gar_keine_Antwort_bekommen_hat!_ Ich hatte +also Herrn Lebius volle sechs Monate geschont, wo es +mir doch durch die Sozialdemokratie so bequem und leicht +gemacht worden war, mich an ihm zu rchen. _Da_ich_ +_ihn_nicht_verfolge,_sondern_von_ihm_fort_und_ +_fort_zur_Notwehr_gezwungen_werde,_ ist brigens +auch schon dadurch erwiesen, da ich es bis heut +umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit +dieser Zeugenschaft fr den "Vorwrts"-Redakteur hatte +es damals folgende Bewandtnis: + + Lebius hatte den "Vorwrts" wegen Beleidigung +verklagt, und der "Vorwrts" hatte mich, natrlich ohne +erst viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das +Gewissen des Lebius sagte ihm, da er von diesem Zeugen +wohl nicht viel freundliches zu erwarten habe. Ja, es +kam ihm sogar der Gedanke, da ich von dieser Zeugenschaft +schon im Caf Bauer gewut habe. Das erzrnte +ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach +Radebeul, um mir zu drohen. Meine Frau wnschte diese +Zusammenkunft in meinem Hause; aber darauf ging Frau +Lebius nicht ein. Die beiden Frauen trafen sich im +Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau Lebius +uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und +wie ich als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte +ich vor Gericht erklren, da er jene drohende Postkarte +vom 7. September in Dresden nicht geschrieben habe. +Tue ich das nicht, so msse er den alten Kampf gegen +mich von Neuem beginnen. Meine Frau lehnte das ganz +entschieden ab, denn wir waren jetzt mehr als je berzeugt, +da er der Verfasser sei. Seine Frau kehrte also +unverrichteter Sache nach Berlin zurck. + + Als Lebius diesen Versuch milungen sah, beschlo +er, mich eidesunwrdig zu machen, und zwar durch eine +Broschre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge +aufzutreten hatte, herausgegeben werden mute. Da aber +diese Broschre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen +war, da sie ganz unbedingt eine Bestrafung des +Verfassers nach sich zog, die Lebius von sich abwenden +wollte, so sah er sich nach einem Strohmanne um, der +ihn und Karl May noch nicht kannte und unerfahren, +vertrauensselig und bedrftig genug war, sich fr einige +Hundert Mark _vllig_ungeahnt_ in die ganz sicher zu +erwartende _Gefngnisstrafe_strzen_zu lassen._ Er +fand ihn in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus +Basel, zog ihn in sein Netz und umspann ihn derart mit +Selbstvergtterungs- und Lgenfden, da der junge, +vllig ehrliche Mann es fast fr eine Ehre hielt, sich in +den Dienst eines so bedeutenden, geistig, sozial und auch +juristisch hervorragenden Mannes stellen zu drfen. + + Lebius ging, wie berhaupt und immer, auch hierbei +auerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er +verschwieg anfnglich, da es sich _nur_ um eine Broschre +gegen _mich_ handle. Er machte dem jungen Manne +weis, da er ein w i s s e n s ch a f t l i c h e s Werk ber +berhmte resp. berchtigte Mnner schreiben solle. Er +nannte ihm die Namen derselben; darunter befand sich +auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk +machte und tglich seine Instruktionen erhielt, lauteten +diese so, da nach und nach alle diese "Berhmten und +Berchtigten" verschwanden und nur Karl May allein +brig blieb. Aus dem "wissenschaftlichen" Werke aber +sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefhrlichsten +Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag +immer deutlicher. Er begann zu ahnen, da er mit aller +Liebenswrdigkeit in das Verderben gefhrt werden solle. +Als er das Herrn Lebius zu verstehen gab, hielt dieser +es fr geraten, ihm den ganzen Zweck der Broschre +einzugestehen. Er gab folgendes zu: + +| Lebius hat den Redakteur des "Vorwrts" | +| wegen Beleidigung verklagt. | + +| Der "Vorwrts" hat Karl May als Zeugen | +| gegen Lebius angegeben. | + +| Darum ist es fr Lebius notwendig, Karl | +| May kaput zu machen. | + +| Um das zu erreichen, gibt er die hier in | +| Arbeit liegende Broschre heraus. | + +| Der Termin, in dem Karl May als Zeuge | +| verhrt wird, findet anfangs April statt. | + +| Darum mu die Broschre ganz unbedingt | +| bis zum 1. April fertig zum Versenden sein. | + +| Wenn die Broschre erst spter fertig wird, | +| hat sie keinen Zweck; dann braucht man sie | +| berhaupt gar nicht erst zu schreiben. | + +| Sie wird an die Zeitungen versandt, die | +| darber berichten. Das soll auf die Richter | +| wirken. | + +| Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. | +| Sobald dies geschieht, ist May als Zeuge kaput. | + + Als der ehrliche, junge Mann das hrte, wurden +seine Bedenken noch grer, als sie vorher gewesen waren. +Als er diese uerste und seiner Besorgnis, gerichtlich +bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm +folgendes vor: + +| Wir Schriftsteller stehen berhaupt und stets | +| mit einem Fue im Gefngnisse. | + +| Bestraft zu sein ist fr uns eine gute | +| Reklame. Auch ich bin schon oft vorbestraft. | + +| Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht | +| zu frchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie | +| drfen schwren. May aber darf nicht schwren. | + +| May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm | +| verboten, in einer Stadt zu wohnen. Darum | +| wohnt er in Radebeul. | + +| I ch b i n e i n g r o e s, f o r e n s i s ch e s | +| T a l e n t. W e n n i ch a n f a n g e z u s p r e ch e n, | +| s i n d d i e R i ch t e r a l l e m e i n! | + +| W e n n m a n i n e i n e m P r o z e s s e st e ck t | +| u n d m a n s ch r e i b t e i n e s o l ch e B r o s ch r e, | +| d a s w i r k t u n g e h e u e r b e i d e n R i ch t e r n! | + +| Die Frau May hat mich mit Trnen in den | +| Augen um Gnade fr ihren Mann gebeten. | + +| May mu durch die Broschre totgemacht | +| werden. Alles brige ist Beiwerk, u m d e n | +| w a h r e n Z w e ck z u v e r s ch l e i e r n! | + + Die Folge von diesen und hnlichen sonderbaren +Expektorationen war, da Kahl beschlo, sich von dieser +Sache zurckzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm +zu drucken oder gar etwa seinen Namen fr diese Broschre +zu mibrauchen. Er richtete ganz dasselbe Verbot +auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher +aus diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber +er kannte Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht. +Die Broschre erschien, und zwar genau am ersten April. +Ihr Titel war: + +| K a r l M a y, | +| ein Verderber der deutschen Jugend | + von +| F. W. Kahl-Basel. | + + Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, da +die Broschre doch noch erschienen sei, und zwar unter +seinem Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte. +Der von Lebius gefrchtete Termin, an dem ich als +Zeuge vernommen werden sollte, hat nicht stattgefunden. +Ob er den Herren Richtern die Broschre dennoch vorgelegt +hat oder nicht, ist mir unbekannt. Aber an die +Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, und zwar mit +Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren verleumderischer +Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur +folgende Zeilen liest, die er an die "Neue Zricher +Zeitung" schickte: + + "Herr May hat sich an mir dadurch gercht, da +er durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung +untergrub und mich in den Bankrott trieb. Sobald ich +in einer andern Stadt festen Fu gefat hatte, erschien +er wieder auf der Bildflche, um dasselbe Manver zu +wiederholen. Dabei liebt er es, bevor er zu einem neuen +Schlage gegen mich ausholt, mich jeweils in meiner +Wohnung aufzusuchen und mit trnenden Augen um Frieden +zu bitten." + + Ueber den Inhalt dieser Broschre habe ich hier +nicht zu sprechen. Ganz selbstverstndlich waren meine +Vorstrafen aufgezhlt und auch noch etwas mehr dazu. +Das schickte er in alle Welt hinaus, um mich nach +Mnchmeyerschem Rezept "kaput" zu machen. Ich erlangte +eine einstweilige Verfgung gegen sie. Sie durfte +nicht weitergedruckt und weiterverarbeitet werden. Und +ich erhob Privatanklage wegen Beleidigung gegen ihn. +Diese Privatklage konnte nicht zur Verhandlung kommen, +weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, und deren +waren weit ber hundert, verloren hatte. Sie fanden +sich erst dann, als es zu spt war, bei ihm wieder. Ich +war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschlge, welche +der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle +seine Anwrfe gegen mich, materielle wie formelle, zurck, +drckte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben, +und versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das +tat er durch seine Unterschrift. Es war mir unmglich, +einem solchen, vor Gericht gegebenen Versprechen nicht +zu glauben. Und doch war es eine Untreue und +Gewissenlosigkeit sondergleichen, da er mir dieses +Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders geben, +als _in_der_Absicht,_es_nicht_zu_halten._ Er hatte +sich nmlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung +gesetzt. Sie fhlte, wie meist alle geschiedenen Frauen, +eine unverstndige Schrfe gegen ihren geschiedenen Mann; +die trachtete er, fr sich auszunutzen. Er suchte sie in +Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und +zufrieden von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr +gab, obgleich ich ihr nichts zu geben brauchte, weil sie +die Alleinschuldige war. Auch hatte ich sie in jeder Weise +reichlich ausgestattet. Da kam dieser Mann zu ihr und +entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, um daraus mit +Hilfe seiner eigenen Hinzufgungen und Verdrehungen +einen Strick fr mich zu fertigen. Er versprach ihr +ebenso heilig und teuer, wie damals mir, da nichts, +gar nichts verffentlicht werde, ging aber sofort hin und +schrieb fr seinen "Bund" vom 28. Mrz 1909 einen +Aufsatz unter der Ueberschrift "Ein spiritistisches +Schreibmedium als Hauptzeuge der "Vorwrts"-Redaktion." Mit +diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau +gemeint. + + Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da +ber mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und +zwar mit raffinierter Benutzung und Bearbeitung der +Bitterstoffe, die im Gemte geschiedener Frauen vorhanden +sind. Als das arme, unglckliche Weib das las, erschrak +sie. Er schwieg also nicht! Er hatte nicht Wort +gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach Berlin, um ihn zur +Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort. Er bergab +sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem frher +gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm +ihr Beistand wurde. Beide veranlaten sie zunchst, auf +ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie +sodann, ihre Pretiosen zu versetzen, damit es "nach auen +einen besseren Eindruck mache". Das heit doch wohl, +damit man denken mge, da ich es sei, der diese Frau +in solche Armut und solches Elend gestrzt habe! Das +hat Lebius in seinem Briefe an die Kammersngerin vom +Scheidt, welcher den Gegenstand der vorliegenden Privatklage +bildet, wrtlich eingestanden, und der Vorsitzende +der ersten Instanz hat ihn gelobt, indem er ffentlich +sagte: "Das ist sehr edel von Ihnen!" + + Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles +Einkommen war und vor dem Nichts stand, eine Rente fr +das ganze Leben von monatlich 100 Mark versprochen, +er, der wegen zwei oder drei Mark vergeblich ausgepfndet +worden ist! Sie hat es ihm zunchst geglaubt; +er aber hat sehr wohl gewut, da dieses Versprechen +nicht rechtsverbindlich war. Nichts als Spiegelfechterei! +Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben zu +knnen. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur +200 Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur +geliehen, denn als er merkte, da sie von ihm weg und +wieder zu mir strebte, drohte er ihr, sie wegen dieser +200 Mark um 300 Mark zu verklagen. + + Und was hatte sie davon, da sie auf ihr ganzes +Einkommen verzichtete, da sie aus ihren schnen, +wohlgeordneten Verhltnissen in die schmutzige Not und Sorge +sprang, da sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und versetzte? +Nichts, weiter gar nichts, als da sie das Rachewerkzeug des +Herrn Lebius wurde, da er sie abrichtete, so ber mich zu +denken, zu sprechen und zu schreiben, wie es ihm beliebte, +und da sie ihm und seinem Schwager Medem in jeder +Beziehung gnzlich in die Hand gegeben war. Denn als ich +infolge des obigen Artikels im "Bund" gezwungen war, +meine geschiedene Frau zu verklagen, machten Lebius und +Medem ihr die Schriftstze ganz so, da Lebius fr seine +Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon hatte und +sie dabei Dinge unterschreiben mute, von deren Zweck +und Tragweite sie keine Ahnung besa! Es kam vor, +da sie unter Trnen sich strubte, einen derartigen +Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber doch! +Bis sie endlich doch einsah, da es unmglich auf diesem +Wege und in dieser Weise weitergehen knne, wenn sie +nicht vollstndig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete +sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte +das arme, verfhrte Weib. Ich nahm den Strafantrag +und den Beleidigungsproze gegen sie zurck. Und nun +erfuhr ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius +aus ihrer sicheren, ruhigen Position zu ihm hinbergelockt +worden war, um wirtschaftlich vernichtet und +moralisch ausgebeutet resp. gegen mich ausgespielt zu +werden. Er sagt in seinem Briefe, welcher den +Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens bildet: + +| "Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe | +| ich allerdings im Hinblick auf meine gerichtliche | +| Einigung mit May verlangt, da Frau Emma | +| erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, | +| weil das nach auen hin einen bessern Eindruck | +| macht." | + + Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe, +weil er mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat +und weil er gerichtlich versprochen hat, mich nun fr +immer in Ruhe zu lassen, also darum, _"im_Hinblick_ +_darauf"_ mute die Frau nun ihre Kleinodien versetzen, +damit man _mich_ als den Schurken bezeichne, +durch den sie in solches Elend getrieben worden sei! Wie +nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in +dieser Weise um ihr ganzes, frheres Einkommen und +um ihre Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem +seinem Briefe: "Ich habe auch durch meinen Syndikus +Herrn Geheimrat Ueberhorst Schritte vorbereiten lassen, +_um_wieder_zu_meinem_Gelde_zu_kommen!"_ Gibt +es hier berhaupt einen Ausdruck, durch den man +imstande wre, die Lebiussche Denk- und Handlungsweise +erschpfend zu charakterisieren? + + Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung vollstndig +ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder +einzige geschiedene Frau, deren er sich bemchtigte, um +seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz +besondere taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene +Frauen gegen ihre Mnner auszuspielen. Das eklatanteste +Beispiel hiervon ist der Fall "Max Dittrich". +Indem ich ihn hier kurz erwhne, bitte ich um _ganz_ +_besondere_Aufmerksamkeit,_ weil er fr die +Beurteilung des Herrn Lebius _von_allergrter_ +_Wichtigkeit_ist._ + + Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch +bei mir machte, den Redakteur und Militrschriftsteller +Max Dittrich als Zeugen dazu geladen, aus Mitrauen +und Vorsicht, um gegen etwaige sptere Lgen und +Schwindeleien des Herrn Lebius durch einen vollgltigen +Zeugen geschtzt zu sein. Herr Dittrich war damals +vom Anfang bis zum Ende anwesend und hatte jedes +von mir gesprochene Wort gehrt. Einen solchen Zeugen +zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer +peinlicher, immer gefhrlicher. Er beschlo darum, _ihn_ +_eidesunwrdig_zu_machen,_ also ganz dasselbe, was +er auch bei mir getan hat _und_noch_heute_tut._ Es +ist das, wie sich spter zeigen wird, _ein_persnlicher_ +_Trick_ von ihm, den er _fr_unfehlbar_ hlt -- -- -- +eidesunwrdig machen! + + Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns whrend +seines Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder +Polizist und Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken, +hat eine Schuld auf sich, die er verheimlichen mu. +Man mu das _entdecken_ und _in_die_Zeitung_bringen;_ +dann wird man Herrscher und als _"tchtiger_Kerl"_ +bekannt. So tat Herr Lebius auch hier. Die erste Frau +Max Dittrichs war gestorben; von der zweiten Frau +hatte er sich scheiden lassen; jetzt war er infolge eines +Schiffbruchs, bei dem er nur gefhrlich verletzt dem +Tode entging, schwer nervenkrank geworden. Das gab +ein hochinteressantes Material, aus dem sich jedenfalls +etwas machen lie! Herr Lebius ging also aus, um +nach dem "Werg am Rocken", nach der "heimlichen" +Schuld und Snde zu suchen. Er forschte berall, +schriftlich, mndlich, persnlich. Er stellte sich berall ein, +wo er glaubte, etwas erfahren zu knnen. Er scheute +sich nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er +schlich sich zu Dittrichs alter Schwgerin, zu Dittrichs +Neffen und Nichte, sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die +wieder verheiratet war und in glcklicher, stiller Ehe +lebte. Er forschte sie aus, ohne da sie ahnten, warum +und wozu. Sie antworteten vertrauensvoll und +unbefangen. Aber als er pltzlich zu ihrem Entsetzen die +Worte "Gericht" und "Eid" fallen lie, da fhlten sie +die Krallen, in die sie geraten waren. Sie hatten nichts +Bses sagen knnen und baten, sie aus dem Spiele zu lassen. +Er versprach es ihnen. Besonders entsetzt ber die Aussicht, +in diesen Lebiusschen Schmutz verwickelt zu werden, +war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger Mann war ein +lieber, guter, aber in Beziehung auf die "Ehre" sehr +streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in +_solcher_ Angelegenheit an Lebius' Seite, das wre +unbedingt von den schwersten Folgen fr ihn und sie +gewesen! Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu +verwickeln, und er scheute sich nicht, es ihr hoch und +heilig zu versprechen. Dann aber ging er schleunigst hin +und brachte in Nummer 12 seiner "Sachsenstimme" +einen Bericht, dem ich nur einige Punkte entnehme, die +nicht einmal die schlimmsten sind, nmlich: + + "Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine +Kinder, wohl aber zwei von seiner Stieftochter, bevor +diese das 16. Lebensjahr erreichte." + + "Seine Frau hrmte sich ber die Ausschweifungen +ihres Mannes zu Tode." + + "Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb +Dittrich es schlielich so schlimm, da eine Ehescheidung +unvermeidlich wurde." + + "Mit der 16jhrigen mit im Hause wohnenden +Nichte seiner Frau unterhielt er ein mehrjhriges +Verhltnis." + + "Dann fing er ein Verhltnis mit einem jungen +Mdchen an." + + "Seine Frau lie ihn durch ein Detektivbureau +beobachten." + + "Whrend des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich +mit seiner Braut zusammen und hatte auch seine +Tochter bei sich." + + "Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen +Nervenleidens Halbinvalide" usw. + + Man kann sich den Schreck der Verwandten denken, +als sie das lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert +wurden, weil Max Dittrich ganz selbstverstndlich +Herrn Lebius verklagte! Die Nichte mute im Hause +vernommen werden; sie lag krank. Die geschiedene Frau +Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter und +sagte ihm aufrichtig, da diese entsetzliche Sache ein +absoluter Totschlag fr das Glck ihrer jetzigen Ehe sei; +sie werde das wohl kaum berleben. Dieser vortreffliche +Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu +auch ein menschliches Herz in der Brust und erledigte +die Vernehmung in entsprechender humaner Weise. + + Selbst angenommen, da die von Lebius angegebenen +Punkte alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl +fr jeden nur einigermaen gebildeten und nicht verrohten +Menschen die Frage nahe, ob die Verffentlichung solcher +Dinge _gesetzlich_ resp. _premoralisch_statthaft_ sei. +Ich bin berzeugt, da jedermann, auer Lebius, diese +Frage mit einem "Nein!" beantworten wird. Das +wrde zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls +gengen, ist aber noch lange nicht alles, denn wenn man +Gelegenheit findet, die Akten Dittrich contra Lebius +aufzuschlagen, so sieht man am Schlusse derselben Herrn +Lebius in noch ganz anderer Weise beleuchtet. Er +gesteht da nmlich ein, da seine Verleumdungen gegen +Max Dittrich +| nicht wahr gewesen seien, | +und erklrt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu +tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, +um diesen Herrn nun zu kennen. + + Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den +anderen ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines +Rowdyblattes heraus die Menschen niederknallt, so oft +es ihm beliebt, das wird von der Strafgesetzgebung der +Zukunft wohl ganz anders betrachtet und ganz anders +behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt es, +Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und menschheitsethische +Instanzen, welche den Totschlag einer Menschen_seele_ +fr wenigstens ebenso strafbar halten wie die +Ermordung eines Menschen_krpers._ + + Am 27. Mrz 1905 hatte Lebius die oben aufgefhrten +Anklagen in seiner "Sachsenstimme" gegen +Max Dittrich geschleudert, und am 18. November darauf +erklrte er in der zweiten Strafkammer des Kniglichen +Landgerichtes Dresden zu Protokoll: + +| "Ich erklre, da ich die gegen den | +| Privatklger in der "Sachsenstimme" vom 27. Mrz | +| 1905 erhobenen, beleidigenden Behauptungen | +| ! ! ! als unwahr ! ! ! | +| hiermit zurcknehme und mein Bedauern ber | +| die gemachten Aeuerungen in der "Sachsenstimme" | +| ausdrcke und den Privatklger deshalb | +| ! ! ! um Verzeihung bitte ! ! ! | + + Als dann einige Jahre spter Lebius in Berlin +Streit und Prozesse mit dem "Vorwrts" begann, gab +dieser den Militrschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen +ihn an. Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten +Trick, Zeugen durch die Presse unschdlich zu machen. +Er verffentlichte genau dasselbe wieder, was er damals +ber Dittrich verffentlicht und dann vor dem Dresdener +Landgericht +| ! ! ! als unwahr ! ! ! | +mit der Bitte um Verzeihung zurckgenommen hatte. +Dittrich war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu +verklagen und auf jene Zurcknahme und Bitte um +Verzeihung hinzuweisen. Was tat Lebius? Er erklrte in +seinem an das Knigliche Amtsgericht Charlottenburg +gerichteten Schriftsatz vom 24. Dezember 1909, da er +damals jene Abbitte und jenes Eingestndnis der +Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich +| "aus Grnden wirtschaftlicher Natur" | +abgelegt habe. Seine Verhltnisse seien damals so +bedrngt gewesen, da er nicht zu den Gerichtsterminen +nach Dresden habe reisen knnen. Er selbst also ist es, +der das folgende moralische Portrt von sich liefert: + +| Lebius verleumdet den Militrschriftsteller | +| Dittrich 1905 in seinem Dresdener Blatte. | + +| Lebius erklrt 1905 vor dem Dresdener | +| Landgericht, da diese Verleumdungen erlogen | +| seien, und bittet um Verzeihung. | + +| Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte | +| jene von ihm als Lgen bezeichneten | +| Verleumdungen als Wahrheiten wieder. | + +| Lebius erklrt 1909 in seinem Schriftsatz an | +| das Amtsgericht Charlottenburg, da er damals | +| das Landgericht Dresden angelogen habe. | + + Und warum dieser Rattenknig von Lgen vor Gericht! +Und wie ist es mglich, da ein Mensch, der doch +Ehr- und Schamgefhl besitzen mu, sich vor Gericht als +Lgner erklren und dann auch diese Erklrung als Lge +bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf +diese Frage: Er befand sich in bedrngter Lage; +| ! ! ! er hatte kein Geld ! ! ! | + + Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein fr +ihn vollstndig gengender Grund, _Richter_und_ +_Gerichtsmter_zu_belgen_und_sich_als_einen_ +_Charakter_hinzustellen,_dem_kein_vorsichtiger_ +_Mensch_mehr_etwas_glauben_kann!_ + + Ich knnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise +von Lebius zu erzhlen. Fr meine heutigen Zwecke aber +gengt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir +die Unwahrheiten, welche Lebius ber mich verbreitete, +notiert, nicht alle, sondern nur die augenflligsten. Es +sind jetzt _ber_fnfhundert,_ die ich ihm gerichtlich +beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei +Wochen vier Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich +an diesen Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt +man Hinrichtung! Und dabei legt er, wie bereits +erwhnt, den grten Nachdruck immer darauf, da ich +ihn verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und +frchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe +ich nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal +beim Gericht Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen +seinen ferneren Angriffen geschwiegen, bis er mich durch +die angebliche Kahl-Broschre zwang, mich zu verteidigen, +weil ich _"vor_den_Richtern_kaput_gemacht"_werden_ +_sollte._ Und selbst da habe ich ihm verziehen, habe mich +mit ihm verglichen, habe gegen sein Versprechen, mich +fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag zurckgezogen, +obgleich der betreffende Richter sagte, da Lebius +_eine_schwere Strafe_ erleiden werde, falls es zur +Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 B. 254 08/34, +gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen, da +Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich knftig +in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich +verfhrte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer +Schmucksachen beraubte _und_sie_fast_an_den_Bettelstab_ +_brachte._ Sie wurde von ihm zu gerichtlichen +Schritten gegen mich verleitet, die man fast wahnsinnig +nennen mu. Und dabei hatte er den Mut, in der ersten +Instanz des vorliegenden Beleidigungsprozesses zu +behaupten, + | "da er ihre Interessen vertreten habe und | + | also den Schutz des 193 beanspruchen drfe!" | + + Niemals ist eine grere Unwahrheit ausgesprochen +worden als diese! Lebius hat durch die Verfhrung der +Frau Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeinteressen +verfolgt, _die_Interessen_dieser_armen_Frau_ +_aber_geradezu_mit_Fen_getreten._ Es ist unerhrt, +da er dafr auch noch den Schutz des 193 +verlangt! + + Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet +worden, da er ein Mensch sei, "der ber Leichen +geht." Meine geschiedene Frau hat anstatt "Mensch" +sogar ein anderes, uerst schlimmes Wort gebraucht, +ohne da er es gewagt hat, sie darber gerichtlich zu +belangen. Ob dieser Vorwurf wahr ist oder ob er zu +viel sagt, das knnte ich mit vielen Beispielen belegen; +ich will aber nur das eine bringen: Nach der in den +Bltterberichten vllig korrumpierten Charlottenburger +Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte der +"Boston American" in Boston, Massachusetts, folgende +ihm aus Berlin zugegangene Depeschennotiz: + + "Autor frommer Bcher, ein Bandit. Berlin -- +-- -- Herr Charles May, der Millionr, Philanthrop, +Autor frommer Bcher und eine hervorragende Persnlichkeit +Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der +Verber vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend +des sdlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine +Ruberbande anfhrte, gebrandmarkt. _May_brach_zusammen_ +_und_wurde_unter_den_Schutz_seiner_Freunde_gestellt,_ +_um_zu_verhindern,_da_er_Selbstmord_begehe_ +usw." Sich solche monstrse Unwahrheiten aussinnen, +um mich "kaput zu machen", das ist doch wohl +ber Leichen gegangen. Oder nicht? Doch hiermit genug +ber diesen Herrn Lebius. Alles Andere gehrt vor das +Gericht, nicht aber hierher. Um meine Leser klar sehen +zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, da der Mnchmeyersche +Rechtsanwalt Dr. Gerlach auch sein Rechtsanwalt +ist und da Beide einander gegenseitig die weitgehendste +Hilfe und Untersttzung leisten. Ich habe noch +zwei uerst interessante Mnchmeyersche Champions zu +erwhnen, die in Beziehung auf geistige Bedeutung zwar +weder an Gerlach noch an Lebius kommen, aber als +fromme, katholische Klosterbrder mitten unter protestantischen +oder gar aus der Kirche ausgetretenen Kolportageinteressenten +doch einen frappierenden Eindruck machen. + + Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar +Pllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem +Benediktinerpater vor Gericht gegenbergestanden. Der +hie Willibrord Beler und bezeichnete sich als Professor. +Er verffentlichte eine schwere Beleidigung im "Stern der +Jugend" gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei +Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste +hin und lie ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren. +Da stellte sich heraus, da er gar nicht das Recht besa, +einen Professortitel zu fhren. Er leistete mir folgende +schriftliche Abbitte: + + "Indem ich die mir in Schriftstcken beigelegten + Bezeichnungen "Professor" und "Jugendschriftsteller" + auf Wunsch nher dahin bestimme, da ich Lehrer an + der Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau + und Korrespondent der Jugendzeitschrift "Stern der + Jugend" bin, erklre ich hiermit der Wahrheit gem, + da ich die in genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25) + enthaltene Notiz ber Krankheitserscheinungen des + Schriftstellers Karl May bedauere und die von ihm gerichtlich + inkriminierten Worte in aller Form zurcknehme. + + Seckau, den 20. Oktober 1904. + + Pater Willibrord Beler + O.S.P." [sic] + + Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich +gerichtlich belangen mu! Der Abt scheint hier wie dort +Ildefons Schober zu heien. Ist es vielleicht derselbe? +Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwrts, +haben die Benediktiner mir meine "Reiseerzhlungen" +ohne mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen +untersagte. Ich wei nicht, wie es mglich ist, da ein +Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und +verbreiten und mich doch so ffentlich beleidigen und +verfolgen resp. mich und meine selben Werke in Acht und +Bann erklren kann! Ich bemhe mich vergeblich, beides +logisch zusammen zu bringen. Denn da ich diesen +Nachdruck unmglich dulden konnte, versteht sich ganz von +selbst! Uebrigens ist dieser Beuroner Pater derselbe, der +mir "einen Strick drehen will, um mich damit aus dem +Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Also, erst +druckt man meine Bcher nach, ohne mich zu fragen, und +dann peitscht man mich hinaus! In dieser Weise charakterisiert +Pater Pllmann seinen eigenen Orden, der sich doch +wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere Literatur +erworben hat, als da er von einem seiner Angehrigen +in dieser Weise beleumundet werden sollte! + + Pater Pllmann hat in der katholischen Zeitschrift +"Ueber den Wassern" eine Reihe von Artikeln gegen mich +geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener "Freistatt" +geantwortet. Damit wren wir nun eigentlich mit +einander fertig, und das Publikum htte zwischen ihm und +mir zu entscheiden. Aber whrend ich in meinen Antworten +ganz selbstverstndlich so sachlich und hflich wie +mglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen +fast nicht herausgekommen, so da er sich zu einem +Gang vor das Gericht zu bequemen haben wird. Und +auerdem ist sein persnliches und literarisches Verhltnis +zu Herrn Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem +Mnchmeyerschen Programm, mich in den Zeitungen "kaput +zu machen", festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius, +Gerlach u. s. w. in Beziehung zu stehen; es sind ihm +aber derartige Beziehungen ganz unschwer nachzuweisen. +Hierber ist Klarheit zu schaffen. Denn da er in dieses +"Kaputmachen" auf das Krftigste mit eingegriffen hat, +kann nicht einmal er selbst in Abrede stellen. Seine +"Wasser"-Artikel werden sowohl im Lebius- als auch im +Pauline Mnchmeyer-Proze auf das Eifrigste gegen +mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge oder +"Sachverstndiger" benannt und wird als solcher in Berlin +auszusagen haben. + + Herr Pater Pllmann befolgt in Beziehung auf unsern +Beleidigungsproze eine Taktik, die ich nicht gutheien +kann. Ich mu mich fragen, ob es in dieser seiner Taktik +liegt, das Leserpublikum irre zu fhren. Zuerst erschienen +von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben herab +klingende Notizen darber, da ich es unterlassen habe, +meine Drohung, ihn zu verklagen, auszufhren. Und +nun sich herausstellt, da ich dieses Versprechen doch +gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich gesinnten +Zeitungen fort und fort behauptet, da meine Beleidigungsklage +bald hier bald dort zurckgewiesen worden sei und +ich smtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht +fair, vielleicht sogar unwrdig. Es handelt sich hier um +die Zustndigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den +Strafantrag gegen Pater Pllmann stellte, gehrte ich +in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen +wurde das Amtsgericht Ktzschenbroda erffnet, dem ich +jetzt nun zustndig bin. Darum fragt es sich, ob die +Sache infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu +verhandeln ist. Bis das entschieden ist, hat sie zu ruhen. +Wer es anders darstellt, kann nur entweder unwissend +oder bswillig sein. Von Kosten wei ich kein +Wort. + + Ganz hnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage +gegen Pater Expeditus Schmidt in Mnchen. Sie wurde +in Dresden eingereicht und in Ktzschenbroda erstmalig +verhandelt. Auch hier sind Zustndigkeitsfragen erhoben +worden, doch nicht von mir. Mir kann es sehr gleichgltig +sein, an welchem Orte das Urteil gesprochen wird, +denn meine Sache ist gerecht. Ich habe nicht ntig, +spitzfindig zu erwgen, an welchem Orte, bei welchem Gerichte +und in welchem Falle ich meinen Proze gewinne oder +verliere. Ich habe mich nicht an solche Nebendinge +zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre +Wahrheit zu halten; das Uebrige berlasse ich den +Richtern. + + Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern +frderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, +die Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen +Dingen hat es sich herausgestellt, da die beiden Pater +Schmidt und Pllmann in naher Beziehung zu dem Namen +und der Sache Mnchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht +in Verbindung mit dem Mnchmeyerschen und Lebiusschen +Rechtsanwalt. Ich werde die Beweise erbringen, und +dann wird sich der Zusammenhang mit dem Mnchmeyerschen +Programm, mich "in allen Zeitungen vor ganz +Deutschland kaput zu machen", ganz von selbst ergeben. +Um einen kurzen Rundblick ber den jetzigen Stand der +Dinge zu ermglichen, schliee ich dieses Kapitel mit einem +Artikel, den das "Wiener Montags-Journal" am 17. +Oktober dieses Jahres brachte. Er lautet: + +| Karl May als Schriftsteller. | + (Eine Genugtuung.) + + Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bnden, die +Ttigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen +Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung. +Denn nicht oft noch ist die schriftstellerische Ttigkeit eines +Menschen der Grund fr solch bodenlos gemeine und +hinterhltige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur +Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausfhrliche Wrdigung +der so reichen Phantasie eines deutschen Romanziers +eingehen, wollen wir dem Geschmhten selbst das Wort zu +einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den erfolgreichen +Prozessen gegen seine hmischen und boshaften Widersacher, +zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt uns: + + Die ganze sogenannte "Karl May-Hetze" ist auf +Unwahrheiten aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist, +da ich Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzhlungen +fr unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten +dieser Erzhlungen sind im "Deutschen Hausschatz" +erschienen, der doch gewi niemals eine Knabenzeitung +gewesen ist. Und den spter erschienenen Bnden sieht jedes +ehrliche Auge sofort an, da sie nur von geistig erwachsenen +Leuten verstanden werden knnen. Hiermit fallen +alle Vorwrfe, die man mir als angeblichem "Jugendverderber" +macht, in sich selbst zusammen. Wenn die Jugend +meine Bcher trotzdem liest, und zwar sehr gerne, so +beweist das doch nicht, da ich sie fr sie bestimmt habe, +sondern da die Jugendseele in ihnen findet, was ihr von +andern vorenthalten wird. + + Eine zweite Unwahrheit ist die, da ich in diesen +meinen Reiseerzhlungen schwindle. Wer das behauptet, +ahnt gewi nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner +eigenen Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick +eines Tertianers aus, zu erkennen, da alles, was ich +erzhle, nur mit den Wurzeln in das reale Leben greift, +im brigen aber nach Regionen strebt, die nicht alltglich +sind. Jeder Leser, der mich begreift, wei, da ich Lnder +und Vlker beschreibe, die bis heute fast nur in Mrchen +existieren, fr uns aber nach und nach in das Reich der +absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was +anderen noch ein Mrchen ist, als Wirklichkeit erschaue und +beschreibe, kann dies nur fr unwissende oder belwollende +Menschen ein Grund sein, zu behaupten, da ich schwindle. + + Frher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser +beleidigenden Weise ber mich zu urteilen. Wer mich nicht +begriff, der sagte hchstens, da meine Phantasie eine +sehr ausgiebige sei. Erst als die grte aller Unwahrheiten, +die es ber mich gibt, verbreitet wurde, nmlich +die, da ich "abgrundtief unsittliche Schundromane" +geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen Tone mit +mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von +einer Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es +lag, sie zu verbreiten, um durch meinen Namen mglichst +viel Geld zu verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns, +dem damaligen Hauptredakteur der "Klnischen Volkszeitung", +den Mann, der durch seine Verffentlichungen fr +diese Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar +unternahm, die sogenannten "Beweise" zu liefern, da die +betreffenden Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur +aus meiner Feder stammen. Ganz selbstverstndlich konnte +der wahre, unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung +der von mir geschriebenen Originalmanuskripte gefhrt +werden. Jeder andere Beweis konnte nur durch absichtliche +Tuschung oder Selbstbetrug ermglicht sein und +mute sich schlielich zur Spiegelfechterei gestalten. + + Welche Art des Beweises nun fhrte Herr Cardauns? +Er brachte Behauptung ber Behauptung. Er fhrte eine +ganze Reihe von "inneren Grnden" an, hinter denen sich +der Mangel an wirklichen Grnden versteckte. Er sprach +von Beweisen, Belegen, untrglichen Aktenstcken und +dergleichen. Das Wiener "Neuigkeits-Weltblatt" weist ihm +sogar die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege +dafr, da May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann +mute hierauf annehmen, da er meine Originalmanuskripte +in den Hnden habe, und darum glaubte man ihm, zumal +die Bltter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir +die Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten. +Er machte mit seiner Selbsttuschung Schule: andere +tuschten sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von +selbst zur richtigen Einsicht kamen. Heute glauben nur +noch Wenige seinen Ausfhrungen. Andere akzeptieren +sie aus prozessualen und hnlichen guten Grnden. Ob +Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pllmann, +meine beiden neuesten Gegner, wirklich an ihren Cardauns +glauben, das wei ich nicht; ich kann da nur vermuten. +Was sie behaupten, gilt fr mich noch lange nicht als +Beweis. Aber sie fuen in allem, was sie gegen mich +tun, auf altem Cardaun'schem Grund und Boden und +scheinen wirklich berzeugt zu sein, da ich nchstens unter +ihren und den Anschuldigungen ihrer Verbndeten +zusammenbrechen werde. + + Diese Verbndeten sind: die frhere Kolporteuse Frau +Pauline Mnchmeyer, Herausgeberin des berchtigten, +von der Polizei konfiszierten "Venustempels". Ferner +der Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden, +der nun schon seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im +Felde liegt. Und endlich der wohlbekannte Herr Rudolf +Lebius in Charlottenburg, der aus der christlichen Kirche +ausgetretene Sozialist, dem ich 3000 bis 6000 Mark und +dann sogar 10 000 Mark geben sollte, dafr wolle er mich +in seinem Blatt loben und preisen. Ich gab ihm nichts. +Da ging er zu Mnchmeyers ber und war seitdem der +unermdlichste meiner Gegner. Ich bemerke ausdrcklich, +da auch er Herrn Advokaten Gerlach zum Anwalt hat. +Und wenn ich nun hinzufge, da dieser Mnchmeyersche +Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater von Pater +Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pllmann ist, so +ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin +vollstndig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns, +Frau Kolporteuse Pauline Mnchmeyer, Herr Advokat +Gerlach, Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pllmann. +Diese alle sind jederzeit schubereit. Sie leugnen zwar +den gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren +Prozessen gegenseitig als Zeugen und Sachverstndige an und +helfen einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen +mich und bei der Anfertigung von Eingaben und Schriftstzen +fr das Gericht. Der Ueberragendste von ihnen +ist aber dieser Mnchmeyersche Advokat, der alles und +alle dirigiert, sogar die beiden Patres. Der unschdlichste +und erfreulichste aber ist Herr Cardauns, der meines +Wissens niemals zu dem Eingestndnis gebracht werden +konnte, da er meine Originalmanuskripte nicht besitze, +krzlich aber in Bonn in meiner Gegenwart vor dem +beauftragten Richter als Zeuge zugeben mute, da er sie noch +nie gesehen habe. + + Ob mich die Dame Mnchmeyer mit Hilfe ihrer fnf +weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen +wird, ist eine schon lngst entschiedene Frage. Kein Kenner +der Verhltnisse stellt sie mehr auf. -- -- + + Radebeul-Dresden, Oktober 1910. + Karl May. + + _________ + + + IX. + Schlu. + + _____ + +Wie meine "Reiseerzhlungen" nur Skizzen sind, so ist +auch das vorliegende Werk nur Skizze. Es kann gar +nichts anderes sein, weil das, was ich erzhle, noch nicht +zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener +Prozesse wie drohende Revolver auf mich gerichtet sind. +Auerdem verhindern mich brutale Krperschmerzen, in +der Weise zu schreiben, wie ich mchte. Zehn Jahre lang +tglich viermal ganze Ste von Briefen und Zeitungen +erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude +berflieen, das hlt kein Simson und kein Herkules aus. +Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir +nicht das Geringste gendert. Mein Gottvertrauen und +meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen. +Aber meinen Krper, den frher so unverwstlich scheinenden, +hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. +Seit einem Jahre ist mir der natrliche Schlaf versagt. +Will ich einmal einige Stunden ruhen, so mu ich zu +knstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur +betuben, nicht aber unschdlich wirken. Auch essen kann +ich nicht. Tglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, +gute Frau mich zwingt. Dafr aber Schmerzen, unaufhrliche, +frchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts +mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal +aus der Hand reien! Mir ist, als msse ich ohne Unterla +brllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht +sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch mu ich das +alles. Ich mchte am liebsten sterben, sterben, sterben, +und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil +meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich mu meine +Aufgabe lsen. + + Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe +ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie +ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. Ich +sagte bereits: Das Karl May-Problem ist, wie das +Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem +im Einzelnen. Aber whrend die meisten Menschen nur +dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse +Phasen des groen Problems darzustellen, gibt es noch +Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild +desselben zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im +Einzelnen, sondern im Ganzen zu liefern. Die Vielen +stellen Menschheitsteile, diese Wenigen aber stellen +Menschheitsbilder dar. Die Vielen knnen ihren engen +Kreis sauber halten; sie sind Dutzendmenschen; sie knnen +sogar als Mustermenschen erscheinen. Den Wenigen aber +ist die Tugend und die Snde, die Reinheit und der +Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhltnisse +wie dieser zugeteilt; sie knnen berhmte Feldherren oder +rohe Mrder, groe Diplomaten oder berchtigte +Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige +Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden. +Ihnen ist nicht das wohltuende Glck der unbewuten +Mittelmigkeit beschieden. Ist das Leben mchtiger als +sie, so werden sie zwischen Tugend und Laster, zwischen +Hhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin- +und hergezerrt, bis sie ber den Wolken zerstuben oder +in den Schluchten zerschellen. Sind sie strker als das +Leben und sind sie im Glcke geboren, so werden sie in +stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie +aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und +der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, +weil sie es erreichen mssen, aber der Widerstand, den +sie zu berwinden haben, wird ein grausamer, ein +unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren +Siegesruf erschallen lassen knnen, werden sie ermattet +zusammenbrechen, um die Augen fr diese Welt zu +schlieen. + + Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von +diesen Menschenarten er gehrt, oder er sollte sich doch +wenigstens verpflichtet fhlen, hierber nachzudenken. +Das habe ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung +gekommen, da ich kein billiges, ungestrtes Durchschnittsglck +zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend +in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mute, um +mich ebenso beharrlich und ebenso mhevoll aus ihm +emporzuarbeiten, wie die Menschheit Strme von Schwei +und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich +aus dem ihrigen zu erheben. Ebenso bin ich berzeugt, +da es mir beschieden war, dabei den hartnckigen +Widerstand zu finden, der sich mir auch heute noch +entgegenstellt, und da ich mich nicht ber ihn beschweren +darf, weil ich ihn mir ebenso selbst bereitet habe, wie +die Menschheit schneller vorwrtskommen wrde, wenn +sie endlich aufhren wollte, sich ihren eigenen Weg mit +Hindernissen zu belegen. Man sieht, da ich keinen +anderen, als nur mich selbst anklage. + + Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf +gesprochen, bin ich unbillig oder unfgsam gewesen, so +war dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern +die immer noch nicht ganz berwundene Anima ist es +gewesen, die es mir diktierte. So lange sich der Mensch +im Niedrigen bewegt, und das mute ich in dieser meiner +Lebensbeschreibung doch mehr als reichlich tun, hat das +Niedrige Macht ber ihn, und ich durfte nicht unwahr +sein; ich mute so schreiben, wie das Milieu es mit sich +brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und bessere, +reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und +freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft +zurck, alles das, was mich verbittern will, zu +berwinden. + + Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam +Grund vorhanden. Ich spreche da nur von den +letztvergangenen zehn Jahren und den Begleiterscheinungen +des Mnchmeyerprozesses. Dieser wurde von Seiten +meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in +einer Weise gefhrt, die ich vorher fr vollstndig +unmglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie weitgehender +Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt schtzt. +Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter +herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst +Niemand erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des +Paragraphen 193, denn er handelt im Interesse seines +Klienten. Ich bringe eine Musterauswahl der Ausdrcke, +die ich mir vom Mnchmeyerischen Advokaten Dr. Gerlach +gefallen lassen mute, weil er sich ihrer in seiner +Eigenschaft als Anwalt bediente: + + Er beschuldigte mich "frecher Anzapfungen", "unberechtigter +Forderungen", zahlreicher "Dreistigkeiten" +und "faulen Zaubers". Er nannte mich "raffiniert", +"frech", "dreist", "verleumderisch", "pathologisch zur +Unwahrheit reizend", "Lgner", "Lgenmay", Renommist", +"Mnchhausen", "Aufschneider", "Betrger", "Lump", +"Schwindler", "Allerweltsschwindler", "Einbrecher", +"Hochstabler" [sic], "Zuchthusler" usw. usw. Ich frage: +Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die +Wahrheit enthielten, im gewhnlichen Leben erlaubt? +Wrde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich +ihrer schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr +vor Gericht sind sie gestattet, denn ich habe diesen +Anwalt auf sie hin wegen Beleidigung verklagt und bin +abgewiesen worden. Aber noch mehr: Er erhob auf +diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und +diese wurde nicht zurckgewiesen. Der Richter ist hieran +vllig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz +verlangt es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen fr +die Mnchmeyersche Partei nicht gnstig ausgefallen +waren, sagte dieser Anwalt zum Richter: "Aber es ist +doch ganz unmglich, da ein vorbestrafter Mensch, wie +May, den Proze gewinnen kann!" "Das haben Sie +abzuwarten," antwortete ihm der Richter. Ich stand +dabei und mute mir die Beleidigung gefallen lassen, +denn das Gesetz erlaubte sie ihm. Das ist nun fast zehn +Jahre lang so gegangen und geht noch heut in diesem +Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch stehender +Richter sagte, hierauf bezglich, zu meinem Rechtsanwalt: +"Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir eine +Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May. +Was mu dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er +htte getrost hinzufgen knnen: "Was leidet er noch, +und was wird er noch weiter leiden!" Dieser Richter +kannte meine Vorstrafen genau; er hatte die hierber +vorhandenen Akten studiert. Ich gewann trotzdem und +trotz aller gegnerischen Schmhungen den Proze in +smtlichen Instanzen, gewi ein laut sprechender Beweis, +da der deutsche Richter sich durch anwaltliche Invektiven +nicht beeinflussen lt; aber ruhig anzuhren hatte ich +sie doch und habe ich sie noch heut. Und sie wirken, +wenn nicht auf das Urteil, so doch ganz bestimmt nach +anderer Seite hin. Sie verrohen den Parteiverkehr und +greifen aus dem Verhandlungszimmer hinaus in das +ffentliche und hinein sogar in das private Leben. Man +wird alle die beleidigenden Ausdrcke ber mich, die ich +oben angefhrt habe, schon in den Zeitungen gelesen +haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet +sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die +jeder belwollende, rcksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen +darf, wenn er einsieht, da die Roheit ihn weiter fhrt +als die Humanitt. Er schreibt diese Roheiten in seine +Schriftstze und lanciert sie von da als beweiskrftiges +Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder er schickt +sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in gedruckter +Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, da +sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte +einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Bltter oder +Blttchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede +Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu +erschttern oder wohl gar zu vernichten. "In den Zeitungen +von ganz Deutschland kaput machen," nennt man das. +Und das Gesetz begnstigt dieses Treiben! + + Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes +Beispiel nahe, welches nichts weniger als empfehlend fr +mich klingt. Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn +ich der Allgemeinheit ntzen will, nicht fragen darf, ob +ich mir selbst etwa dadurch schade. Meine erste Frau +hatte die Frau eines Dresdener Schriftstellers beleidigt, +welcher von Mnchmeyers aus wute, da ich vorbestraft +bin. Er rchte sich dadurch, da er mich bei einem +deutschen Frsten denunzierte und ihm mitteilte, da seine +Verwandten meine Bcher lsen und mich auch persnlich +besuchten. Der Frst antwortete durch Schweigen. +Da kam eine zweite Denunziation, und nun war der +Frst gezwungen, sich nach Dresden zu wenden, um zu +erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei. Er erhielt +die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach +Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu +erkundigen. Er erfuhr, da meine Ehe keine glckliche sei, +weshalb ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause +bleibe, und da ich in meinen Bchern ber Lnder +schreibe, in denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was +ich da berichte, sei nicht wahr. Infolge dessen steht in +den Dresdener Polizeiakten ber mich verzeichnet, da ich +einen unsoliden Lebenswandel fhre und ein literarischer +Hochstabler [sic] sei. Das wurde dem Frsten mitgeteilt, und +einer der betreffenden Verwandten erzhlte es mir bei +nchster Gelegenheit sehr ausfhrlich wieder. Er wute +sehr wohl, was an der Sache war, bat mich aber um +Diskretion, so da ich gezwungen war, hierber zu +schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu knnen, weil +ich annahm, da derartige Polizeiakten zu den +verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehren. Jetzt +aber werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius verffentlicht +und von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet. +Wie kommt ein aus der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat +a. D. zu diesen geheimen Dresdener Polizeiakten? +Das Gesetz gestattet es! Ganz selbstverstndlich fhle +ich mich nun nicht mehr zur Diskretion verpflichtet und +werde darauf dringen, da diese Akten revidiert und +berichtigt werden. + + Ein weiterer Fall fhrt mich nach Leipzig, wo ich +wie auf Seite 119 berichtet, vor nun fnfundvierzig +Jahren auf ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das +ist so lange her, da die betreffenden Gerichtsakten lngst +vernichtet worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt, +da solche Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer +seien, und diese Dauer ist vorber. Wer hat nun daran +gedacht, da auch bei der dortigen Polizei Notizen +hierber gemacht worden und vielleicht noch vorhanden sein +knnen? Herr Lebius hat sie krzlich verffentlicht! Wie +kommt ein Mann, wie er, nun auch zu den Leipziger +Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt es! + + Ebenso hat er meine Scheidungsakten verffentlicht. +Sie sind doch gewi von diskretester Natur und gehen ihn +gar nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm! + + Er ist ber Alles unterrichtet, was sich auf meine +prozessualen Verhltnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das, +und wer ermglicht es ihm? Das Gesetz und der Mnchmeyersche +Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige ist. +Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand. +Es ist sogar vorgekommen, da Lebius meine geschiedene +Frau in Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts +veranlate, dieses aber nach Dresden zum +Mnchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann fr +sich ausfllte, wie es fr seine besonderen Zwecke pate. +Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner reichen, +persnlichen Erfahrung dafr, da das Gesetz Dinge nicht +nur erlaubt, sondern sogar begnstigt, die es eigentlich +auf das strengste verbieten sollte. Dem steht selbst der +rechtlichste und humanste Richter machtlos gegenber, und +das war es, woran ich dachte, als ich weiter oben sagte, +da ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt habe. +Ich bin vor nun vierzig und fnfzig Jahren unfreiwillig +da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, denen +es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung +zurck zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und +ich wei, da sie nicht weniger wert sind, als alle die, +welche nur deshalb niemals strzten, weil sie entweder +niemals hoch standen oder nicht die ntige innere Freiheit +besaen, strzen zu knnen. Ich will wieder zu ihnen +hinab, jetzt als fast Siebzigjhriger, nicht gezwungen, +sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse. Ich +will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen +wagte, nmlich da ihnen Niemand helfen kann, wenn +sie sich nicht selbst zu helfen wissen. Da sie verloren +sind, auer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch +engsten Zusammenschlu unter sich selbst. Ich will ihnen +mein Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. +Will ihnen zeigen, was aller gute Wille und alle Mhe +fruchtet, wenn bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen +zeigen, da ein einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser +eine, einzige Paragraph 193 gengt, selbst die schnsten +und die besten Erfolge der Willensstrke, der christlichen +Liebe und der Humanitt mit einem Schlage zunichte +zu machen. Ich will ihnen sagen, da es eine Snde +von der Menschheit ist, ihre Mitschuld an der Schuld +der Schuldigen zu verbergen. Da es aber auch von +diesen ein Fehler ist, zu verheimlichen, da sie einst +schuldig waren. Unser Leben, mein Leben, ihr Leben soll +frei vor Gottes Auge liegen, besonders aber auch frei vor +unserem eigenen Auge. Dann zrnen wir nicht, und dann +grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum +wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und +sehen wir das ein, so knnen wir uns selbst verzeihen, +und wer sich selbst verzeihen darf, dem wird verziehen +werden. Weg also mit der falschen Scham, und heraus +mit der Offenheit! Nur das Geheimnis, in das wir uns +hllen, gibt jenem Paragraphen und jedem gewissenlosen +Menschen die Macht, sich hher und besser zu dnken +als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu sein! + + Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie +alles Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur +Skizze sein. Aber ich fhle das Bedrfnis, das, was +Andere Bses an mir taten, fr meine Mitmenschen in +Gutes zu verwandeln. Ich werde es denjenigen, die +gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermglichen, aus der +unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlsse zu +ziehen, die ihnen heilsam sind. Was ntzt alle sogenannte +"Gerechtigkeit", alle sogenannte "Milde des Gerichtes", +alle sogenannte "Humanisierung des Strafvollzuges", alle +sogenannte "Frsorge fr entlassene Strafgefangene", +wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder +eines einzigen fragwrdigen Paragraphen bedarf, um all +das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in +einem einzigen Augenblicke zu vernichten? Wie kann +man von dem Gefallenen verlangen, da er wieder aufstehe +und sich bessere, wenn man es unterlt, auch die +Verhltnisse, in die man ihn zurckversetzt, zu verbessern? +Ist es eine Ermunterung fr ihn, zu wissen, da er trotz +aller Besserung doch, so lange er lebt, der Gechtete, der +Unterdrckte, der Rechtlose bleiben mu und bleiben wird, +weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich +alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut, +ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche +ihn beleidigen, bestehlen und betrgen, sein gutes Recht +zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt +ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, da ich von +einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein +"wissenschaftlichen" Grnden an diesen Pranger genagelt +worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht +einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen +Gesetzesparagaphen zu dieser Vivisektion berechtigt +worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanitt +sprechen, ganz unwillkrlich in das Gesicht, ob sich +da nicht etwa ein sardonisches Lcheln zeigt, welches +verrt, wie es eigentlich steht. Und da fhlt man mit den +Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende +Bedrfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der +gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht +zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen mssen, um +durchschaut zu werden -- -- -- vor die Oeffentlichkeit, +vor den Reichstag! + + Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen +hat. Es hat schon Einige gegeben, die als "entlassene +Gefangene" ihre Erfahrungen niedergeschrieben +haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend, +da es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte. +Hier gengt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen, +sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch +im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind. _Und_ +_das_meinige_ist_ein_solches._ Ich fhle mich +verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der +Humanitt zu stellen. Wie ich mir das denke, das wird +man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen. + + Es gehrte zu dieser meiner Aufgabe, da die +Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl +May, sondern auch mit dem Menschen May befate und +da Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf +den letzten Tropfen ausgeschpft werden mute. Das +Eine war berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, +Schinder- und Kavillerarbeit, die ich ber mich ergehen +lassen mute, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld +von dieser Qual und Marter zu befreien. Das war die +Geisterschmiede meines Mrchens, in der man auf mich +losschlug, da die Funken durch alle Zeitungen flogen. +Sie fliegen sogar noch heut. Doch wird bald Ruhe +werden. Die Zeit des Hammers ist vorber; es kommt +nur noch die Feile, und dann ist es gut. Da all das +Leid, welches ber mich kam, auch meine andere, die +schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen mute, versteht sich +ganz von selbst. Auch da gab es Schlacken, und zwar +mehr als genug. Auch sie muten herunter. Es flog +der Ru, der Schmutz, der Staub, der Hammerschlag. +Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird +ausgerumt, damit das reine, edle Werk beginne. + + Es war berhaupt ein groes, ein schweres und +ein hchst schmerzhaftes Auf- und Ausrumen. Nicht +nur in meinem Innern, sondern auch in meinem Aeuern, +in meiner Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner +Ehe. Alles, was mich in die Schmiede und dem Schmerze +in die Arme getrieben hatte, mute weichen. An seine +Stelle trat, was rein und ehrlich war und mit nach oben +strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, dem Land der +Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und +Bs, die nur unter Kmpfen und Opfern ausgefhrt werden +konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen vorber. +Zwar rauscht noch hier oder da ein trbes Wasser, irgend +ein Beleidigungsproze, eine Staatsanwaltschaftsanzeige, +doch auch das geht bald vorbei, und dann wird Ruhe +und Friede um mich sein, so da ich endlich, endlich Zeit +und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches, +an mein einziges und letztes "Werk" zu gehen. + + Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurck, so bin +ich voller Dankbarkeit, sie berstanden zu haben. Eine +"Hetze" wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde +steht, noch nie in der Literatur irgend eines Landes, eines +Volkes gegeben. Das gab Zeitungsstrme, Strme in +den Gerichtsslen, Strme im eigenen Hause und Strme +im eigenen Innern. Mein alter, treuer, guter Freund, +der Krper, behauptet zwar, nicht lnger mitmachen zu +knnen, aber ich bin berzeugt, da er doch wieder so +bereitwillig und verstndig wird, wie er immer gewesen +ist. Er hat ertragen mssen, was eigentlich wohl nicht +zu ertragen war. Zunchst sechs Jahre lang die drei +Instanzen des ersten Mnchmeyerprozesses mit allen +Aufregungen und Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren. +Sodann die zweiundzwanzig Monate whrende Untersuchung +wegen Meineid und Verleitung dazu. Denn der +Mnchmeyersche Rechtsanwalt hatte, nachdem der Proze +fr ihn verloren war, mich und meine Zeugen beim +Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt. Der Staatsanwalt +war, nach seiner eigenen Aussage auf diese Anzeige +eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen. +Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz +selbstverstndlich damit, da man weder mir noch meinen Zeugen +etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch +nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast +noch schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten +Lebiusangriffe. Eine doppelseitige Lungenentzndung, die +mich monatelang zwischen Tod und Leben schweben lie. +Die Beschuldigungen, welche meine geschiedene Frau auf +mich, meine jetzige Frau und ihre Mutter wlzte und +mit denen sie uns in schwere Strafe bringen wollte. Die +Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann wegen dieser +Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben +lie. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in +Berlin wiederholt. Glcklicher Weise hatte diese geschiedene +Frau Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete, +whrend des Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten +und ohne all mein Zutun freiwillig erzhlt und +eingestanden, so da sie zu diesem spteren Leugnen nur +verfhrt sein konnte. Die Vorlegung dieser Beweise zeigte +alle Anklagen gegen mich als Lgen. Ferner der Antrag +des Lebius an die Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus +zu sperren. Sein Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich +verfolgen zu lassen. Die zahllosen Artikel gegen +mich in seinem Blatte, der "Bund". Seine Flugbltter +mit den grlichsten Unwahrheiten, welche die Runde durch +Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Italien, Frankreich, +England, Nord- und Sdamerika machten. Da beschuldigte +er mich sogar, meinen Schwiegervater erwrgt +zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit. +Schlielich eine Denunziation wegen Beleidigung des +Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefhr vier +Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich +wegen Blutschande, die bekanntlich mit bis fnf Jahren +Zuchthaus bestraft wird. Man sieht, da man zu den +alleruersten Mitteln greift, mich "kaput zu machen"! +Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den +Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und +Lebenskraft zu verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum +jeder fhig ist. Ich habe es ertragen, ohne mich zur +Selbsthilfe reizen zu lassen, weil ich keinen Augenblick +lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und +weil mir in dieser berschweren Zeit ein Wesen zur Seite +gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende Seele mich wie +auf Engelsflgeln ber alles Leid erhob, dem ich verfallen +sollte, nmlich meine jetzige Frau. Wenn man berechtigt +gewesen ist, Bcher ber das Thema "die Bestie im Weibe" +zu schreiben, so knnte ich mich wohl verpflichtet fhlen, +demgegenber ein Buch zu verffentlichen, welches den +Titel "Der Himmel im Weibe" fhrt. + + Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine +Quelle alles menschlich Reinen, menschlich Edeln und +menschlich Ewigen ist, lt sich in Beziehung auf das +Erdenleid Alles erlangen und in Beziehung auf die noch +vor mir liegende Arbeit Alles leisten, was menschenmglich +ist. Ich bin nicht mehr so frchterlich allein. +Ich habe nicht mehr immer nur aus mir selbst herauszuschpfen, +sondern es hat sich mir ein kstlich reiches +seelisches Leben zugesellt, durch dessen Einflu sich Alles, +was in mir zum guten Ziele fhrt, verdoppelt. Krperlich +schwer leidend, bin ich geistig frisch und seelisch +wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der Jugendzeit. +Ich bin nicht tricht genug, mir zu verheimlichen, da +man mich als einen Ausgestoenen betrachtet, ausgestoen +aus Kirche, Gesellschaft und Literatur. Der Eine schlgt +auf mich los, weil er mich fr einen verkappten +Katholiken oder gar Jesuiten halt; der Andere greift zum +Prgel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich +Protestant. Wrden diese Beiden es wohl fertig bringen, +sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen +sie die meisten Prgel bekommen? Da man mich als +gesellschaftlich tot betrachtet, rhrt mich nicht. Ich habe +nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft +gehren zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen +war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten +Leute, meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das +Innenleben aneinander so vollauf genug, da wir es gar +nicht fertig bringen, uns nach "Gesellschaft" zu sehnen. +Und was meine literarische Ausstoung betrifft, so kann +ich mich auch mit ihr zufrieden geben. Den Weg, auf +dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen; +ich wre also auch ohne den Ha, den man auf mich +richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein. Auch bin ich +berzeugt, da spter, wenn man mich und das, was ich +will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht +sogar Viele von dem groen Haufen absondern werden, +um sich mir zuzugesellen. Alte Wege knnen hchstens +zu alten, toten Schtzen fhren. Wer aber nach neuen, +lebendigen Schtzen sucht, der soll auch neue, nicht alte +Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das +Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch +ihren Wert oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. +Taugen sie etwas, so werden sie bleiben, ganz gleich, +ob man sie gegenwrtig lobt oder tadelt. Taugen sie +nichts, so werden sie verschwinden, ganz gleich, ob man +sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die Hauptsache +ist, derjenige, der ber ihren Wert oder Unwert bestimmt, +bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er +literarisch noch so mchtig und einflureich, kann auch +nur den geringsten Einflu darauf haben. Das klingt +stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind +Skizzensammlungen, sind Vorbungen, sind Vorbereitungen +auf Spteres. Gelingt mir dieses Sptere, so ist alles, durch +was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man +jetzt darber denken und schreiben, wie oder was man will. + + Nun bleibt nur noch eine Schlubemerkung in Beziehung +auf die Mnchmeyerromane brig. Einer meiner +erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem +weimachen, da ein Schundverlag sittliche Romane in +unsittliche verwandeln knne; das wrde eine Riesenarbeit +sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint so +glcklich zu sein, dem Leben und Treiben eines Schundverlages +unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der Zeit +und der Mhe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben, +so mu man doch noch viel mehr der krzeren Zeit und +der geringeren Mhe gewachsen sein, diesen Roman +umzundern! Zweitens erfordert eine solche Umnderung +keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner +anzunehmen scheint. Die Einfgung von einigen Worten +gengt vollstndig, einen "moralischen" Druckbogen in +einen "unmoralischen" zu verwandeln. Drittens sind +Krfte mehr als genug fr solche Umarbeitungen vorhanden, +und sie besitzen eine so erstaunliche Routine darin, +da selbst der Kenner sich ber die Masse, die sie +bewltigen, wundert. Ich habe hierber Beweise erbracht +und werde auch noch weitere bringen. Das oft erwhnte +Faktotum Walther sa bei Mnchmeyers tglich von frh +bis abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann +die Korrektur zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen +bekam. Was erst Fischer, der Kufer des Mnchmeyerschen +Geschftes, und dann einige Jahre spter seine Erben +mir ber diese Umarbeitung meiner Romane materiell und +gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Mnchmeyers +Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Proze +besttigt, da Mnchmeyer mit seiner eigenen Hand ganze +Kapitel verndert hat. Ein anderer Zeuge hat beschworen, +Mnchmeyer habe ihm eingestanden, da er an meinen +Romanen groe, umfangreiche Aenderungen vornehme, ohne +es mir sagen zu drfen. Ich brauche hier wohl nicht +noch weitere Beispiele, die mir zur Verfgung stehen, +anzufhren, um es begreiflich zu machen, da ich absolut +die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren +Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa +die dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man +es zumutet, sich nach dreiig Jahren in dem Tohu wa bohu +der damaligen Mnchmeyerschen Schriftksten zurechtzufinden. +Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf +von meinem Urtexte ab, da sehr zahlreiche Leser mir +versichern, ganz genau sagen zu knnen, wo die Flschung +beginnt und wo sie endet. + + Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick +meiner Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam +zu machen, den man anwendet, um meine den hhern +Kreisen angehrenden Leser gegen mich zu empren. Da +wird zum Beispiel an aufflliger Stelle gesagt, da ich +in hervorragender Gesellschaft in Dresden verkehre und +da ich mir berhaupt die grte Mhe gebe, mit +hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein +Wort, kein Buchstabe wahr. Bin ich "Hans fr mich", +so fhle ich mich am wohlsten, und ich wnsche in dieser +Beziehung weiter nichts, als "Hans fr mich" zu bleiben. +Ich mchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis +liefern wollte, ich htte mich ihm gesellschaftlich +aufgedrngt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet, +da ich an "Hfen" verkehre. Das ist erst recht nicht +wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persnlichkeit, +die zu irgend einem "Hofe" gehrt, meine Bcher liest +und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad +ich der Allerletzte, der dies dahin auslegt, da ich "bei +Hofe verkehre". Es kann diesen Behauptungen, die pure +Erfindungen sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich +den betreffenden Kreisen als indiskret oder gar als Lgner +zu kennzeichnen und mich selbst da zu schdigen, wohin +ich absolut nicht gehre. -- -- -- + +-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + + Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang +zurck, auf mein altes, liebes Mrchen von "Sitara", +von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, +so wird man dieses Mrchen als Wahrheit kennen lernen, +und zwar als die greifbarste, die es gibt. Es ist die +Aufgabe des begonnenen, gegenwrtigen Jahrhunderts, +unsere ungebten Augen fr die groe, erhabene Symbolik +des alltglichen Lebens zu schrfen und uns zu der +beglckenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, da +es hhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als +diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschftigt. +Die Skizzen, die ich zeichnete und verffentlichte, +sollen der Vorbereitung zu dieser Erkenntnis dienen. +Darum sind sie symbolisch geschrieben und, um verstanden +zu werden, nur bildlich zu nehmen. Man mchte sich +eigentlich darber wundern, da dies dem gewhnlichen +Leser so schwer zu fallen scheint. Es ist doch wohl keine +allzu harte Nu, sich beim Lesen eines Gleichnisses irgend +etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das Land +der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das +Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine, +so kann es doch keiner geradezu akademischen Bildung +bedrfen, einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise +von Ardistan nach Dschinnistan beschreibe. Der Leser +hat sich einfach aus seiner Alltagswelt in meine +Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch wohl auch nicht +schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu verlassen, +um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen. + + Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, +so will ich durch meine Erzhlungen das Innere meiner +Leser vom ueren Druck befreien. Sie sollen Glocken +klingen hren. Sie sollen empfinden und erleben, wie es +einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlsser +klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn +entlt. So leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich +zu nehmen, so leicht ist es auch, meine Bcher zu +verstehen und ihren Inhalt zu begreifen. Ich will, da +meine Leser das Leben nicht lnger als ein nur materielles +Dasein betrachten. Diese Anschauung ist fr sie ein +Gefngnis, ber dessen Mauern sie nicht hinaus in das von +der Sonne beschienene freie, weite Land zu schauen +vermgen. Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien. +Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich +selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen, +seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im +Gefngnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze +der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich, +der zu mir in die Zelle trat. Da durfte mich niemand +berhren. Da war es keinem erlaubt, den Werdegang +meines inneren Menschen zu stren. Kein Schurke hatte +Macht ber mich. Was ich besa und was ich erwarb, +das war mein sicheres, unantastbares Eigentum, bis ich +-- -- entlassen wurde, lnger nicht! Denn mit dieser +Entlassung verlor ich meine Freiheit und meine Menschenrechte. +Was andere, die nur materiell zu reden wissen, +als Freiheit bezeichnen, das ist fr mich ein Gefngnis, +ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in dem ich nun +schon sechsunddreiig Jahre lang geschmachtet habe, ohne, +auer meiner jetzigen Frau, einen einzigen Menschen zu +finden, mit dem ich htte sprechen knnen wie damals +mit dem unvergelichen katholischen Katecheten. Ich +lebte und arbeitete nicht fr mich, sondern nur fr Andere. +Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich +mir sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit +mir machen, was ihm beliebte, denn berall fand er einen +Anwalt, der seine Sache fhrte. Ein Jeder durfte mich +verdchtigen, mich beleidigen, auf mich einschlagen, denn +berall gab es einen Paragraphen, der ihn schtzte. Ich +mute um meines Eigentums willen sechs Jahre lang +prozessieren, und als ich den Proze gewonnen hatte, +bekam ich noch lange nichts und wurde wegen Meineides +zweiundzwanzig Monate lang in Voruntersuchung genommen. +Nun prozessiere ich schon fast zehn Jahre lang +und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will +es nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein +Zchtling gewesen, den Jeder stupen, qulen und martern +darf, wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich +mit einem jener Paragraphen zu bewaffnen, welche die +Ideale aller "schneidigen" Anwlte sind. Jawohl, ich +bin Gefangener, Zuchthusler, noch immer! Ein Dutzend +Prozesse haben mich festgehalten, damit ich ja nicht +entweichen knne, und Jeder, der Geld von mir wollte, aber +keines bekam, hat sich als Zuchtmeister gebrdet und auf +mich eingeschlagen. Ich habe das Beste aller derer, fr +die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und ueres Heil, +ihr gegenwrtiges und ihr zuknftiges Glck. Was gab +man mir fr diesen meinen guten Willen? Verachtung, +Spott und Hohn! Als ich Zuchthusler war, da war +ich keiner. Und nun ich aber keiner bin, da bin ich einer. +Warum? + + Und Ihr lacht darber, da ich bildlich schreibe? Ist +fr uns, die wir die Allerrmsten sind, nicht selbst die +Hlle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die Hlle, +wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer, +wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn +ich symbolisch von meiner "Geisterschmiede" erzhle, deren +frchterliche Zeit ich heut oder morgen berwunden haben +werde. Ich zrne Euch nicht, denn ich wei, es mute +so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen +und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen +und durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit +zu verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne +meine Schuld. Und was andere gezwungen an mir taten, +das trage ich nicht nach. Ich bitte nur um das Eine: +Lat mir endlich, endlich Zeit, mit dieser Arbeit +zu beginnen! + + _________ + + + Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag + Soll Feierabend sein im heil'gen Alter. + Und was ich hier vielleicht noch schauen mag, + Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter. + Ich habe nicht fr mich bei Euch gelebt; + Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden, + Und wenn Ihr nun mir Ha fr Liebe gebt, + So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden. + + Nach meines Lebens schwerem Leidenstag + Leg allen Gram ich nun in Gottes Hnde. + Und was mich hier vielleicht noch treffen mag, + Das fhre er in mir zum frohen Ende. + Ich hab' die Schuld, die Ihr auf mich gelegt, + Gewilich nicht allein fr mich getragen, + Doch was dafr sich irdisch in mir regt, + Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen. + + Nach meines Lebens schwerem Prfungstag + Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen, + Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag, + Sie kann mir nichts als nur Erlsung bringen. + Ich juble auf. Des Kerkers Schlo erklirrt; + Ich werde endlich, endlich nun entlassen. + Ade! Und wer sich weiter in mir irrt, + Der mag getrost mich auch noch weiter hassen! + + E n d e. + + _________ + + + + + +End of the Project Gutenberg's Etext of "Mein Leben und Streben", by Karl May + |
